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Frühjahrsthema

 
       
   

Lebensqualität in einer Gesellschaft der Langlebigen

 
       
   

Eine neue Sicht auf den Wohlfahrtsstaat und seine möglichen Weiterentwicklungen: Die Ressourcentheorie und Machtanalyse von Alban Knecht (Teil 1)

 
       
     
       
   
     
 

Einführung

Die Zukunft der Deutschen führt geradewegs in den Untergang, wenn wir nicht die gravierenden Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte radikal korrigieren. So prophezeien es populäre Sachbücher der letzten Jahre von Frank SCHIRRMACHER ("Das Methusalem-Komplott", "Minimum") über Franz-Xaver KAUFMANN ("Schrumpfende Gesellschaft") bis zu Thilo SARRAZIN ("Deutschland schafft sich ab").

Kennzeichnend für diese Sichtweisen sind quasinaturgesetzliche Abwärtsspiralen, ob sie nun die biologische Familie betreffen wie bei SCHIRRMACHER, die Gesellschaft wie bei KAUFMANN oder die Intelligenz wie bei SARRAZIN. Gegenüber diesen auf quantitatives Wachstum fixierten Lebensstandard-Ansätzen, setzen sich Ansätze ab, die auf qualitatives Wachstum setzen, so zum Beispiel die Ressourcentheorie von Alban KNECHT, der den Ansatz von Amartya SEN weiterentwickelt hat und damit eine Möglichkeit bietet, die derzeitigen sozialpolitischen Entwicklungen zu bewerten. Gleichzeitig bietet der Ansatz Maßstäbe für eine sinnvolle Weiterentwicklung des Wohlfahrtsstaates zu einem "Befähigkeitsstaat". In seinem hervorragenden Buch Lebensqualität produzieren (2010) macht Alban KNECHT die ökonomische Philosophie von Amartya SEN für die Soziologie und die   Psychologie fruchtbar.

Lebensqualität produzieren

"Die Sozialpolitik spielt in den modernen Gesellschaften eine zentrale Rolle. Trotzdem gibt es kaum Modelle und Theorien, die über ihre Wirkungsweise Aufschluss geben könnten. Diese Lücke schließt Alban Knecht mit seiner Ressourcentheorie. Durch eine Weiterentwicklung des Capability-Ansatzes von Amartya Sen gelingt es, die Bedeutung von Ressourcen für Bildungs-, Berufs- und Gesundheitskarrieren nachzuzeichnen. Die Lebensqualität der BürgerInnen wird nicht allein durch die Umverteilung von Geld und die Zuteilung von Bildungschancen beeinflusst. Auch die gesundheitlichen, psychischen und sozialen Ressourcen werden durch die sozialstaatliche Tätigkeit strukturiert. Der Wohlfahrtstaat steuert so die Produktion der Lebensqualität verschiedener Bevölkerungsgruppen. Ländervergleiche zeigen die gesellschaftsstrukturierende Wirkung und sozialinvestive Bedeutung der unterschiedlichen Lebensqualitätsregime auf."
(Klappentext)

Das Buch ist zum einen eine Einführung in den Denkansatz von Amartya SEN und zum anderen eine politische Soziologie sozialer Ungleichheit und des Wohlfahrtsstaats. In diesem Sinne werden im Folgenden die Implikationen dieser neuen Sichtweise für die Kritik der herrschenden Sozialpolitikvorstellungen in unserer Gesellschaft der Langlebigen aufgezeigt.

Die reduktionistische Auslegung des Denkansatzes von Amartya Sen

Seit der Verleihung des Nobelpreises an den indischen Wirtschaftswissenschaftler Amartya SEN im Jahr 1998 hat die Sichtweise von SEN weltweit an Bedeutung gewonnen. Dies führt dazu, dass sein Denkansatz in unterschiedlicher Weise vereinnahmt und vereinseitigt wird.

