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20 Jahre Individualisierungsdebatte
Der schöne
Vogel Phönix
"»Vorgeschichte und Geschichte
der Studentenrevolte sind wesentlich
Leidensgeschichte (...), Geschichte
unabgedeckter Bedürfnisse, verelendender
Individualisierung. Diese Faktoren zählen zu
den Bedingungen der Studentenbewegung als
Massenbewegung mit antiautoritärem
Charakter, hoch ausgebildeter Spontanität
(deren Voraussetzung Leidensfähigkeit ist),
vergleichsweise gering ausgeprägtem
Führer-Gefolgschafts-Verhältnis und
vergleichsweise stark ausgeprägtem
demokratischem Charakter. Ihre besondere Verfaßtheit als Revolte von Intellektuellen
ermöglichte permanente Diskussion und hohe
Öffentlichkeit als Charakteristika.
Leidensfähigkeit und reales Leiden
ermöglichten es den Studenten auch, auf der
anderen Seite die Kategorie »Glück« als
gesellschaftlich-politische Zielkategorie zu
begreifen und auf der Möglichkeit von nicht
nur individuellem Glück zu bestehen. Ihr
Begriff von Sozialismus ging weit über die
bloße Vorstellung einer neuen Organisation
der gesellschaftlichen Arbeit hinaus, die
befreite Gesellschaft bedeutete (...)
sozialistische Verhältnisse als
Verhältnisse zwischen Menschen denken zu
können.« Ende. Berlin, den 6. Oktober 1972.
(Die These aller Thesen. Leiden macht
rebellisch. Die Rebellion zielt auf das, was
allen vorenthalten ist: ein Glück, das mehr
als nur privat und zufällig und nicht vom
Unglück der anderen gemacht ist.)
(...)
Wirklich schöne Thesen. Ich lehnte mich
wieder zurück, rauchte eine Zigarette,
schloß die Augen.
»...die Kategorie 'Glück' als
gesellschaftlich-politische Zielkategorie zu
begreifen und auf der Möglichkeit von nicht
nur individuellem Glück zu bestehen«: das
wars. Alle sollten glücklich sein, sogar
Murnau. Fürs erste hätte ihm ein nur
individuelles Glück allerdings auch genügt,
gewissermaßen antizipatorisch."
(Jochen Schimmang, 1979)
Risikogesellschaft
"Bislang
wird mit großer Selbstverständlichkeit
davon ausgegangen, daß Mobilität individuelle
Mobilität ist. Die Familie, und mit ihr die
Frau, zieht mit. Die damit aufbrechende
Alternative: Berufsverzicht der Frau (mit
allen Langzeitkonsequenzen) oder
»Spagatfamilie« (als erster Schritt zur
Scheidung), wird den Eheleuten als
persönliches Problem zugeschoben.
Demgegenüber wären partnerschaftliche
Formen der Arbeitsmarktmobilität zu erproben
und zu institutionalisieren. Nach dem Motto:
wer den (die) einen(n) will, muß auch dem
(der) anderen eine Beschäftigung
verschaffen. Das Arbeitsamt müßte eine
Berufsberatung und -vermittlung für
Familien organisieren. Auch die
Unternehmen (der Staat) müßten die »Werte
der Familie« nicht nur beschwören, sondern
durch partnerschaftliche
Beschäftigungsmodelle (möglicherweise über
mehrere Betriebe hinweg) sichern helfen.
Parallel wäre zu prüfen, ob in bestimmten
Bereichen nicht bestehende Mobilitätszwänge
abgebaut werden könnten (etwa im
akademischen Teilarbeitsmarkt). Auf derselben
Linie liegt die soziale und rechtliche Anerkennung
von Immobilität aus
familial-partnerschaftlichen Gründen. Für
die Bemessung der »Zumutbarkeit« von
Arbeitsplatzwechseln müßten auch
Gefährdungen der Familie mit aufgenommen
werden."
