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Winterthema

 
       
   

Sind wir auf dem Weg zu einer "Single-Gesellschaft"?

 
       
   

Oder: Singles als nützliche Idioten in einer paar- und familienorientierten Gesellschaft (Teil 1)

 
       
     
   
     
     
 

Neoliberalismus und Individualisierung als zwei Seiten einer Medaille

Es ist kein Zufall, dass der Aufstieg und Fall der Individualisierungsthese mit dem Aufstieg und Fall der neoliberalen Ideologie zusammenfällt, denn beide sind nur zwei Seiten einer Medaille. Die Individualisierungsthese wendet  - in ihrer populistischen Form - die Anforderungen einer marktradikalen Gesellschaft so, dass deren Zwänge als Wollen der Individuen erscheinen. Zwang wird also als Wahlfreiheit verkauft. In diesem Sinne sind Singles (was immer man darunter verstehen will) die Pioniere bzw. die Speerspitze der neoliberalen Moderne. Was aber, mit den Kollateralschäden dieser neoliberalen Ideologie machen? Deshalb war der "neosoziale" Umbau des Sozialstaates - besser bekannt als aktivierender Sozialstaat - notwendig. Der "neosoziale Umbau" des Sozialstaates als notwendiger Gegenpart des flexiblen Kapitalismus benötigt neue Leitbilder bzw. die Neuinterpretation der Singles als Symbole einer irregeleiteten neoliberalen Moderne.

Die "Single-Gesellschaft" oder Singles als nützliche Idioten

Im Jahr 1986 erschien das Buch Risikogesellschaft, in dem der Single zum Pionier der Moderne stilisiert wurde und die "Single-Gesellschaft" als durchgesetzte Moderne postuliert wurde.

Risikogesellschaft

"Die Richtung der Entwicklung wird (...) durch die Zusammensetzung der Haushalte signalisiert: Immer mehr Menschen leben allein. Der Anteil an Einpersonen-Haushalten hat in der Bundesrepublik inzwischen ein Viertel (30 %) überschritten. (...). Bereits zu Beginn der achtziger Jahre lebten also in der Bundesrepublik etwa 7,7 Millionen Menschen (rund 12,5 % der Bevölkerung) allein - mit steigender Tendenz. Allerdings handelt es sich dabei nur zum Teil um Personen, die der Stereotype des »Single-Daseins« entsprechen: junge, ledige Berufstätig; in der Mehrzahl dagegen um ältere, verwitwete Personen, überwiegend Frauen" (1986, S.164)

"Das Marktsubjekt ist in letzter Konsequenz das alleinstehende, nicht partnerschafts-, ehe- oder familien»behinderte« Individuum. Entsprechend ist die durchgesetzte Marktgesellschaft auch eine kinderlose Gesellschaft". (1986, S.191)

"Diese Existenzform des Alleinstehenden ist kein abweichender Fall auf dem Weg der Moderne. Sie ist das Urbild der durchgesetzten Arbeitsmarktgesellschaft."
(1986, S.200)

Die Differenziertheit dieser Beschreibung bei Ulrich BECK (die hier bereits sehr verkürzt dargestellt ist) ging im Verlauf der öffentlichen Debatte um die "Single-Gesellschaft" schnell verloren. Daran ist BECK jedoch nicht unschuldig. In der Zeitschrift Psychologie Heute vom November 1987 schreibt er zur Zukunft der Familie:

Die Zukunft der Familie

" Wenn »Gleichheit« im Sinne der Durchsetzung der Arbeitsmarktgesellschaft für alle gedeutet und betrieben werden, dann wird - implizit - mit der Gleichstellung letztlich die vollmobile Single-Gesellschaft geschaffen.
Die Grundfigur der durchgesetzten Moderne ist - zu Ende gedacht - der oder die Alleinstehende (Lerke Gravenhorst)
(...).
Daß dies nicht nur ein Gedankenexperiment ist, zeigen die sprunghaft ansteigenden Zahlen für Einpersonenhaushalte und alleinerziehende Mütter und Väter im internationalen Vergleich."
(1987, S.47f.)

