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Thema des Monats

 
       
   

Die Alleinreisenden

 
       
   

Eine erste Bestandsaufnahme zu einem vernachlässigten Thema

 
       
   

Die Themen des Beitrags

 
       
   
     
 

Zitate: Die Alleinreisenden in der Debatte

Tourismusforschung

"Nur sechs Prozent der deutschen Urlauber waren im Jahr 1987 allein unterwegs. Die noch vor Jahren propagierte Single-Welle im Urlaubsmarkt hat sich weitgehend überlebt. Selbst bei den 25- bis 49jährigen Singles fuhren zwei Drittel überhaupt erst los, nachdem sie bereits vor Antritt der Reise die geeigneten Urlaubspartner gefunden hatten. Urlaub ohne Partner oder Bezugsgruppe ist bei Männern und Frauen in gleicher Weise nicht mehr gefragt. Dies geht aus einer Repräsentativumfrage des B.A.T Freizeit-Forschungsinstituts bei 2000 Personen über 14 Jahre hervor.
Die 1,4 Millionen Alleinreisenden setzten sich zum überwiegenden Teil aus Verwitweten und Geschiedenen zusammen, für die der Verzicht auf einen Urlaubspartner offenbar mehr unfreiwillig als wirklich gewollt war. Denn für die meisten Bundesbürger gilt heut: Lieber gemeinsam in den Urlaub. So bleibt auch der »Urlaub von der Ehe« eine Legende. Nur 3 Prozent der Verheirateten verreisten 1987 ohne Partner oder Familie. Gemeinsamkeit im Urlaub ist für Alleinstehende genauso wichtig wie für Verheiratete. Dies erklärt auch die Resonanz auf Kontaktbörsen und Angebote spezieller Reisedienste für Alleinreisende, die Kontaktwünsche im Urlaub erfüllen helfen."
(Horst W. Opaschowski, 1989, S.98f.)

Singles

"Für die gezielte Ansprache muss man sich (...) etwas einfallen lassen, denn Singles sind alles andere als eine homogene Zielgruppe. Innerhalb der Alleinreisenden gibt es neben den agilen, alleinstehenden Yuppies um die 30 eine ganze Reihe von »Splittergruppen«: Zum einen ist nicht jeder einsame Globetrotter im Alltagsleben auch ein einsames Herz. Vielmehr wartet auf jeden fünften zu Hause ein Partner. Zum anderen verreisen nur etwa 20 Prozent der Alleinlebenden auch solo. Etwas über die Hälfte der Singletouristen ist weiblich. 24 Prozent sind unter 30 und fast 40 Prozent über 60 Jahre alt. Den Prototypen des Alleinreisenden gibt es also nicht."
(Carola Kleinschmidt in der LebensmittelZeitung Spezial, Nr.3, August 2001, S.41)

Generation Golf zwei

"Bei meinen älteren Geschwistern habe ich oft genug miterleben müssen, dass sie, wenn sie sich gerade mal wieder von ihrer großen Liebe getrennt hatten, allein verreisten. (...). Ich (...) habe mir deshalb geschworen, nie allein wegzufahren, komme und verlasse mich, was wolle. Denn das halten nur die härtesten Seelen aus, das sind diese Mir-geht-es-so-supergut-allein-Reisenden".
(Florian Illies, 2003, S.89)

Singles mit Profil

"Die Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen e. V. (F.U.R.) stellte fest: 67 Prozent der Singles (9,6 Millionen) haben 2001 eine Urlaubsreise gemacht. Diese Zielgruppe zeichnet sich damit durch eine unterdurchschnittliche Reiseintensität aus (Gesamtdurchschnitt: 76 Prozent). Die Singles machen 20 Prozent aller Urlaubsreisenden aus. Allerdings: »Die Ausgaben pro Person und Urlaubsreisen lagen 2001 im Gesamtdurchschnitt bei 793 Euro. Singles (1.039 Euro ) und Alleinreisende (1.090 Euro) investierten ungleich mehr in ihren Urlaub«"
(taz 31.01.2004)

Die Alleinreisenden - Eine erste Bestandsaufnahme

Die Alleinreisenden sind erst seit den 1970er Jahren ein Thema der sozialwissenschaftlichen Tourismusforschung (siehe hierzu STEINECKE & KLEMM 1985, S.9f). Die Zunahme der Einpersonenhaushalte, die veränderte Stellung der Frau in der Gesellschaft und die Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses haben zum Anstieg der Zahlen bei den Alleinreisenden geführt. Im folgenden sollen einige grundsätzliche Überlegungen zum Alleinreisen angestellt werden. Es geht dabei einerseits um eine erste Annäherung an die heterogene Gruppe der Alleinreisenden und zum anderen um Differenzierungen innerhalb des Angebots für Alleinreisende. 

