Die gängige
Mainstreamargumentation in Sachen Demographie lautet in
verkürzter Form: Durch die drastisch gesunkenen Geburtenzahlen
infolge des Pillenknicks und des Einstellungswandels der
Bevölkerung ist die Bevölkerungsstruktur aus dem Gleichgewicht
geraten. Es gibt zu wenig Kinder und junge Menschen und - in
absehbarer Zeit - zu viele alte Menschen. Die sozialen
Sicherungssysteme, die auf dem Umlageverfahren basieren
(Generationenvertrag) können deshalb nicht mehr funktionieren
und müssen somit durch kapitalgedeckte Systeme ersetzt werden.
Deutschland vergreist und wird langfristig schrumpfen.
Ohne die sozialpolitischen Implikationen dieses Ansatzes und
die materiellen Interessen, die dahinter stehen, hier näher
beurteilen zu wollen, bin ich der m. E. lohnenswerten Frage
nachgegangen, was wäre geschehen, wenn - das historisch erfolgte
Wanderungsgeschehen konstant gesetzt - die "natürliche"
Bevölkerungsbewegung über alle Jahre hinweg durch geburtenstarke
Jahrgänge geprägt worden wäre und der "Pillenknick" ausgeblieben
wäre.
Die
Geburtenentwicklung im früheren Bundesgebiet zwischen 1955 und
1970
Im Zeitraum 1955 - 1970
sahen die Geburtenzahlen in der früheren Bundesrepublik wie im
nachfolgenden Schaubild aus (Tabelle mit den Geburtenzahlen).
Die DDR-Zahlen wurden absichtlich nicht verwendet, da ihre
simple Addition zu den "westdeutschen" Zahlen methodisch
fragwürdig gewesen wäre. Dies ist nicht als manipulativer Trick
zu verstehen, denn die später hier zu zeigenden Entwicklungen
wären dann noch viel drastischer ausgefallen.
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Bevölkerung
und Wirtschaft 1872 - 1972
hrsg. v. Statistischen
Bundesamt Wiesbaden 1972 S.108
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Das Jahr 1960 als
Ausgangspunkt des Modellszenarios
Wie leicht zu sehen ist,
steigen die Geburtenzahlen von 1955 bis Mitte der sechziger
kontinuierlich an und fallen schon gegen Ende des sechsten
Jahrzehnts drastisch. Anders als in der allgemeinen
Argumentation praktiziert, wurde für die folgende Berechnung
nicht die Maximalzahl von 1963 (1,054 Mio. Geburten) genommen,
sondern die des Jahres 1960, um einen 40-Jahresvergleich zu
ermöglichen. Ausgerechnet die Maximalziffer ständig als Basis
für den Vergleich von Geburtenzahlen zu nehmen, ist zwar üblich
aber unseriös und zeigt nur das Niveau der allgemeinen
Diskussion. Die Geburtenzahl des Jahres 1960 (968.629)
entspricht im Übrigen fast dem Mittelwert der Jahre 1960 - 1970
(966.614). (Methodische Anmerkung: Ganz aktuelle Zahlen (2005,
2006) konnten noch nicht genommen werden, da die entsprechenden
amtlichen Publikationen noch nicht vorlagen, d. V.)
Die
Entwicklung ausgewählter Großstädte im Deutschland ohne
Pillenknick (1960 - 2002)
In der folgenden Tabelle
werden nun die Bevölkerungsstände einiger zufällig ausgewählter
Großstädte im Zeitraum 1960 - 2002 (das letzte "Jahrbuch
deutscher Gemeinden" lag leider nicht vor, s.o.) miteinander
verglichen und des weiteren - unter Annahme konstanter
Geburtenzahlen aus 1960 und eines konstant gesetzten
Wanderungsgeschehens (wie empirisch erfolgt) - die fiktive
Einwohnerzahl des Jahres 2002 (1.1.) errechnet (41 mal die
Differenz zwischen realer und der Basisgeburtenzahl des Jahres
1960). Es ergibt sich folgendes Bild:
Auch ohne
Pillenknick hätte es Gewinner- und Verliererregionen gegeben
Schnell wird deutlich,
dass die ausgewählten Großstädte teilweise ganz unterschiedliche
Entwicklungen mitgemacht haben. Zum Teil sind ihre
Geburtenzahlen durchschnittlich (Köln) oder sogar kaum (München)
gesunken, zum Teil sind sie drastisch gefallen, besonders in den
Städten, die ihre industrielle Basis fast vollkommen verloren
haben und deshalb hohe Wanderungsverluste von Menschen im
Erwerbsalter (gleichzeitig auch Fertilitätsphase) hinnehmen
mußten (Essen, Gelsenkirchen, Oberhausen). Für die (alte)
Bundesrepublik insgesamt ist der Geburtenrückgang mit 25% noch
glimpflich ausgefallen, gleichwohl läge die Bevölkerungszahl
ohne diesen Rückgang bei 75,6 Mio. Einwohnern (ohne Berlin).
Fazit: Ohne
den Geburtenrückgang wäre der Strukturwandel der Vergangenheit
kaum zu bewältigen gewesen
Nun will ich nicht wertend
darauf eingehen, wie wohl die soziale Wirklichkeit in Städten
wie Gelsenkirchen, Oberhausen und Essen aussähe, falls die
Geburtenzahlen in etwa konstant geblieben wären, denn dass dann
die erwerbswirtschaftliche Basis dieser Städte (Kohle und Stahl)
unter diesen Voraussetzungen nicht verloren gegangen wäre, wird
wohl der kühnste Phantast nicht zu behaupten wagen. Auf einen
prägnanten Kern gebracht, wäre dann die Frage zu stellen, wie
sähe die soziale Wirklichkeit wohl heute in Gelsenkirchen aus,
wenn bei 544.000 Einwohnern nur 74tsd.
sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze (wie zur Zeit) zur
Verfügung stünden?
Eine Anmerkung
möchte ich mir doch nicht verkneifen: Angesichts dieser Zahlen,
ist es wenig erstaunlich, dass unsere Demografietheoretiker und
Familienideologen solche "Rückwärts"-Szenarien meiden wie der
Teufel das Weihwasser.