Hier wird also bereits explizit die "Single-Gesellschaft" beschworen und das Leben im Einpersonenhaushalt als Indikator benutzt. Im Kern wird damit die alleinlebende Karrierefrau zum Idealtypus des Alleinlebenden in der durchgesetzten Moderne stilisiert. Man kann dies noch als Kritik am Neoliberalismus und am Feminismus lesen . Während letztere Kritik in der "familienfreundlichen" Öffentlichkeit vermehrt aufgegriffen wurde, wurde die Kritik am Neoliberalismus bzw. der durchgesetzten Arbeitsmarktgesellschaft immer  verhaltener. Man kann festhalten: Singles dienten bereits in diesem Anfangsstadium als nützliche Idioten, wobei das Leben im Einpersonenhaushalt zunehmend gleichgesetzt wurde mit dem "Single-Dasein" bzw. der alleinlebenden Karrierefrau als Idealtypus dieser durchgesetzten Moderne.

Was ist eine "Single-Gesellschaft"?

Bei jeder Veröffentlichung zum Thema Alleinlebende wird inzwischen die "Single-Gesellschaft" beschworen, so z.B. vom Stern:

Auf dem Weg in die Single-Gesellschaft

"Für Deutschlands Weg in die Single-Gesellschaft ist Hannover das Musterbeispiel: In Niedersachsens Landeshauptstadt lebt bereits jeder Dritte allein, das ist der Spitzenwert unter Deutschlands größten Städten. Bereits seit Jahren nimmt die Zahl der Singles im ganzen Land zu, besonders aber in den Großstädten. 2011 lebte in Deutschland jeder Fünfte allein, in zwei Jahrzehnten könnte es schon fast jeder Vierte sein."
(Stern Online v. 11.07.2012)

Liest man genauer, dann sind es im Jahr 2030 23 %, während es 2011 (also ohne die Korrektur durch den Zensus 2011) 20 % Alleinlebende waren. Eine Steigerung der Alleinlebenden um gerade einmal 3 % in 19 Jahren wird als Weg in die "Single-Gesellschaft" verkauft. Ein Blick in die Vergangenheit ist also notwendig, um diese Sicht zu relativieren.

Als Problem wird die Wohnungsnot durch die Zunahme der "Singles" und die Zuschneidung der Produkte auf "Singles", d.h. Alleinlebende beklagt . In Großstädten ist die Zahl der Alleinlebenden tatsächlich höher als im Bundesdurchschnitt. Als Beispiel wird Hannover mit 33 % genannt. Aber was bedeutet dies wirklich? Sind Singles für die Wohnungsnot in Deutschland verantwortlich? Richten sich die Supermärkte tatsächlich nach Singles aus oder gibt es dafür nicht andere Gründe?

Während Ulrich BECK (1986; 1990) das Single-Dasein mit jungen, ledigen Berufstätigen, die einen Einpersonenhaushalt führen, identifizierte, werden im Stern alle, die einen Einpersonenhaushalt führen, als Singles bezeichnet. Bereits 1995 erschien das Buch Die "Single-Gesellschaft" von Stefan HRADIL, das eine Auseinandersetzung mit der Tendenz in der öffentlichen Debatte war, das Single-Dasein mit dem Leben im Einpersonenhaushalt gleichzusetzen. Er definierte im Buch den "Single" im engeren und im weiteren Sinne:

Die "Single-Gesellschaft"

"Im folgenden wird einerseits ein weiter, andererseits ein enger Begriff von »Singles« zugrundegelegt. Beiden ist gemeinsam, daß Single nur der ist, der alleine lebt und haushält, obwohl es hinreichend gesellschaftliche Alternativen hierfür gibt.
Der weite Singlebegriff enthält nur die beiden Definitionskriterien Einpersonenhaushalt und Alter. Ihm zufolge gelten diejenigen als
»Singles«, die 25 bis unter 55 Jahre alt sind und alleine leben und haushalten (...). Demnach galten 1992 etwa 8 % der erwachsenen Bevölkerung Deutschlands als »Singles«. Das waren knapp 10 % der Westdeutschen und etwas weniger als 5 % der Ostdeutschen. Dieser weite Begriff des »Single« zielt (...) im wesentlichen auf eine Lebensform und abstrahiert von den meisten Kennzeichen der Lebensweise." (1995, S.7)

