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Deutschland am Abgrund?
Im März des Jahres 2006 lag
wieder einmal Endzeitstimmung über dem Land. Frank SCHIRRMACHER
veröffentlichte sein Buch Minimum und die Mitte-Presse
steuerte untertänigst den Untergang Deutschlands mit Hilfe
gefakter statistischer Daten über die demographische Lage bei.
Jeder für sich
"Es
ist ist die Altersgruppe zwischen 20 und 45, die Familien
gründet, oder auch nicht. Bei uns tat sie es immer
weniger. Und sie gab ihr Modell der Kinderknappheit weiter
an die nächste Generation, die nun noch weniger Kinder
kriegt, denn das ist bewiesen: Es braucht Kinder, um zum
Kinderkriegen zu ermutigen."
(Matthias Matussek u.a. im Spiegel vom
06.03.2006, S.80) |
Im
Spiegel-Aufmacher vom 6. März sahen sich Matthias MATUSSEK
u. a.
bereits Unter Wölfen.
Am
14. März legten Uwe MÜLLER und Joachim PETER in der Welt
dann noch nach und verkündeten:
Wenn das Volk schrumpft
"Nach Prognosen des
Statistischen Bundesamtes kamen 2005 nur rund 676 000 Kinder auf
die Welt. Gegenüber dem Vorjahr, als es noch knapp 706 000
Geburten waren, würde das ein Minus von über vier Prozent
bedeuten - es wäre der gewaltigste Einbruch der letzten 15
Jahre."
(Uwe Müller und Joachim Peter in der Welt vom
14.03.2006) |
An dieser Meldung stimmt
nicht einmal die Behauptung, dass dies der "gewaltigste Einbruch
der letzten 15 Jahre" sei. Vielmehr wurden im Jahr 2000 noch
766.999 Kinder in Deutschland geboren, während ein Jahr später
nur noch 734.475 Kinder zur Welt kamen. Dies entspricht einem
Rückgang um ca. 4,2 %. Einen Tag später gibt das
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung eine
Pressekonferenz, um das Buch Die demografische Lage der
Nation in Szene zu setzen. Spiegel Online skandiert
daraufhin:
Der Osten verliert, der Süden profitiert
"Die Geburtenrate in
Deutschland ist auf dem niedrigsten Stand seit 1945, die
Kinderzahl pro Kopf ist die niedrigste der Welt. »Das heißt, wir
sind in der schwierigsten Lage weltweit«, sagte Reiner
Klingholz, Leiter der Studie."
(Miriam Schröder im Spiegel Online, 15.03.2006) |
Über Vorabmeldungen der
Nachrichtenagenturen verbreiten sich die Zahlen von MÜLLER &
PETER wie ein Lauffeuer. Bild titelt Baby-Schock!
und behauptet, dass die Deutschen in 12 Generationen
ausgestorben sind. Die
linke Tageszeitung junge Welt zitiert die Welt gar
so, dass 2005 noch weniger als 676.000 Kinder zur Welt kamen. Die
katholische Zeitung Die Tagespost schreibt dagegen einen
Tag später vorsichtiger:
Demographisch im Kriegszustand
"Die Zeitung »Die Welt«
hatte Zahlen des Statistischen Bundesamtes hochgerechnet und kam
nur auf 676 000 Neugeborene. Das Amt selbst will erst im Sommer
seine Daten für 2005 bekannt geben, nennt aber jetzt eine
Größenordnung von 680 000 bis 690 000."
(Martina Fietz in der Tagespost vom 16.03.2006) |
Am gleichen Tag
wiederholen MÜLLER & PETER noch einmal ihre eigenen Zahlen mit
der Schlagzeile Es droht Einwohnerkannibalismus. Sie
schreiben:
Es
droht Einwohnerkannibalismus
"Am Dienstag hatte die
WELT exklusiv über eine interne Prognose des Statistischen
Bundesamtes berichtet, wonach 2005 nur 676 000 (Vorjahr: 706
000) Babys geboren wurden."
