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Thema des Monats

 
       
   

Der Terror der Individualisierungsthese

 
       
   

Oder der neue Familienfundamentalismus als Folge der Individualisierungsdebatte

 
       
     
       
   
     
 

Zitate: Von der Neuen Linken zur Neuen Mitte und der Beitrag der Individualisierungsdebatte

Jenseits von Stand und Klasse?

"Die »(früh)bürgerliche Individualisierung«, die im wesentlichen auf Kapitalbesitz und -vermehrung beruhte (...), ist (...) historisch-systematisch klar zu unterscheiden von jener in der Bundesrepublik verstärkt hervortretenden »Arbeitsmarkt-Individualisierung«, die die Bedingungen staatlich regulierter Lohnarbeit voraussetzt". [mehr]
(Ulrich Beck 1983, S.45)

Risikogesellschaft

"Individualisierung bedeutet Marktabhängigkeit in allen Dimensionen der Lebensführung. (...). Individualisierungen liefern die Menschen an eine Außensteuerung und -standardisierung aus, die die Nischen ständischer und familialer Subkulturen noch nicht kannten.
Diese institutionellen Prägungen des Lebenslauf bedeuten, daß Regelungen im Bildungssystem (...), im Berufssystem (...) und im System sozialer Sicherungen direkt verzahnt sind mit Phasen im Lebenslauf der Menschen.
(...).
Mit der Herabsetzung der Pensionsgrenze wird für eine ganze Generation per Erlaß das
»soziale Alter« erhöht (mit allen damit verbundenen Problemen und Chancen). Zugleich wird eine Umverteilung von Arbeitsanteilen auf die nachwachsenden, jungen Generationen vorgenommen. Gerade Individualisierung bedeutet also: Institutionalisierung, institutionelle Prägung, und damit: politische Gestaltbarkeit von Lebensläufen und Lebenslagen.
(...).
Der Schlüssel der Lebenssicherung liegt im Arbeitsmarkt. (...). Das Bereitstellen und Vorenthalten von Lehrstellen wird so zur Frage des Einstiegs oder Ausstiegs in die oder aus der Gesellschaft. Zugleich können durch konjunkturelle oder demographische
»Hochs« und »Tiefs« ganze Generationen ins existentielle Abseits driften. D.h.: institutionenabhängige Individuallagen lassen gerade entlang von Wirtschafts- und Arbeitsmarkt-Konjunkturen generationsspezifische Benachteiligungen bzw. Bevorzugungen in entsprechenden »Kohortenlagen« entstehen. Diese erscheinen allerdings immer auch als mangelnde Fürsorge- und Versorgungsleistungen staatlicher Institutionen, die auf diese Weise unter Druck geraten, die institutionell vorprogrammierte Chancenlosigkeit ganzer Generationen, Lebensphasen und Altersstufen durch rechtliche Regelungen und sozialstaatliche Umverteilungen zu verhindern bzw. zu kompensieren."
(Ulrich Beck  1986, S.212ff.)

Die Erfindung des Politischen

"Unter den wohlfahrtsstaatlichen Bedingungen des Westens ist (...) eine »Vollkasko-Individualisierung« entstanden, die hohe Standards von Wohlstand voraussetzt. Sie beruht im wesentlichen auf sozialer und beruflicher Sicherheit, setzt also Erwerbsbeteiligung, Erwerbsarbeit und für diese wiederum das Durchlaufen von Ausbildungen, Mobilität und Mobilitätsbereitschaft voraus."
(Ulrich Beck 1993, S.70)

"Es gibt auch im Individualisierungsprozeß Verlierer und Gewinner, also Gruppen, die besser, schlechter oder gar nicht in der Lage sind, Individualisierungen zu verkraften und zu bewältigen. Im Taxi heult es sich leichter als unter der Brücke. Geld macht also auch hier den kleinen Unterschied aus, aber auch sprachliche Kompetenzen, Fähigkeiten, mit Zweifeln und Widersprüchen umzugehen. M.a.W.: benachteiligte Gruppen werden durch die Anforderungen, die Individualisierungsprozesse stellen, noch mehr benachteiligt. Individualisierung verschärft, mehr noch: erzeugt selbst eine Dimension sozialer Ungleichheit.
Mit der Individualisierung wächst die Suche und Sucht nach dem Gegenteil: das neue Wir, Familie, Religiosität, Esoterik (...). Und doch gilt (...): Es gibt kein Zurück".
(Ulrich Beck 1993, S.74)

"Es ist sinnvoll, zwischen verschiedenen Kontexten und Formen der Individualisierung zu unterscheiden. Wir haben es - in einigen Staaten des Westens, insbesondere in Schweden, der Schweiz und West-Deutschland - mit einer »Vollkasko-Individualisierung« zu tun; d.h., hier entstehen Individualisierungsprozesse aus und im Milieu von Wohlstand und sozialer Sicherheit (nicht für alle, aber für viele). Dagegen heben sich die Bedingungen der »Armuts-Individualisierung« ab, die teilweise schon im Osten Deutschlands, aber vor allem in ex-kommunistischen Ländern und den Ländern der Dritten Welt zu Unruhen ganz anderen Ausmaßes führen."
(Ulrich Beck 1993, S.160)

Gehversuche der Toskana-Generation

"Gesucht wird ein Politikstil, der einem Generationsgefühl des »Jenseits von« Ausdruck verleiht. Alle Stilvarianten sind besetzt, erscheinen ausgeleiert - es sei denn, es gelingt das Vereinen des Unvereinbaren: Lust mit Politik, Spaß mit Rationalität, Kritik mit Ironie. Politiklust könnte das Codewort einer Generation werden, für die Konsumismus, Hedonismus und Auflehnung, Protest sich nicht mehr ausschließen (...) - was im konventionellen Politikverständnis als Vermischen und Verwischen der Sphären des Privaten und Öffentlichen erscheint, könnte sich als die Geburtswehen eines politischen Hedonismus entpuppen".
(Ulrich Beck in der Süddeutschen Zeitung vom 09.02.1994)