(Ulrich Beck, 1986, S.202)
In der Ferne so nach
"Die
Chemieingenieurin Deborah ist eine Ausnahme:
Als sie für die Firma Hoechst von Amerika
nach Frankfurt wechselte, wurde für ihren
Ehemann, der Bibliothekar war, eigens eine
Stelle in der wissenschaftlichen
Dokumentation geschaffen. Ein Teilzeitjob,
der es ihm erlaubte, die beiden Töchter
nachmittags zu betreuen. Auch die Hamburger
Landesbank denkt ähnlich modern bei der
Versetzung von Mitarbeitern in ausländische
Niederlassungen. (...) Vereinzelt gibt es
vorbildliche Initiativen. Beim Mammendorfer
Institut für Medizin und Physik wurde die
Ehefrau eines niederbayerischen Mitarbeiters
eingestellt, um eine Wochenendehe zu
verhindern."
(Karin Freymeyer & Manfred Otzelberger, 2000, S.23)
Heute hier, morgen fort
"Offenbar
reicht drohende Arbeitslosigkeit als
Mobilitätspeitsche nicht aus (...).
Sämtliche Studien weisen das Arbeitermilieu
als extrem immobil aus."
(Andreas
Molitor in der Zeit Nr.33 vom 10.08.2000)
Mehr Männerförderung!
"wir brauchen in Bezug
auf die Familien einen Rhetorikwechsel (...). Die jungen
Frauen sind heute besser ausgebildet und selbstbewusster als
je zuvor. Sie wollen arbeiten. Gut. Sie wünschen sich
möglicherweise auch Kinder: wunderbar. Doch wir müssen
feststellen, dass sie immer weniger Kinder bekommen: nicht
so gut.
ZEIT: Brauchen wir also eine Bevölkerungspolitik für
Deutschland?
SCHMIDT: Das Wort entsetzt mich. "Bevölkerungspolitik"
bedeutet, dass man versucht, Menschen durch materielle
Anreize dazu zu bewegen, mehr Kinder zu bekommen, als sie
wollen. Solche Versuche sind von vornherein zum Scheitern
verurteilt - außer vielleicht bei denen, die schlecht
ausgebildet sind und geringe Einkommenschancen haben. Nur
bei denen wird Bevölkerungspolitik erfolgreich sein."
(Renate Schmidt in
der Zeit Nr.43 vom 19.10.2000)
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Der
Begriff "Familiensektor" und
die Umdefinition von Eltern in Kinderlose
Der
Begriff
"Familiensektor"
ist ein Begriff der Wendezeit nach 1989, der ohne
die Individualisierungsthese des Münchner
Soziologen Ulrich BECK und deren Popularisierung
nicht denkbar wäre. Der Begriff setzt die
selbstverständliche Rede von der
Single-Gesellschaft voraus, um den
Geburtenrückgang zu dramatisieren. Grundlage ist
die amtliche Statistik der Bundesrepublik
Deutschland, die den Familienbegriff auf den
Familienhaushalt reduziert und damit viele
Eltern
per Definition zu Kinderlosen macht.
Dem angeblich
wertfreien Begriff
Familienhaushalt unterliegt ein
rigides Konzept des Erwachsenwerdens, des
Erwachsenseins und des Alterns, das dem
bürgerlichen Familienmodell entspricht, wie es
in den 1950er Jahren von außen gesehen anscheinend
Realität geworden ist. Die
einzige
legitime Form des Erwachsenenwerdens ist
demnach der Auszug aus dem Elternhaus und der
Einzug in den eigenen Familienhaushalt. Die
Schwangerschaft hat im Elternhaus zu erfolgen.
Paarhaushalte werden als illegitime Haushalte von
Kinderlosen gebrandmarkt, denn eine schwangere
Frau ist statistisch gesehen eine Kinderlose.
Auch der Kinderwunsch ist statistisch irrelevant.