[mehr]
(Uwe Müller und Joachim Peter in der Welt vom
16.03.2006) |
Erst am 17. März klärt
Björn SCHWENTKER über die Falschmeldungen auf - nicht etwa in
der Print-ZEIT wie sich das gehört hätte, nein, nur in
der Online-Ausgabe wird darauf hingewiesen:
Der Kinderschock
"Auf einem »Tiefstand«
sieht die Berliner Studie die deutsche Geburtenrate bei derzeit
1,36 Kindern pro Frau angekommen. In der FAZ gesellt sich dazu
die Äußerung von Hans Fleisch, dem Vorstandsvorsitzenden des
Berlin-Instituts, dies sei »der niedrigste Wert auf der Welt
außer dem Vatikan«. Doch Minimum-Weltrekordler sind die
Deutschen - so steht es zumindest in der Berliner Studie, und
vielleicht meinte das auch Hans Fleisch - in der Zahl der
Geburten je tausend Einwohner, und das schon seit dreißig
Jahren. Diese Ziffer sagt aber nichts über die Geburtenzahl je
Frau aus, die in einigen Ländern Europas niedriger ist als in
Deutschland.
Die Verwechslung zeugt von einem Verständnisdefizit angesichts
der verwirrenden Statistik, könnte man meinen. Doch nahtlos geht
es weiter. Auch für die weitere Geburtenentwicklung wird ein
pessimistisches Bild an die Wand gemalt: Im Jahr 2005 seien in
Deutschland nur noch 680.000 Kinder geboren worden, die
niedrigste Zahl seit 1945. Bis 2050 sei zu erwarten, dass sich
diese Zahl halbiere, zitieren die Zeitungen Reiner Klingholz,
den Direktor des Berlin-Instituts.
Ein kurzer Anruf beim Statistischen Bundesamt hätte genügt, um
nicht nur zu erfahren, dass die Kinderzahl für 2005 eine
vorläufige Schätzung ist, die zwischen 680.000 und 690.000
liegt. Aber in der deutschen Demografie-Debatte ist es ja
ohnehin schon lange Usus, nur Minimalwerte zu zitieren."
(Björn Schwentker auf ZEIT Online vom 17.03.2006) |
Die Zahlen, die SCHWENTKER
nennt, wurden in der Welt bereits am 21. Januar
veröffentlicht.
Woher
hatten also MÜLLER & PETER ihre Zahlen, die noch um 4000
Geburten unter den Schätzungen des Statistischen Bundesamtes
lagen?
Auf
single-generation.de widerlegte der
Bevölkerungsstatistiker Gerd BOSBACH am 20. März Aussagen, die
im Spiegel-Titel zur demografischen Lage gemacht wurden
. Erst
Tage später durfte er seine Kritik auch in der Mitte-Presse
äußern. Matthias
KAMANN, der am 21. Januar die Schätzung des Statistischen
Bundesamtes zur Geburtenentwicklung in der Welt
kommentierte, kritisierte die Praxis der Welt indirekt in
einer Buchbesprechung:
Kritik am Meinungskartell
"Es
gibt sie, die Tendenz zur inzestuösen Meinungsbildung in jenen
Informationseliten, die seit gut fünf Jahren eine Radikalkur für
unsere Wirtschaft und Sozialsysteme fordern. Gerade diejenigen,
die unablässig über Korporatismus und soziale Kartelle klagen,
haben selbst ein korporatives Kartell aufgebaut, in dem einer
dem andern die Reformthesen und Krisenbeschwörungen nachspricht.
So kamen jüngst pünktlich zum Erscheinen des neuen
Demographie-Buches von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher
plötzlich die passenden Studien zum Geburtenrückgang daher, und
die Medien überboten einander mit Serien über die alternde
Gesellschaft und die Krise der Rentenversicherung."
[mehr]
(Matthias Kamann im DeutschlandRadio vom 07.04.2006) |
Wer stoppt also
diesen Betrug unserer Medienelite an der deutschen
Öffentlichkeit? Im
Juni werden voraussichtlich die offiziellen Zahlen zur
Geburtenentwicklung im Jahr 2005 bekannt gegeben. Wiederholt
sich dann diese Medienkampagne, weil das Gedächtnis so kurz ist?