Eigenes Leben - eigene Armut

"Leben wir nicht in einem allgemeinen Verteidigungszustand? Entspricht und entspringt die Rede vom eigenen Leben vielleicht der Sprache und Sicht der Gewinner, während die Verlierer noch stumm, gleichwohl mit Gewalt zeugender Ungeduld unter die Räder geraten? Sind die Gewinner von heute vielleicht die Verlierer von morgen? Und ist es nicht diese Angst vor dem Abrutschen, Abstürzen, die selbst die scheinbaren Gewinner heute schon klammern und zittern läßt?
(...).
Tatsächlich haben wir in der alten Bundesrepublik eine Art »Vollkasko-Individualisierung« (hoher Wohlstand, hohe soziale Sicherheit) erfahren, die nun in die Turbolenzen einer »Zusammenbruchs-Individualisierung«, wie sie die kollektive Freisetzung aus der staatlich verordneten Normalbiographie der DDR darstellt, und zu einer »Armuts-Individualisierung« gerät, die aus der Talfahrt der Wirtschaft entsteht."
(Ulrich Beck in der taz vom 30.04.1994)  

Solidarischer Individualismus

"»Individualisierung« ist zu einem Schlüsselwort der politischen Auseinandersetzung geworden. An ihm scheiden sich die Geister. Dies deutet darauf hin, daß sich das Konfliktgefüge verschiebt. In den Hintergrund treten die Gegensätze zwischen Arbeit und Kapital, die Gegensätze zwischen Klassen allgemein: und quer dazu bildet sich eine Konfliktlinie heraus: Die Autonomie einer Gesellschaft der Individuen trifft auf den Widerstand einer in Teilen durch das Gespenst der Normauflösung verunsicherten und radikalisierten Mitte."
(Ulrich Beck in der Süddeutschen Zeitung vom 02.03.1995)

Kinder der Freiheit

"Im Kern haben wir es nicht mit einem Werte-Verfall, sondern mit einem Werte-Konflikt zu tun, mit zwei in Stil und Inhalt verschiedenen Gesellschafts-, Politik- und Demokratiebildern.
(...).
Die Verantwortlichen müssen sich einen Ruck geben: den Individualismus nicht länger verteufeln, sondern als ein wünschenswertes und unvermeidliches Produkt der demokratischen Entwicklung in Deutschland erkennen.
(...).
Das alte und scheinbar ewige Schema
»mehr Einkommen, mehr Karriere, mehr demonstrativer Konsum« zerbricht und an seine Stelle tritt eine neue Gewichtung von Prioritäten, die oft schwer zu enträtseln ist, in der aber gerade immaterielle Gesichtspunkte der Lebensqualität eine herausragende Rolle spielen. (...).
Das heißt: der materielle Verteilungskampf, der die öffentliche und wissenschaftliche Aufmerksamkeit monopolisiert, wird längst unterlaufen von einem immateriellen Verteilungskampf um (...) Güter wie Ruhe, Muße, selbstbestimmtes Engagement, Abenteuerlust, Austausch mit anderen usw. (...).
Im Zeitalter des eigenen Lebens verändert sich die soziale Wahrnehmung dessen, was als »Reichtum« gilt und was als »Armut«, und zwar so radikal, daß unter Umständen weniger Einkommen und Status, die einhergehen mit mehr Selbstentfaltungs- und Selbstgestaltungsangeboten, nicht als Ab-, sondern als Aufstieg erlebt, also gesucht werden.
Man sollte dies nicht nur bejubeln, denn sicherlich ist dies der kulturelle Wahrnehmungshintergrund dafür, daß die dramatische Radikalisierung materieller sozialer Ungleichheiten - bislang! - ohne einen politischen Aufschrei hingenommen wird."
(Ulrich Beck 1998, S.16ff.)

Die »Zweite Moderne« - ein Markenartikel?

"In den Augen Becks war die fordistische Erstmoderne eine »formierte« und »normierte Gesellschaft«, in der der »fordistische Arbeitsbürger« für das Linsengericht »steigender Wohlstand« (...) seine Interessenwahrnehmung an die Großorganisationen Gewerkschaften und Parteien delegierte, die stellvertretend für ihn für sichere Arbeitsplätze, höhere Löhne und sozialstaatlich verbürgte Sicherheit sorgten. »In der alten Arbeitsgesellschaft« mußte Freiheit gegen Sicherheit eingetauscht werden (...).
Ein derartiger Blick auf die Nachkriegsgesellschaft mag für die Restaurationsphase bis Anfang der 60er Jahre zutreffen. Aber ganz gewiß gilt er nicht mehr für den Mitte der 60er Jahre öffentlich werdenden kulturellen und politischen Aufbruch (...). Ohne die seinerzeitige soziale Sicherheit, die zum ersten Mal in der Geschichte es auch den lohnabhängigen Jugendlichen erlaubte, andere Lebensformen auszuprobieren, also reale Freiheit zu praktizieren, was bis dahin ein Privileg des Bürgertums war, wäre der Aufbruch überhaupt nicht möglich gewesen. Ausgerechnet dieses »Goldene Zeitalter« (Hobsbawm 1995), als welches es bis heute ungebrochen im kollektiven Gedächtnis lebendig ist, malt Beck in den Grautönen einer autoritären Gesellschaft. Das Zerbrechen kollektiver Erinnerungen ist der Zweck seines Gemäldes.
(...).
Beck lokalisiert den autoritären Charakter der Erstmoderne in ihrer sozialstaatlichen Demokratie. Sie pervertiere (...) mit ihrer staatlichen Redistribution des gesellschaftlichen Reichtums die Gleichheit vor dem Gesetz. (...). Sein Freiheitsbegriff gründet auf allseitiger Unsicherheit und Vereinzelung. Für ihn beginnt Freiheit, wenn der Arbeitsplatz unsicher ist, sich zwischen den Einkommen eine Schere auftut, sozialstaatliche Sicherung von individueller Vorsorge abgelöst wird, die kollektiven Organisationen ohnmächtig sind. Für die Herstellung eines derart atomisierten Individuums müssen in letzter Konsequenz alle Institutionen des Sozialstaates (...) entweder abgeschafft oder entmachtet werden. (...). Der vereinzelte Einzelne und nur er soll für sein gesellschaftliches Schicksal verantwortlich sein."
(Volker Stork 2001, S.62ff.)    