Erst mit der Geburt entsteht ein
Familienhaushalt. Das
Erwachsensein
ist bestimmt durch das Zusammenwohnen mit den
eigenen Kindern oder den eigenen
pflegebedürftigen Eltern. Kinderloses Wohnen ist
unsozial. Nicht erst Marek FUCHS hat aufgezeigt, dass allein
schon durch unterschiedliche Anreizsysteme die Zahl der
Alleinlebenden beeinflusst hat:
Hausfamilien im ländlichen Raum. Individualisierung und
traditionelle Familienorientierung
"Die Analyse des
Mikrozensus 1987 ergab bei einem Vergleich mit der nur drei
Monate später durchgeführten Volkszählung 1987 eine
beträchtliche Differenz bei der Zahl der Haushalte. Im
Mikrozensus waren rund 800.000 Haushalte mehr geschätzt worden
als die Volkszählung gezählt hatte. Aber nicht nur die Zahl
der Haushalte, auch die Struktur unterschied sich
beträchtlich: Die Schätzung des Mikrozensus kam auf fast
600.000 Einpersonenhaushalte mehr als die Volkszählung (...).
Selbst wenn man eine hohe Dynamik beim Wandel der
Haushaltsstrukturen und eine durchaus beträchtliche
Veränderung der Zahl der Einpersonenhaushalte in einem
Zeitraum von drei Monaten unterstellt, ist die Differenz doch
zu groß und hätte zudem vor dem Hintergrund der bekannten
Entwicklung hin zu mehr Einpersonenhaushalten ein
umgekehrtes Vorzeichen aufweisen müssen. Auch für Schätzfehler
- der Mikrozensus ist eine Stichprobe — sind die Abweichungen
angesichts des Stichprobenumfangs dieser Erhebung zu groß.
Als Erklärung für diese Differenz wird — neben anderen
Ursachen — darauf hingewiesen, daß die
Abgrenzung von Haushalten »in bestimmten Situationen eine
ungenaue, für Interpretationen offene Größe ist« (Pötter/Rendtel
1993: 269). Als Beispiel für diese Abgrenzungsprobleme wird
explizit auf Konstellationen verwiesen (...), die wir als
Hausfamilien fassen: In einem Mehrfamilienhaus leben mehrere
Generationen in abgeschlossenen Wohnbereichen, wobei es trotz
enger Regeln vom
Ermessen der Interviewer abhängt, ob z.B. die in einem eigenen
Wohnbereich lebenden Großeltern oder Kinder als eigener
Haushalt angesehen werden (...). Bei derartigen
Entscheidungen »waren die Anreize für den Interviewer im
Mikrozensus und in der Volkszählung direkt entgegengesetzt: Im
Mikrozensus werden freiwillige Interviewer eingesetzt, die für
jeden Haushalt bezahlt werden: Je höher die Anzahl der
Haushalte, desto höher der Verdienst. In der Volkszählung
wurden die Interviewer nicht auf freiwilliger Basis
rekrutiert, die Bezahlungsanreize waren gering und jeder neue
Haushalt bedeutete Mehrarbeit in Form eines neuen
Haushaltsmantelbogens, d.h. die Interviewer hatten den
umgekehrten Anreiz, nämlich möglichst wenige Haushalte zu
identifizieren« (Pötter/Rendtel 1993: 269)."
(aus: Marek Fuchs in Differenz und Integration: die
Zukunft moderner Gesellschaften; Verhandlungen des 28.
Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in
Dresden, herausgegeben von Stefan Hradil, Deutsche
Gesellschaft für Soziologie (DGS) 1997, S.328f)
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Ein solches Familienverständnis lässt
sich einlösen, wenn man das Gebären
gleichmäßig über die gebärfähigen Jahre
verteilt, Kinder nicht ausziehen lässt (auch
nicht in eine Einliegerwohnung im Eigenheim, die
als eigene Wohnung gilt und als soziale Isolation
verdammt wird). Die eigenen Eltern sind sofort in
die eigene Wohnung zu holen, wenn das letzte Kind
doch ausgezogen ist. Das
Altern
ist gestattet, wenn man sich bei den eigenen
Kindern einquartiert hat. Man hat seinen Tod so
zu planen, dass man nicht vor seinen eigenen
Kindern stirbt. Der vorzeitige Tod des
Ehepartners muss sofort durch die Heirat eines
anderen ersetzt werden. Dies sind die
zynisch klingenden impliziten Vorstellungen, die
dem wertfreien Begriff Familienhaushalt
unterliegen. Wer dem nicht entsprechen kann, der
ist ein Kinderloser und wird von den
Sozialpolitikern aller Parteien und von
Wissenschaftlern, die sich der Polarisierung
"Familien contra Singles"
verschrieben haben, ausgegrenzt und
diskriminiert.