Immerhin steht die reibungslose Durchsetzung des Elterngeldes
auf der politischen Agenda.
single-generation.de berichtet exklusiv weiter
Am
19. Juli und am
15. August 2006 veröffentlichte das Statistische Bundesamt
in Wiesbaden Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung 2005. Was
zum Zeitpunkt dieses Beitrags lediglich ein begründeter
Verdacht war, ist nun Gewissheit: Die tatsächlichen
Geburtenzahlen 2005 liegen um ca. 10.000 Geburten höher
als von MÜLLER & PETER im März behauptet. Im
Buch Die Single-Lüge wird aufgezeigt, dass dies kein
Zufall oder Einzelfall war, sondern Teil der
nationalkonservativen Strategie ist.
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Die Ruhe vor dem nationalkonservativen Sturm
Seit dem Pflegeurteil im
April 2001 haben die Medienkampagnen ständig an Schärfe gewonnen
und die Taktfrequenz der Kampagnen hat sich erhöht. Es
spricht einiges dafür, dass die Kampagne im März nicht der
Höhepunkt, sondern nichts als die Ruhe vor dem Sturm war. Am
16. März betitelte die Süddeutsche Zeitung ein Interview
mit dem Nationalkonservativen Franz-Xaver KAUFMANN schlicht mit
dem Wort Abwärts. Im Vorspann müssen die Zahlen von
MÜLLER & PETER als Beleg herhalten. Das ist
Qualitätsjournalismus, aber nach Gutsherrenart! Der
Soziologe Franz-Xaver KAUFMANN hat mit seinem Buch
Schrumpfende Gesellschaft nichts weniger als eine THEOLOGIE
DES BEVÖLKERUNGSRÜCKGANGS verfasst. Man muss Anhänger dieser
Glaubensgemeinschaft sein, um den Vorstellungen von KAUFMANN
etwas abgewinnen zu können.
Schrumpfende Gesellschaft
"Der
Umstand, daß demographische Veränderungen in der Regel
nicht ein einzelnes, sondern mehrere gesellschaftliche
Teilsysteme in ihrer raum-zeitlichen Lagerung einigermaßen
gleichzeitig betreffen, legt die Frage nach mittelbaren
gesellschaftlichen Wirkungen des demographischen
Wandels nahe. (...).
Das
Wirtschaftswachstum kann durch Innovationen und durch
Export stimuliert werden; Produktivitätssteigerungen
erscheinen weit stärker von unternehmerischen Maßnahmen
als von der Personalwirtschaft abhängig; Nachfrageausfälle
im basalen Bereich lassen sich durch Verschiebung der
Nachfrage in Bereich superiorer Güter und Dienstleistungen
kompensieren; Geburtenausfälle lassen sich durch
Zuwanderung kompensieren usw. Auch wenn somit die (...)
Befunde nicht geleugnet werden, so behaupten die
verharmlosenden Diskurse, daß die demographischen Effekte
im Vergleich zu anderen Wirkungsgrößen bescheiden
bleiben und angesichts der Langsamkeit ihrer Entfaltung
unschwer durch Anpassungsmaßnahmen kompensiert werden
können.
(...).
Die hier vertretene Gegenthese (...) hebt (...) auf die
gleichsinnige Wirkungsrichtung des demographischen Wandels
mit Bezug auf nahezu alle Gesellschaftsbereiche ab."
(2005,S.111ff.)
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KAUFMANN
verlässt mit dem Buch jedenfalls den Boden wissenschaftlicher
Seriosität und entwirft eine "Theorie" des Zusammenhangs von
Wohlstand und Geburtenentwicklung. Von
welchen Prämissen das nationalkonservative Paradigma ausgeht,
das wird im Buch Die Single-Lüge. Eine Kritik der
Argumentationsmuster im Zeitalter der Demografiepolitik von
Bernd KITTLAUS beschrieben. Das Buch ist im Mai erschienen
.
KAUFMANN
macht im Interview mit der Süddeutschen Zeitung unmissverständlich klar, dass kein Weg daran
vorbeiführen wird, "Kinderlose" zu bestrafen:
Abwärts
"Ich gestehe zu, dass die
Forderung nach einem Altersvorsorgezwang für Personen, die -
manchmal aus für sie tragischen Gründen - keine
Elternverantwortung übernehmen, noch als politisch unkorrekt
gilt. Es ist aber praktisch unmöglich, Familien ausreichend zu
fördern, ohne die ökonomischen Vorteile der Kinderlosigkeit
abzubauen.
Diese Einsicht wird sich durchsetzen. Was die Politik daraus
macht, ist schwer zu sagen."]