Gemeinsam sind wir umwerfend

"Nachdem die Arbeiterklasse Anfang der Siebziger unseren Aufrufen nicht gefolgt war und die Revolution deswegen erst mal verschoben werden musste, betraten wir einen selbst gemachten - quasi dritten Weg zwischen Pest- und Rostzone.
(...)
Manches löste sich in Rausch auf. (...). Manche zogen in die Parlamente und wirkten auf die da ansässigen Räuber zunächst noch schockierend. Heute bestrafen sie die Arbeiter, die uns nicht gefolgt sind, mit der Kürzung von Sozialleistung und Sterbegeld. Ätsch!"
(Arnulf Rating in der Welt vom 19.09.2003)

Der Terror der Individualisierungsthese

Der Soziologe Ulrich BECK hat mit der Individualisierungsthese das mittlerweile erfolgreichste Enttäuschungsprodukt der Neuen Linke bereits Anfang der 1980er Jahre auf den Markt der Theorien geworfen. Damals musste sich die Linke erklären, warum die Arbeiterschaft an den Ideen der Alt-Linken keinerlei Interesse hatte. Der Wandel der Arbeitswelt, die Auflösung der traditionellen Milieus der Arbeiterschaft, der geringere Stellenwert der Arbeit in der Freizeitgesellschaft sind nur einige Aspekte dieser Sichtweise, die inzwischen zum unhinterfragten Selbstverständnis der Neuen Mitte geworden ist.

Die Erfindung der Problemdefinition

Mit dem Schlagwort "Individualisierung" erfand sich die Neue Linke eine Problemdefinition, die sich im Laufe der Zeit als ausgesprochen ausbaufähig erwies:

Jenseits von Stand und Klasse?

"Je nachhaltiger durch eine kollektive Anhebung des Lebensstandards, durch gewerkschaftliche Interessenvertretung, durch sozialstaatliche Sicherungen, Verrechtlichungen usw. einer Klassenformierung durch Verelendung entgegengewirkt wird, und je nachhaltiger die Menschen aus den traditionalen Bindungen, Orientierungen und Verkehrsformen ihres Herkunftsmilieus durch verschiedenartige Mobilitätsprozesse, durch Vermehrung von Bildungschancen, durch die Ausdehnung von Konkurrenzbeziehungen usw. herausgelöst werden, desto deutlicher können Individualisierungstendenzen ihre Wirksamkeit entfalten - und umgekehrt: überall dort, wo sich neue Ansatzpunkt für Klassenformierungen bilden (Arbeitslosigkeit etc.), wo »ständisch« eingefärbte Traditionen sich eher durchhalten können (z.B. im ländlichen und kleinstädtischen Milieu) oder neue ungleichheitsrelevante soziokulturelle Gemeinsamkeiten entstehen, werden Individualisierungstendenzen relativiert bzw. treten von vornherein gar nicht erst in Erscheinung."
(Ulrich Beck 1983, S.52)

Die Individualisierung erscheint in der Sicht von Ulrich BECK als sehr ambivalent, worauf er am Schluss des Aufsatzes von 1983 verweist:

Jenseits von Stand und Klasse?

"Gelingt es, an die Ansprüche und Verheißungen des in Gang gekommenen Individualisierungsprozesses anzuknüpfen und jenseits von Stand und Klasse Individuen und Gruppe in neuer Weise als selbstbewußte Subjekte ihrer persönlichen, sozialen und politischen Angelegenheiten zusammenzufassen? Oder werden im Zuge von Individualisierungsprozessen die letzten Bastionen sozialen und politischen Handelns weggeschmolzen, und die sich individualisierende Gesellschaft versinkt an der Grenze zwischen Krise und Krankheit in politische Apathie, die nichts ausschließt (...)?"
(Ulrich Beck 1983, S.70)

Der Führungsanspruch der Neuen Linke und ihre Aufgabe

In einem fast gleichlautenden Artikel (nur das Fragezeichen fehlt!) in der Zeitschrift Merkur (1984) führt BECK die Konsequenzen der Individualisierung anhand dreier zukünftiger Szenarien auf. Das Szenario der Entstehung nichtständiger Klassensolidaritäten kann als positive Utopie gelesen werden. Ganz im Sinne von BECK lautet diese, dass die Herauslösung der Klassen aus ständischen Fixierungen der Anfang einer neuen Form der Klassenbildung ist.  Die Generalisierung der Klassensolidarität auf alle gesellschaftliche Gruppen unter Führung der Neuen Linken wäre dann als Programm der gesellschaftlichen Veränderung anzusehen. Im Szenario Vom familialen zum politischen Privatismus beschreibt BECK den Wandel des Wertesystems und seine Folgen:

Jenseits von Stand und Klasse

"Die politische Macht der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung beruht auf dem im Streik organisierten Vorenthalten der Arbeitsleistung. Das politische Potential der sich entfaltenden Privatsphäre liegt demgegenüber in der Wahrnehmung von Selbstgestaltungsmöglichkeiten, darin, tiefsitzende kulturelle Selbstverständlichkeiten durch die direkte Tat des Andersmachens zu verletzen und zu überwinden."
(aus: Merkur 1984, S.495)

Mit der Individualisierung soll also eine Stärkung der Neuen Sozialen Bewegungen (NSG) und eine Schwächung der alten Arbeiterbewegung einhergehen.

