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Neoliberalismus und Individualisierung als zwei Seiten einer
Medaille
Es ist kein Zufall, dass
der Aufstieg und Fall der Individualisierungsthese mit dem
Aufstieg und Fall der neoliberalen Ideologie zusammenfällt, denn
beide sind nur zwei Seiten einer Medaille. Die
Individualisierungsthese wendet - in ihrer populistischen
Form - die Anforderungen einer marktradikalen Gesellschaft so,
dass deren Zwänge als Wollen der Individuen erscheinen. Zwang
wird also als Wahlfreiheit verkauft. In diesem Sinne sind
Singles (was immer man darunter verstehen will) die Pioniere
bzw. die Speerspitze der neoliberalen Moderne. Was aber, mit den
Kollateralschäden dieser neoliberalen Ideologie machen? Deshalb
war der "neosoziale" Umbau des Sozialstaates - besser bekannt
als aktivierender Sozialstaat - notwendig. Der "neosoziale Umbau"
des Sozialstaates als notwendiger Gegenpart des flexiblen
Kapitalismus benötigt neue Leitbilder bzw. die Neuinterpretation der Singles
als Symbole einer irregeleiteten neoliberalen Moderne.
Die "Single-Gesellschaft" oder Singles als nützliche Idioten
Im Jahr 1986 erschien das
Buch Risikogesellschaft, in dem der Single zum Pionier
der Moderne stilisiert wurde und die "Single-Gesellschaft" als durchgesetzte
Moderne postuliert wurde.
Risikogesellschaft
"Die
Richtung der Entwicklung wird (...) durch die
Zusammensetzung der Haushalte signalisiert: Immer
mehr Menschen leben allein. Der Anteil an
Einpersonen-Haushalten hat in der Bundesrepublik
inzwischen ein Viertel (30 %) überschritten.
(...). Bereits zu Beginn der achtziger Jahre lebten
also in der Bundesrepublik etwa 7,7 Millionen Menschen
(rund 12,5 % der Bevölkerung) allein - mit steigender
Tendenz. Allerdings handelt es sich dabei nur zum Teil
um Personen, die der Stereotype des »Single-Daseins«
entsprechen: junge, ledige Berufstätig; in der
Mehrzahl dagegen um ältere, verwitwete Personen,
überwiegend Frauen" (1986, S.164)
"Das
Marktsubjekt ist in letzter Konsequenz das
alleinstehende, nicht partnerschafts-, ehe- oder
familien»behinderte«
Individuum. Entsprechend ist die durchgesetzte
Marktgesellschaft auch eine kinderlose
Gesellschaft". (1986, S.191)
"Diese
Existenzform des Alleinstehenden ist kein abweichender
Fall auf dem Weg der Moderne. Sie ist das Urbild der
durchgesetzten Arbeitsmarktgesellschaft."
(1986, S.200)
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Die Differenziertheit
dieser Beschreibung bei Ulrich BECK (die hier bereits sehr
verkürzt dargestellt ist) ging im Verlauf der öffentlichen
Debatte um die "Single-Gesellschaft" schnell verloren. Daran ist
BECK jedoch nicht unschuldig. In der Zeitschrift Psychologie Heute vom
November 1987 schreibt er zur Zukunft der Familie:
Die Zukunft
der Familie
"
Wenn »Gleichheit« im Sinne der Durchsetzung der
Arbeitsmarktgesellschaft für alle gedeutet und
betrieben werden, dann wird - implizit - mit der
Gleichstellung letztlich die vollmobile
Single-Gesellschaft geschaffen.
Die Grundfigur der durchgesetzten Moderne ist -
zu Ende gedacht - der oder die Alleinstehende (Lerke
Gravenhorst)
(...).
Daß dies nicht nur ein Gedankenexperiment ist, zeigen
die sprunghaft ansteigenden Zahlen für
Einpersonenhaushalte und alleinerziehende Mütter und
Väter im internationalen Vergleich."
(1987, S.47f.)