Für bestimmte Fragestellungen sind die »Singles«, die im (...) weiten Begriff erfaßt werden, viel zu inhomogen. Deswegen wird im folgenden auch ein Begriff des »Single« im engeren Sinne verwendet. Ihm zufolge gilt jede(r) als »Single«, der bzw. die alleine in einem Einpersonenhaushalt lebt, 25 bis unter 55 Jahre alt ist, und angibt, keinen festen Partner zu haben sowie aus eigenem Willen und für längere Zeit alleinleben zu wollen. Legt man diesen Begriff zugrunde, so gelten maximal 3 % der Bevölkerung Deutschlands als »Singles« (...).
Dieser Begriff des Singles i.e.S. zielt nicht nur auf eine bestimmte Lebensform sondern zugleich auf eine bestimmte Lebensweise, das heißt auf bestimmte innere Motive und auf ein bestimmtes Beziehungsverhalten."
(1995, S.9)

Im engeren Sinne waren 1992 also maximal 3 % der Bevölkerung "Singles", im weiteren Sinne ca. 8 %, wobei HRADIL das Single-Dasein nicht wie BECK als junge, ledige Alleinlebende definiert, sondern als Alleinlebende im Alter zwischen 25 und 55 Jahren. Eine "Single-Gesellschaft" wäre also eine Gesellschaft, die von dieser Minderheit beherrscht würde. In einem Beitrag aus dem gleichen Jahr definiert HRADIL die "Single-Gesellschaft" folgendermaßen:

Auf dem Wege zur Single-Gesellschaft?

"»Singlegesellschaft« ist eine Gesellschaft, in der der Bevölkerungsanteil von Singles so deutlich anwächst oder bereits dominiert, daß die gesamtgesellschaftliche Entwicklung hiervon maßgeblich bestimmt wird. (...).
Der Begriff »Singlegesellschaft« kann auch in übertragener Bedeutung aber auch sozio-kulturell verstanden werden. Er bezeichnet dann eine weitgehend individualisierte Gesellschaft. Wenn Menschen ihr Leben so gestalten oder gestalten möchten, daß sie - bewußt oder unbewußt, eigennützig oder selbstlos, alleine oder in Familie - primär eigene Ziele und Wege verfolgen bzw. verfolgen wollen, führen sie ihr Leben individualisiert und sind, was ihr Denken und z.T. Handeln anbelangt, auf eine gewisse Weise »Singles«."

(1995, S.191)

Die Definition bleibt schwammig. Denn was heißt "dominiert" und "maßgeblich bestimmt"? Warum schreibt man im Stern über die "Single-Gesellschaft" und nicht über die Gesellschaft der Alleinlebenden? Was ja richtiger wäre? Warum wird den Alleinlebenden ein bestimmter Lebensstil unterstellt? HRADIL betont immer wieder, dass wir im "wörtlichen Sinne" keineswegs auf dem Weg in die "Single-Gesellschaft" seien, aber im übertragenen sozio-kulturellen Sinne sehr wohl (waren) - also im Sinne einer individualisierten Gesellschaft, wobei es dann auch individualisierte Familien gibt, d.h. der Indikator Einpersonenhaus nicht brauchbar ist. Dafür spricht auch, dass z.B. Supermarktprodukte nicht speziell auf "Singles" zugeschnitten sind, sondern auf Alleinesser, d.h. die individualisierte Familie und das individualisierte Paar gehören in erster Linie zu den Abnehmern der Produkte. Der Soziologe Jean-Claude KAUFMANN bezeichnet diesen Trend als "Kühlschrank-Kultur" .

