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Singles
"»Lonely Singles«
stehen in dem Widerspruch von ausgeprägten
Bindungswünschen und ihrer derzeitigen
Lebenswirklichkeit jenseits aller sozialen
Bindung. Sie wollen ein Zusammenleben, ohne
dieses Wollen 'im gleichen Atemzug' mit
Vorbehaltungen und Distanzierungen zu
verknüpfen.
(...)
Ein solches Singleleben erweist sich als eine
»Verlusterfahrung«, als ein defizitärer
Lebenszustand, ohne daß es den Betroffenen so recht gelingt,
ein neues Selbstverständnis als Single - ein
ausgesprochenes
»Single-Bewußtsein« - zu
entwickeln und ihre Lebenssituation in
positiver Weise umzuwerten."
(aus: Ronald Bachmann
"Singles. Zum Selbstverständnis von 30-
bis 40jährigen partnerlos alleinlebenden
Männern und Frauen", (Diss.), Frankfurt
a/M u.a.: Lang, 1992)
Vertrautes Gelände, besetzte
Stadt
"Mein Verhältnis
zu ihr war wirklich ganz altmodische
Verehrung mit dem Ziel, sie zu heiraten, ihr
Kinder zu machen und für sie zu sorgen
(...). Und dieser Wunsch war zum ersten Mal
da, zum ersten Mal jedenfalls stark und
konkret auf eine Person bezogen, nicht als
flüchtiger Gedanke: ach, das wäre auch
mal ganz schön."
(Jochen
Schimmang "Vertrautes Gelände, besetzte
Stadt", 1998, S.34)
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Die
Perspektive des einsamen Singles
Vertrautes
Gelände, besetzte Stadt heißen die
Tagebuchaufzeichnungen
des 1948 geborenen Schriftstellers Jochen
SCHIMMANG. Sie sind geschrieben
aus der
Perspektive eines "lonely Singles",
der einem Single-Bewusstsein nichts abgewinnen
kann:
Vertrautes
Gelände, besetzte Stadt
"So
etwa läßt sich der zeitgemäße common love
sense formulieren: Treue ist gefordert,
solange etwas zwischen zwei Menschen dauert.
Endet es aber, so soll auch der Verlassene -
nach einer ihm kurz zugemessenen Trauerzeit -
sich von dem geliebten Menschen abwenden, ihn
möglichst vergessen, um wieder offen und
frei für andere und ein brauchbares Glied
der Gesellschaft zu sein. Der Liebeskranke
ist das nicht. Es werden also die wirklichen
Werte dieser Gesellschaft eingefordert, und
das sind in den menschlichen Beziehungen
diejenigen der fröhlichen und
lebensbejahenden Promiskuität. Den Einzigen
und die Einzige gibt es nicht, sagen diese
Werte, es findet sich immer bald etwas Neues,
und in der idealen Vorstellung sollte ohnehin
jeder mit jedem können."
(1998, S.65f.) |
SCHIMMANGs
Ausgangssituation ist die Bewältigung
des Verlassenwerdens. Die Stadt Köln,
in der er DIE Liebe seines Lebens erfahren hat,
ist einerseits ein "vertrautes
Gelände", weil er 22 Jahre dort gelebt hat,
aber andererseits ist Köln eine "besetzte
Stadt" geworden, weil sie ein Ort der
Erinnerung an die Zeit als Liebespaar ist. Diese
Erinnerung ist überfallartig und schmerzhaft,
aber als "eingeübter Einsamer"
ist der Tagebuchschreiber fähig den normalen
Single-Alltag aufrechtzuerhalten. Um sich
abzulenken, entdeckt er als Flaneur seine Stadt
neu. Die niedergeschriebenen Beobachtungen sind
Alltagsszenen im städtischen Raum, die das ganze
Spektrum des Geschlechter- und
Generationenverhältnisses verdeutlichen. Momente des
Glücks und Unglücks ergeben sich aus der Innenwelt des
Trauernden. Es sind diese detailgenauen Beschreibungen, die SCHIMMANGs
Bücher lesenswert machen und den
Single-Alltag dieses Typus näher bringen.
Die Vergangenheitsfixierung des einsamen
Singles
Die
Welt des "lonely Singles" ist
vergangenheitsfixiert, denn die goldenen
Zeiten liegen hinter ihm. Für SCHIMMANG und
seine literarischen Protagonisten sind dies die
eigene Kindheit, die 1960er Jahre und vor allem die
letzte und EINZIGE große Liebe. Im Werk von
SCHIMMANG läßt sich die Entwicklungsgeschichte
vom "ungeübten" zum
"eingeübten Einsamen"
verfolgen.
Die Entwicklung vom "ungeübten" zum
"eingeübten" Einsamen
Für Murnau,
die 30jährige Hauptfigur aus SCHIMMANGs
autobiografisch geprägtem Debütroman
Der schöne Vogel Phönix (1979)
folgt nach der ersten Liebe Angelika eine Periode
der Verzweifelung, die durch die "große
Liebe" Barbara eine kurze Unterbrechung
erfährt.