Die Gefährdungen des Führungsanspruchs der Neuen Linke in der individualisierten Gesellschaft

Im letzten Szenario der »Gesellschaft der Unselbständigen« werden dagegen die Gefahren beschrieben, denen sich die Neuen Sozialen Bewegungen gegenübersehen:

Jenseits von Stand und Klasse

"Ungleichheiten werden keineswegs beseitigt, sondern nur umdefiniert in eine Individualisierung sozialer Risiken. In der Konsequenz schlagen gesellschaftliche Probleme unmittelbar um in psychische Dispositionen: in persönliches Ungenügen, Schuldgefühle, Ängste, Konflikte und Neurosen. Es entsteht - paradox genug - eine neue Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft, die Unmittelbarkeit von Krise und Krankheit in dem Sinne, daß gesellschaftliche Krisen als individuelle erscheinen und nicht mehr oder nur noch sehr vermittelt in ihrer Gesellschaftlichkeit wahrgenommen werden.
(aus: Merkur 1984, S.496)

Hier wird bereits der zentrale Konflikt zwischen den sich politisch verstehenden NSB und der privatistischen, hedonistischen Linke und der unpolitischen Generation Golf deutlich:

Jenseits von Stand und Klasse

"Lohnarbeiterrisiken schaffen (...) aus sich heraus keine Gemeinsamkeiten. Sie erfordern zu ihrer Bewältigung sozialpolitische und rechtliche Maßnahmen, die ihrerseits Individualisierungen sozialer Ansprüche bewirken, und müssen in ihrer Kollektivität überhaupt erst erkennbar gemacht werden - und zwar im Gegenzug gegen individuelle-therapeutische Behandlungsformen. So geraten (...) politische Wahrnehmungs- und Bearbeitungsformen in Konkurrenz zu individualisierenden rechtlichen, medizinischen und psychotherapeutischen Betreuungen und Kompensationen, die unter Umständen sehr viel konkreter und für die Betroffenen evidenter die entstandenen Zerstörungen und Belastungen zu bewältigen vermögen."
(aus: Merkur 1984, S.493)

Den Primat der Politik sieht BECK also gefährdet durch die Konkurrenz nicht-politischer Strategien. Um die Individualisierungsthese versammelte sich während der Ära Kohl jene Linke, die als Neue Mitte an die Macht kommen sollte.    

Das Wissenschaftliche ist politisch: die allseitige Anschlussfähigkeit der Individualisierungsthese

Das Private ist politisch war das Credo der Neuen Sozialen Bewegungen und in der Individualisierungsthese wurde das Wissenschaftliche politisch. Ulrich BECKs Ansatz ist jedoch nicht nur bei der Neuen Linke anschlussfähig gewesen, sondern bediente auch die Ressentiments konservativer Kulturpessimisten. Individualisierung wurde hier als Tendenz zu Egoismus, Verantwortungslosigkeit, Narzissmus usw. kritisiert. Individualisierung war außerdem die exakte Beschreibung dessen, was der Neoliberalismus von den Menschen erwartete.

Der unaufhaltsame Aufstieg der Individualisierungsthese in der Sozial- und Familienpolitik    

Der enorme Erfolg verdankt sich ausgerechnet den familien- und sozialpolitischen Aussagen, die im Laufe der 1980er Jahre in den Vordergrund rückten. Den Durchbruch erzielte Ulrich BECK zum einen mit dem Bestseller Das ganz normale Chaos der Liebe (1990) und andererseits mit seinem provokanten Auftritt auf dem Deutschen Soziologentag 1990:

Der Konflikt der zwei Modernen

"Da gibt es schockierende Entwicklungen: Wilde Ehen, Ehen ohne Trauschein, Zunahme der Einpersonenhaushalte im Quadrat, alleinerziehende, alleinnachziehende, alleinherumirrende Elternteile.
(...).
Was muß denn noch geschehen, damit die empirische Soziologie überhaupt die Möglichkeit einer Begriffsreform ihres Forschungsfeldes auch nur in Erwägung zieht? Ich bin sicher, daß auch dann, wenn 70 % der Haushalte in Großstädten Einpersonenhaushalte sind (und das ist nicht mehr lange hin), unsere tapfere Familiensoziologie mit Millionen Daten beweisen wird, daß diese 70 % nur deshalb allein leben, weil sie vorher und nachher in Kleinfamilien leben."
 [mehr]
(Ulrich Beck 1991)

Während BECKS Dramatisierungen in Fachkreisen anfangs heftig widersprochen wurde und im Laufe der Zeit die Individualisierungsthese in wesentlichen Teilen empirisch widerlegt wurde, erfreute sich der Ansatz in der politischen Öffentlichkeit weiterhin zunehmender Beliebtheit.

Familienrhetorik und der Kulturkampf um die Familie

BECKs Thesen dienten in der politischen Öffentlichkeit einerseits zur Rechtfertigung familienpolitischer Maßnahmen und andererseits zur Rechtfertigung des "familienfreundlichen" Umbaus des Sozialstaats. 1994 spielte die Familienpolitik bereits eine große Rolle im Bundestagswahlkampf. Vorbild war der Präsidentenwahlkampf von Bill CLINTON, dessen familienpolitischen Offensive zu seinem Wahlsieg im Jahr 1992 beitrug.