Das
Konzept der Wahlfreiheit und die damit
verbundene Ignoranz gegenüber
Zahlvätern, Waisenkindern und
vorzeitigem Tod
Zwänge außerhalb des
eigenen Willens kommen in diesem
Konzept
der Wahlfreiheit nicht vor. Wer als
Ehemann von seiner Ehefrau aus dem
Familienhaushalt geworfen wird und als
Zahlvater
in eine Single-Wohnung einziehen muss, der ist
von heute auf morgen ein Kinderloser und wenn er
zwischen 25 und 45 Jahren alt ist, dann wird er
als Yuppie einerseits von der
Wirtschaft umworben und andererseits von den
Sozialpolitikern verachtet. Yuppies werden allein
nach dem Einkommen definiert. Ob das Einkommen
durch Alimente geschmälert wird, das wird
schlichtweg vernachlässigt. Es gibt keine
einzige mir bekannte Veröffentlichung, die
diesen Aspekt erwähnt, von wissenschaftlichen
Untersuchungen ganz zu schweigen. Zahlväter sind
unschuldige Schuldige.
Wer seine Eltern
verliert und kein Scheidungswaise ist, sondern
ein richtiges Waisenkind, der
hat das Pech, dass er zu einer Gruppe gehört,
die im öffentlichen Diskurs nicht existiert.
Über Scheidungswaise wird wenigstens noch
diskutiert, aber Waisenkinder gibt es nicht, denn
diese widersprechen dem Konzept der Wahlfreiheit
und sind damit ein Tabu, das keiner brechen
möchte. Überhaupt ist der vorzeitige Tod ein Phänomen, das in der
Wertediskussion um die Achtundsechziger
keinerlei Platz findet. Wer nicht dem Trend von
Langlebigkeit, Hedonismus, d.h. dem Inbegriff der
Spaßgesellschaft entspricht,
der existiert nicht.
Das weit verbreitete
Phänomen der multilokalen
Mehrgenerationenfamilie, das durch die verbesserte
Wohnversorgung seit den Wirtschaftswunderjahren möglich geworden
ist, existiert für die amtliche Statistik nicht und ist somit
eine illegitime Familienform
.
Marek FUCHS wird - rund 2 Jahre
nach diesem Beitrag - in dem Buch
Hausfamilien. Nähe und Distanz in unilokalen
Mehrgenerationenkontexten aus dem Jahr 2003 mit
Hausfamilien eine Form der multilokalen Mehrgenerationenfamilie
zum Gegenstand machen, die durch Unterstützungsressourcen
gekennzeichnet ist, die vom statistischen Konzept
"Familienhaushalt" im Grunde nicht zu unterscheiden sind:
Hausfamilien
"Der Band beschreibt Großfamilien,
die zwar in einem Haus, aber in verschiedenen
Haushalten leben. Es werden die sozialen und
ökonomischen Abhängigkeiten dargestellt und
untersucht, wie die Mitglieder Nähe zu
Familienangehörigen bei gleichzeitiger
Individualität und Abstand erreichen können. Ein
beträchtlicher Teil der Haushalte ist Bestandteil
einer Hausfamilie, kann also auf familiale
Unterstützung und soziale Ressourcen zurückgreifen,
die zwar außerhalb des Haushalts, aber doch in
unmittelbarer räumlicher und sozialer Nähe bei
Familienangehörigen im gleichen Haus verfügbar sind"
(aus: Klappentext 2003 |
Die
Einführung des
Individualisierungsbegriffs in kritischer
Absicht im Spannungsfeld von
gesellschaftlichen und privaten
Interessen
Dabei hatte alles so
schön angefangen. Der Achtundsechziger Ulrich
BECK hatte den Individualisierungsbegriff
ursprünglich in kritischer Absicht in
die wissenschaftliche Diskussion eingebracht.