Wer sind die Alleinreisenden?

Die Alleinreisenden sind nicht identisch mit den Alleinlebenden (inklusive Mitglieder von Wohngemeinschaften) oder den Partnerlosen. STEINECKE & KLEMM (1985) unterscheiden deshalb grob zwischen Alleinlebenden und nicht-alleinlebenden Alleinreisenden. Eine solche Sichtweise ist jedoch nicht mehr zeitgemäß, denn auch bei den Alleinlebenden muss zwischen alleinlebenden Partnerlosen und Alleinlebenden mit Partnerschaften (Living apart together, Fernbeziehungen usw.) unterschieden werden. Außerdem dürfen Partnerlose nicht unbesehen mit Partnersuchenden gleichgesetzt werden. Diese Unterscheidung wird jedoch selten berücksichtigt. Die sozialpopulistische Debatte in den Medien verstärkt diesen Fehlschluss zusätzlich. Die Haushaltsform ist vor allem im mittleren Lebensalter kein zuverlässiges Indiz für Partnerlosigkeit.

Auf der anderen Seite ist das Vorhandensein eines Partners oder eines Kindes und damit das Leben im Mehrpersonenhaushalt kein Indiz mehr dafür, dass gemeinsam verreist wird. Berufliche Gründe, Krankheiten, Beziehungskrisen oder unvereinbare Urlaubswünsche können einer gemeinsamen Urlaubsreise entgegenstehen:

Seht, da isser!

"Pauschalreisen wollen früh überlegt sein. Diese Art von früher Festlegung fordert ihren Tribut. Kurz vor Reisenbeginn sagt mein Mann ab, zumindest für die erste Woche. Aber gebucht ist gebucht. Ich fahre mit meinem Sohn allein ins All-inclusive-Paradies."
(Frauke Schirmbeck in der taz vom 07.02.2004)

Solisten auf Reisen

"Ich war froh, dass ich mich mal vierzehn Tage von meiner Familie mit den drei Kindern lösen konnte. Mein Mann war ein Reisemuffel." (Barbara Harms-Wichmann in der taz vom 31.01.2004)

Die Auflösung traditioneller Lebensformen und die Folgen für das Reiseverhalten bringt am prägnantesten Jenny ERPENPECK in einem Zeit-Artikel auf den Punkt:

Ich mit mir allein

"Es ist Pfingsten, und ich bin in der Fremde. Ich arbeite seit längerem in dieser Fremde - lang genug, um einige Freundeskreise gestreift zu haben, aber nicht lang genug, um in die Pfingstunternehmungen dieser Freunde einbezogen zu werden. Lang genug, um mein Herz hier zu verlieren, aber nicht lang genug, um mit dem, den ich liebe, gemeinsam zu verreisen. Ich habe drei Tage frei und bin allein auf der Welt."
(Die Zeit 14.03.2002)

Auf die besondere Situation der älteren Alleinlebenden soll hier im folgenden nicht näher eingegangen werden. Gerade ältere Rentnerinnen - eine quantitativ besonders bedeutsame Gruppe der Alleinlebenden -  haben völlig andere Interessen als junge, noch nicht berufstätige Singles oder Berufseinsteiger sowie Berufstätige im mittleren Lebensalter. Im Literaturanhang finden sich jedoch auch zu dieser Gruppe Medienberichte und weiterführende Literatur. Ebenfalls nicht berücksichtigt werden generationenspezifische Aspekte. Inwiefern sich die älter werdenden 68er von früheren Rentnergenerationen unterscheiden werden, muss hier offen bleiben. Der Lebenssituation und den Bedürfnissen älterer Alleinreisender wird zu einem späteren Zeitpunkt in einem eigenen Beitrag Rechnung getragen.

Warum alleine verreisen?

Bei den nicht-alleinlebenden Alleinreisenden wurden bereits Gründe genannt, die eine gemeinsame Reise verhindern können. Das Alleinreisen erscheint dadurch nur als zweite Wahl.  Alleinlebende hindert dagegen grundsätzlich niemand am Verreisen. Das Interesse von Reiseunternehmen an den Alleinlebenden lässt sich aus folgender Analyse ableiten:

Urlaubsgewohnheiten

"Die Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen e. V. (F.U.R.) stellte fest: 67 Prozent der Singles (9,6 Millionen) haben 2001 eine Urlaubsreise gemacht. Diese Zielgruppe zeichnet sich damit durch eine unterdurchschnittliche Reiseintensität aus (Gesamtdurchschnitt: 76 Prozent). Die Singles machen 20 Prozent aller Urlaubsreisenden aus. Allerdings: »Die Ausgaben pro Person und Urlaubsreisen lagen 2001 im Gesamtdurchschnitt bei 793 Euro. Singles (1.039 Euro ) und Alleinreisende (1.090 Euro) investierten ungleich mehr in ihren Urlaub«"
(taz 31.01.2004)

Alleinlebende verreisen seltener als andere, aber wenn sie verreisen, dann geben sie dafür mehr Geld aus. Wenn es also gelänge die Alleinlebenden besser anzusprechen, dann wäre dies ein Beitrag zur Überwindung der Flaute in der Tourismusbranche.