Was Prognosen zur Entwicklung der "Single-Haushalte" wert sind, wenn bereits 10 Jahresprognosen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung daneben liegen

Anhand einer Prognose von HRADIL zur Entwicklung der "Single-Gesellschaft" lässt sich aufzeigen, wie Politik mit Hilfe von Statistiken betrieben wird. HRADIL stellt einen dramatischen Anstieg der Single-Zahlen zwischen 1972 und 1990 fest:

Die "Single-Gesellschaft"

"Anteil an der gleichaltrigen Bevölkerung
- der »jungen Singles« (25-35 Jahre alt) in den letzten 20 Jahren deutlich mehr als verdoppelte. (1972: 7,5 % - 1990: 18,7 %),
- der »mittleren Singles« (35-45 Jahre alt) in der gleichen Zeit verdoppelte (1972: 5 % - 1990: 10,6 %) und
- der »älteren Singles« (45-55 Jahre alt) um ein Drittel vermehrte."

(1995, S.133)

Ausgehend von diesen drastischen Steigerungsraten der Einpersonenhaushalte gibt HRADIL unseriöserweise nur Maximalwerte an. Seriös wäre es gewesen auch Minimalwerte zu nennen. Aber da es sich um eine Auftragsstudie der Bundesregierung handelte, ist das nicht verwunderlich. Folgende Single-Anteile prognostiziert HRADIL bis zum Jahr 2000 und 2010:

Anteile von Alleinlebenden in Deutschland
im Jahre 1990, 2000 und 2010 in %
  1990 2000 2010
25-35 Jahre alt 18,7 % 24,0 % 30,0 %
35-45 Jahre alt 10,6 % 18,7 % 24,0 %
45-55 Jahre alt 10,8 % 10,6 % 18,7 %

Quelle: Stefan Hradil, 1995, S.134

Inzwischen lassen sich beide Prognosen an der tatsächlichen Entwicklung überprüfen. Bei HRADIL liest sich seine Fehleinschätzung zur Entwicklung der Singlezahlen für das Jahr 2000 in einer Publikation von 2003 folgendermaßen:

Vom Leitbild zum "Leidbild"

"Im Unterschied zu manchen Prognosen ist die »Singlequote« seit Mitte der 1990er Jahre in Westdeutschland nicht mehr gestiegen. So betrug der Bevölkerungsanteil der allein lebenden 25- bis unter 55-Jährigen in den 80er und den frühen 90er Jahren stets gut 8 %, seither liegt er bei 7 % (Allbus 1980-2000). (...) Mittlerweile leben 20 % der Männer und 12 % der Frauen im Alter von 25 bis unter 55 Jahren allein (Mikrozensus 2001; Stat. BA)."
(2003, S.41)

Gemäß HRADIL hat sich die Anstieg der Single-Haushalte also zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches Die "Single-Gesellschaft" nicht mehr in dem Maße fortgesetzt wie angenommen. Im Juli 2012 veröffentlichte das Statistische Bundesamt Zahlen zur Entwicklung der Alleinlebenden für das Jahr 2011. Danach stieg der Anteil der 25-35Jährigen auf 27,2 %, der Anteil der 35-45Jährigen betrug 18,8 % und der Anteil der 45-55Jährigen stieg auf 17,7 %. Während die Anteile der jüngeren (2,8 % weniger) und älteren Singles (1 % weniger) fast erreicht wurden, liegen die Schätzungen für den Anteil der 35-45Jährigen Alleinlebenden mit 5,2 % deutlich niedriger.

Bereits ohne die deutlich unterschiedliche Entwicklung der Geschlechter bei den Singles im Familienlebensalter zu berücksichtigen, kann man daraus schließen, dass das Single-Dasein als Alternative zur Familie in der Publikation von 1995 deutlich überschätzt wurde. Eine wichtige Frage wäre auch, inwiefern sich die Faktoren, die zur Steigerung der Single-Anteile geführt haben, seit  1990 geändert haben. Sind die Faktoren gleich geblieben, oder gab es gravierende Änderungen. Die Hartz-Gesetze und die Auswirkungen der Finanzkrise sowie die Änderungen der Familienpolitik sprechen für eine gravierende Änderung der Bedingungsfaktoren. Noch deutlicher, werden die Fehleinschätzungen HRADILs, wenn man die Schätzung von HRADIL hinsichtlich der Entwicklung der Pflegebedürftigen betrachtet.