(SZ 16.03.2006) |
Das nationalkonservative
Paradigma bevorzugt sozial unausgegorene Instrumente wie die Rente nach Kinderzahl
, die sowohl die
Unternehmen als auch die Spitzenverdiener aus der Verantwortung
für die Nachwuchssicherung entlassen und eine eindeutige
Umverteilung von unten nach oben bedeuten. Die
Sympathisanten dieser Lösung warten nur noch auf den richtigen
Zeitpunkt. So schreibt z.B. Felix BERTH in der Süddeutschen
Zeitung:
Sehnsucht nach Familie
"Wer
heute auf Nachwuchs verzichtet, muss im Alter keine Risiken
fürchten. Diese Trittbrettfahrer des Systems stärker zu belasten
wäre sinnvoll - schließlich verfügen sie über Geld und Zeit, die
andere zur Kindererziehung benötigen."
(SZ 04.02.2006) |
Was BERTH jedoch verschweigt: Die Rentenansprüche sind für Jüngere bereits
jetzt um 1/3 gekürzt worden.
Dabei sind die Sozialsysteme noch nicht einmal vom
demografischen Wandel betroffen. Allein die Wiedervereinigung,
die hohe Arbeitslosigkeit, die Zunahme sozialversicherungsfreier
Jobs sowie die Praxis der Frühverrentung haben die Sozialsysteme
ruiniert (siehe Stern 23.03.2006 und FAZ 03.04.2006).
Bislang
ging es in erster Linie um die Bestandssicherung der
68er-Generation. Dabei hat die Geburtselite
der Generation Golf,
z.B. Susanne GASCHKE, wertvolle Dienste geleistet
. Es
kommt sogar noch dicker. Die 68er profitieren als
"Generation Enkellos"
(Jakob WEIZSÄCKER & Robert FENGE) zusätzlich noch davon,
dass die jüngeren Generationen weniger Kinder bekommen haben
("Der Rentengewinn der Generation Enkellos", FAZ
20.04.2006).
Die Jüngeren haben dagegen das Nachsehen.
Angesichts
der Tatsache, dass zudem eine erhebliche Ausweitung von
Niedriglöhnen - speziell im Bereich der haushaltsbezogenen
Dienstleistungen - geplant ist, muss gefragt werden, wie junge
Kinderlose der Generation Praktikum
in die Lage versetzt werden sollen, einerseits ihre
Altersvorsorge aufzubauen und andererseits
Partnerwahl und Familiengründung unter den Bedingungen des
globalen Arbeitsmarktes
hinzubekommen
. Man
könnte es zynisch formulieren: Erfolglose sollen eben keine
Kinder kriegen!
Der
Kern der Argumentation von KAUFMANN läuft jedenfalls darauf
hinaus, dass es nicht wirklich zu wenig Kinder in Deutschland
gibt, sondern dass die Falschen die Kinder bekommen. Dieses
nationalkonservative Credo hat vor kurzem der einstige
Popliterat Joachim BESSING auf den Punkt gebracht:
Klasse statt Masse
"Wer, um seine
Kinder großzuziehen, auf die Hilfe des Staates angewiesen ist,
der hat von der kulturell entwickelten Lebensform Familie
nämlich rein gar nichts begriffen.
(...).
Geburtenschwäche
hat vor allem seelische Gründe, denen mit Zahlungen schwer zu
behelfen sein wird. Gefördert werden muß nicht die Masse an
Kindern, sondern das Bewußtsein jener Klasse, deren Nachwuchs
wir dringend benötigen. Nicht die ohnehin bereits am staatlichen
Tropf hängen, sollen die Kinderlein kommen lassen. Wir brauchen
starke Familien, die Werte vermitteln können. Wir brauchen ein
reproduktives Bürgertum.
(...).
Die Zukunft unserer Kinder
wird - zwingend wie jemals zuvor - nach Herkunft, Möglichkeit
und Situation sortiert werden."
(Welt 19.04.2006) |
Mit dem
Nationalkonservatismus steht uns der Rücksturz in die Vormoderne
bevor.
Warum gerade jetzt?
Nationalkonservative und ihre
Sympathisanten warten nur noch auf den richtigen Zeitpunkt.