In Urlaub zu fahren ist seit der Wirtschaftswunderzeit mehr und mehr zur gesellschaftlichen Norm geworden. Das wird am Beispiel der alleinlebenden Romanfigur Abschaffel aus dem Roman Die Vernichtung der Sorgen von Wilhelm GENAZINO deutlich:

Die Vernichtung der Sorgen

"Es war Juni. Abschaffel fühlte sich wegen des Sommers beunruhigt. In den Straßen bepackten Familienväter ihre Autos mit einer endlosen Anzahl von Campingartikeln. (...). Sie fuhren im Sommer einfach in Urlaub, kamen zurück und arbeiteten weiter. Sie erzählten eine Weile vom Urlaub, und wenn die Bilder schwach wurden, erörterten sie ihren nächsten Urlaub, und immer so weiter. Abschaffel war seit Jahren nicht mehr in Urlaub gewesen. Er fühlte sich zu stolz dazu, mit irgendwelchen Personen an irgendwelchen Stränden zu liegen, aber er wurde seiner Distanz nicht froh. Am stärksten beunruhigte ihn, daß er, was das Urlaubsproblem betraf, immer mehr seinem Vater ähnelte (...). Aus Ängstlichkeit und Verstocktheit hatte es der Vater nicht mehr gewagt, in einen fremden Ort zu gehen, und Abschaffel hatte den Vater deswegen verspottet. Er hatte nur nicht rechtzeitig bemerkt, daß er, während er vor Jahren den Vater verhöhnt hatte, selbst schon begonnen hatte, nicht mehr in Urlaub zu fahren. Außerdem kränkte ihn, daß er gar nicht sicher war, ob es denn wirklich sein Stolz und seine Scham waren, die ihn am Urlaubmachen hinderten. Aber was war es sonst?"
(1978, S.7)

Der 68er Abschaffel kann sich Ende der 1970er Jahre sein Unbehagen nicht recht erklären. Heutzutage ist es dagegen selbstverständlich geworden, auf die schlechten Erfahrungen von anderen Menschen zu verweisen. So z.B. Kirsten KÜPPERS:

Hiergeblieben!

"Sie kennt Alleinreisende, die in der Ferne im Kummer verschwinden. Die, nur weil sie Alleinreisende sind, das Zimmer mit Blick auf den Parkplatz abkriegen und nicht auf den Golf von Neapel. Die kreuzunglücklich sind von der Einsamkeit. Eine Traurigkeit, die draußen bei den Attraktionen der Welt leichter auf einen herunterfällt als im gewohnten Gelände."
(FAS 15.09.2001)

Wer - trotz aller Möglichkeiten der Reisepartnervermittlung - keine passende Reisebegleitung findet, der bleibt möglicherweise lieber zu Hause als sich den Herausforderungen des Alleinreisens zu stellen. Barbara HARMS-WICHMANN, die lange den Freundeskreis der Alleinreisenden geleitet hat, beschreibt im Gespräch die Veränderungen:

Solisten auf Reisen

Katzentisch und Besenkammer«, betitelte die Stiftung Warentest einen Report über Alleinreisende im Jahr 1979. Stimmt das Bild von gestern auch heute noch?
Eigentlich weniger. Seit damals hat sich für Alleinreisende doch einiges zum Positiven verändert. Dafür habe ich mich permanent eingesetzt. Ich habe immer wieder Gespräche mit Politikern, Tourismusverbänden und Hoteliers geführt und viel Öffentlichkeitsarbeit gemacht. Bei meiner Arbeit hat mich vor allem die Allgemeine Hotel- und Gaststätten-Zeitung unterstützt. Nur der Einzelzimmerzuschlag ist schwer wegzukriegen. Aber wenn man im Hotel als Einzelreisender ein Doppelzimmer bekommt, dann kann man handeln. Aber das wissen die meisten gar nicht."
(taz 31.01.2004)

Die folgende Einschätzung von Albrecht STEINECKE & Kristiane KLEMM in der Studie Allein im Urlaub aus dem Jahre 1985 hinsichtlich der besonderen Situation von Alleinreisenden ist offenbar aktueller denn je:

Allein im Urlaub

"Zu einer touristischen Problemgruppe geraten die Alleinreisenden (...) besonders aufgrund einer Stigmatisierung durch andere Urlauber (Einsamkeit und Isolation als zugeschriebene Werte), dann durch objektive Kontakt- und Integrationsprobleme und schließlich infolge von Benachteiligungen durch die touristischen Leistungsträger."
(1985, S.5)

Während die Benachteiligungen durch die touristischen Leistungsträger zumindest in Teilen abgebaut worden sind, rücken die Probleme mit Nicht-Alleinreisenden in den Vordergrund:

Flitterwochen mit mir selbst

"Mir wurde klar, dass ich zum falschen Marktsegment gehörte. Was hatte ich hier verloren, mutterseelenallein in der Südsee? Ich reise sonst viel und gern allein, aber diesmal fühlte ich mich, nun ja, doch etwas unvollständig. Was weniger an der geballten Zweisamkeit ringsum lag, denn sonderlich glücklich wirkten eigentlich die wenigsten. Aber wir jagten zwei grundverschiedenen Mythen nach, die nicht miteinander in Einklang zu bringen waren. Alle Übrigen spielten Adam und Eva, nur ich gab den Robinson."
(Stefan Schoman in der taz vom 07.02.2004)

Seht, da isser!

Ich fahre mit meinem Sohn allein ins All-inclusive-Paradies. (...). Wir sind zu zweit allein. Um uns herum sitzen die Gäste an 4er-, 5er-, 6er-Tischen, in geschlossenem Familienverband. (...). Es gibt keine 2er-Tische.
Dieser All-inclusive-Schuppen bietet alles, nur keine Alleinreisenden.
"
(Frauke Schirmbeck in der taz vom 07.02.2004)

Die Gefahr bei der Buchung von Pauschalreisen besteht also darin, dass man einen ganzen Urlaub lang festgelegt ist und der Urlaubsort zur Hölle werden kann. Dagegen wird der Individualreisende für seinen erhöhten organisatorischen Aufwand dadurch entschädigt, dass er unangenehme Situationen kurzerhand durch Ab- bzw. Weiterreise beenden kann.

Das Glück des Alleinreisens

Standen bisher eher die Nachteile des Alleinreisens im Vordergrund, soll es nun um das Erstrebenswerte gehen. STEINECKE & KLEMM (1985) haben den Glücksmomenten des Alleinreisens drei Erfahrungstypen zugeordnet, die im nachfolgenden das Thema strukturieren sollen.

Das Alleinreisen als bewusste Form des Alleinseins

Voraussetzung für diesen Erfahrungstyp ist, dass man das Alleinsein positiv empfindet. STEINECKE & KLEMM schreiben über diese Situation des Alleinseins:

Allein im Urlaub

"Sie wird besonders deswegen als positiv empfunden, weil sie die Möglichkeit bietet, sich selbst, aber auch die Umwelt ohne Ablenkungen bewußter wahrzunehmen. Die fehlende Chance, sich über diese Erfahrungen mit anderen auszutauschen und zu verständigen, wird dabei nicht als Mangel betrachtet. Die Anwesenheit anderer Menschen gilt eher als ein Störfaktor, der diese Erfahrung verhindert".
(1985, S.65)

Dies ist nicht jedermanns Sache. Das sich Einlassen müssen auf das Alleinsein wird deshalb gerne abgewehrt und abgewertet:

Allein reisen

"Wer allein reist, muss immer wieder beweisen, dass mit ihm ansonsten alles in Ordnung ist. Deswegen erwähne ich hier meine Frau. Wenn ich am Ende erleichtert zu ihr und zu Freunden zurückkehre, fühle ich mich als abenteuerlicher Held, der die ganze Wucht der Einsamkeit ausgehalten hat. Nun schwärme ich den anderen vor, wie speziell das Alleinreisen ist, wie viel mehr man wahrnimmt, weil man ja der Fremde ungeschützt ausgeliefert ist und sich nicht abschotten kann in gewohnte Zweisamkeit. Die anderen nicken - und wissen es besser."
(Dietmar Bittrich in der Welt am Sonntag vom 02.06.2002)

