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Einführung
Die Zukunft der Deutschen
führt geradewegs in den Untergang, wenn wir nicht die
gravierenden Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte radikal
korrigieren. So prophezeien es populäre Sachbücher der letzten
Jahre von Frank SCHIRRMACHER ("Das Methusalem-Komplott",
"Minimum") über Franz-Xaver KAUFMANN ("Schrumpfende
Gesellschaft") bis zu Thilo SARRAZIN ("Deutschland schafft sich
ab").
Kennzeichnend für diese Sichtweisen sind
quasinaturgesetzliche Abwärtsspiralen, ob sie nun die
biologische Familie betreffen wie bei SCHIRRMACHER, die
Gesellschaft wie bei KAUFMANN oder die Intelligenz wie bei
SARRAZIN. Gegenüber diesen auf quantitatives Wachstum fixierten
Lebensstandard-Ansätzen, setzen sich Ansätze ab, die auf
qualitatives Wachstum setzen, so zum Beispiel die
Ressourcentheorie von Alban KNECHT, der den Ansatz von Amartya
SEN weiterentwickelt hat und damit eine Möglichkeit bietet, die
derzeitigen sozialpolitischen Entwicklungen zu bewerten.
Gleichzeitig bietet der Ansatz Maßstäbe für eine sinnvolle
Weiterentwicklung des Wohlfahrtsstaates zu einem "Befähigkeitsstaat". In
seinem hervorragenden Buch
Lebensqualität produzieren
(2010) macht Alban KNECHT die ökonomische Philosophie von
Amartya SEN für die Soziologie und die Psychologie
fruchtbar.
Lebensqualität produzieren
"Die
Sozialpolitik spielt in den modernen Gesellschaften eine
zentrale Rolle. Trotzdem gibt es kaum Modelle und
Theorien, die über ihre Wirkungsweise Aufschluss geben
könnten. Diese Lücke schließt Alban Knecht mit seiner
Ressourcentheorie. Durch eine Weiterentwicklung des
Capability-Ansatzes von Amartya Sen gelingt es, die
Bedeutung von Ressourcen für Bildungs-, Berufs- und
Gesundheitskarrieren nachzuzeichnen. Die Lebensqualität
der BürgerInnen wird nicht allein durch die Umverteilung
von Geld und die Zuteilung von Bildungschancen
beeinflusst. Auch die gesundheitlichen, psychischen und
sozialen Ressourcen werden durch die sozialstaatliche
Tätigkeit strukturiert. Der Wohlfahrtstaat steuert so die
Produktion der Lebensqualität verschiedener
Bevölkerungsgruppen. Ländervergleiche zeigen die
gesellschaftsstrukturierende Wirkung und sozialinvestive
Bedeutung der unterschiedlichen Lebensqualitätsregime
auf."
(Klappentext) |
Das Buch ist zum einen
eine Einführung in den Denkansatz von Amartya SEN und zum
anderen eine politische Soziologie sozialer Ungleichheit und des
Wohlfahrtsstaats. In diesem Sinne werden im Folgenden die
Implikationen dieser neuen Sichtweise für die Kritik der
herrschenden Sozialpolitikvorstellungen in unserer Gesellschaft
der Langlebigen aufgezeigt.
Die reduktionistische Auslegung des
Denkansatzes von Amartya Sen
Seit der Verleihung des
Nobelpreises an den indischen Wirtschaftswissenschaftler Amartya
SEN im Jahr 1998 hat die Sichtweise von SEN weltweit an
Bedeutung gewonnen. Dies führt dazu, dass sein Denkansatz in
unterschiedlicher Weise vereinnahmt und vereinseitigt wird.
Ein
prominentes Beispiel dafür ist der Bestseller Deutschland
schafft sich ab von Thilo SARRAZIN. Auf Seite 130 behauptet
er über die tiefgründige und vieldimensionale Analyse von SEN
begeistert zu sein, tatsächlich geht es SARRAZIN aber einzig
darum zu belegen, dass die Hartz-IV-Empfänger selber Schuld an
ihrer Armutssituation sind. KNECHT bezeichnet diese
reduktionistische Auslegung zu Recht als Individualisierung
sozialer Probleme. SARRAZIN
geht es z. B. im Kapitel Ernährung darum zu belegen, dass der Hartz-IV-Regelsatz selbst bei einer Kürzung noch für eine
gesunde Ernährung ausreicht. Seine Kritik am Sozialstaat läuft
deshalb darauf hinaus, dass es in Deutschland keine Armut bzw.
