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Debatte

 
       
   

Gerd Bosbach

 
       
   

Schirrmacher, Der Spiegel und die demografische Entwicklung. Vom unsauberen Umgang mit Fakten
Ein Kritik von Gerd Bosbach anlässlich der  Spiegel-Titelgeschichte "Jeder für sich. Wie der Kindermangel eine Gesellschaft von Egoisten schafft" vom 06.03.2006

 
       
     
       
   
     
 

Vom unsauberen Umgang mit Fakten

Für den Blick auf die Entwicklung unserer Bevölkerung sind beobachtbare Fakten eine wichtige Voraussetzung. Deshalb wundert der schlampige bis tendenziöse Umgang in der öffentlich geführten Diskussion. Negative Entwicklungen werden übertrieben dargestellt, positive weitgehend ausgeblendet. Aber auch vor bewussten oder unbewussten Falsch-Darstellungen wird selten zurückgeschreckt. Hauptsache es dient der Dramatisierung!

An vorderer Front dieser Fakten-Verdreher stehen der FAZ-Herausgeber Schirrmacher („Das Methusalem-Komplott“) und das Magazin „Der Spiegel“. Am 6.3. dieses Jahres mussten wir neue Beispiele für ihre, manipulierende Darstellungsart im Spiegel erleben. In einem Artikel und einem Interview mit Frank Schirrmacher aus Anlass der Herausgabe seines neuen Buches „Minimum“ wurde wieder kräftigst dramatisiert und dabei manche Tatsache völlig verfälscht.

Meine Bemerkungen beziehen sich ausschließlich auf die statistischen und logischen Verdrehungen, über die merkwürdigen politischen Erklärungen und Folgerungen mögen sich Berufener auslassen. Ich möchte die Fehler in der Arbeitsweise der Autoren nur von meiner Profession, der Statistik und Mathematik, also der Faktenwelt und der Logik aus betrachten.

Matthias Matusek u. a. - Unter Wölfen

Zuerst zum Artikel der Spiegels (Autoren Gatterburg, Matussek und Wolf, S. 76 bis 84):

SPIEGEL: „In kaum einem anderen Land in Europa werden so wenig Kinder geboren wie bei uns,...“ (S. 77)

Falsch! Die vom Spiegel im Weiteren benutzten Daten stammen aus dem Jahre 2003 von eurostat. Deren Gesamtauflistung zeigt allerdings:
In der EU der 25 haben zehn (!!!) Länder eine geringere Geburtenrate als Deutschland, zwei eine ähnlich große und zwölf liegen höher. Fasst man Europa weiter kommen mindestens noch Bulgarien, Kroatien, Rumänien und Russland mit niedrigeren Geburtenraten dazu. Der Text ist also eindeutig falsch, die zugehörige Grafik (S. 79) durch die Auswahl einiger „passender“ Länder irreführend. Hielt der Spiegel die Hinzunahme der USA wegen ihrer hohen Rate für der Dramatik dienend, musste er Länder wie Russland und Japan einfach „vergessen“.

SPIEGEL: „Es ist eine Last, die größer ist, als sie (Verf.: die Knirpse) verkraften. In zehn Jahren, spätestens, ist es so weit.“ (S. 77)

Nein! Erst ab 2025, wenn die geburtenstarken Jahrgänge der Sechziger des letzten Jahrhunderts langsam ins Rentenalter kommen, verändert sich der Altersquotient nennenswert. Also erst in 20 Jahren beginnt die Reduzierung des Arbeitskräfteangebotes, was allerdings durch viele, nur selten erwähnte Faktoren überhaupt nicht zum Problem führen muss.

SPIEGEL: „Noch nie zuvor in der deutschen Geschichte hat sich der demografische Kegel derart verschoben.“ (S. 77)

Wieder falsch! Ein Blick auf die Lebensbäume der Jahre 1900, 1950, 2000 zeigt, dass wir im letzten Jahrhundert viel gravierendere Änderungen gemeistert haben. Der Tannenbaum des Jahres 1900 ist schon 1950 nicht mehr wiederzuerkennen und im Jahre 2000 nochmals völlig anders.
Auch die Steigerung der Lebenserwartung ist inzwischen in einer degressiv wachsenden Phase.