In Arlene SKOLNICKs Buch The embattled Paradise (1991) wird der amerikanische Kulturkampf um die amerikanische Familie ausführlich beschrieben . Der Konstanzer Familienforscher Kurt LÜSCHER hat diesen Kulturkampf um das Familienbild mit dem Begriff "Familienrhetorik" bezeichnet. Zum US-Wahlkampf schreiben Karl LENZ und Lothar BÖNISCH:

Zugänge zu Familien - ein Grundlagentext

"Die Debatte über »Family values« im amerikanischen Präsidentenwahlkampf 1992 hat gezeigt, daß Familienbilder für die politische Kontroverse instrumentalisierbar sind. Familienrhetorik oder Familienbilder sind überhaupt für den Begründungszusammenhang von Familienpolitik und Familienrecht von enormer Bedeutung. Nach wie vor läßt sich feststellen, daß familienpolitische Maßnahmen (...) weiterhin vielfach am bürgerlichen Familienideal ausgerichtet sind."
(aus: Karl Lenz & Lothar Bönisch " Familien. Eine interdisziplinäre Einführung, Weinheim & München: Juventa Velag 1997, S.27)

Der statistische Ringkampf um die Familie wird auch in Deutschland hartnäckig geführt, wie ein Zeitungsartikel von Ulrich BECK beweist:

Phänomen mit Überlebenschancen

"Gleicht die Familienstatistik einem Selbstbedienungsladen, in dem jeder sich nach Wunsch und Laune herausgreifen kann, was ihm in den Kram paßt? Zunächst: Hier geht eine lang gehegte Auffassung zu Bruch - Zahlen sind nicht wertneutral. Sie saugen vielmehr wie Schwämme Wertungen auf. Sie taugen vorzüglich zur Wertung, gerade weil sie diese in pure Sachlichkeit auflösen. Dann: Der Konflikt um Familie ist ein Stellvertreterkonflikt. Hier wird so manches Süppchen mitgekocht."
(Ulrich Beck in der Süddeutschen Zeitung vom 13.01.1994)

Demographische Rhetorik

Unter dem Stichwort Demographische Rhetorik analysiert Kurt LÜSCHER den statistischen Ringkampf um die Familie in dem Beitrag Was heißt heute Familie? in dem Sammelband Familie der Zukunft, herausgegeben von GERHARDT/HRADIL/LUCKE/NAUCK aus dem Jahr 1995:

Was heißt heute Familie?

"Wichtige Techniken dieser demographischen (und demoskopischen) Rhetorik, welche die Argumentation prägen, sind in diesem Zusammenhang:

- Die Wahl der Bezugsgröße: Wird jede dritte Ehe geschieden - wie dies die zusammengefaßte Scheidungsziffer nahelegt - oder sind es 80 von 10.000 bestehenden Ehen?
- Der Perspektivwechsel: Sind 34 %, also ein Drittel der privaten Haushalte Einpersonenhaushalte - oder leben 15 % der Personen allein?
- Der Schluß vom Querschnitt auf den Lebensverlauf: Wird die Bundesrepublik zu einem »Land der Einzelkinder«, wie aus den Angaben des Mikrozensus 1992 geschlossen wird, wonach mehr als die Hälfte der Kinder ohne Geschwister aufwächst (FR 5.1.94, S.30) - oder sind es höchstens ein Drittel der Kinder (wie Schwarz gestützt auf die Kinderzahlen der Frauen schätzt)."
(aus: Familie der Zukunft 1995, S.58f.)

Die politische Konstruktion der Single-Gesellschaft

Die Individualisierungsthese hat massiv dazu beigetragen, dass unsere Gesellschaft als Single-Gesellschaft wahrgenommen wird. Die Kategorie Single beinhaltet in dieser Sicht alle Lebensformen jenseits der Haushaltsfamilie, die damit zum impliziten Ideal erhoben wird. Alle Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern, die den Haushaltskontext überschreiten, werden damit ignoriert bzw. als irrelevant eingestuft. Zahlreiche empirischen Studien, die Familien als Netzwerk begreifen, haben dagegen mittlerweile die haushalts- und generationenübergreifende Solidarität belegt.

Der Familienfundamentalismus als Folge des Terrors der Individualisierungsthese 

Die Reduzierung des Familienbegriffs auf den Familienhaushalt erzeugt erst jenes Zerrbild der Gegenwartsfamilie, auf das sowohl  rechte und konservative Kulturkritiker als auch linke Familiengegner und neoliberale Sozialstaatsgegner verweisen können, um ihre - durchaus unterschiedlichen - Interessen zu verfolgen (siehe hierzu auch weiterführend die Ausführungen zum Familiensektor ). Die Individualisierungsdebatte, die Ulrich BECK angestoßen hat, hat damit entscheidenden Anteil am wieder entstandenen Familienfundamentalismus. Singles werden in der entbrannten Kontroverse Familien contra Singles zu Sündenböcken für eine unerwünschte gesellschaftliche Entwicklung. Der Soziologe Günter BURKART beschreibt die familienfundamentalistische Perspektive, die er als Familialismus bezeichnet, Anfang der 1990er Jahre folgendermaßen:

Individualismus und Familialismus

"In den Jahren nach der Niederlage von 1871 gab es in Frankreich eine regelrechte Hetzkampagne gegen die Unverheirateten, die Feinde der Familie.
(...).
Seither lassen sich pro- und antifamilialistische Zyklen erkennen. (...). Typisch in diesem Sinn war auch der deutsche Familialismus der fünfziger Jahre. Die antifamilialistische Gegenwelle der sechziger Jahre fiel in eine Phase wirtschaftlicher Prosperität. Diese Familienkritik hat, wie wir wissen, noch nicht den ideologischen Sieg des Individualismus gebracht, da die Linke damals noch kollektivistische Alternativen vor Augen hatte. Erst in den achtziger Jahren schaffte er mit der von Ulrich Beck initiierten Individualisierungsdiskussion den endgültigen Durchbruch.
(...).
Mein Hauptargument gegen den Universalitätsanspruch der Individualisierungstheorie ist: Diese Theorie gilt nur für bestimmte Milieus. In anderen Milieus ist der Familiensinn noch weitgehend stabil. (...). Aber selbst in den individualisierten Milieus gibt es noch heftige Kämpfe zwischen Familialismus und Individualismus. Das zeigt sich besonders dann, wenn es ernst wird: in der Frage der Elternschaft. Es offenbart sich ein latenter Familialismus im individualisierten Milieu.
(...).
Neben der »Geräuschkulisse des Geschlechterkonfliktes« (Beck/Beck-Gernsheim) könnte der Kampf zwischen Individualismus und Familiensinn die nächsten Jahre beherrschen. Und dabei, so meine ich, ist noch nicht ausgemacht, wer dabei David und wer Goliath ist".
(aus: Die Modernisierung moderner Gesellschaften 1991)

Zehn Jahre später muss diese Sicht radikal revidiert werden. Der Individualismus schaffte nicht mit BECK den Durchbruch, sondern BECK verhalf dem Familienfundamentalismus in den 1990er Jahren zum Durchbruch.

