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Homo faber
"Ich
erklärte, was die heutige Kybernetik als Information
bezeichnet: unsere Handlungen als Antworten
auf sogenannte Informationen, beziehungsweise
Impulse, und zwar sind es automatische
Antworten, größtenteils unserem Willen
entzogen, Reflexe, die eine Maschine
ebensogut erledigen kann wie ein Mensch, wenn
nicht sogar besser (...). Vor allem aber: die
Maschine erlebt nichts, sie hat keine Angst
und keine Hoffnung, die nur stören, keine
Wünsche in bezug auf das Ergebnis, sie
arbeitet nach der reinen Logik der
Wahrscheinlichkeit, darum behaupte ich: Der
Roboter erkennt genauer als der Mensch, er
weiß mehr von der Zukunft als wir, denn er
errechnet sie, er spekuliert nicht und
träumt nicht, sondern wird von seinen
eigenen Ergebnissen gesteuert (feed back) und
kann sich nicht irren; der Roboter braucht
keine Ahnungen"
(Max Frisch, 1957)
Ausweitung der Kampfzone
"Ich liebe
diese Welt nicht. Ich liebe sie ganz
entschieden nicht. Die Gesellschaft, in der
ich lebe, widert mich an; die Werbung geht
mir auf die Nerven; die Informatik finde ich
zum Kotzen. Meine ganze Arbeit als
Informatiker besteht darin, die Grundlagen,
Vergleichsmöglichkeiten und Kriterien
rationaler Entscheidung zu vervielfachen. Das
hat überhaupt keinen Sinn. Offen gestanden,
das ist sogar eher negativ; eine sinnlose
Behinderung für die Neuronen. Dieser Welt
mangelt es an allem, außer an zusätzlicher
Information."
(Michel Houellebecq, 1999) |
Die Homo fabers des
Informationszeitalters und die Bilanz eines Dreißigjährigen
Der
Protagonist in Max FRISCHs Buch Homo
faber, der Ingenieur Walter Faber, ist ein
typischer Vertreter der technischen Zivilisation
des Industriezeitalters gewesen. Der namenlose
Ich-Erzähler, ein Pariser Software-Entwickler,
beschreibt dagegen die Welt der
"Homo
fabers" des Informationszeitalters. Während bei
FRISCH der Prozess einer Wandlung im Mittelpunkt
steht, steckt HOUELLEBECQs "Held" zwar
ebenfalls mitten im Wandlungsprozess, aber nicht
die damit verbundenen Identitätsprobleme sind
das zentrale Thema, sondern die Kritik an der
modernen Zivilisation. Das Leiden an
der Welt hat ihn zum Schreiben gezwungen, auch
wenn es nur wenig Erleichterung verschafft. Vor
kurzem ist er dreißig geworden, was für einen,
der mit dem 68er-Spruch "Trau keinem über
30" aufgewachsen ist, bereits ein Alter ist,
das zur Bilanzierung drängt.
Ausweitung der Kampfzone
"Als Programmierer in einem
EDV-Dienstleistungsbetrieb verdiene ich netto das
Zweieinhalbfache vom Mindestlohn; das ist eine
ganze Menge Kaufkraft. (...) Im großen und
ganzen kann ich mit meiner gesellschaftlichen
Stellung zufrieden sein. In sexueller Hinsicht
sieht es weniger berauschend aus. (...) Seit
meiner Trennung von Véronique vor zwei Jahren
habe ich nicht eine einzige Frau
kennengelernt."
(1999, S.17) |
Der Ich-Erzähler hat
versucht sich mit diesem Zustand abzufinden, aber die
Ausweitung der Kampfzone
"fortgesetzte
Langeweile ist keine haltbare Position: sie führt leider
früher oder später zu wesentlich schmerzhafteren
Wahrnehmungen, verwandelt sich also in einen positiven
Schmerz. Genau das ist es, was derzeit mit mir geschieht."
(1999) |
In der Freizeit wird die
eigene Existenzweise zum Problem:
Ausweitung der Kampfzone
"in Wahrheit kann
nichts die immer häufigere Wiederkehr jener Augenblicke
verhindern, in denen Ihre absolute Einsamkeit (...) Sie in
einen Zustand echten Leidens stürzen."
(1999) |
Die sexuell
Unterversorgten
Es ist der
Widerspruch
zwischen beruflichem Erfolg und privatem
Mißerfolg, der den Ich-Erzähler an der
Gegenwartsgesellschaft verzweifeln lässt. Dem
sozialen Status entspricht kein adäquater
Familienstand. Das Credo der beruflichen
Leistungsgesellschaft wird sozusagen durch die
Selbstreferentialität des Privatlebens
torpediert.
Ausweitung der Kampfzone
"Der Sex, sagte ich mir, stellt
in unserer Gesellschaft eindeutig ein zweites
Differenzierungssystem dar, das vom Geld völlig
unabhängig ist (...) Manche gewinnen auf beiden
Ebenen; andere verlieren auf beiden". Der
Ich-Erzähler und seine Arbeitskollegen sind
dagegen in wirtschaftlicher Hinsicht Sieger, aber
in sexueller Hinsicht Verlierer. Dies trifft auch auf
Bernard zu, mit dem er sein Pariser Büro teilt.