Ein prominentes Beispiel dafür ist der Bestseller Deutschland schafft sich ab von Thilo SARRAZIN. Auf Seite 130 behauptet er über die tiefgründige und vieldimensionale Analyse von SEN begeistert zu sein, tatsächlich geht es SARRAZIN aber einzig darum zu belegen, dass die Hartz-IV-Empfänger selber Schuld an ihrer Armutssituation sind. KNECHT bezeichnet diese reduktionistische Auslegung zu Recht als Individualisierung sozialer Probleme. SARRAZIN geht es z. B. im Kapitel Ernährung darum zu belegen, dass der Hartz-IV-Regelsatz selbst bei einer Kürzung noch für eine gesunde Ernährung ausreicht. Seine Kritik am Sozialstaat läuft deshalb darauf hinaus, dass es in Deutschland keine Armut bzw. Strukturprobleme gibt, sondern nur Verhaltensprobleme. Einer solchen einseitigen Sichtweise wurde bereits in den letzten Jahren durch die Zeitungsartikel und Bücher des prominenten neokonservativen Historikers Paul NOLTE Vorschub geleistet.

Deutschland schafft sich ab

"Da gegenwärtig keine Armutsdefinition ohne den Verweis auf Amartya Sen auszukommen scheint, habe ich mich mit seinem Werk näher beschäftigt und war begeistert von seiner tiefgründigen und vieldimensionalen Analyse."
(2010, S.130)

"Wenn der Regelsatz eine ausgewogene, abwechslungsreiche und ausreichende Ernährung erlaubt, dann haben die Empfänger von Transferzahlungen, die sich und ihre Kinder nicht gesund und in jeder Hinsicht adäquat ernähren, kein Einkommens- oder Armuts-, sondern ein Verhaltensproblem. Damit wird aus einer Forderung der Gesellschaft eine Forderung an das Individuum und aus der Gesellschaftskritik eine Individualkritik."
(2010, S.119)

Das Buch von SARRAZIN, das im Vorfeld der Beratungen zum Hartz-IV-Regelsatz im Bundestag erschien, wurde von den mächtigen Medien Bild und Spiegel durch Vorabdrucke ins Rampenlicht befördert. Ziemlich geräuschlos beschloss die schwarz-gelbe Bundesregierung daraufhin die Kürzung des Regelsatzes. Lange stand jedoch aus parteitaktischen Gründen die Zustimmung des Bundesrates zu einer Erhöhung des bereits gekürzten Regelsatzes aus. In den Medien spielte bei der Kürzungsdebatte die Begründung, die Thilo SARRAZIN mit seinem Buch propagierte, dass nämlich der falsche Lebensstil und nicht die Armut das Hauptproblem der Hartz-IV-Empfänger sei, die Hauptrolle.

Das grosse Fressen

"Die Kultur und der Lebensstil der Unterschichten hat sich in weiten Bereichen von der ökonomischen Basis, von materiellen Notlagen längst entkoppelt. Problematischer Medienkonsum ist ja auch nicht billiger als die Lektüre von Büchern – in der Videothek, für den Gameboy oder das Premiere-Abonnement kommt monatlich einiges zusammen, von dem klassenspezifischen Konsumdreieck aus Tabak, Alkohol und Lottospiel einmal ganz zu schweigen."
(Paul Nolte in der ZEIT v. 17.12.2003)

Deutschland schafft sich ab

"Eltern (kaufen) Alkohol und Zigaretten (...) anstatt Obst und Gemüse und (achten) nicht auf ausreichende Bewegung (...), was zu Fettleibigkeit und gesundheitlichen Folgeschäden führt, die in der Unterschicht (die zum Teil, aber nicht vollständig mit den Beziehern von Transfereinkommen identisch ist) häufig diagnostiziert werden."
(2010, S.120)

"In den Ist-Ausgaben des Durchschnittshaushalts sind 40 Euro für Tabakwaren und eine ähnliche Summe für den nur grob abzuschätzenden Verbrauch an alkoholischen Getränken und alkoholfreien Erfrischungsgetränken (Mineralwasser und Ähnliches) enthalten. Allein in diesen beiden Positionen liegt Einsparpotential, das es jedem, der in einem auf Transfer angewiesenen Haushalt lebt, ermöglicht, sich exakt so zu ernähren, wie das bei einem durchschnittlichen Verdienst möglich ist - wenn er will sogar besser."
(2010, S.116)

Der Spiegel begleitete die Debatte um die Kürzung des Hartz-IV-Regelsatzes mit Artikeln wie der Mär vom armen Kind. Man könnte diese Debatte um den Lebensstil der Unterschichten vorschnell als Zeichen einer positiven Entwicklung weg von quantitativen Lebensstandard-Debatten der Umverteilung hin zu einer qualitativen Debatte über mehr Lebensqualität missverstehen. Davor bewahrt jedoch ein komplexes Modell der Ressourcenzuteilung und der Lebensqualitätsproduktion, mit dem die jeweiligen Vereinseitigungen der gegenwärtigen Debatten sichtbar werden.