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Hier wird also bereits
explizit die "Single-Gesellschaft" beschworen und das Leben im
Einpersonenhaushalt als Indikator benutzt. Im Kern wird damit
die alleinlebende Karrierefrau zum Idealtypus des Alleinlebenden
in der durchgesetzten Moderne stilisiert. Man kann dies noch als
Kritik am Neoliberalismus und am Feminismus lesen
. Während
letztere Kritik in der "familienfreundlichen" Öffentlichkeit
vermehrt aufgegriffen wurde, wurde die Kritik am Neoliberalismus
bzw. der durchgesetzten Arbeitsmarktgesellschaft immer
verhaltener. Man kann festhalten: Singles dienten bereits in
diesem Anfangsstadium als nützliche Idioten, wobei das Leben im
Einpersonenhaushalt zunehmend gleichgesetzt wurde mit dem
"Single-Dasein" bzw. der alleinlebenden Karrierefrau als
Idealtypus dieser durchgesetzten Moderne.
Was ist
eine "Single-Gesellschaft"?
Bei jeder Veröffentlichung
zum Thema Alleinlebende wird inzwischen die "Single-Gesellschaft" beschworen,
so z.B. vom Stern:
Auf dem Weg in
die Single-Gesellschaft
"Für
Deutschlands Weg in die Single-Gesellschaft ist
Hannover das Musterbeispiel: In Niedersachsens
Landeshauptstadt lebt bereits jeder Dritte allein, das
ist der Spitzenwert unter Deutschlands größten
Städten. Bereits seit Jahren nimmt die Zahl der
Singles im ganzen Land zu, besonders aber in den
Großstädten. 2011 lebte in Deutschland jeder Fünfte
allein, in zwei Jahrzehnten könnte es schon fast jeder
Vierte sein."
(Stern Online v. 11.07.2012)
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Liest man genauer, dann
sind es im Jahr 2030 23 %, während es 2011 (also ohne die Korrektur
durch den Zensus 2011) 20 % Alleinlebende waren. Eine Steigerung der
Alleinlebenden um gerade einmal 3 % in 19 Jahren wird als Weg in die
"Single-Gesellschaft" verkauft. Ein Blick in die Vergangenheit
ist also notwendig, um diese Sicht zu relativieren.
Als Problem wird die
Wohnungsnot durch die Zunahme der "Singles" und die Zuschneidung
der Produkte auf "Singles", d.h. Alleinlebende beklagt
.
In Großstädten ist die Zahl der Alleinlebenden tatsächlich höher
als im Bundesdurchschnitt. Als Beispiel wird Hannover mit 33 %
genannt. Aber was bedeutet dies wirklich? Sind Singles für die
Wohnungsnot in Deutschland verantwortlich? Richten sich die
Supermärkte tatsächlich nach Singles aus oder gibt es dafür
nicht andere Gründe?
Während Ulrich BECK (1986;
1990) das Single-Dasein mit jungen, ledigen Berufstätigen, die
einen Einpersonenhaushalt führen, identifizierte, werden im
Stern alle, die einen Einpersonenhaushalt führen, als
Singles bezeichnet. Bereits 1995 erschien das Buch Die
"Single-Gesellschaft" von Stefan HRADIL, das eine
Auseinandersetzung mit der Tendenz in der öffentlichen Debatte
war, das Single-Dasein mit dem Leben im Einpersonenhaushalt
gleichzusetzen. Er definierte im Buch den "Single" im engeren
und im weiteren Sinne:
Die
"Single-Gesellschaft"
"Im
folgenden wird einerseits ein weiter, andererseits ein
enger Begriff von
»Singles«
zugrundegelegt. Beiden ist gemeinsam, daß Single nur
der ist, der alleine lebt und haushält, obwohl es
hinreichend gesellschaftliche Alternativen hierfür
gibt.
Der weite Singlebegriff enthält nur die beiden
Definitionskriterien Einpersonenhaushalt und Alter.
Ihm zufolge gelten diejenigen als »Singles«,
die 25 bis unter 55 Jahre alt sind und alleine leben
und haushalten (...). Demnach galten 1992 etwa 8 % der
erwachsenen Bevölkerung Deutschlands als »Singles«.
Das waren knapp 10 % der Westdeutschen und etwas
weniger als 5 % der Ostdeutschen. Dieser weite Begriff
des »Single«
zielt (...) im wesentlichen auf eine Lebensform
und abstrahiert von den meisten Kennzeichen der Lebensweise."
(1995, S.7)
Für
bestimmte Fragestellungen sind die
»Singles«,
die im (...) weiten Begriff erfaßt werden, viel zu inhomogen.