"Ein Typ wie er müßte eigentlich Kinder
haben. (...) Aber nein, er ist nicht einmal
verheiratet. Bloß eine trockene Frucht." Es
trifft auf Jean-Yves Fréhaut zu, der zur
gleichen Zeit in die Firma eingetreten ist und
den Typus eines Akteurs der "telematischen
Revolution" verkörpert. "Er selbst
hatte, da bin ich sicher, nie eine Liaison
gehabt; seine Freiheit aber erreichte den
höchsten Grad". Und es trifft auf seinen
Kollegen Tisserand zu, mit dem er gemeinsam eine Dienstreise
durch die Provinz unternimmt und der ihm gesteht "ich bin
achtundzwanzig und immer noch Jungfrau!"
(1999) |
Mangelnde
körperliche Attraktivität kann bei Männern
durch Charme kompensiert werden, aber Tisserand
"ist so häßlich, daß er die Frauen
abstößt und es ihm nicht gelingt, mit ihnen zu
schlafen". Im Anschluss an das Geständnis
von Tisserand formuliert der Ich-Erzähler die
zentrale
These des Romans:
Ausweitung der Kampfzone
"In einem
Wirtschaftssystem, in dem Entlassungen verboten
sind, findet ein jeder recht oder schlecht seinen
Platz. In einem sexuellen System, in dem Ehebruch
verboten ist, findet jeder recht oder schlecht
seinen Bettgenossen. In einem völlig liberalen
Wirtschaftssystem häufen einige wenige
beträchtliche Reichtümer an; andere verkommen
in der Arbeitslosigkeit und im Elend. In einem
völlig liberalen Sexualsystem haben einige ein
abwechslungsreiches und erregendes Sexualleben;
andere sind auf Masturbation und Einsamkeit
beschränkt. Der Wirtschaftsliberalismus ist die
erweiterte Kampfzone, das heißt, er gilt für
alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen.
Ebenso bedeutet der sexuelle Liberalismus die
Ausweitung der Kampfzone, ihre Ausdehnung auf
alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen."
(1999, S.99) |
Die Unfähigkeit zu Lieben
HOUELLEBECQ
geht es letztlich aber nicht um das Sex- sondern
um das Liebesleben und damit um die
Unfähigkeit
zu Lieben in der modernen Gesellschaft:
Ausweitung der Kampfzone
"Die Liebe als Unschuld und Fähigkeit zur
Illusion, als Gabe, die Gesamtheit des anderen
Geschlechts auf ein einziges geliebtes Wesen zu
beziehen, widersteht selten einem Jahr sexueller Herumtreiberei, niemals aber zwei. In
Wirklichkeit zerrütten und zerstören die
zahllosen, während der Zeit des Heranwachsens
angehäuften sexuellen Erfahrungen jede
Möglichkeit gefühlsmäßiger, romantischer
Projektion. Nach und nach, tatsächlich aber sehr
rasch, wird man so liebesfähig wie ein altes
Wischtuch."
(1999, S.113) |
Es ist HOUELLEBECQs Credo, dass
der Erfahrungsraum, der durch die sexuelle
Revolution ermöglicht wurde, die romantische
Liebe zur Ausnahmeerfahrung werden lässt.
Houellebecqs Verdienst
und blinde Flecken der Rezeption des Romans
Auch wenn man
die Thesen von HOUELLEBECQ nicht teilt, so ist es
sein Verdienst, den Blick auf die
Verlierer
der sexuellen Revolution gelenkt zu
haben. HOUELLEBECQs
Debütroman Extension du domaine de la
lutte wurde in Frankreich bereits 1994
veröffentlicht. In deutscher Übersetzung
erschien er zuerst im Berliner Wagenbach Verlag (1999).
Die deutschsprachige Rezeption des Romans ist stark von dem
Skandalroman Elementarteilchen
beeinflusst worden. Zu Unrecht, wie ich meine.
Die präzisen, pointierten Beschreibungen
des urbanen Technikermilieus und der
"telematischen Revolution"
mit
ihren gesellschaftlichen Folgen blieben
von der Kritik völlig unbeachtet.
Philippe HAREL
hat den Debütroman im vorletzten Jahr verfilmt. Bei uns lief der
Film bereits auf der diesjährigen Berlinale. Ines KAPPERT
betrachtet die männlichen Singles in dem Roman im Buch
Der Mann in der Krise unter den Gesichtspunkten der
Depression und des Ressentiments.
Der Mann in der Krise
"Gemeinhin ist der
>Mann in der Krise< ein Stadtbewohner und zwischen dreißig
und fünfzig Jahren alt. Er verfügt über einen Job, und
Geldnot zählt nicht zu seinen Problemen. In seiner
zurückgenommenen Körperlichkeit, tatsächlich erscheint er
als eher blass und unsexy, ist er ein unauffälliger
Vertreter der weißen Mittelschicht und zeichnet sich durch
Teilnahmslosigkeit, Verunsicherung und eine eher zynische
Haltung gegenüber seinen Mitmenschen aus. Von den
Konventionen ist er so überfordert wie ihnen treu ergeben;
nur widerwillig beginnt er sie in Frage zu stellen. Doch
er muss sich eingestehen, dass er sich in dem
gegenwärtigen Ordnungssystem immer weniger zurechtfindet.
Es will ihm einfach nicht gelingen, seinem Leben und der
Gesellschaft, in der es stattfindet, eine
sicherheitsstiftende Sinnhaftigkeit abzutrotzen. Zu Frauen
hat er in der Regel ein gestörtes Verhältnis und zu seinen
Kindern, so vorhanden, wahrt er Distanz: sein Sexleben ist
eine Katastrophe. Die Figur des >Mannes in der Krise<
zeichnet sich durch eindeutig depressive Züge aus."
(2008,
S.209f.) |
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