Der politische Kampf um die Definition der Armut

Das Buch Ökonomie für den Menschen von Amartya SEN heißt im Original Entwicklung als Freiheit. Die Betonung der Freiheit macht den Denkansatz sowohl für Marktradikale als auch für Ordoliberale attraktiv. So hebt Karen HORN in ihrer Rezension des Buches in der FAZ gerade diesen Aspekt besonders hervor.

Ökonomie für den Menschen

"In seinen Schriften rückt der Aspekt der Freiheit in den Mittelpunkt. Dabei vollführt Sen einen eleganten begrifflichen Spagat, indem er den aktiven Sozialstaat nicht nur als moralisch wünschenswert, sondern zugleich als Element der individuellen Grundfreiheiten definiert - und somit als Voraussetzung für eine gedeihliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung. Damit meidet er jeden kollektivistisch eingefärbten, die Freiheitsrechte bedenkenlos preisgebenden Umverteilungsfuror".
(Karen Horn in der FAZ vom 16.10.2000)

Aber auch die große Koalition des rot-grün-schwarzen Bürgertums, das die Agenda 2010 auf den Weg bringen möchte, sieht in SEN einen Gewährsmann.

Ökonomie für den Menschen

"Diese Position steht quer zu gängigen Methoden: die Sozialhilfe kürzen, um das »Abstandsgebot« einzuhalten; die Sozialhilfe erhöhen, um die Armut zu beseitigen; alles so lassen, wie es ist, nur ab und zu über »Drückeberger« und »Faulenzer« schimpfen. Sen kritisiert den amerikanischen Skandal, dass Millionen ohne soziale Krankenversicherung sind. Und er kritisiert den europäischen und deutschen Skandal, dass man sich mit Millionen von (Langzeit-)Arbeitslosen abfindet. Manchen sozialen Säulen der Gesellschaft sind die Strukturen des Status quo wichtiger als die »Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.« Ganz so brutal formuliert es Sen nicht, denn er ist ein höflicher Mensch.".
(Warnfried Dettling in der taz vom 17.04.2000)

Die Agenda 2010 wurde erfolgreich durchgesetzt, aber die jetzige Debatte um die Hartz-IV-Regelsätze zeigt, dass vom ursprünglich versprochenen Fördern vor allem das Fordern übrig geblieben ist. Diesen Paradigmenwechsel macht ein Artikel des Soziologen Heinz BUDE, einer der prominentesten Befürworter eines aktivierenden Sozialstaates, deutlich, wenn er die Bringschuld des Transferempfängers, nämlich die Annahme auch unwürdiger Arbeit, in den Vordergrund stellt, wobei zudem noch die vom Arbeitskraftunternehmer geforderte Einstellung aus dem Munde eines Mitarbeiters der Jobcenter mitgeliefert wird.

Die Unverwendbaren

"Von den Leistungsbeziehern, die sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen müssen, werden lange Wege zum Arbeitsplatz, eine Beschäftigung unter derem Qualifikationsniveau und die Akzeptanz einer Entlohnung verlangt, die, wenn man noch für Kinder sorgen muss, nicht zum Leben reicht.
(...).
Die Mitarbeiter der Jobcenter berichten von Menschen, die (...) zwar stöhnen, weil das Geld hinten und vorn nicht reicht, (...) aber für die es trotzdem einen Unterschied ums Ganze macht, ob man, jedenfalls im Kern, selbst für sich sorgen kann oder ob man nur vom Staat lebt." (Heinz Bude in der SZ vom 14.02.2011)