Die Anfänge des neuen Familienfundamentalismus

Dieser Durchbruch wurde bereits Ende der 1980er Jahre vorbereitet, wie aus Kurt LÜSCHERs kurzem Abriss der medialen Debatte hervorgeht:

Was heißt heute Familie?

"In den 80er Jahren konnte man dann im Zeit-Magazin (27.5.1988) nachlesen: »Das goldene Zeitalter der Klein-Familie läuft ab. Und wenn es so weiter geht, gerät sie auf die rote Liste der Arten... Zunehmen werden, so die Prognosen, alle Formen von Beziehungsexperimenten, egal ob es sich um matriarchalische Brutgemeinschaften oder um Väter-Nistkommunen handelt. Auch das come back des Heiratens und das Gründen traditioneller Familien gehören dazu - doch sollen selbst die so wenig von Dauer sein wie die Wohngemeinschaft oder die wilde Ehe« - Doch ungefähr zur gleichen Zeit bekannte ein Kommunarde nach seiner Konversion zum »neuen Vater« in der Alternativzeitschrift »Tempo«: »Man hat uns gesagt, Familie sei schlecht, man hat uns gesagt, die Familie zerstöre die Persönlichkeit. Man hat uns belogen. Die Familie ist immer noch die beste aller möglichen Lebensformen. Sie allein vermittelt Liebe, Glück und Geborgenheit.« - Zu einem Abdruck im Informationsbulletin des Familienbundes deutscher Katholiken (August 1988: 85-88) lautete der redaktionelle Kommentar: »Es bedarf einer Normsetzung, die eine Orientierung auf das Wünschenswerte hin bietet. Und die Normsetzung ist stets die manchmal mit zynischem Unterton so benannte 'Standard-Familie'.«
Damit ist bereits angedeutet, was den Diskurs über Familie charakterisiert und den Nährboden der aktuellen Familienrhetorik bildet, nämlich der Gegensatz zwischen der Vorstellung eines traditionellen, sich letztlich immer wieder durchsetzenden Familienmodells und jener einer radikalen Offenheit in der Umschreibung von Familie sowie die Betonung der moralischen und ethischen Bedeutung der Familie für die Entwicklung des einzelnen und der Gesellschaft".
(aus: Familie der Zukunft 1995, S.51)

Das Zeitgeistmagazin Tempo war in den 1980er Jahren das Publikationsorgan der späteren Popliteraten und zusammen mit dem Wiener einflussreichstes Magazin, mit dem die heranwachsende Generation Golf sozialisiert wurde. Was mittlerweile auch von der Lifestyle-Soziologie à la HRADIL bestätigt und als Wandel des Wertewandels bezeichnet wird, hat dort seinen Ursprung .

Die Verlierer im Zeitalter des Familienfundamentalismus

Verlierer in diesem Machtspiel sind jene Singles, die in diesem Kulturkampf keinen Anwalt und keine ausreichenden Ressourcen besitzen: gering verdienende und nicht-vermögende Elternlose, Partnerlose, Kinderlose, allein wohnende partnerlose Alleinerziehende sowie ältere Alleinlebende mit geringen Renten. Im Kulturkampf der Eliten um die hegemoniale Familienform stehen sich die Verfechter der Managerehe und die Befürworter der Dual-Career-Familie scheinbar unversöhnlich gegenüber. Ein Bündnis von Alter Mitte und Neuer Mitte könnte jedoch sehr schnell zu Lasten der übrigen gehen.

Besitzstandwahrung und Individualisierungsthese

Hinsichtlich des Umbaus des Sozialstaats ist die Individualisierungsthese mittlerweile zum Instrument der Besitzstandswahrer aus der 68er-Generation geworden . Die Behauptung einer Generalisierung der Individualisierung, die von Ulrich BECK in der griffigen Formel von der vollmobilen Single-Gesellschaft beschworen wurde, wird dabei als unausweichliche Zunahme der lebenslang Kinderlosen fehl interpretiert. Hardliner wie der Neoliberale Meinhard MIEGEL sehen im Individualisierungsprozess die Selbstzerstörung des Westens. Aber auch eine "nationalistische" Linke ist an der Beschleunigung der Debatte um Bevölkerungspolitik interessiert und malt Untergangszenarien gemäß dem Motto "Sozialismus oder Barbarei" an die Wand. Manfred SOHN hat in einer Artikelserie der jungen Welt vom Juni 2001 und Februar 2003 die Hoffnungen dieser Linken, die an die Demografiedebatte geknüpft sind, folgendermaßen zusammengefasst:

Immer tiefer ins demographische Loch

"Das Demographieproblem (...) öffnet gleichzeitig in aller Schärfe zwei Türen: Eine zurück in einen reaktionär-religiösen Kapitalismus und eine nach vorn für einen zweiten großen Anlauf zum Sozialismus, der Leben und Arbeit vereinbar macht."
(18.02.2003)

Die blinden Flecken der sozialpopulistischen Individualisierungsdebatte

Der Terror der Individualisierungsthese besteht darin, dass der Anstieg der Einpersonenhaushalte (Singles) inzwischen auf ein Schlagwort wie Individualisierung reduziert wird, obwohl der Anstieg auf ganz unterschiedliche Ursachen zurückgeführt werden muss. Es wird behauptet, dass ein familienfreundlicher Umbau des Arbeitsmarkts und des Sozialstaats, den Trend zur Single-Gesellschaft stoppen würde und dadurch eine verantwortungsvolle Familiengesellschaft entsteht. Dieser Kurzschluss entsteht dadurch, dass die Single-Gesellschaft als Mentalitätsproblem beschrieben wird, und nicht als Strukturproblem erscheint. Dies ist nicht im vollem Unfang Ulrich BECK anzulasten, aber er hat auch nicht unbedingt gegengesteuert:

Die "Individualisierungsdebatte"

"Die meisten Rechte sind individuelle Rechte. Nicht Familien können sie in Anspruch nehmen, sondern eben nur Individuen, genauer: erwerbstätige (oder zur Erwerbsarbeit bereite, arbeitslose) Individuen. Die Teilnahme an materiellen Sicherungen und Wohltaten des Sozialstaates setzt in den allermeisten Fällen Erwerbstätigkeit voraus. Das bestätigt u.a. den Streit um die Ausnahmen: Hausarbeitslohn, Hausfrauenrente.
(...).
Der Sozialstaat ist - vielleicht wider Willen - eine Versuchsanordnung zur Konditionierung ichbezogener Lebensweisen. Und man mag das Gemeinwohl mit einer Pflichtimpfung in die Herzen der Menschen spritzen, diese Litanei der verloren gegangenen Gemeinsamkeit bleibt doppelzüngig, doppelmoralisch, solange die »Mechanik« der Individualisierung intakt bleibt, und niemand sie wirklich in Frage stellt - dies weder will noch kann."

(aus: Soziologie in Deutschland 1995, S.192f)

Hat Ulrich BECK in den 1980er Jahren noch wertneutral von der Arbeitsmarkt-Individualisierung (1983) gesprochen, so ist er in den 1990er Jahren dazu übergegangen, den Sozialstaat als Ursache der Vollkasko-Individualisierung (1993) zu diffamieren. Die Vollkasko-Mentalität ist wiederum ein zentrales Schlagwort jener Neoliberalen, denen der Sozialstaat schon immer ein Dorn im Auge war. Selbst die soziologische Arrièregarde der Lifestyle-Soziologie muss nun bekennen:

Vom Leitbild zum "Leidbild"

"Im Unterschied zu manchen Prognosen ist die »Singlequote« seid Mitte der 90er Jahre in Westdeutschland nicht mehr gestiegen. So betrug der Bevölkerungsanteil der allein lebenden 25- bis unter 55-jährigen in den 80ern und den frühen 90er Jahren stets gut 8 % seither liegt er bei 7 % (Allbus 1980 - 2000)."
(aus: Zeitschrift für Familienforschung, Heft 1, 2003, S.41)

HRADIL verweist bei den Bestimmungsgründen des Anstiegs der Einpersonenhaushalte auf strukturelle Ursachen wie Bevölkerungsstruktur, Scheidungen, berufliche Mobilitätszwänge und verbesserte Wohnverhältnisse. Die Konsequenzen der Differenz zwischen Fremdwahrnehmung und Single-Alltag beschreibt HRADIL lapidar:

Vom Leitbild zum "Leidbild"

"Der Konflikt zwischen weitgehend unveränderten Bestimmungsgründen, die in und durch das Single-Leben führen, auf der einen Seite und veränderten Bewertungen auf der anderen Seite verschafft Singles in Zukunft wohl manche (zusätzlichen) Probleme."
(aus: Zeitschrift für Familienforschung, Heft 1, 2003, S.39)

Zum unverhältnismäßig hohen Interesse der Öffentlichkeit an den Singles schreibt HRADIL:

Vom Leitbild zum "Leidbild"

"Wieso werden Singles so zwiespältig wahrgenommen und warum kommt ihnen eine so weitreichende normative Ausstrahlung zu? - Im folgenden Beitrag wird argumentiert, dass Singles häufig Projektionsfiguren für die Befürchtungen und Hoffnungen von Nicht-Singles sind. Die Bewertung von Singles reflektiert so hauptsächlich, wie Nicht-Singles ihre eigene Situation beurteilen, sei es die aktuelle oder die künftige. Singles verraten daher viel über die Werthaltungen anderer und über die durch diese Brille wahrgenommenen Entwicklungstendenzen der Gesellschaft."
(aus: Zeitschrift für Familienforschung, Heft 1, 2003, S.39)

Diese Einschätzung wurde bereits im Beitrag Feindbild Single als Identitätsstabilisator für unzufriedene Eltern im November 2001 auf single-generation.de dargelegt . Man muss HRADIL jedoch vorwerfen, dass er weder das Phänomen der Langlebigkeit noch die sozialpopulistische Debatte im Zuge der Sozialstaatsreform ausreichend berücksichtigt.  Hinzu kommt, dass seine empirischen Daten zur Lebenslage der Singles angesichts der Wirtschaftsentwicklung völlig veraltet erscheinen. Wer im Jahre 2002 noch mit Daten aus dem New Economy Boom-Jahr 2000/2001 hantiert und die dramatischen Einbrüche am Arbeitsmarkt unberücksichtigt lässt, der muss sich sagen lassen, er immer noch ,eilenweit von der gesellschaftlichen gegenwärtigen Realität der Singles entfernt ist. Da hilft auch keine Ausrede wie:

Vom Leitbild zum "Leidbild"

"Nun haben Alltagsbeobachtungen und künstlerische Hervorbringungen zwar ihre Vorzüge. Sie können uns zum Beispiel früh auf wichtige Entwicklungen hinweisen. Aber als wissenschaftliche Nachweise sind sie mit Recht abzulehnen. Sie sind unkontrollierbar."
(aus: Zeitschrift für Familienforschung, Heft 1, 2003, S.417

Das ist die Rechtfertigung für den soziologischen Tiefschlaf, der Probleme erst dann aufgreift, wenn sie partout nicht mehr zu ignorieren sind. Ganz im Gegensatz zu Ulrich BECK, der mit massenwirksamen Veröffentlichungen Fakten schafft, die über den Umweg der Medien auch zwangsweise die Soziologie beschäftigen müssen, ob sie nun empirisch richtig oder falsch sind.