Die Schätzung der Entwicklung der alleinlebenden Pflegebedürftigen

Im Jahr 2001 verpflichtete das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung zur Berücksichtigung der Kinderzahl in der Pflegeversicherung. Seit 2005 müssen Kinderlose deshalb einen erhöhten Beitrag zur Pflegeversicherung bezahlen. Stefan HRADIL begründete  solch höhere Beiträge für Alleinlebende und Kinderlose mit der Zunahme des Alleinlebens als Alternative zur Familie:

Die "Single-Gesellschaft"

""Nach Daten des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung sind von den 60-bis 80jährigen in Deutschland derzeit 5 % pflegebedürftig, von den über 80jährigen 20 %. Das waren Anfang der 90er Jahre etwa 1,650 Millionen Pflegefälle in Deutschland. Hiervon wurden ca. 1,2 Millionen Menschen zu Hause, in der Regel in der Familie gepflegt und 0,45 Millionen in Pflegeheimen. (BMAS 1991)
Im Jahre 1990 lebten in Gesamtdeutschland knapp 2,5 Millionen Menschen im Alter von 45 bis 65 Jahren alleine. (ber. nach WiSta 1992, S.225) Unterstellt man einmal, daß diese Menschen im Jahre 2005, wenn sie also 60 bis 80 Jahre alt sind, alle noch leben, und zwar alleine, dann gäbe es allein aus der Gruppe der heutigen
»Singles« im Alter zwischen 45 und 65 Jahren im Jahr 2005 volle 125000 Pflegebedürftige im Alter von 60 bis 80 Jahren, die mangels Kindern nicht in der Familie gepflegt werden können. Nimmt man an, daß auch im Jahre 2005 noch drei Viertel aller Pflege zu Hause stattfindet, so kämen 90000 stationäre Pflegefälle im Alter von 60-80 Jahren allein aus der kleinen Bevölkerungsgruppe derer, die im Jahre 1990 alleinlebten und 45-65 Jahre alt waren, zusätzlich auf die Pflegeeinrichtungen. Die dadurch entstehende Mehrbelastung im Vergleich zu 1990 beträgt ca. 40000 stationär zu Pflegende, denn der Anteil der »älteren« Singles hat entsprechend zugenommen (...). Die wesentlich krassere Zunahme der »jüngeren« Singles läßt für die Zeit nach 2005 noch weit größere Mehrbelastungen erwarten. Deren Ausmaß wird dann deutlich, wenn man bedenkt, daß im Jahre 2005, ohne die vermehrte Zahl von nachrückenden Alleinlebenden einzurechnen, insgesamt nur gut 200000 stationär Pflegebedürftige unter den 60-80-Jährigen zu erwarten wären.
(...).
Die Pflegeversicherung wird dem Problem nicht abhelfen. (...). Daher stellt sich die Frage, ob Alleinlebenden und Kinderlosen nicht deutlich höhere Beiträge zur Pflegeversicherung (und/oder höhere Eigenvorsorgeleistungen) abverlangt werden sollten. Kinderzahlabhängige Beiträge zu Pflegeversicherung wären - anders als Steuern - unmittelbar einsichtig begründbar und wohl auch durchsetzbar, zumal empirische Daten zeigen, daß eine gewisse Bereitschaft von Alleinlebenden und Kinderlosen durchaus vorhanden ist, Familien zu entlasten.
"
(1995, S.133)