Strukturprobleme gibt, sondern nur Verhaltensprobleme. Einer
solchen einseitigen Sichtweise wurde bereits in den letzten
Jahren durch die Zeitungsartikel und Bücher des prominenten
neokonservativen Historikers Paul NOLTE Vorschub geleistet.
Deutschland schafft sich ab
"Da
gegenwärtig keine Armutsdefinition ohne den Verweis auf
Amartya Sen auszukommen scheint, habe ich mich mit seinem
Werk näher beschäftigt und war begeistert von seiner
tiefgründigen und vieldimensionalen Analyse."
(2010,
S.130)
"Wenn
der Regelsatz eine ausgewogene, abwechslungsreiche und
ausreichende Ernährung erlaubt, dann haben die Empfänger
von Transferzahlungen, die sich und ihre Kinder nicht
gesund und in jeder Hinsicht adäquat ernähren, kein
Einkommens- oder Armuts-, sondern ein Verhaltensproblem.
Damit wird aus einer Forderung der Gesellschaft eine
Forderung an das Individuum und aus der
Gesellschaftskritik eine Individualkritik."
(2010, S.119) |
Das Buch von SARRAZIN, das
im Vorfeld der Beratungen zum Hartz-IV-Regelsatz im Bundestag
erschien, wurde von den mächtigen Medien Bild und
Spiegel durch Vorabdrucke ins Rampenlicht befördert.
Ziemlich geräuschlos beschloss die schwarz-gelbe
Bundesregierung daraufhin die Kürzung des Regelsatzes.
Lange stand jedoch aus parteitaktischen Gründen die Zustimmung des Bundesrates zu einer
Erhöhung des bereits gekürzten Regelsatzes aus. In
den Medien spielte bei der Kürzungsdebatte die Begründung, die
Thilo SARRAZIN mit seinem Buch propagierte, dass nämlich der
falsche Lebensstil und nicht die Armut das Hauptproblem der Hartz-IV-Empfänger
sei, die Hauptrolle.
Das grosse Fressen
"Die
Kultur und der Lebensstil der Unterschichten hat sich in
weiten Bereichen von der ökonomischen Basis, von
materiellen Notlagen längst entkoppelt. Problematischer
Medienkonsum ist ja auch nicht billiger als die Lektüre
von Büchern – in der Videothek, für den Gameboy oder das
Premiere-Abonnement kommt monatlich einiges zusammen, von
dem klassenspezifischen Konsumdreieck aus Tabak, Alkohol
und Lottospiel einmal ganz zu schweigen."
(Paul Nolte in der ZEIT v. 17.12.2003)
Deutschland schafft sich ab
"Eltern (kaufen)
Alkohol und Zigaretten (...) anstatt Obst und Gemüse und
(achten) nicht auf ausreichende Bewegung (...), was zu
Fettleibigkeit und gesundheitlichen Folgeschäden führt,
die in der Unterschicht (die zum Teil, aber nicht
vollständig mit den Beziehern von Transfereinkommen
identisch ist) häufig diagnostiziert werden."
(2010,
S.120)
"In den Ist-Ausgaben
des Durchschnittshaushalts sind 40 Euro für Tabakwaren und
eine ähnliche Summe für den nur grob abzuschätzenden
Verbrauch an alkoholischen Getränken und alkoholfreien
Erfrischungsgetränken (Mineralwasser und Ähnliches)
enthalten. Allein in diesen beiden Positionen liegt
Einsparpotential, das es jedem, der in einem auf Transfer
angewiesenen Haushalt lebt, ermöglicht, sich exakt so zu
ernähren, wie das bei einem durchschnittlichen Verdienst
möglich ist - wenn er will sogar besser."
(2010, S.116) |
Der Spiegel
begleitete die Debatte um die Kürzung des Hartz-IV-Regelsatzes
mit Artikeln wie der Mär vom armen Kind. Man könnte diese
Debatte um den Lebensstil der Unterschichten vorschnell als Zeichen einer
positiven Entwicklung weg von quantitativen
Lebensstandard-Debatten der Umverteilung hin zu einer
qualitativen Debatte über mehr Lebensqualität missverstehen.