In der Persönlichkeitspsychologie wird der Extravertierte vom introvertierten Typus unterschieden. In der außengeleiteten Gesellschaft (David RIESMAN) gilt der Introvertierte als Außenseiter und Sonderling. Seine Sachorientierung gilt gegenüber der geforderten Teamfähigkeit als suspekt. Nur bei der "geistigen" Elite wird dieses aus der Reihe tanzen notgedrungen akzeptiert oder gar hochstilisiert. Der verstorbene Philosoph und Single Immanuel KANT wird dann z.B. zur dandyesken Avantgarde überhöht. Auch die Soziologie und Politik steht dem Nicht-Sozialen kritisch gegenüber. In seiner Betrachtung über Solitäre Enklaven. Zur Soziologie des Nicht-Sozialen aus dem Jahre 1991 im Sammelband Muster moderner Lebensführung. Ansätze und Perspektiven, herausgegeben von Hans Rolf VETTER, bringt der Soziologe Peter GROSS das Unbehagen am bewussten Alleinseinwollen auf den Punkt:

Solitäre Enklaven

"Im Refugium ist man mit sich selber und kann sich in die Versenkung versenken, sich auf die Konzentration konzentrieren, mit sich selber arbeiten, sich selber kasteien, sich selber dramatisieren, inszenieren, erotisieren - möglicherweise, in Ausnahmefällen, als Übung für das Heraustreten aus der Masse, üblicherweise aber als selbstbezügliches Exerzitium, als Welt- und Menschenverneinung für längere oder kürzere Zeit. Nicht der Aufstand der Massen ist heute beunruhigend - oder nicht nur! - sondern das Heraustreten aus der Masse und das Verschwinden in der Solitüde."
(aus: Muster moderner Lebensführung 1991, S.384)

Nichtsdestotrotz sieht Peter GROSS das Alleinsein als Voraussetzung für soziale Innovationen:

Solitäre Enklaven

"Soziale Innovationen, wie Lesen und Schreiben, in modernen Gesellschaften obligatorische Fertigkeiten, sind Dinge, die man solitär unternehmen muß, im Unterschied zum Sprechen, das offen ist für beide Möglichkeiten, für die Verständigung und die Selbstverständigung im Selbstgespräch."
(aus: Muster moderner Lebensführung 1991, 387f.)

In seinen besten Momenten ermöglicht das Alleinreisen soziale Innovationen, die nicht nur für die Gesellschaft bedeutsam sind, sondern auch für den Einzelnen fruchtbar sein können. Gerade Schriftsteller und andere "Kreative" (heutzutage nicht mehr unbedingt positiv konnotiert!) können der Einsamkeit in der Nachfolge des Eremiten oder Mönchs ganz andere Seiten abgewinnen. Dazu zitiert Peter GROSS aus dem Buch Paare, Passanten von Botho STRAUß:

Solitäre Enklaven

"Auf seiner Höhe ist jemand nur, wenn er allein und schutzlos handelt (...). Von allen Seiten angreifbar, muß er sich rüsten mit schärferer Wahrnehmung, muß im Erleben und schneller und genauer treffen als die Verbundenen".
(Botho Strauß, 1984, S.521f.; zitiert nach Peter GROSS in: Muster moderner Lebensführung 1991, S.391)

Peter GROSS fasst unter dem Begriff des solitären Handelns jene Tätigkeiten, die auch für das Alleinreisen konstitutiv werden können:

Solitäre Enklaven

"Solitäres Handeln oder Verhalten ist ein Konglomerat von Möglichkeiten. Ist der Ausgangspunkt die Person, so erscheinen: der Einzelgänger, der Einsiedler, der Eremit der Einzelkämpfer. Rückt man die solitären Enklaven ins Visier, so tauchen auf: die Höhle, die Zelle, der Kerker, die Klause. Stellt man die Möglichkeiten des Tätigwerdens in den Blickpunkt, so denkt man ans Schweigen, ans Zwiegespräch, an das In-sich-hineinhorchen, an die Reflexion, aber auch daran, sich mit sich zu befassen, über sich nachzudenken, sich selber helfen, sich selbst zu genügen, sich zu inszenieren, zu befriedigen."
(aus: Muster moderner Lebensführung 1991, S. 398)

Eine Übertragung dieser Überlegungen auf die Situation des Alleinreisenden steht noch aus. Über die Überlebenswichtigkeit des solitären Handelns in der Gegenwartsgesellschaft lässt Peter GROSS keinen Zweifel:

Solitäre Enklaven

"Die Kulturbedeutsamkeit des Solitärs besteht (...) nicht darin (...), daß eine bestimmte gesellschaftliche Situation den Solitär aus sich herauspreßt und er nun sehen muß, wie er damit fertig wird. Vielmehr paßt solitäres Handeln in die Lebenswirklichkeit und prägt diese gleichzeitig. Die moderne Lebenswirklichkeit selektiert solitäres Handeln. Solitäres Handeln ist mehr denn je überlebenswichtig. Der Mensch muß (...) sich selber beobachten und über sich selber nachdenken, sich mit sich selber beschäftige. Das gehört zur anthropologischen Grundausstattung, ist aber heute von besonderer Bedeutung. Die Relevanz des solitären Tuns ist in dieser Sicht darauf zurückzuführen, daß die traditionalen, vielleicht auch rationalen Verhaltensweisen gegenüber den individualisierten Verhaltensweisen, die sozialen Verhaltensweisen gegenüber den asozialen Verhaltensweisen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit (...) keinen Halt mehr finden. Die alten Pfade des Instinkts, die Kosmologien der Hochkulturen, die Meistererzählungen der monotheistischen Religionen und ihre ideologischen Äquivalente, die Philosophien der Brüderlichkeit und Lieben, führen nicht mehr.
So wird solitäres Handeln einerseits erzwungen und ist andererseits eine neuartige Kulturtechnik, ein Kampf- und Stilprinzip, welches überlebenswichtig ist."
(aus: Muster moderner Lebensführung 1991, S.403)

Peter GROSS hat dieses Manifest des Solitären in einer Zeit verfasst, in der die individualisierte Gesellschaft noch nicht massiv in die Kritik geraten ist. Heute jedoch leben wir in einer gesellschaftlichen Situation, in der die Individualisierungsverheißungen verblassen und neue Zwangsgemeinschaften als gesellschaftliche Lösung propagiert werden . Ob es nun die neuen Kommunitaristen, die neuen Reaktionäre, die neue Werteeliten oder nur der neue Autoritarismus (DAHRENDORF) einer Sozialdemokratisierung im Niedergang ist, gerade in solchen Zeiten ist das solitäre Handeln als Gegengewicht zur drohenden Zwangsbeglückung notwendiger denn je. Zusammengefasst, lässt sich sagen: Das Alleinreisen als bewusste Form des Alleinseins genutzt, ermöglicht also die Entdeckung der eigenen produktiven Potenziale.

Das Alleinreisen als Selbstbestimmung der sozialen Kontakte

Wurden unter dem ersten Punkt die Möglichkeiten des Denkens und Reflektierens beim Alleinreisen in den Mittelpunkt gestellt, so geht es nun um die praktischen Seiten und das soziale Kontaktverhalten. STEINECKE & KLEMM (1985) beschreiben folgende Vorzüge:

Allein im Urlaub

"Das Glücksgefühl bei diesem Erfahrungstypus besteht grundsätzlich aus der größeren Selbständigkeit beim Alleinreisen. Bereits die Entscheidung für die Reise kann mit größerer Spontaneität gefällt werden. (...).
Auch während der Reise wird es bei diesem Erfahrungstypus als positiv empfunden, über eine absolute Entscheidungsfreiheit verfügen zu können und keine Kompromisse eingehen zu müssen.
Hinsichtlich der sozialen Kontakte (...) wird immer wieder auf die Wahlfreiheit verwiesen (...).
Der Wunsch nach Selbstbestimmung der sozialen Kontakte beinhaltet (...) eine größere Offenheit anderen Menschen gegenüber. Immer wieder wird betont, daß es für Alleinreisende erheblich einfacher ist, mit anderen Urlaubern und vor allem auch mit der einheimischen Bevölkerung in Kontakt zu kommen".
(1985, S.67ff.)

Grundlage dieser Einschätzung sind Gespräche mit Alleinreisenden gewesen. Dass Begründungen gegenüber Anderen nicht unreflektiert übernommen werden dürfen, das macht Sten NADOLNY in seiner Erzählung Netzkarte deutlich:

Netzkarte

"Die Wahrheit ist, daß ich gern im Zug sitze und aus dem Fenster sehe, meine Phantasie in Gang kommen lasse und allerlei Pläne mache. Das einzige, was mich bisher daran gestört hat, war die Zumutung, irgendwo aussteigen zu müssen, weil die Fahrt zu Ende war. Aus diesem Grunde kaufte ich mir die Netzkarte. So etwas könnte ich sicherlich gerade einer Freundin nicht ohne weiteres begreiflich machen. Wie gut, daß ich keine habe - schon das Erklärenmüssen behindert eine Reise. Die Freiheit soll es sein und keine Fessel, kein Joch - niemals!"
(1981)

Nimmt man nicht alles für bare Münze, dann bleibt immer noch die größere objektive Entscheidungs- und Wahlfreiheit des Alleinreisenden übrig. Was der Einzelne daraus macht, ist dann eine ganz andere Sache. Inwiefern das Eingehen von sozialen Kontakten selbstbestimmter ist als bei gemeinsamen Reisen oder Gruppenreisen, das ist auch eine Frage der vorhandenen Fertigkeiten. Wer im normalen Alltag kein Casanova ist, der wird auch auf einer Reise nicht gleich zum Casanova reifen. Andererseits erleichtert das Alleinreisen die Aneignung der Flirtfertigkeiten. Der Urlaubsflirt oder die Urlaubsbekanntschaft bzw. Affäre ist deshalb nicht selten ein Ziel von alleinreisenden Partnersuchenden. In modernen Single-Reiseführern fehlt selten ein Kapitel über dieses Thema (z.B. Jörg MÜLLER, 1995). Ole Reuter, der Held von Sten NADOLNYs Erzählung Netzkarte formuliert das folgendermaßen: 