Inzwischen kann man die Zahlen für 2005 überprüfen. Erstens betrachtet HRADIL die Entwicklung der 45-65jährigen Alleinlebenden. Die 55-65jährigen sind jedoch noch nicht einmal nach seinem weiten Single-Begriff Singles. Zweitens unterstellt HRADIL, dass diese Alleinlebenden dauerhafte Alleinlebende seien. Die Struktur älterer Alleinlebender wird jedoch mehrheitlich von Geschiedenen bzw. Witwen/Witwern geprägt, also von Eltern, deren Kinder den Haushalt verlassen haben. Lässt man diese unseriösen Annahmen einmal beiseite, dann lassen sich die Fakten anhand amtlicher Daten nachprüfen. Im März 2008 wurden die Pflegequoten nach Alter und Geschlecht für das Jahr 2005 veröffentlicht. Danach lag der Anteil der Pflegebedürftigen im Alter zwischen 60 und 65 Jahren bei 1,7 % (Männer) und 1,5 % (Frauen). Der Anteil der 65-70 Jährigen Pflegebedürftigen lag bei 2,8 % (m) und 2,4 % (w). Bei den 70 - 75 Jährigen lag der Anteil bei 4,9 % (m/w). Erst bei den 75-80 Jährigen stieg der Anteil auf 8,5 % (Männer) und auf 10,3 % (Frauen).

Gemäß Pflegestatistik 2005 (2007, S.13) waren 2005 von den 16,8 Millionen 60-80 Jährigen ca. 690 Tausend pflegebedürftig. Das entspricht einer Pflegequote von 4,1 % also eine um 0,9 % geringere Pflegequote als bei HRADIL angenommen. Dies bedeutet, dass sich der Gesundheitszustand dieser Altersgruppe verbessert hat, was nicht nur bei HRADIL unberücksichtigt bleibt. Gemäß Gerd BOSBACH ist diese unzulässige Vermischung von dynamischen und statischen Aspekten typisch für die neoliberale Ideologie der Privatisierung sozialer Risiken .

Hinsichtlich des Pflegebedarfs muss zwischen Männern und Frauen unterschieden werden. Frauen werden im höheren Alter häufiger als Männer nicht zuhause gepflegt (S.22). Der Anteil alleinlebender Frauen ist jedoch im Alter - im Gegensatz zu den Annahmen von HRADIL - rückläufig .

HRADIL veranschlagt die Anzahl der stationär Pflegebedürftigen im Alter von 60 - 80 Jahren im Jahr 2005 auf 200.000 ohne die Alleinlebenden. Gemäß Pflegestatistik 2005 (2007, S.13) gab es jedoch im Jahr 2005 nur 182.178 stationär Pflegebedürftige inklusive (ehemaliger) Alleinlebender. Und das obwohl der Anteil der zu Hause gepflegten Personen zurückging (nur noch 68 % statt der von HRADIL angenommenen 75 %).

Bereits diese Analyse zeigt, dass das von HRADIL vorgestellte Szenario nicht realistisch war. Das Szenario ging davon aus, dass das Alleinleben eine Alternative zur Familie sei, was offensichtlich nicht stimmt, sondern das Alleinleben ist in erster Linie eine Lebensphase. Wenn aber bereits Berechnungen über einen Zeitraum von nur 15 Jahren so sehr daneben liegen, dann sollten 50-Jahres-Berechnungen wie sie in der Politik beliebt sind, verboten (oder zumindest nicht veröffentlicht) werden.

Die Analyse von Singles im Familienlebensalter wird amtlicherseits erschwert

Aufschluss darüber, ob das Alleinleben eine Lebensform oder nur eine Lebensphase ist, könnte eine Analyse der Singles im Familienlebensalter, d.h. der 35 - 45 jährigen Alleinlebenden geben. Diese Analyse ist aufgrund der unzureichenden Veröffentlichungspraxis des statistischen Bundesamtes nicht möglich. In der Publikation Alleinlebende in Deutschland werden nur Daten über die Einkommenssituation, den Familienstand und das Geschlecht der 35-64Jährigen bereitgestellt. Angesichts der Tatsache, dass damit akademische Berufseinsteiger mit Vorruheständlern, Ledige und Geschiedene, Kinderlose und Frauen, deren Kinder noch nicht geboren bzw. Eltern, deren Kinder das Elternhaus bereits verlassen werden, zusammen betrachtet werden müssen, ist die Aussagekraft mehr als bescheiden.