Davor bewahrt jedoch ein komplexes Modell der Ressourcenzuteilung und
der Lebensqualitätsproduktion, mit dem die jeweiligen Vereinseitigungen der gegenwärtigen Debatten sichtbar werden.
Der
politische Kampf um die Definition der Armut
Das Buch Ökonomie für
den Menschen von Amartya SEN heißt im Original
Entwicklung als Freiheit. Die Betonung der Freiheit macht
den Denkansatz sowohl für Marktradikale als auch für
Ordoliberale attraktiv. So hebt Karen HORN in ihrer Rezension
des Buches in der FAZ gerade diesen Aspekt besonders
hervor.
Ökonomie für den Menschen
"In
seinen Schriften rückt der Aspekt der Freiheit in den
Mittelpunkt. Dabei vollführt Sen einen eleganten
begrifflichen Spagat, indem er den aktiven Sozialstaat
nicht nur als moralisch wünschenswert, sondern zugleich
als Element der individuellen Grundfreiheiten definiert -
und somit als Voraussetzung für eine gedeihliche
wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung. Damit
meidet er jeden kollektivistisch eingefärbten, die
Freiheitsrechte bedenkenlos preisgebenden
Umverteilungsfuror".
(Karen Horn in der FAZ vom 16.10.2000) |
Aber auch die große
Koalition des rot-grün-schwarzen Bürgertums, das die Agenda 2010
auf den Weg bringen möchte, sieht in SEN einen Gewährsmann.
Ökonomie für den Menschen
"Diese
Position steht quer zu gängigen Methoden: die Sozialhilfe
kürzen, um das »Abstandsgebot« einzuhalten; die
Sozialhilfe erhöhen, um die Armut zu beseitigen; alles so
lassen, wie es ist, nur ab und zu über »Drückeberger« und
»Faulenzer« schimpfen. Sen kritisiert den amerikanischen
Skandal, dass Millionen ohne soziale Krankenversicherung
sind. Und er kritisiert den europäischen und deutschen
Skandal, dass man sich mit Millionen von (Langzeit-)Arbeitslosen
abfindet. Manchen sozialen Säulen der Gesellschaft sind
die Strukturen des Status quo wichtiger als die
»Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.« Ganz so brutal
formuliert es Sen nicht, denn er ist ein höflicher Mensch.".
(Warnfried Dettling in der taz vom 17.04.2000) |
Die Agenda 2010 wurde
erfolgreich durchgesetzt, aber die jetzige Debatte um die Hartz-IV-Regelsätze zeigt, dass vom ursprünglich versprochenen
Fördern vor allem das Fordern übrig geblieben ist. Diesen
Paradigmenwechsel macht ein Artikel des Soziologen Heinz BUDE,
einer der prominentesten Befürworter eines aktivierenden
Sozialstaates, deutlich, wenn er die Bringschuld des
Transferempfängers, nämlich die Annahme auch unwürdiger Arbeit,
in den Vordergrund stellt, wobei zudem noch die vom
Arbeitskraftunternehmer geforderte Einstellung aus dem Munde
eines Mitarbeiters der Jobcenter mitgeliefert wird.
Die Unverwendbaren
"Von den Leistungsbeziehern, die sich dem
Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen müssen, werden lange
Wege zum Arbeitsplatz, eine Beschäftigung unter derem
Qualifikationsniveau und die Akzeptanz einer Entlohnung
verlangt, die, wenn man noch für Kinder sorgen muss, nicht
zum Leben reicht.
(...).
Die Mitarbeiter der Jobcenter berichten von Menschen, die
(...) zwar stöhnen, weil das Geld hinten und vorn nicht
reicht, (...) aber für die es trotzdem einen Unterschied
ums Ganze macht, ob man, jedenfalls im Kern, selbst für
sich sorgen kann oder ob man nur vom Staat lebt." (Heinz
Bude in der SZ
vom 14.02.2011) |
Aus
diesem Grunde wird der Freiheitsaspekt bei Alban KNECHT zu Recht
auch wesentlich skeptischer beurteilt. Das Hauptproblem besteht
offenbar in der Frage nach den Handlungsspielräumen des
Individuums. In der Position von SARRAZIN ist die Freiheit des
Individuums grenzenlos. Ihm mangelt es höchstens an Intelligenz
und Willen. KNECHT dagegen legt großen Wert auf die Beschreibung
der Rahmenbedingungen von Lebensqualität als Einschränkungen der
Freiheit. Darunter fällt auch der politische Kampf um die
Definition von Armut, der sich im Interessendreieck von Kapital,
Arbeit und Staat abspielt. KNECHT rekurriert hier auf den
konflikttheoretischen Ansatz von Claus OFFE, dessen Ausführungen
sich aber eher auf den klassischen Sozialstaat beziehen, während
die neuen sozialen Bewegungen, zu denen die Frauen- oder
Umweltschutzbewegung zählen, die bei Fragen der Lebensqualität
nicht ausgeklammert werden können, einen erweiterten Ansatz
hinsichtlich Interessenorganisation und Konfliktfähigkeit von
Positionen erfordern.