1986 erschien der Bestseller
Risikogesellschaft, in dem BECK seine
Anfang der 80er Jahre erstmals publizierte
Individualisierungsthese publikumswirksam
ausführte. In seiner Theorie stecken eigene
Erfahrungen
mit der Fernliebe zur Soziologiekollegin
Elisabeth GERNSHEIM (inzwischen BECK-GERNSHEIM).
Sie handeln von den Königskindern, die nicht
zusammenkommen können.
Man muss zurückdenken
in jene Zeit, in der die Aufbruchsstimmung der
68er Bewegung völlig verflogen ist. Die Träume
von einer Arbeiterbewegung, die sich über die
Gewerkschaften für linke Eliteninteressen
einspannen lassen, war ausgeträumt. Die Arbeiter
und Studenten wollten Wohlstand und
individuellen Aufstieg, statt auf
kollektive Verbesserungen in einer fernen Zukunft
zu warten. Der Fahrstuhleffekt und fehlendes
Klassenbewusstsein sollte die Unlust der zu
führenden Klasse und den Misserfolg der Elite
erklären. Hinter dem Individualisierungsbegriff
versammelte sich die enttäuschte linke Elite.
Den Abschied von der
Klassen(bewusstseins)gesellschaft vollzog dann
auch die Individualisierungsthese in radikaler
Weise. Lifestyle statt Klasse und Feminismus als
Klassenkampfersatz. Aber das ist nur die
gesellschaftliche Seite des
Entstehungszusammenhang, der durch die
persönliche Seite ergänzt werden muss.
Ulrich
BECK
- der statistisch gesehen - narzisstische
Single, steht vor einem fundamentalen
biographischen Widerspruch: dem Widerspruch
zwischen dem Wunsch nach einer klassischen
Familie à la 1950er Jahre-Ideal und der Tatsache,
dass seine Fernliebe aufgrund der unvereinbaren
Karrieren zweier ehrgeiziger Soziologen dem
entgegen steht. Die damaligen Theorien über
solche Konstellationen sahen einen solchen Fall
schlichtweg nicht vor. In den USA bestsellerte
Christopher LASCH mit dem Zeitalter des
Narzissmus.
Das Zeitalter
des Narzißmus
"Das
vorliegende Buch beschreibt (...) einen niedergehenden
Lebensstil - die Kultur des vom Konkurrenzdenken geprägten
Individualismus, die in ihrem Niedergang die Logik des
Individualismus ins Extrem eines Krieges aller gegen alle
getrieben und das Streben nach Glück in die Sackgasse
einer narzißtischen Selbstbeschäftigung abgedrängt hat.
Die narzißtischen Überlebensstrategien geben sich als
Emanzipation von den repressiven Lebensbedingungen der
Vergangenheit aus und verhelfen so einer
»Kulturrevolution« zur Entstehung, die die schlimmsten
Eigenschaften eben der zerfallenden Kultur reproduziert,
die sie zu kritisieren vorgibt."
(1995, S.14) |
BECK und GERNSHEIM also
neurotische
Singles? Das widerspricht dem Selbstbild
und schlägt sich nieder in Abgrenzungen gegen
psychoanalytische Versuche das Single-Dasein zu
erklären.
In Frankreich
existierte das Fernliebepaar Jean-Paul
Sartre und Simone de Beauvoir, die Ikone
der 70er-Jahre-Feminstinnen. Die beiden sind
quasi das reale Gegenbild, das für Ulrich BECK
schlichtweg unakzeptabel ist. Als
kinderloses
Karrierepaar möchten die beiden nicht
enden.