Dieser scheint nun gekommen zu sein, denn die GeburtenZAHLEN
werden in den nächsten Jahren rückläufig sein, selbst wenn die
GeburtenRATE steigt. Diesen
Sachverhalt, der durch den kurzzeitigen Übergang von den
geburtenstarken zu den geburtenschwachen Jahrgängen verursacht
wird, versuchen nun Nationalkonservative für weitere unsoziale
Reformen zu missbrauchen.
Schaubild
1 |
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Quelle:
Jahrbücher des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden |
Das obige Schaubild zeigt den
Rückgang der weiblichen Geborenen zwischen 1968 und 1973. In
diesem Zeitraum war in Deutschland der stärkste Geburtenrückgang
zu verzeichnen.
Aus
dem Schaubild ist auch erkennbar, dass der Rückgang in der DDR
erst später einsetzte. In den alten Bundesländern erfolgte der
stärkste Rückgang 1969/1970, in den neuen Bundesländern dagegen
erst 1971/1972.
In
den letzten Jahren stand vor allem der westdeutsche
Frauenjahrgang 1965 unter Beobachtung. Es war der erste Jahrgang
des westdeutschen Geburtenrückgangs Für Florian ILLIES war dies
der erste Jahrgang der Generation Golf,
für Katja KULLMANN der erste Jahrgang der Generation Ally.
Schaubild
2 |
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Quelle:
Jahrbücher des Statistischen Bundesamtes in
Wiesbaden;
eigene Berechnungen. Bei
den Zahlen ab
dem Jahr 2000 handelt es sich um
Schätzungen, da
lediglich Zahlen für Deutschland vorhanden
waren.
Für die alten Bundesländer wurde ein Anteil von
78,9 %
der Geburten angenommen. Dieser Wert dürfte eher zu
niedrig angenommen sein, weil der Anteil der
Spätgebärenden in Ostdeutschland niedriger ist. |
Betrachtet man das Schaubild,
dann wird deutlich, dass dieser Frauenjahrgang inzwischen nicht
mehr viel zum Geburtenaufkommen beiträgt. Seinen
größten Beitrag lieferte dieser Jahrgang Anfang bis Mitte der
1990er Jahre. Es war gleichzeitig jene Zeit, in der in
Westdeutschland die Individualisierungsthese
des Soziologen Ulrich BECK zum dominanten Erklärungsmuster wurde
. Im
Jahr 2000 erreichte der erste Jahrgang der Generation Ally
das
Alter von 35 Jahren und wird damit zu den
Spätgebärenden
gerechnet. Das Geburtenniveau des Frauenjahrgangs 1965 lag im
Jahr 2000 noch bei fast 50 % des Höchstwerts. Der Anteil der
35Jährigen des Frauenjahrgangs 1955 lag dagegen noch über 5 %
niedriger. Betrachtet man gar den Frauenjahrgang 1945, dann lag
der Beitrag der 35Jährigen zum Geburtenniveau gar über 50 %
niedriger.
Der
Nationalkonservatismus und seine Sympathisanten wird unter den
gegebenen Umständen die öffentliche
Aufmerksamkeit auf den
Rückgang der GeborenenZAHLEN lenken,
um dadurch die entscheidende Größe - die GeburtenRATE der
jüngeren Generationen - unter den Tisch fallen zu lassen.
Die Medienkampagne im März zeigt, dass diese Rechnung aufgehen
kann. Als erste Gegenmaßnahme zur nationalkonservativen
Strategie empfiehlt
sich also, den Blick auf die GeburtenRATE der jüngeren
Generationen zu lenken, denn hinter dem Rückgang der
Geborenenzahlen könnte sich ein neuer Babyboom
verbergen. Wenn also Nationalkonservative nur über die
GeborenenZAHLEN sprechen möchten, dann sollten sie gezwungen
werden, zur GeburtenRATE Stellung zu beziehen. Darüber sprechen
Nationalkonservative jedoch ungern. Die
Veröffentlichungen von Nationalkonservativen erkennt man
insbesondere daran, dass dort gerne mit völlig veralteten Daten
gearbeitet wird bzw. Indikatoren benutzt werden, die sich
besonders zur Dramatisierung eignen.