In
seinem 2002 erschienenen Buch Bürgergeld: Armut bekämpfen
ohne Sozialhilfe hat Alban KNECHT die gängigen
Armutsdefinitionen mit ihren spezifischen Vor- und Nachteilen
beschrieben. In der Regel wird Armut heutzutage als
soziokulturelles Existenzminimum definiert. Mit der
Abschaffung der Sozialhilfe und mit Inkrafttreten der
Hartz-Gesetzgebung zum 1. Januar 2005 hat sich auch das Gesicht
der Armut geändert. Einen Eindruck, was dies für die Betroffenen
bedeutet, vermittelt der von Alban KNECHT herausgegebene Band
Gesichter der Armut. Anhand von 14 Miniaturen wird die
Bandbreite der neuen Armut sichtbar.
Gesichter der Armut
"Berichte
über Arbeitslosigkeit, über das Rutschen in die
Verschuldung, über Geld- und Beziehungssorgen, über
Probleme von Migrantinnen und Migranten wie über die
Existenz von Obdachlosen.
Die Bedeutung »organisierter Hilfe« steht nur in der
Geschichte »Mama, warum lässt Du mich allein?«, in der
Katrin Wolkenhauer vom Alltag in einem Kinderheim erzählt,
im Vordergrund. Ansonsten kommt sie eher beiläufig vor,
als Schuldnerberatung, als Hartz IV oder in Form einer
vermittelten Wohnunterkunft.
Manche der beschriebenen Schicksale mögen erschrecken,
andere im Vergleich fast unproblematisch wirken. Selbst
krasse Lebensbedingungen können von den Betroffenen als
normal dargestellt werden, oder sogar - wie in der
Geschichte »ohne Titel« - als freiwillig gewählt."
(Alban Knecht und Peter Buttner, 2010, S.11f) |
Thilo SARRAZIN
polemisiert gegen diese Sichtweise und will Hartz-IV-Empfänger lediglich ein sozioökonomisches
Existenzminimum zugestehen. Seine Rechtfertigung: die
soziale Exklusion, also Ausschluss von der gesellschaftlichen
Teilhabe, sei selbst gewählt und nicht erzwungen. Dies schließt
er aus der Tatsache, dass die Nachfrage nach dem freien und
ermäßigten Kulturangebot der Stadt Berlin nur minimal gewesen
sei. Schließlich hätten die Sozial Benachteiligten
"unentgeltlich alle staatlichen Museen und Büchereien besuchen
und für drei Euro eine Theater- oder Opernkarte erwerben"
können. Aber warum sollte jemand 3 Euro für eine Theater- oder
Opernkarte ausgeben, wenn das entsprechende soziale Umfeld
fehlt? Pierre BOURDIEU verweist darauf, dass der Theater- oder
Operbesuch im Bürgertum eine ganz bestimmte soziale Funktion
hat. Aber welche Funktion soll er eigentlich in bildungsfernen
Milieus haben? Auch
Alexander NEUBACHER schlägt im Spiegel-Artikel Die Mär
vom armen Kind in die gleiche Kerbe wie SARRAZIN, wenn er
schreibt: "Die besten Plätze in der Staatsoper kosten für
Berlinpass-Besitzer nur drei Euro. Einzige Bedingung ist, dass
eine halbe Stunde vor Veranstaltungsbeginn noch Karten übrig
sind." Der Hartz-IV-Empfänger soll sich also brav hinten an
stellen und darauf warten, dass eventuell etwas für ihn abfällt.