Aus diesem Grunde wird der Freiheitsaspekt bei Alban KNECHT zu Recht auch wesentlich skeptischer beurteilt. Das Hauptproblem besteht offenbar in der Frage nach den Handlungsspielräumen des Individuums. In der Position von SARRAZIN ist die Freiheit des Individuums grenzenlos. Ihm mangelt es höchstens an Intelligenz und Willen. KNECHT dagegen legt großen Wert auf die Beschreibung der Rahmenbedingungen von Lebensqualität als Einschränkungen der Freiheit. Darunter fällt auch der politische Kampf um die Definition von Armut, der sich im Interessendreieck von Kapital, Arbeit und Staat abspielt. KNECHT rekurriert hier auf den konflikttheoretischen Ansatz von Claus OFFE, dessen Ausführungen sich aber eher auf den klassischen Sozialstaat beziehen, während die neuen sozialen Bewegungen, zu denen die Frauen- oder Umweltschutzbewegung zählen, die bei Fragen der Lebensqualität nicht ausgeklammert werden können, einen erweiterten Ansatz hinsichtlich Interessenorganisation und Konfliktfähigkeit von Positionen erfordern.

In seinem 2002 erschienenen Buch Bürgergeld: Armut bekämpfen ohne Sozialhilfe hat Alban KNECHT die gängigen Armutsdefinitionen mit ihren spezifischen Vor- und Nachteilen beschrieben. In der Regel wird Armut heutzutage als soziokulturelles Existenzminimum definiert. Mit der Abschaffung der Sozialhilfe und mit Inkrafttreten der Hartz-Gesetzgebung zum 1. Januar 2005 hat sich auch das Gesicht der Armut geändert. Einen Eindruck, was dies für die Betroffenen bedeutet, vermittelt der von Alban KNECHT herausgegebene Band Gesichter der Armut. Anhand von 14 Miniaturen wird die Bandbreite der neuen Armut sichtbar.

Gesichter der Armut

"Berichte über Arbeitslosigkeit, über das Rutschen in die Verschuldung, über Geld- und Beziehungssorgen, über Probleme von Migrantinnen und Migranten wie über die Existenz von Obdachlosen.
Die Bedeutung »organisierter Hilfe« steht nur in der Geschichte »Mama, warum lässt Du mich allein?«, in der Katrin Wolkenhauer vom Alltag in einem Kinderheim erzählt, im Vordergrund. Ansonsten kommt sie eher beiläufig vor, als Schuldnerberatung, als Hartz IV oder in Form einer vermittelten Wohnunterkunft.
Manche der beschriebenen Schicksale mögen erschrecken, andere im Vergleich fast unproblematisch wirken. Selbst krasse Lebensbedingungen können von den Betroffenen als normal dargestellt werden, oder sogar - wie in der Geschichte »ohne Titel« - als freiwillig gewählt."
(Alban Knecht und Peter Buttner, 2010, S.11f)

Thilo SARRAZIN polemisiert gegen diese Sichtweise und will Hartz-IV-Empfänger lediglich ein sozioökonomisches Existenzminimum zugestehen. Seine Rechtfertigung: die soziale Exklusion, also Ausschluss von der gesellschaftlichen Teilhabe, sei selbst gewählt und nicht erzwungen. Dies schließt er aus der Tatsache, dass die Nachfrage nach dem freien und ermäßigten Kulturangebot der Stadt Berlin nur minimal gewesen sei. Schließlich hätten die Sozial Benachteiligten "unentgeltlich alle staatlichen Museen und Büchereien besuchen und für drei Euro eine Theater- oder Opernkarte erwerben" können. Aber warum sollte jemand 3 Euro für eine Theater- oder Opernkarte ausgeben, wenn das entsprechende soziale Umfeld fehlt? Pierre BOURDIEU verweist darauf, dass der Theater- oder Operbesuch im Bürgertum eine ganz bestimmte soziale Funktion hat. Aber welche Funktion soll er eigentlich in bildungsfernen Milieus haben? Auch Alexander NEUBACHER schlägt im Spiegel-Artikel Die Mär vom armen Kind in die gleiche Kerbe wie SARRAZIN, wenn er schreibt: "Die besten Plätze in der Staatsoper kosten für Berlinpass-Besitzer nur drei Euro. Einzige Bedingung ist, dass eine halbe Stunde vor Veranstaltungsbeginn noch Karten übrig sind." Der Hartz-IV-Empfänger soll sich also brav hinten an stellen und darauf warten, dass eventuell etwas für ihn abfällt. Wenn nicht, dann soll er nächstes Mal wiederkommen. NEUBACHER verweist außerdem auf eine Alibiveranstaltung des Berliner Kultursenators, die man auch als symbolische Politik bezeichnen kann.