Interessanterweise werden die gesundheitlichen Probleme von Kindern ausführlich beschrieben - zu ergänzen wäre vielleicht noch der frühe Konsum von Alkohol, Tabak und anderen Drogen schon in der Wachstumsphase. Aber Folgen für die weitere Entwicklung der Lebenserwartung scheinen sich weder Schirrmacher noch der Spiegel vorstellen zu können.

SPIEGEL: „... die Risiken einer Scheidung vor dem Familiengericht will kaum noch einer auf sich nehmen.“ (deshalb „Ehestreik“)

Maßlos übertrieben! 2004 haben sich 791.984 Menschen das Ja-Wort gegeben, in den letzten zehn Jahren waren es über 8 Millionen. Merkwürdiger Streik.

Auch im Detail gibt es viele Fehler: Mal werden die Babyboomer in den fünfziger Jahren geortet, mal wird übersehen, dass die Geburtenrate in Westdeutschland seit 1970 annähernd konstant ist, mal wird das Statistische Bundesamt mit seiner Wanderungsprognose falsch (Absicht?) zitiert.


Auf die vielen unklar, aber tendenziös formulierte Fakten bin ich nicht eingegangen. Sie sind halt nicht nachweisbar falsch, erzielen nur den gewünschten, dramatisierenden Gesamt­eindruck.

Frank Schirrmacher im Spiegel-Interview

Schirrmacher bringt in seinem Interview (S. 85 bis 88) eigentlich keine Fakten, es ist halt nicht sein Metier Tatsachen zu beschreiben und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Erstaunlich ist die Logik seiner Argumentation und Schlussweise.

SPIEGEL-Interview: „..., ich bin ein optimistischer, aber auch sehr realistischer Mensch.“ (S. 85) “Aber irgendwo in der Ferne kommt noch einmal eine Weiche, und die können wir umstellen.“ (S. 85) Und auf der anderen Seite: “Der Zug ist abgefahren.“ (S. 86) „Wir wurden umprogrammiert“ (S. 85 und 87)

Erst in der Ferne etwas änderbar? Biologische Umprogrammierung gegen Kinderzeugung in ein bis zwei Generationen?? Und das soll optimistisch sein?

Aber, wenn er sich mal auf Fakten einlässt wird es gar grausig:

SPIEGEL-Interview: „..., denn um Frauen wird gekämpft werden müssen in der Zukunft, weil sie knapp werden!“ (S. 88)

Aus welcher Horror-Geschichte hat er denn das? Insgesamt gibt es deutlich mehr Frauen als Männer, alleine durch die höhere Lebenserwartung. Und was die Zukunft der jungen Leute in Deutschland angeht - darauf war die Bemerkung bezogen: Der männliche Anteil an den Geburten liegt seit 1945 zwischen 51,3 und 51,9 Prozent, in den letzten 15 Jahren dabei am unteren Ende (51,3 bis 51,4 Prozent). Die heutigen jungen Männer müssen sogar weniger „um die Frauen“ kämpfen, allerdings statistisch unerheblich.

SPIEGEL-Interview: „Die muselmanische Reconquista hat demografische Ursachen, die Geburtenrate wird in diesen Ländern noch bis 2020 wachsen.“ (S. 88)

Natürlich ist unklar welche Länder, Bevölkerungsteile er meint. Auch der Begriff Geburtenrate ist nicht eindeutig. Aber die Kinderzahl pro Frau geht seit längerem in den meisten Ländern zurück. Nur die Höhe des Rückganges, bzw. die Frage, ob es unter dem rechnerischen Bestandserhaltungsniveau sinkt, wird diskutiert. Also, für heute ist die Bemerkung sicherlich falsch. Und woher Schirrmacher das Gebärverhalten der Zukunft in diesen Ländern kennen will, möchte ich gerne wissen. Aber vielleicht verwechselt er ja Geburtenrate mit Bevölkerungszahl, für die diese Prognose evtl. gelten könnte. Dann sollte er bei den Formulierungen mal weniger auf die Angst machende Absicht achten und mehr auf den Wahrheitsgehalt.