Wenn nicht, dann soll er nächstes Mal wiederkommen. NEUBACHER
verweist außerdem auf eine Alibiveranstaltung des Berliner
Kultursenators, die man auch als symbolische Politik
bezeichnen kann.
Die Mär vom armen Kind
"Obwohl der Senat mit Plakaten, Aufklebern und Anzeigen
immer wieder Reklame macht, kommt die Nachfrage nach
billigen Drei-Euro-Tickets an den Abendkassen der Opern-
und Schauspielhäuser einfach nicht in Schwung. Der frühere
Kultursenator Thomas Flierl holte Schüler aus dem
Problembezirk Hellersdorf sogar mal persönlich mit dem Bus
ab. Auf dem Spielplan des Theaters an der Parkaue stand
»Red Cap Massacre«,
eine moderne Version des Märchens von Rotkäppchen und dem
bösen Wolf.
Obwohl
sich der Regisseur Mühe gegeben hatte, das Stück mit
extra-jugendlicher Rap-Sprache aufzupeppen ("Was hat das
Leben noch zu bieten, außer in der Scheiße liegen?"),
hielt sich die Begeisterung der Besucher aus Hellersdorf
offenbar in Grenzen. An einem weiteren Termin mit dem
rührigen Kultursenator bestand kein Interesse."
(Spiegel
vom 27.09.2010) |
Jeder Aufsteiger, der
selber aus einem sozial benachteiligten Milieu kommt, der kann
angesichts solcher Arroganz und Borniertheit unserer Medien- und
Politikvertreter eigentlich nur den Kopf schütteln. Mit solchen
Aktionen mag sich unsere politische und journalistische Klasse
selber auf die Schulter klopfen, mit der nachhaltigen
Beseitigung sozialer Ungleichheit hat ein solches Spektakel
nichts zu tun. Die
Analyse der Funktion solcher Medienberichte und
Politikerauftritte gehören für KNECHT zur Analyse der Rahmenbedingungen
der Produktion von Lebensqualität und zwar im Bereich
Diskurs und Kultur als Hintergrundfolie der Verhandlung von
Armut.
Die politisch-mediale Konstruktion des
Sozialhilfeempfängers vor dem Hintergrund von vier typischen
Umgangsweisen mit der Sozialhilfe
In dem bereits weiter oben
erwähnten Buch, das sich noch auf die Sozialhilfesituation vor
den Hartz-Reformen bezieht, aber nichtsdestotrotz auch für die
Betrachtung der jetzigen Situation aufschlussreich ist, stellt
KNECHT eine Typologie von Sozialhilfeempfängern vor, die Stephan
LEIBFRIED, Lutz LEISERING u. a. in ihrer Studie Zeit der
Armut entwickelt haben. Diese unterscheiden vier Typen.
Der
erfolgreiche Staatsbürger, der den legitimen Anspruch
nutzt, macht in dieser Sicht den
größten Teil der Transferempfänger aus. Die sozial
Ausgegrenzten beziehen Sozialhilfe aufgrund
gesellschaftlicher Problemlagen, deren Bekämpfung ausstehen.
Bürgergeld: Armut bekämpfen ohne Sozialhilfe
"Erfolgreiche
Sozialstaatsbürger: Diese nutzen den legitimen
Anspruch auf
Sozialhilfe. Langzeitbezug entsteht zum Beispiel bei der
beruflichen Umorientierung oder wegen der Erziehung eines
oder mehrer Kinder. Eine Passivierung in dem Sinne, dass
diese Menschen sich wegen dem Hilfeempfang weniger
anstrengen, findet nicht statt. (...).
Sozial Ausgegrenzte: In dieser Gruppe befinden sich
viele
»alternativlose und resignierte Langzeitbezieher«
und alte Menschen, die ihre Rente dauerhaft aufstocken.
Ursachen des Empfangs sind oft
»vorgelagerte
soziale Missstände - wie Arbeitslosigkeit und
Sozialabbau«, die
»durch
institutionelle Bearbeitung verschärft oder bestenfalls
nur 'verwaltet' werden.«"
(2002, S.43) |
In Zeiten des Prekariats
gehören zum dritten Typus der strategisch handelnden
Sozialstaatsbürger vermehrt Mittelschichtangehörige, die man
zur Kreativwirtschaft zählt.