Die Mär vom armen Kind

"Obwohl der Senat mit Plakaten, Aufklebern und Anzeigen immer wieder Reklame macht, kommt die Nachfrage nach billigen Drei-Euro-Tickets an den Abendkassen der Opern- und Schauspielhäuser einfach nicht in Schwung. Der frühere Kultursenator Thomas Flierl holte Schüler aus dem Problembezirk Hellersdorf sogar mal persönlich mit dem Bus ab. Auf dem Spielplan des Theaters an der Parkaue stand »Red Cap Massacre«, eine moderne Version des Märchens von Rotkäppchen und dem bösen Wolf.
            Obwohl sich der Regisseur Mühe gegeben hatte, das Stück mit extra-jugendlicher Rap-Sprache aufzupeppen ("Was hat das Leben noch zu bieten, außer in der Scheiße liegen?"), hielt sich die Begeisterung der Besucher aus Hellersdorf offenbar in Grenzen. An einem weiteren Termin mit dem rührigen Kultursenator bestand kein Interesse."
(Spiegel vom 27.09.2010)

Jeder Aufsteiger, der selber aus einem sozial benachteiligten Milieu kommt, der kann angesichts solcher Arroganz und Borniertheit unserer Medien- und Politikvertreter eigentlich nur den Kopf schütteln. Mit solchen Aktionen mag sich unsere politische und journalistische Klasse selber auf die Schulter klopfen, mit der nachhaltigen Beseitigung sozialer Ungleichheit hat ein solches Spektakel nichts zu tun. Die Analyse der Funktion solcher Medienberichte und Politikerauftritte gehören für KNECHT zur Analyse der Rahmenbedingungen der Produktion von Lebensqualität und zwar im Bereich Diskurs und Kultur als Hintergrundfolie der Verhandlung von Armut.

Die politisch-mediale Konstruktion des Sozialhilfeempfängers vor dem Hintergrund von vier typischen Umgangsweisen mit der Sozialhilfe

In dem bereits weiter oben erwähnten Buch, das sich noch auf die Sozialhilfesituation vor den Hartz-Reformen bezieht, aber nichtsdestotrotz auch für die Betrachtung der jetzigen Situation aufschlussreich ist, stellt KNECHT eine Typologie von Sozialhilfeempfängern vor, die Stephan LEIBFRIED, Lutz LEISERING u. a. in ihrer Studie Zeit der Armut entwickelt haben. Diese unterscheiden vier Typen.

Der erfolgreiche Staatsbürger, der den legitimen Anspruch nutzt, macht in dieser Sicht den größten Teil der Transferempfänger aus. Die sozial Ausgegrenzten beziehen Sozialhilfe aufgrund gesellschaftlicher Problemlagen, deren Bekämpfung ausstehen.

Bürgergeld: Armut bekämpfen ohne Sozialhilfe

"Erfolgreiche Sozialstaatsbürger: Diese nutzen den legitimen Anspruch auf Sozialhilfe. Langzeitbezug entsteht zum Beispiel bei der beruflichen Umorientierung oder wegen der Erziehung eines oder mehrer Kinder. Eine Passivierung in dem Sinne, dass diese Menschen sich wegen dem Hilfeempfang weniger anstrengen, findet nicht statt. (...).
Sozial Ausgegrenzte: In dieser Gruppe befinden sich viele »alternativlose und resignierte Langzeitbezieher« und alte Menschen, die ihre Rente dauerhaft aufstocken. Ursachen des Empfangs sind oft »vorgelagerte soziale Missstände - wie Arbeitslosigkeit und Sozialabbau«, die »durch institutionelle Bearbeitung verschärft oder bestenfalls nur 'verwaltet' werden.«"
(2002, S.43)

In Zeiten des Prekariats gehören zum dritten Typus der strategisch handelnden Sozialstaatsbürger vermehrt Mittelschichtangehörige, die man zur Kreativwirtschaft zählt.