Deswegen wird im folgenden auch ein
Begriff des
»Single«
im engeren Sinne verwendet.
Ihm zufolge gilt
jede(r) als
»Single«,
der bzw. die alleine in einem Einpersonenhaushalt lebt, 25 bis
unter 55 Jahre alt ist, und angibt, keinen festen Partner zu
haben sowie aus eigenem Willen und für längere Zeit
alleinleben zu wollen. Legt man diesen Begriff zugrunde,
so gelten maximal 3 % der Bevölkerung Deutschlands als
»Singles«
(...).
Dieser Begriff des Singles i.e.S. zielt nicht nur auf eine
bestimmte Lebensform
sondern zugleich auf eine bestimmte Lebensweise,
das heißt auf bestimmte innere Motive und auf ein bestimmtes
Beziehungsverhalten."
(1995, S.9) |
Im engeren Sinne waren
1992 also maximal 3 % der Bevölkerung "Singles", im weiteren
Sinne ca. 8 %, wobei HRADIL das Single-Dasein nicht wie BECK als
junge, ledige Alleinlebende definiert, sondern als Alleinlebende
im Alter zwischen 25 und 55 Jahren. Eine "Single-Gesellschaft"
wäre also eine Gesellschaft, die von dieser Minderheit
beherrscht würde. In einem Beitrag aus dem gleichen Jahr
definiert HRADIL die "Single-Gesellschaft" folgendermaßen:
Auf dem Wege
zur Single-Gesellschaft?
"»Singlegesellschaft«
ist eine Gesellschaft, in der der Bevölkerungsanteil
von Singles so deutlich anwächst oder bereits
dominiert, daß die gesamtgesellschaftliche Entwicklung
hiervon maßgeblich bestimmt wird. (...).
Der Begriff »Singlegesellschaft« kann auch in
übertragener Bedeutung aber auch sozio-kulturell
verstanden werden. Er bezeichnet dann eine weitgehend
individualisierte Gesellschaft. Wenn Menschen ihr
Leben so gestalten oder gestalten möchten, daß sie -
bewußt oder unbewußt, eigennützig oder selbstlos,
alleine oder in Familie - primär eigene Ziele und Wege
verfolgen bzw. verfolgen wollen, führen sie ihr Leben
individualisiert und sind, was ihr Denken und z.T.
Handeln anbelangt, auf eine gewisse Weise »Singles«."
(1995, S.191)
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Die Definition bleibt
schwammig. Denn was heißt "dominiert" und "maßgeblich bestimmt"?
Warum schreibt man im Stern über die "Single-Gesellschaft" und
nicht über die Gesellschaft der Alleinlebenden? Was ja richtiger
wäre? Warum wird den Alleinlebenden ein bestimmter Lebensstil
unterstellt? HRADIL betont immer wieder, dass wir im "wörtlichen
Sinne" keineswegs auf dem Weg in die "Single-Gesellschaft" seien,
aber im übertragenen sozio-kulturellen Sinne sehr wohl (waren) -
also im Sinne einer individualisierten Gesellschaft, wobei es
dann auch individualisierte Familien gibt, d.h. der Indikator
Einpersonenhaus nicht brauchbar ist. Dafür spricht auch, dass
z.B. Supermarktprodukte nicht speziell auf "Singles"
zugeschnitten sind, sondern auf Alleinesser, d.h. die
individualisierte Familie und das individualisierte Paar gehören
in erster Linie zu den Abnehmern der Produkte. Der Soziologe
Jean-Claude KAUFMANN bezeichnet diesen Trend als
"Kühlschrank-Kultur"
.
Was
Prognosen zur Entwicklung der "Single-Haushalte" wert sind, wenn
bereits 10 Jahresprognosen zum Zeitpunkt der
Veröffentlichung daneben liegen
Anhand einer Prognose von
HRADIL zur Entwicklung der "Single-Gesellschaft" lässt sich
aufzeigen, wie Politik mit Hilfe von Statistiken betrieben wird.