Bürgergeld: Armut bekämpfen ohne Sozialhilfe
"Strategisch
handelnder Sozialstaatsbürger: Dieser Typ benutzt
nicht nur die Sozialhilfe für die eigenen Zwecke, das tun
nämlich die zwei genannten Typen auch, sondern die
Hilfeangebote werden auch für andere Ziele verwendet, als
Hilfe in Situationen zu bekommen, in denen man unbedingt
Hilfe braucht.
»Hier
ermöglicht die Sozialhilfe unerwünschte
Beschäftigungsverhältnisse abzubrechen, einer
unregelmäßigen Beschäftigung nachzugehen oder auf das
Zusammenleben mit dem Vater eines Kindes zu verzichten,
weil sonst der Sozialhilfe-Anspruch verloren geht.«"
(2001, S.43) |
Der Typus des
strategisch handelnden Sozialstaatsbürger kommt meist nur in
ganz bestimmten politischen Zusammenhängen vor, nämlich in der
Debatte um Unterschichten. Noch selten kommt das Verhalten von
Mittelschichtangehörigen in den Blick. Zum Beispiel wenn die
Nichtgründung oder die Auflösung eines Paarhaushaltes, d.h.
einer Bedarfsgemeinschaft, in einem ZEIT-Artikel von
Elisabeth NIEJAHR angeprangert wird (vgl. "Mit der großen
Gießkanne", 10.02.2011). Die Schilderung
von Fallbeispielen handeln jedoch nicht nur vom strategischen
Handeln der Bürger, sondern sind gleichsam strategische
Argumente in politischen Auseinandersetzungen, bei denen es um
die Durchsetzung politischer Interessen geht. Im Falle von
NIEJAHR dienen diverse Missbrauchsfälle als Argumente für die
Einführung einer Grundsicherung für Kinder.
Viel
Aufmerksamkeit erhält in den letzten Jahren die kreative Klasse,
z.B. als "digitale Bohème". Es handelt sich dabei um
Mittelschichtangehörige, die als "Freelancer" unter modernen
Arbeitsbedingungen arbeiten. Wir nennen es Arbeit hieß
vor Jahren ein Buch, das Arbeiten jenseits der Festanstellung
propagierte. Das Dilemma dieser neuen Arbeitsformen bringt
Christiane RÖSINGER auf ihrem Album Das schöne Leben auf
den Punkt, wenn sie fragt: Ist das noch Bohème oder schon
Unterschicht? Der Maßstab Einkommensarmut ist in diesem
Milieu wenig aussagekräftig, weshalb die Unterscheidung von
bildungsfernen und bildungsnahen Milieus durchaus Sinn macht,
wenngleich ein formaler Bildungsabschluss in den verschiedenen
Branchen der Kreativwirtschaft durchaus mehr oder weniger
Bedeutung zukommt
.
Lebensstandard-Ansätze,
bei denen die Einkommensarmut im Mittelpunkt steht, erfordern
eine Erweiterung, die ein moderner Lebensqualitäts-Ansatz
leistet, der verschiedene Ressourcen unterscheidet und somit die
Frage nach dem Unterschied zwischen Bohème und Unterschicht
beantworten kann. Der französische Soziologe Pierre BOURDIEU hat
Ressourcen, die KNECHT als Mittel definiert, die das Überleben
sichern und die Verfolgung persönlicher Ziele möglich machen,
differenziert in ökonomisches Kapital wie Geld und Güter,
in kulturelles Kapital (Schulbildung, informelles Wissen
und Können) und in soziales Kapital (Beziehungen, virtuelle
Netzwerke bzw. Zugehörigkeiten). Im Hinblick auf diese
Unterscheidungen könnten Bohème und Unterschicht zwar mit dem
gleichen Einkommen zurecht kommen müssen, aber erstere hätte
mehr kulturelles und soziales Kapital auf ihrer Seite und könnte
dadurch mehr Lebensqualität aus ihrer Lebenslage herausholen als
ein Angehöriger der Unterschicht. Mit
dem Begriff urbane Penner hat Mercedes BUNZ jenen Teil
der kreativen Klasse (Richard FLORIDA) kritisiert, die
ihren Lebensstandard nicht der eigenen Arbeit, also dem eigenen
Einkommen, verdanken, sondern ihrer Zugehörigkeit zur
Mittelschicht und den damit einhergehenden Kapital. Bevor weiter auf
diesen Aspekt der ungleichen Ressourcenverteilung eingegangen
wird, soll noch näher auf die vierte Umgangsweise mit
staatlichen Transfers eingegangen werden.