Bürgergeld: Armut bekämpfen ohne Sozialhilfe

"Strategisch handelnder Sozialstaatsbürger: Dieser Typ benutzt nicht nur die Sozialhilfe für die eigenen Zwecke, das tun nämlich die zwei genannten Typen auch, sondern die Hilfeangebote werden auch für andere Ziele verwendet, als Hilfe in Situationen zu bekommen, in denen man unbedingt Hilfe braucht. »Hier ermöglicht die Sozialhilfe unerwünschte Beschäftigungsverhältnisse abzubrechen, einer unregelmäßigen Beschäftigung nachzugehen oder auf das Zusammenleben mit dem Vater eines Kindes zu verzichten, weil sonst der Sozialhilfe-Anspruch verloren geht.«"
(2001, S.43)

Der Typus des strategisch handelnden Sozialstaatsbürger kommt meist nur in ganz bestimmten politischen Zusammenhängen vor, nämlich in der Debatte um Unterschichten. Noch selten kommt das Verhalten von Mittelschichtangehörigen in den Blick. Zum Beispiel wenn die Nichtgründung oder die Auflösung eines Paarhaushaltes, d.h. einer Bedarfsgemeinschaft, in einem ZEIT-Artikel von Elisabeth NIEJAHR angeprangert wird (vgl. "Mit der großen Gießkanne", 10.02.2011). Die Schilderung von Fallbeispielen handeln jedoch nicht nur vom strategischen Handeln der Bürger, sondern sind gleichsam strategische Argumente in politischen Auseinandersetzungen, bei denen es um die Durchsetzung politischer Interessen geht. Im Falle von NIEJAHR dienen diverse Missbrauchsfälle als Argumente für die Einführung einer Grundsicherung für Kinder.

Viel Aufmerksamkeit erhält in den letzten Jahren die kreative Klasse, z.B. als "digitale Bohème". Es handelt sich dabei um Mittelschichtangehörige, die als "Freelancer" unter modernen Arbeitsbedingungen arbeiten. Wir nennen es Arbeit hieß vor Jahren ein Buch, das Arbeiten jenseits der Festanstellung propagierte. Das Dilemma dieser neuen Arbeitsformen bringt Christiane RÖSINGER auf ihrem Album Das schöne Leben auf den Punkt, wenn sie fragt: Ist das noch Bohème oder schon Unterschicht? Der Maßstab Einkommensarmut ist in diesem Milieu wenig aussagekräftig, weshalb die Unterscheidung von bildungsfernen und bildungsnahen Milieus durchaus Sinn macht, wenngleich ein formaler Bildungsabschluss in den verschiedenen Branchen der Kreativwirtschaft durchaus mehr oder weniger Bedeutung zukommt .

Lebensstandard-Ansätze, bei denen die Einkommensarmut im Mittelpunkt steht, erfordern eine Erweiterung, die ein moderner Lebensqualitäts-Ansatz leistet, der verschiedene Ressourcen unterscheidet und somit die Frage nach dem Unterschied zwischen Bohème und Unterschicht beantworten kann. Der französische Soziologe Pierre BOURDIEU hat Ressourcen, die KNECHT als Mittel definiert, die das Überleben sichern und die Verfolgung persönlicher Ziele möglich machen, differenziert in ökonomisches Kapital wie Geld und Güter, in kulturelles Kapital (Schulbildung, informelles Wissen und Können) und in soziales Kapital (Beziehungen, virtuelle Netzwerke bzw. Zugehörigkeiten). Im Hinblick auf diese Unterscheidungen könnten Bohème und Unterschicht zwar mit dem gleichen Einkommen zurecht kommen müssen, aber erstere hätte mehr kulturelles und soziales Kapital auf ihrer Seite und könnte dadurch mehr Lebensqualität aus ihrer Lebenslage herausholen als ein Angehöriger der Unterschicht. Mit dem Begriff urbane Penner hat Mercedes BUNZ jenen Teil der kreativen Klasse (Richard FLORIDA) kritisiert, die ihren Lebensstandard nicht der eigenen Arbeit, also dem eigenen Einkommen, verdanken, sondern ihrer Zugehörigkeit zur Mittelschicht und den damit einhergehenden Kapital. Bevor weiter auf diesen Aspekt der ungleichen Ressourcenverteilung eingegangen wird, soll noch näher auf die vierte Umgangsweise mit staatlichen Transfers eingegangen werden.