HRADIL stellt
einen dramatischen Anstieg der Single-Zahlen zwischen 1972 und
1990 fest:
Die "Single-Gesellschaft"
"Anteil
an der gleichaltrigen Bevölkerung
- der »jungen
Singles« (25-35 Jahre alt) in den letzten 20 Jahren
deutlich mehr als verdoppelte. (1972: 7,5 % - 1990: 18,7
%),
- der »mittleren Singles« (35-45 Jahre alt) in der
gleichen Zeit verdoppelte (1972: 5 % - 1990: 10,6 %) und
- der »älteren Singles« (45-55 Jahre alt) um ein Drittel
vermehrte."
(1995, S.133) |
Ausgehend von
diesen drastischen Steigerungsraten der Einpersonenhaushalte
gibt HRADIL unseriöserweise nur Maximalwerte an. Seriös wäre es
gewesen auch Minimalwerte zu nennen. Aber da es sich um eine
Auftragsstudie der Bundesregierung handelte, ist das nicht
verwunderlich. Folgende Single-Anteile prognostiziert HRADIL bis
zum Jahr 2000 und 2010:
Anteile von Alleinlebenden in Deutschland
im Jahre 1990, 2000 und 2010 in % |
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1990 |
2000 |
2010 |
25-35 Jahre alt |
18,7 % |
24,0 % |
30,0 % |
35-45 Jahre alt |
10,6 % |
18,7 % |
24,0 % |
45-55 Jahre alt |
10,8 % |
10,6 % |
18,7 % |
|
Quelle: Stefan
Hradil, 1995, S.134 |
Inzwischen
lassen sich beide Prognosen an der tatsächlichen Entwicklung
überprüfen. Bei HRADIL liest sich seine Fehleinschätzung zur
Entwicklung der Singlezahlen für das Jahr 2000 in einer
Publikation von 2003 folgendermaßen:
Vom Leitbild
zum "Leidbild"
"Im Unterschied zu
manchen Prognosen ist die »Singlequote« seit Mitte der
1990er Jahre in Westdeutschland nicht mehr gestiegen. So
betrug der Bevölkerungsanteil der allein lebenden 25- bis
unter 55-Jährigen in den 80er und den frühen 90er Jahren
stets gut 8 %, seither liegt er bei 7 % (Allbus
1980-2000). (...) Mittlerweile leben 20 % der Männer und
12 % der Frauen im Alter von 25 bis unter 55 Jahren allein
(Mikrozensus 2001; Stat. BA)."
(2003, S.41) |
Gemäß HRADIL
hat sich die Anstieg der Single-Haushalte also zum Zeitpunkt der
Veröffentlichung des Buches Die "Single-Gesellschaft" nicht mehr
in dem Maße fortgesetzt wie angenommen. Im Juli 2012
veröffentlichte das Statistische Bundesamt Zahlen zur
Entwicklung der Alleinlebenden für das Jahr 2011. Danach stieg
der Anteil der 25-35Jährigen auf 27,2 %, der Anteil der
35-45Jährigen betrug 18,8 % und der Anteil der 45-55Jährigen
stieg auf
17,7 %. Während die Anteile der jüngeren (2,8 % weniger) und
älteren Singles (1 % weniger) fast erreicht wurden, liegen die
Schätzungen für den Anteil der 35-45Jährigen Alleinlebenden mit
5,2 % deutlich niedriger.
Bereits ohne die deutlich
unterschiedliche Entwicklung der Geschlechter bei den Singles im
Familienlebensalter zu berücksichtigen, kann man daraus
schließen, dass das Single-Dasein als Alternative zur Familie in
der Publikation von 1995 deutlich überschätzt wurde. Eine
wichtige Frage wäre auch, inwiefern sich die Faktoren, die zur
Steigerung der Single-Anteile geführt haben, seit 1990
geändert haben. Sind die Faktoren gleich geblieben, oder gab es
gravierende Änderungen. Die Hartz-Gesetze und die Auswirkungen
der Finanzkrise sowie die Änderungen der Familienpolitik
sprechen für eine gravierende Änderung der Bedingungsfaktoren.
Noch deutlicher, werden die Fehleinschätzungen HRADILs, wenn man die Schätzung von HRADIL
hinsichtlich der Entwicklung der Pflegebedürftigen betrachtet.
Die Schätzung der Entwicklung der
alleinlebenden Pflegebedürftigen
Im Jahr 2001
verpflichtete das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung
zur Berücksichtigung der Kinderzahl in der Pflegeversicherung.