Mit
dem Typ fatale Folgen ist insbesondere jener Typus
benannt, der in der Missbrauchsdebatte von Thilo SARRAZIN im
Mittelpunkt steht: jene, denen die Eigeninitiative abhanden
gekommen ist. Auf ein Schlagwort gebracht, geht es hier um die
so genannte Kultur der Armut.
Bürgergeld: Armut bekämpfen ohne Sozialhilfe
"Typ
fatale Folgen: Dies sind Hilfebezieher, die zum Teil
bewusst und/oder mit Ausstiegsperspektive den Weg der
Sozialhilfe gegangen sind, bei denen sich dann jedoch
unerwartete Langzeiteffekte verschiedenster Art
einstellen: Verlust von Handlungsfähigkeit,
Selbstvertrauen und Initiative, Änderung der
Handlungsorientierung."
(2001, S.44) |
Während dieser
Handlungstyp zusammen mit dem oben beschriebenen Typ des
Sozial Ausgegrenzten die gegenwärtige Debatte um den
Lebensstil der Unterschicht dominiert, werden andere Sichtweisen
auf die heterogene Gruppe der Transferempfänger verdrängt. Dies
wird z.B. deutlich, wenn Heinz BUDE eine Gruppe von 1,5 bis 1,8
Millionen Menschen als Unverwendbare abschreibt:
Die Unverwendbaren
"An denen prallen sowohl die Anreize als auch die
Sanktionen des Aktivierungsbetriebs ab.
Weiterbildungsangebote fangen immer wieder von vorn an,
Beschäftigungsmaßnahmen bringen nichts in Gang,
Leistungsabsenkungen haben eine definitive Grenze
erreicht. Das Besteck des aktivierenden Sozialstaats
greift ins Leere."
(Heinz Bude in der SZ
vom 14.02.2011) |
BUDE wirft hier den Typus
der sozial Ausgegrenzten, die aufgrund der objektiven
Arbeitsmarktlage chancenlos sind, mit jenen in einen Topf, die
zu den strategisch handelnden Sozialstaatsbürgern und dem
Typ fatale Folgen gehören. In der Öffentlichkeit haben
sich gegen diese Gruppen Ressentiments gebildet, die allein der
Logik des Sozialinvestitionsstaates (KNECHT) folgen, wie Heinz
BUDE schreibt, d.h. sie werden als Drückeberger und als
Trittbrettfahrer denunziert.
Die Unverwendbaren
"Es gehört zur ideologischen Innovation des
investiven Wohlfahrtsstaates, dass er den Erfolgsbegriff
der Leistung nicht nur für die mit, sondern auch für die
ohne Arbeit in Anspruch nimmt. Von der leistenden
Subjektivität der Arbeit soll niemand sich retten können.
Wenn das so ist, kann man eigentlich nur diejenigen, die
sich nicht in Bewegung bringen lassen, als Drückeberger
und Trittbrettfahrer denunzieren."
(Heinz Bude in
der SZ
vom 14.02.2011) |
Während BUDE jedoch
lediglich Respekt für diese heterogenen
Transferempfänger-Gruppen fordert, setzt ein Befähigkeitsstaat
im Sinne von KNECHT auf differenziertere Antworten, die den
Menschen in seiner Vielfalt ernst nehmen. Es
stellt sich letztlich aber auch immer die Frage, welches
Verhalten legitim ist. Arbeitgeber halten z.B. jegliche
Verweigerung von Arbeit und wenn sie noch so unwürdig ist, für
illegitim. Politische Forderungen beschränken sich deshalb meist
nur auf die Schaffung von stärkeren Anreizen zur Aufnahme von
jeglicher Arbeit. Dagegen sehen die Gewerkschaften solche
Verweigerungen im Dienste einer Verbesserung der
Lebensverhältnisse von Arbeitnehmern als durchaus legitim an.
Auch diese Aspekte gehören zu den Rahmenbedingungen der
Produktion von Lebensqualität. KNECHT zeigt deshalb in seinem
Buch auf, dass unterschiedliche Wohlfahrtsregime (Gösta
ESPING-ANDERSEN) zu unterschiedlichen Reaktionsweisen auf
soziale Probleme führen.
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