Exkurs: Alles nur gelogen?

So mancher wird sich im Laufe des Essays ungerechtfertigt beschuldigt sehen. Darf der das? Neue Linke, Neue Soziale Bewegungen, Neue Mitte, Neoliberale, Konservative usw. alle in einen Sack stecken und drauflos prügeln? Hat etwa Ulrich BECK das familien- und sozialpolitische Parteiprogramm von Rot-Grün verfasst? . Darauf lässt sich ganz entschieden antworten. Ulrich BECK muss gar nicht selbst schreiben. Seine Verschlagwortung des Problemfeldes ist mittlerweile unhinterfragter Grundkonsens in Deutschland. Wer sich mit Singles beschäftigt, der kommt an den Thesen von Ulrich BECK nicht vorbei. 20 Jahre Individualisierungsthese haben den öffentlichen Diskurs so verpestet, dass andere Sichtweisen gar nicht mehr wahrgenommen werden. Dadurch, dass Ulrich BECK seine Thesen immer tagesaktuell - gewissermaßen ganz in der Tradition des Situationismus - angepasst hat, ist immer auch das Gegenteil vom Gesagten wahr. Im Dunst des Sowohl-als-auch-Parlando ist Individualisierung allgegenwärtig. HRADIL schreibt deshalb:

Vom Leitbild zum "Leidbild"

"Es gibt Dutzende von soziologischen Bestimmungen des Begriffs »Single«. Sie unterscheiden sich krass (...). Auch die alltagssprachlich vorherrschenden Semantiken des Begriffs »Single« gehen - soweit sie überhaupt klar erkennbare Inhalte besitzen - weit auseinander (...). Nach den Ergebnissen des Mikrozensus lebten 2001 in Deutschland 13,5 Mio. Menschen in Einpersonenhaushalten. Sie alle als »Singles« zu bezeichnen, kann zwar niemandem verwert werden und geschieht in der Presse zuweilen, entspricht jedoch weder dem Alltagsgebrauch noch den meisten soziologischen Zielsetzungen. 78-jährige Witwen und 21-jährige Studenten werden üblicherweise nicht »Singles« genannt."
(aus: Zeitschrift für Familienforschung, Heft 1, 2003, S.40)

Fakt ist: wenn Soziologen ihren Gegenstand nicht benennen können und die Medien die heterogene Kategorie »Single« demagogisch für politische Zielsetzungen missbrauchen. Wenn also die Meinungsführer ganz gezielt zu verzerrenden Vereinfachungen greifen, so ist es gezwungenermaßen hier auch notwendig, dass diejenigen, die Singles missbrauchen in einen Topf geworfen werden. Die Prämissen der Individualisierungsthese und ihre Konsequenzen sind für Singles derart folgenreich, dass gewisse Grobheiten durchaus notwendig sind, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Bei aller Vereinfachung wurde jedoch nahe am Text argumentiert, d.h. jeder kann selbst nachforschen.       

Fazit: 20 Jahre Individualisierungsdebatte und die Konsequenzen für Singles

Die gegenwärtige sozialpopulistische Debatte wäre ohne die Individualisierungsthese von Ulrich BECK in dieser Form nie geführt worden. Das Familienbild und die damit verbundene Wahrnehmung der Gesellschaft als Single-Gesellschaft hat einen Familienfundamentalismus ins Leben gerufen, mit dem sich die Singles konfrontiert sehen. Zusätzlich zu ihren alltäglichen Problem, die sich aus ihrer Lebenssituation ergeben, sind sie gezwungen auf die Fremdzuschreibungen zu reagieren. Sie sind - als Minderheit und ohne politische Vertretung - medialen Stereotypen und wissenschaftlichen Typenbildungen ausgeliefert:

Vom Leitbild zum "Leidbild"

"Die Abwertungen reichen vom Single als mitleiderregender Gestalt bis hin zum Single als sozial schädlicher Figur. Bestenfalls werden Singles noch als einsame Defizitwesen bemitleidigt, denen mindestens der Partner fehlt. Schlimmstenfalls werden sie als »Sozialschmarotzer« abqualifiziert: zu egoistisch, um Kinder zu erziehen und sich am Generationenvertrag zu beteiligen, zu narzisstisch, um beziehungsfähig zu sein, ein schlechtes Vorbild also."
(aus: Zeitschrift für Familienforschung, Heft 1, 2003, S.44f)

Die bevorstehenden Reformen sehen einschneidende Verschlechterungen für Singles vor. In der Vergangenheit waren Singles nur eine zugeschriebene Kategorie, die in der Selbstwahrnehmung kein Gemeinschaftsgefühl oder Verbundenheit mit anderen Singles geschaffen hat. Single waren immer die anderen. Dies könnte sich in Zukunft ändern. Forderungen nach einem Familienwahlrecht, Rente nach Kinderzahl usw. könnten die politische Organisation der Singles erfordern. Andere Länder sind in der Organisation von Singleinteressen wesentlich weiter vorangeschritten.

Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte

"Dies ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt. Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
          
 Es wird aufgezeigt, dass sich die nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen.
          
 Die Rede von der "Single-Gesellschaft" rechtfertigt gegenwärtig eine Demografiepolitik, die zukünftig weite Teile der Bevölkerung wesentlich schlechter stellen wird. In zahlreichen Beiträgen, die zumeist erstmals im Internet veröffentlicht wurden, entlarvt der Soziologe Bernd Kittlaus gängige Vorstellungen über Singles als dreiste Lügen. Das Buch leistet damit wichtige Argumentationshilfen im neuen Verteilungskampf Alt gegen Jung, Kinderreiche gegen Kinderarme und Modernisierungsgewinner gegen Modernisierungsverlierer."

 
     
 
       
   

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Update: 23. November 2018