Wie machen Angehörige
der wissenschaftliche Elite auf ihre persönliche
Probleme aufmerksam? Sie bearbeiten sie
generalisiert als wissenschaftliche Theorie. Mit
dem Begriff des Familienhaushalts lässt sich die
Single-Gesellschaft hervorragend herbei schreiben,
denn dieser Begriff spiegelt alles mögliche
wider, nur nicht die realen Lebensverhältnisse
von Familien und so genannter Singles.
Seit der
Spiegel-Story
von Hermann SCHREIBER im Jahre 1978 war der Single zum
Inbegriff einer Horrorvorstellung von Gesellschaft geworden. Die
Zunahme von Singles musste deshalb nicht mehr besonders bewiesen
werden, sondern war Mitte der 1980er Jahre Allgemeingut.
Nur der
Erklärungsansatz aus der Psychoanalyse passte
nicht in das Konzept von BECK. Der
neue
Zentralbegriff ist deshalb nicht mehr
Narzissmus, sondern Mobilität
in allen ihren Ausformungen. Der Single wird zum
gesellschaftlichen Produkt. Innerweltliche
Erklärungsmuster wie freiwillig contra
unfreiwillig werden zugunsten gesellschaftlicher
Zwänge aufgegeben. Innerweltliche Motive können
damit in Widerspruch zu den gesellschaftlichen
Anforderungen geraten. Der unerfüllbare
Kinderwunsch wird damit zum allgemeinen
Problem aller Paare gemacht. Die Vereinbarkeit
von Beruf und Familie ist vom psychologischen
Problem zum gesellschaftlichen Problem
umdefiniert worden und kann damit zur Grundlage
von Familienpolitik für gesellschaftliche Eliten
werden.
Die
Defizite der Individualisierungsthese
Der Vorschlag BECKs,
dass Arbeitgeber für den jeweiligen Partner
ebenfalls einen adäquaten Arbeitsplatz
beschaffen sollten, um das permanente
Zusammenwohnen zu ermöglichen, könnte
allenfalls für Topleute Realität werden, aber
nicht für Fernliebende, die gegen den sozialen
Abstieg kämpfen und deshalb gezwungen sind, auch
unattraktive Jobs anzunehmen. Das Problem der
Individualisierungsthese ist, dass sie keine
Klassen oder Milieus kennt. Damit wird ein
allgemeiner
Geburtenrückgang angenommen, der
tatsächlich nur das Problem einer
gesellschaftlichen Minderheit ist, die jedoch
ihre Problemdefinition durchsetzen kann. Es
führt dazu, dass die Erwerbstätigkeit der Frau
mit den Ambitionen von Karrierefrauen
gleichgesetzt wird. Der Teilzeitjob einer
Sekretärin wird genauso bewertet wie der
Vollzeitjob einer Topmanagerin. Es spielt
keinerlei Rolle, ob jemand gegen den sozialen
Abstieg kämpft oder um sozialen Aufstieg -
soziale Mobilität ist grundsätzlich negativ zu
bewerten, wenn Mobilität an sich zum
Erklärungsbegriff wird.
Seit Anfang der 90er
Jahre ist der Individualisierungsbegriff zum
zentralen Begriff der Soziologen im Hinblick auf
die Erklärung des Single-Daseins geworden.
Sowohl die Vertreter als auch die Gegner des
Begriffs müssen sich an der BECKschen
Individualisierungsthese abarbeiten.
Der
Begriff
"Familiensektor" wird von jenen
verwendet, die Kinderlosigkeit zum Ansatzpunkt
tief greifender Reformen des Sozialstaats machen
wollen. Ihr Interesse besteht in der
Dramatisierung
des Geburtenrückgangs mit allen
Mitteln. Der kritische Impuls der BECKschen
Theorieentwicklung interessiert diese
Polarisierer nicht mehr. Wer mehr Kinder will,
der muss nicht nur den Übergang vom Paar zur
Familie, sondern auch die Paarbildungsphase
fördern und nicht verhindern
. Das Thema
Paarbildung wird in der familienfixierten
Soziologie stiefmütterlich behandelt. Die Geburt
als Problem ist gut erforscht, während es über
den Prozess der Paarbildung erst in den letzten
Jahren einzelne Untersuchungen gibt
.