Mit dem Typ fatale Folgen ist insbesondere jener Typus benannt, der in der Missbrauchsdebatte von Thilo SARRAZIN im Mittelpunkt steht: jene, denen die Eigeninitiative abhanden gekommen ist. Auf ein Schlagwort gebracht, geht es hier um die so genannte Kultur der Armut.

Bürgergeld: Armut bekämpfen ohne Sozialhilfe

"Typ fatale Folgen: Dies sind Hilfebezieher, die zum Teil bewusst und/oder mit Ausstiegsperspektive den Weg der Sozialhilfe gegangen sind, bei denen sich dann jedoch unerwartete Langzeiteffekte verschiedenster Art einstellen: Verlust von Handlungsfähigkeit, Selbstvertrauen und Initiative, Änderung der Handlungsorientierung." (2001, S.44)

Während dieser Handlungstyp zusammen mit dem oben beschriebenen Typ des Sozial Ausgegrenzten die gegenwärtige Debatte um den Lebensstil der Unterschicht dominiert, werden andere Sichtweisen auf die heterogene Gruppe der Transferempfänger verdrängt. Dies wird z.B. deutlich, wenn Heinz BUDE eine Gruppe von 1,5 bis 1,8 Millionen Menschen als Unverwendbare abschreibt:

Die Unverwendbaren

"An denen prallen sowohl die Anreize als auch die Sanktionen des Aktivierungsbetriebs ab. Weiterbildungsangebote fangen immer wieder von vorn an, Beschäftigungsmaßnahmen bringen nichts in Gang, Leistungsabsenkungen haben eine definitive Grenze erreicht. Das Besteck des aktivierenden Sozialstaats greift ins Leere."
(Heinz Bude in der SZ vom 14.02.2011)

BUDE wirft hier den Typus der sozial Ausgegrenzten, die aufgrund der objektiven Arbeitsmarktlage chancenlos sind, mit jenen in einen Topf, die zu den strategisch handelnden Sozialstaatsbürgern und dem Typ fatale Folgen gehören. In der Öffentlichkeit haben sich gegen diese Gruppen Ressentiments gebildet, die allein der Logik des Sozialinvestitionsstaates (KNECHT) folgen, wie Heinz BUDE schreibt, d.h. sie werden als Drückeberger und als Trittbrettfahrer denunziert.

Die Unverwendbaren

"Es gehört zur ideologischen Innovation des investiven Wohlfahrtsstaates, dass er den Erfolgsbegriff der Leistung nicht nur für die mit, sondern auch für die ohne Arbeit in Anspruch nimmt. Von der leistenden Subjektivität der Arbeit soll niemand sich retten können.
Wenn das so ist, kann man eigentlich nur diejenigen, die sich nicht in Bewegung bringen lassen, als Drückeberger und Trittbrettfahrer denunzieren."
(Heinz Bude in der SZ vom 14.02.2011)

Während BUDE jedoch lediglich Respekt für diese heterogenen Transferempfänger-Gruppen fordert, setzt ein Befähigkeitsstaat im Sinne von KNECHT auf differenziertere Antworten, die den Menschen in seiner Vielfalt ernst nehmen. Es stellt sich letztlich aber auch immer die Frage, welches Verhalten legitim ist. Arbeitgeber halten z.B. jegliche Verweigerung von Arbeit und wenn sie noch so unwürdig ist, für illegitim. Politische Forderungen beschränken sich deshalb meist nur auf die Schaffung von stärkeren Anreizen zur Aufnahme von jeglicher Arbeit. Dagegen sehen die Gewerkschaften solche Verweigerungen im Dienste einer Verbesserung der Lebensverhältnisse von Arbeitnehmern als durchaus legitim an. Auch diese Aspekte gehören zu den Rahmenbedingungen der Produktion von Lebensqualität. KNECHT zeigt deshalb in seinem Buch auf, dass unterschiedliche Wohlfahrtsregime (Gösta ESPING-ANDERSEN) zu unterschiedlichen Reaktionsweisen auf soziale Probleme führen.

 
     
 
       
   

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webmaster@single-generation.de Erstellt: 05. März 2011
Update: 20. November 2018