Netzkarte

"Wenn ich die Richtung meiner Phantasien über einen gewissen, durch Gewohnheit und realistische Einschätzung meiner Möglichkeiten gesetzten Punkt hinaus verlängere, dann ist ein Ziel meiner Reise eine sehr intensive, aber möglichst häufig das Objekt wechselnde Annäherung an das weibliche Geschlecht. Oder, ein Spur kürzer gesagt: ich sinne auf Eroberungen."
(1981, S.11)

Andere, wie z.B. Michel HOUELLEBECQ, widmen sich dagegen gleich dem Typus des so genannten Sextouristen, der bei ihm zum Sinnbild der entfesselten neoliberalen Gesellschaft wird. In dem Roman Elementarteilchen schildert HOUELLEBECQ ein Nudistencamp aus der Perspektive des alternden Sexaholics Bruno:

Elementarteilchen

"Viele Gäste, die im ORT DER WANDLUNG ihre Ferien verbrachten, waren wie Bruno um die Vierzig; viele arbeiteten wie er im Sozial- oder Erziehungssektor und waren durch ihren Beamtenstatus vor der Armut geschützt. Fast alle hätten sich als Linke bezeichnet; fast alle lebten allein, meistens nach einer Scheidung. Im Grunde war er also ein durchaus typischer Besucher des Zentrums."
(1999, S.143)

Während sich HOUELLEBECQ hier noch mit den Defiziten der sexuellen Demokratie in den Industrieländern beschäftigt, entwirft HOUELLEBECQ in dem Roman Plattform eine umstrittene Utopie, in der der Sextourismus als gerechter Tausch beschrieben wird zwischen den reichen - aber feminismusgeschädigten Industrieländern - und den armen - aber durch ihre unverdorbenen, leidenschaftlichen Frauen reichen - Drittweltländern. Dieser Aspekt soll hier zwar der Vollständigkeit halber erwähnt, aber nicht weiter ausgeführt werden. In der Studie von STEINECKE & KLEMM aus dem Jahr 1985 wird dieses Thema noch gar nicht erörtert. Während einige Alleinreisende also auf Partnersuche sind, möchten andere vielleicht nur ihre Ruhe haben oder möchten eine Trennung oder Beziehungskrise verarbeiten - ohne gleich wieder eine Affäre anzustreben.

In der Erzählung Das Ende der Berührbarkeit von Jochen SCHIMMANG geht es um das Alleinreisen als Möglichkeit des Abstandgewinnens. Den Fortschritt der Bewältigung des Verlassenwerdens, schildert SCHIMMANG z.B. in den verschiedenen Arten des Biertrinkens:

Das Ende der Berührbarkeit

"Er setzte sich an die Theke und bestellte ein Bier, sah sich ruhig um in dem großen, fast leeren Raum. Er trank jetzt anders, langsamer, weniger gierig als noch vor Wochen, auch weniger.
(...)
Am Ende der Theke, ihm gegenüber und weit weg, sah Jülich ein verbissenes Gesicht, zusammengezogene Schultern, flatternde Augen; ein schneller, wütender, entschlossener Trinker stand da, kämpfte literweise gegen seinen Schmerz und wurde doch nicht betrunken, nur etwas müde. Das war Jülich selber gewesen, vor einigen Wochen noch. Er sah sich dort stehen mit diesem verstörten und wütenden Gesicht, eine Unperson, die niemand bemerkt; das war vorbei, es hatte viel zu lange gedauert. Gern hätte er dem anderen am Ende der Theke ein paar Sätze gesagt, aber er war sicher, daß er mit Worten nicht zu erreichen war."
(1981, S.134f.)

Zur Selbstbestimmung der sozialen Kontakte gehört auch dieses asoziale Element.