Familienförderung könnte sich als Bumerang
erweisen, wenn Familie nicht als Prozess der
Familienbildung betrachtet wird.
Der
Familiensektor und der damit verbundene
Perspektivenwechsel: der Verteilungskampf
zwischen Familien wird als
Verteilungskampf zwischen Singles und
Familien inszeniert
Die Diskussion
der Geburtenzahlen wird
verhindert, indem der Blick auf die
Zunahme der Singlehaushalte gelenkt wird. Es wird
dadurch politischer Handlungsdruck erzeugt, der
Risikomanagement erforderlich macht. Die
Skandalisierung folgt damit Politikmustern wie im
Fall des BSE-Skandals. Die Minderheit der
tatsächlich Kinderlosen wird zur Mehrheit durch
Umdefinition
von Eltern in Kinderlose. Es
interessiert diese Gruppe nicht, ob Familien in
einer engen Mietwohnung leben, in großzügigen
Altbauwohnungen, oder in einer Villa, in der sich
kein Familienmitglied über den Weg laufen muss
und jeder seine eigene Toilette, sein eigenes
Schlafzimmer usw. haben kann. Der reduzierte
Familienbegriff der Polarisierer ignoriert die
Änderungen
der Familienformen sowohl im Lebenslauf
(kürzere Familienphase im Gesamtlebenslauf) als
auch im Hinblick auf ihre veränderte Lokalität
(multilokale Mehrgenerationenfamilie statt
lebenslanges Zusammenwohnen mit Kindern).
Die
Stadtforschung hat ihre Forschungen auf die
Innenstädte und damit auf die Yuppies gelenkt
.
Ortsgespräch
"Hat
Florian Illies in GENERATION GOLF seiner Generation einen
Namen gegeben, so gibt er in ORTSGESPRÄCH unserer Heimat
ein Gesicht. Mit scharfsichtigem Blick voller Neugier,
Humor und Empathie enthüllt er die liebenswürdigen
Skurrilitäten der deutschen Provinz. Ziel seiner Reise ist
das Städtchen Schlitz, das sich mit urwüchsiger
Hartnäckigkeit erst dem Kaiser, dann den Russen und
schließlich auch der neuen Zeit widersetzte eine Reise in
die Heimat, von der wir nicht aufhören können zu träumen."
(aus dem Klappentext 2003) |
Eine Regionalforschung, die sich auf die
Reihenhaussiedlungen und exklusive Wohnlagen
richten würde, würde ein völlig anderes
Gesellschaftsbild ergeben. Plötzlich käme die Generation
Golf und die royale Tristesse der Neuen Mitte mit
ihren Familienwerten in den Blick. Man müsste
dann wieder über einkommensspezifische, statt
über eine einkommensunabhängige Familienpolitik
reden. Der
sozialpolitische
Verteilungskampf spielt sich im Kern zwischen
Familien ab und nicht zwischen Singles und
Familien.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Dies
ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem
nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend
die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt.
Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard
Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die
Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank
Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster
Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der
Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
Es wird aufgezeigt, dass sich die
nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles
im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die
nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen.
Die Rede von der "Single-Gesellschaft"
rechtfertigt gegenwärtig eine Demografiepolitik, die
zukünftig weite Teile der Bevölkerung wesentlich
schlechter stellen wird. In zahlreichen Beiträgen, die
zumeist erstmals im Internet veröffentlicht wurden,
entlarvt der Soziologe Bernd Kittlaus gängige
Vorstellungen über Singles als dreiste Lügen. Das Buch
leistet damit wichtige Argumentationshilfen im neuen
Verteilungskampf Alt gegen Jung, Kinderreiche gegen
Kinderarme und Modernisierungsgewinner gegen
Modernisierungsverlierer." |
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