Christoph Keese - Der Mann, der den Mund zu voll
nahm
Im Jahr 2004 veröffentlichte
der einstige Chefredakteur der Financial Times Deutschland
und jetzige Chefredakteur der Welt am Sonntag das Buch
Rettet den Kapitalismus! Sätze mit appellativem Charakter
sind das Markenzeichen unserer neuen Werteeliten. In seinem Buch
propagiert KEESE ein ehrgeiziges Ziel:
Rettet den Kapitalismus!
"Das Ziel muss lauten,
hunderttausend mehr Babys pro Jahr zur Welt zu bringen. (...).
Hunderttausend Babys mehr bedeutet, dass 820.000 neue Deutsche
pro Jahr auf die Welt kommen würden. Das entspräche genau dem
Schnitt der letzten zwanzig Jahre - kein unerreichbares Ziel.
Fast 25 Millionen Menschen sind heute zwischen zwanzig und
fünfundvierzig Jahre alt, was ungefähr zwölf Millionen
potenzielle Paare ausmacht. (...). Wenn jedes Jahr 0,8 Prozent
dieser zwölf Millionen Paare, also jedes 125zigste Paar, ein
Baby bekäme, wäre das Ziel von hunderttausend zusätzlichen
Geburten erreicht."
(2004, S.227) |
Keine 2 Jahre später ist
offensichtlich, dass dieses Ziel vollkommen unrealistisch ist. Statt
die Hürde von 800.000 Geburten zu nehmen, wird voraussichtlich
im Jahr 2005 selbst die Hürde von 700.000 unterboten werden. Dies
ist wenig verwunderlich, denn im Jahr 2005 erreichte der
Frauenjahrgang 1975 das 30. Lebensjahr. Im Jahr 1965 wurden in
Deutschland noch über 40 % mehr Mädchen geboren als im Jahr
1975. Unter diesen Voraussetzungen war also ein fortgesetzter
Rückgang der Geborenenzahlen ungleich wahrscheinlicher als ein
Anstieg. Herr
KEESE dagegen, wurde am 19. März geradezu ausfällig. Er
bezichtigte die jungen Generationen des Versagens vor dem Leben.
In welche Richtung die Debatte vorangetrieben werden soll, das
machen die folgenden Sätze deutlich:
Das Versagen einer Generation vor dem Leben
"Wir zeugen nicht nur
ungern Kinder, wir treiben sie auch noch gern ab. Vergangenes
Jahr wurden 124 000 Kinder während der Schwangerschaft getötet.
Die Zahl der Abtreibungen lag höher als das Geburtendefizit.
Sprich: Hätten wir die abgetriebenen Kinder zur Welt gebracht,
wäre die Bevölkerung nicht geschrumpft."
(Welt am Sonntag 19.03.2006) |
Wenn ein Abtreibungsverbot
nicht fruchtet, was dann? Verbot von Kondomen oder Pille? Der
Weg scheint vorgezeichnet: Einschränkung der Geburtenkontrolle. Verstärkter
Druck auf Gebär- und Zeugungsunwillige statt gezielte Förderung
jener, die sich Kinder wünschen. Offenbar ist man der Ansicht,
dass dies billiger ist. Warum sollte man eigentlich viel Geld
für Familienpolitik ausgeben, wenn es auch ohne geht?
Fazit
Die
beschriebenen Tendenzen weisen darauf hin, dass in den nächsten
Jahren nicht nur Kinderlose, sondern auch Kinderarme zunehmend
unter Beschuss geraten werden. Treibende
Kraft ist ein erstarkender Nationalkonservatismus, der einen
engen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Wohlstand und
Geburtenentwicklung behauptet. Die
Medienkampagne im Zusammenhang mit den Veröffentlichungen von
Frank SCHIRRMACHER und dem Berlin-Institut für Bevölkerung und
Entwicklung hat gezeigt, wie das nationalkonservative
Medienkartell funktioniert. Im
Sommer werden wir Genaueres wissen über die Geburtenentwicklung
im Jahr 2005. Lässt sich dann dieses Spektakel wiederholen, weil
das öffentliche Gedächtnis zu kurz ist oder formiert sich doch
noch Widerstand gegen das neue Patriarchat?
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Dies
ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem
nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend
die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt.
Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard
Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die
Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank
Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster
Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der
Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
Es wird aufgezeigt, dass sich die
nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles
im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die
nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen." |
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