Der schöne
Vogel Phönix
"Meine
bedingungslose Verliebtheit verwandelte mich
selber so sehr, daß (...) ich zum erstenmal
seit meiner Ankunft in Berlin dem beginnenden
Tag in die Augen sehen konnte ohne Angst. Ich
fühlte nach, hörte in mich hinein,
zweifelte noch: aber die Angst, meine treue
Berliner Begleiterin, war nicht mehr da.
Plötzlich war ich nicht mehr überflüssig.
Für diesen veränderten Tatbestand hatte ich
selbst kaum etwas getan. Ich wurde einfach
gebraucht: ich selber, nicht irgendeine
Funktion, eine Fähigkeit, sondern ich,
Murnau, mit allem, was ich war - oder von dem
Barbara glaubte, ich sei es -, wurde
gebraucht, unteilbar."
(1979, S.253) |
Nach dem
Verlassenwerden flüchtet Murnau zuerst in
ziellose Aktivitäten, bevor er in Apathie und
Depressivität verfallend, einen Psychologen
aufsucht, der bei ihm Narzissmus
diagnostiziert.
Der schöne
Vogel Phönix
"Er
sah in seine Notizen und fing endlich an,
seine Vermutungen darüber zu äußern, was
falsch war mit mir: der Klient hat ungeheure
Ansprüche an seine Umwelt (»ich habe nie
etwas anderes erreichen wollen als das
Unmögliche«). Diese äußern sich aber
nicht fordernd, sondern allein in negativer
Form: Er hat Angst, daß »etwas in die
Brüche geht«, daß »ihm etwas weggenommen wird« (ich hatte
solche und ähnliche Wendungen während meiner Erzählung
häufig benutzt). Seine wirklichen Forderungen äußert er
nicht, da dies unvermeidlich aggressive Konflikte mit sich
bringen würde: Er aber will nicht kämpfen. Keine einzige
neue Erkenntnis: eine reine Zustandsbeschreibung, die ich
selbst hätte geben können".
(1979, S.269) |
Konsequenterweise
bietet auch der Roman keine Lösungen an. Murnaus
letzte Worte sind: "Die Angst, meine treue
Begleiterin, liegt neben mir, sie mag mich nicht
verlassen (...). Die Schneematschmonate werden
jetzt kommen (...), ich habe den Winter nie
gemocht, er ist zu nichts weiter gut als zum
Frieren. Ich werde mein Bestes tun, um ihn zu
überleben. Überleben ist schwieriger
geworden." (S.300)
Der alleinlebende Referent Holger Jülich aus
Das Ende der Berührbarkeit
(1981)
erlebt mit der Fotografin Anna eine kurzen
Periode des Glücks.
Das Ende der
Berührbarkeit
"Alles
ging leicht. Das trübnasse Winterwetter
drückte ihn nicht (...). Am frühen Abend
telefonierte er mit Freunden in anderen
Städten und sang sein Glück ins Telefon.
Mit Erstaunen sah er auf die letzten Monate
seines Lebens zurück und fühlte sich, in
einem der allerletzten noch möglichen
Momente, gerettet."
(1981, S.60) |
Während
Anna, die von ihrem Freund verlassen wurde, nur
auf eine Affäre aus ist, möchte Jülich eine
feste Beziehung. Die unvereinbaren Ansprüche an
die Beziehung führen zum baldigen Ende und der
Ich-Erzähler erfährt die "Schrecken der
Liebe". Er versucht zuerst Anna
wiederzugewinnen. Als sich dies als aussichtslos
erweist, versucht er Anna zu vergessen.
Auf einer
Reise nach Cornwall gewinnt er Abstand. Den
Fortschritt der Bewältigung des
Verlassenwerdens, schildert SCHIMMANG z.B. anhand der
verschiedenen Arten des Biertrinkens.
Das Ende der
Berührbarkeit
"Er
setzte sich an die Theke und bestellte ein
Bier, sah sich ruhig um in dem großen, fast
leeren Raum. Er trank jetzt anders,
langsamer, weniger gierig als noch vor
Wochen, auch weniger.
(...)
Am Ende der Theke, ihm gegenüber und weit
weg, sah Jülich ein verbissenes Gesicht,
zusammengezogene Schultern, flatternde Augen;
ein schneller, wütender, entschlossener
Trinker stand da, kämpfte literweise gegen
seinen Schmerz und wurde doch nicht
betrunken, nur etwas müde. Das war Jülich
selber gewesen, vor einigen Wochen noch. Er
sah sich dort stehen mit diesem verstörten
und wütenden Gesicht, eine Unperson, die
niemand bemerkt; das war vorbei, es hatte
viel zu lange gedauert. Gern hätte er dem
anderen am Ende der Theke ein paar Sätze
gesagt, aber er war sicher, daß er mit
Worten nicht zu erreichen war."
(1981, S.134f.) |
Der Single-Alltag eines Singles auf Zeit
Die
Tagebuchaufzeichnungen enden wie die Romane von
SCHIMMANG mit dem Ende der
"Trauerarbeit" und der Rückkehr in den
"schmerzfreien" Single-Alltag. Der
nächste Einbruch der Liebe ins Single-Dasein
kommt für den Single auf Zeit
bestimmt...
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