Erstaunlich ist auch Schirrmachers Ausflug in die Katastrophentheorie. Zwei Beispiele beweisen ihm die Überlegenheit der Familie. Und was ist mit den vielen anderen Katastrophen??? Zwei Beispiele finde ich für jede Theorie, von einem aussagekräftigen Beleg ist das aber meilenweit entfernt.


Wie schon gesagt: Hier wird nur der Umgang mit Fakten beleuchtet, die politisch gewollten Implikationen sind genauso fragwürdig. Das Alles hat mich an meine Zeit als Berater des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages erinnert. Auch dort wollten die Politiker nur die Fakten, die zu ihrer Meinung passten, nur zur Not auch verdreht.

Zum Schluss in eigener Sache

Natürlich sind mehr Kinder eine Bereicherung. Aber bevor wir über die Geburtenrate jammern, sollten wir die heute existierenden Kinder und Jugendlichen gut versorgen: Mit Plätzen in KiTas und Kindergärten, mit ausreichend Lehrern in modernen Schulen, mit genügend qualifizierten Ausbildungsstellen und Hochschulen, in denen Platz ist und der Lehrkörper auch mal Zeit für Gespräche mit den Studenten hat. Das würde die Jugend „zukunftsfest“ für ihre späteren Versorgungsaufgaben machen. Daraus könnte eine optimistische Generation erwachsen, die anders über Kind Sein und Kinder bekommen denkt.

Oder umgekehrt ausgedrückt: Schlecht ausgebildete Kinder und Jugendliche werden in 20 bis 30 Jahren große Probleme haben die Gesellschaft zu stemmen. Das liegt dann aber nicht an der Demografie, sondern ist Konsequenz verfehlter Politik!

Kontakt: Prof. Dr. Gerd Bosbach, Fachhochschule Remagen, bosbach@rheinahrcampus.de

 
     
 
       
   

weiterführende Literatur

 
       
   

Lektüreempfehlungen von Gerd Bosbach

Statistisch saubere Darstellungen von mir zu den in der öffentlichen Diskussion weitgehend ausgeblendeten positiven Entwicklungsfaktoren können Sie u. a. nachlesen in:
BOSBACH, Gerd (2004): Demografische Entwicklung - nicht dramatisieren.
Bei ganzheitlicher Betrachtung der vorliegenden Daten zur demografischen Entwicklung ergibt sich, dass zu einem "Demografie-Pessimismus" kein Anlass besteht,
in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H.2, Februar

BINGLER, Klaus & Gerd BOSBACH (2004): Kein Anlass zu Furcht und Panik.
Fakten und Mythen zur "demografischen Katastrophe",
in: Deutsche Rentenversicherung, H.11/12, November/Dezember

Wenn Demografie zu Demagogie wird Souverän (Hrsg.: Senioren Union der CDU Deutschlands ) 8/2005 (kurz und knackig)

MÜLLER, Albrecht (2004): Die Reformlüge (S. 103 bis 140)

 
       
   

zitierte Literatur

MATUSSEK, Matthias u.a. (2006): Unter Wölfen.
Abnehmende Geburtenraten führen zur Vereinzelung der Kinder in unserer Gesellschaft. Nicht nur die finanzielle Zukunftssicherung ist davon betroffen - ohne Familie verlernt die Gesellschaft schlichtweg die Liebe,
in: Spiegel Nr. 10 v. 06.03.

FESTENBURG, Nikolaus von & Matthias MATUSSEK (2006): "Wir wurden umprogrammiert".
FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, 46, über die Ursachen und Folgen des Geburtenrückgangs, die Mitschuld der Politik und die Chancen von immer weniger Deutschen, ihre Identität zu bewahren,
in: Spiegel Nr. 10 v. 06.03.

 
       
   

weiterführender Link

 
       
     
       
   
 
   

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Update: 25. November 2018