Betrachtet man den Familienstand der 35-64jährigen Alleinlebenden im Jahre 2011, dann macht der Anteil der Geschiedenen und Verheiratet Getrenntlebenden 39,3 % aus, 8,2 % sind bereits verwitwet, d.h. nur 52,5 % dieser Alleinlebenden kämen überhaupt für ein dauerhaftes Alleinleben in Betracht. Lediglich 19,3 % gehören zu den Karriefrauen/-männern (Alleinlebende in Führungspositionen). Fast genauso viele Singles, nämlich 15,1 % verdienen unter 700 Euro, gehören also eindeutig zu den Geringverdienern bzw. armen bzw. armutsgefährdeten Alleinlebenden. 21,9 % verdienen zwischen 700 und 1100 Euro und gehören damit ebenfalls nicht zu den Besserverdienenden. Nur 23,1 % verdienen 2000 und mehr Euro. Von einer Homogenität dieser Alleinlebenden zu sprechen, wie es HRADIL tut, verbietet sich eigentlich von selbst. Vielmehr müsste von einer Polarisierung gesprochen werden. Man kann also festhalten: Die Politik verhindert die Bereitstellung von Daten zur Lebenslage Alleinlebender, die aussagekräftig sind, weswegen nur Anhaltspunkte geliefert werden können. Das Bild vom Single als Yuppie beschreibt eine Minderheit der Alleinlebenden im mittleren Lebensalter (nach den sehr merkwürdigen Altersgrenzen). Solange keine Daten über Einkommen, Familienstand und Geschlecht für Altersgruppen von jeweils 5 Jahren geliefert werden, ist die Situation unbefriedigend. Man muss dahinter Politik vermuten, d.h. es soll verhindert werden, dass die Lebenslage der Alleinlebenden detailliert vermessen werden kann. Stattdessen werden Interpretationen geliefert. Wir wollen Fakten!

Exkurs: Die Armutsgefährdung von "Singles"

Selbst in der Publikation Alleinlebende in Deutschland werden Alleinlebende mit Singles gleichgesetzt. Zur Armutsgefährdung heißt es dort:

Alleinlebende in Deutschland. Ergebnisse des Mikrozensus 2011

"Alleinlebende (sind) überdurchschnittlich häufig auf Hartz IV-Leistungen angewiesen: Im Dezember 2011 bezogen laut Daten der Bundesagentur für Arbeit 12,9 % aller Single-Haushalte Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II. Damit war rund jeder achte Alleinlebenden-Haushalt hilfebedürftig. Die SGB II-Quoten der Paare ohne Kinder (3,8 %) sowie der Paare mit Kindern (7,2 %) lagen niedriger, die der Alleinerziehenden mit 39,4 % allerdings deutlich höher. Die Hilfequote aller Haushaltsformen lag im Dezember 2011 bei 10,3 %." (2012, S.5)

Das Statistische Jahrbuch 2013 unterscheidet bei den Alleinlebenden zwischen Alleinlebenden unter 65 Jahren und Alleinlebenden über 65 Jahren. Danach gehören insbesondere Haushalte unter 65jähriger Alleinlebender mit 36 % zu den armutsgefährdeten Haushalten. Auch was die Armut im Alter betrifft, gehören die Haushalte der Alleinlebenden mit 24 % zu den armutsgefährdeten Haushalten.

Quelle: Statistisches Jahrbuch 2013, S.169

Auch dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass "Singles" keineswegs mit "Yuppies" gleichgesetzt werden dürfen. Weiter unten wird analysiert, welche Auswirkungen die Hartz-IV-Gesetzgebung auf die Paarbildung hat. 

 
     
 
       
   

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webmaster@single-generation.de Erstellt: 06. Oktober 2013
Update: 19. November 2018