Das Alleinreisen als Selbstbestätigung und Leistungsbeweis

Der letzte Erfahrungstypus hebt auf den persönlichen Gewinn durch das Alleinreisen - besonders bei Individualtouristen ab:

Allein im Urlaub

"Bei diesem Erfahrungstypus werden besonders die Schwierigkeiten und Probleme hervorgehoben, die bei einer allein unternommenen Reise auftauchen. So müssen (...) allein Informationen eingeholt, Entscheidungen getroffen, Fragen der Reiseorganisation und des Reiseablaufs geklärt werden (...).
Dieses Verständnis der Urlaubsreise als Möglichkeit, Selbstbestätigung zu finden und eine Leistung vorweisen zu können, ist ein Hinweis auf den engen Zusammenhang zwischen den Urlaubsbedürfnissen und der Alltagssituation. (...).
Sich in einer fremden Situation allein zurechtzufinden und sei zur eigenen Zufriedenheit zu gestalten, bringt authentische, direkte Erfolgserlebnisse".
(1985, S.70ff.)

Der Schriftsteller Peter HANDKE hat diesen ambivalenten Aspekt besonders prägnant in dem Buch Versuch über die Jukebox beschrieben:

Versuch über die Jukebox

"Vielleicht war es ein Zwang, daß er sich (...) Fluchten, den Weg zurück,  verbot - es durfte nur noch weiter weg über den Kontinent gehen -, und ein Zwang vielleicht auch, daß er, nach einer Zeit des Beanspruchtseins nun ohne Pflichten und Bindungen, meinte, für sein Anschreibengehen (.. ), sich ein jedes Mal regelrecht aussetzen zu müssen, in eine gerade noch zu bewältigende Unwirtlichkeit, in eine auch die tagtäglichen Lebensumstände bedrohende Grenzsituation, mit der Verschärfung, es habe, neben der Sache des Schreibens, zusätzlich eine zweite angegangen zu werden: eine Art Erkundung oder Vermessung des jeweiligen fremden Ortes und ein Sicheinlassen, allein, ohne Lehrer, auf eine Sprache, die zunächst möglichst unbekannt sein mußte."
(1993, S.24)

In dem Reisetagebuch Fiesta, Ramadan und tote Helden des Travellers Peter OEFELE wird dieser Aspekt durch die Tagebuchform nachvollziehbar. Der Stress durch ständig neue, unverhoffte Probleme wandelt sich mit dem Abstand zum Geschehen zum Stolz über die erfolgreiche Bewältigung der Situation. In dem Buch erfährt man auch mehr über das spezielle Selbstverständnis von Travellern, die sich als eine Art Familie begreifen. Das solitäre Alleinreisen gewinnt dadurch eine gewisse soziale Eingebundenheit:

Fiesta, Ramadan und tote Helden

"Es war eine tolle Truppe, die wir irgendwann (wohl als Placebo) »La Famille« tauften. (...). Was man besaß, wurde geteilt, wir kamen blendend miteinander aus, und so erscheint es auf den zweiten Blick auch gar nicht so verwunderlich, dass sich ein Großteil von La Famille später an anderen Orten suchte und wiederfand. Das vielleicht Auffälligste an all diesen Menschen war, dass sie allesamt, fast ausnahmslos, genauso wie ich, alleine ihres Weges zogen. Wir machten Witze über diese merkwürdige Begebenheit, und deswegen verstanden wir uns wohl auch so gut, schließlich wusste jeder vom anderen, dass er im Endeffekt dasselbe tat: Einsam durch die Gegend streifen, auf der Suche nach einem unbekannten Ziel, das gleichbedeutend mit dem Weg ist."
(2003, S.95)

Damit sind wir am Ende der ersten Bestandsaufnahme eines bislang wenig beachteten Themas. Mehr kann es nicht sein, denn viele Aspekte bleiben unerörtert. Zu gegebener Zeit wird besonderen Aspekten des Alleinreisens ein eigener Beitrag gewidmet.

Fazit: Das Alleinreisen hat zu Unrecht ein schlechtes Image

Über das Alleinreisen und die Alleinreisenden kursieren vielfach negative Vorstellungen in der Gesellschaft. Diese Reiseform erscheint deshalb vielen als defizitär. Alleinreisen wird in dieser Sicht nur als zweite Wahl begriffen, weil entweder der passende Reisebegleiter - im Idealfall auch als Lebenspartner gedacht - fehlt, oder das Alleinreisen als wenig angenehme Situation abgelehnt wird. Als Pauschaltourist ist der jüngere Alleinreisende eher randständig. Einsamkeit, Isolation und Katzentisch sind nur einige der Klischees, die mit dem Alleinreisen assoziiert werden. Dagegen erscheint in einer anderen Sicht das Alleinreisen als Herausforderung, die gemeistert werden kann und erheblich zum Wohlbefinden und Selbstwertgefühl des Alleinreisenden - auch im Alltag nach Ende der Reise - beitragen kann. 

 
     
 
       
   

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webmaster@single-generation.de Erstellt: 14. Februar 2004
Update: 23. November 2018