Seit 2005 müssen Kinderlose deshalb einen erhöhten Beitrag zur
Pflegeversicherung bezahlen.
Stefan HRADIL begründete solch höhere Beiträge für
Alleinlebende und Kinderlose mit der Zunahme des Alleinlebens
als Alternative zur Familie:
Die "Single-Gesellschaft"
""Nach
Daten des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung
sind von den 60-bis 80jährigen in Deutschland derzeit 5 %
pflegebedürftig, von den über 80jährigen 20 %. Das waren
Anfang der 90er Jahre etwa 1,650 Millionen Pflegefälle in
Deutschland. Hiervon wurden ca. 1,2 Millionen Menschen zu
Hause, in der Regel in der Familie gepflegt und 0,45
Millionen in Pflegeheimen. (BMAS 1991)
Im Jahre 1990 lebten in Gesamtdeutschland knapp 2,5
Millionen Menschen im Alter von 45 bis 65 Jahren alleine.
(ber. nach WiSta 1992, S.225) Unterstellt man einmal, daß
diese Menschen im Jahre 2005, wenn sie also 60 bis 80
Jahre alt sind, alle noch leben, und zwar alleine, dann
gäbe es allein aus der Gruppe der heutigen
»Singles« im Alter zwischen 45 und 65 Jahren
im Jahr 2005 volle 125000 Pflegebedürftige im Alter von 60
bis 80 Jahren, die mangels Kindern nicht in der Familie
gepflegt werden können. Nimmt man an, daß auch im Jahre
2005 noch drei Viertel aller Pflege zu Hause stattfindet,
so kämen 90000
stationäre Pflegefälle im Alter von 60-80 Jahren
allein aus der kleinen Bevölkerungsgruppe derer, die im
Jahre 1990 alleinlebten und 45-65 Jahre alt waren,
zusätzlich auf
die Pflegeeinrichtungen. Die dadurch entstehende
Mehrbelastung im Vergleich zu 1990 beträgt ca. 40000
stationär zu Pflegende, denn der Anteil der
»älteren«
Singles hat entsprechend zugenommen (...). Die wesentlich
krassere Zunahme der »jüngeren«
Singles läßt für die Zeit nach 2005 noch weit größere
Mehrbelastungen erwarten. Deren Ausmaß wird dann deutlich,
wenn man bedenkt, daß im Jahre 2005, ohne die vermehrte
Zahl von nachrückenden Alleinlebenden einzurechnen,
insgesamt nur gut 200000
stationär
Pflegebedürftige unter den 60-80-Jährigen zu erwarten
wären.
(...).
Die Pflegeversicherung wird dem Problem nicht abhelfen.
(...). Daher stellt sich die Frage, ob Alleinlebenden und
Kinderlosen nicht deutlich
höhere Beiträge
zur Pflegeversicherung (und/oder höhere
Eigenvorsorgeleistungen) abverlangt werden sollten.
Kinderzahlabhängige Beiträge zu Pflegeversicherung wären -
anders als Steuern - unmittelbar einsichtig begründbar und
wohl auch durchsetzbar, zumal empirische Daten zeigen,
daß eine gewisse Bereitschaft von Alleinlebenden und
Kinderlosen durchaus vorhanden ist, Familien zu
entlasten."
(1995, S.133) |
Inzwischen
kann man die Zahlen für 2005 überprüfen. Erstens betrachtet
HRADIL die Entwicklung der 45-65jährigen Alleinlebenden. Die
55-65jährigen sind jedoch noch nicht einmal nach seinem weiten
Single-Begriff Singles. Zweitens unterstellt HRADIL, dass diese
Alleinlebenden dauerhafte Alleinlebende seien. Die Struktur
älterer Alleinlebender wird jedoch mehrheitlich von Geschiedenen
bzw. Witwen/Witwern geprägt, also von Eltern, deren Kinder den
Haushalt verlassen haben. Lässt man diese unseriösen Annahmen
einmal beiseite, dann lassen sich die Fakten anhand amtlicher
Daten nachprüfen.
Im März 2008 wurden die Pflegequoten nach Alter und
Geschlecht für das Jahr 2005 veröffentlicht. Danach lag der
Anteil der Pflegebedürftigen im Alter zwischen 60 und 65 Jahren
bei 1,7 % (Männer) und 1,5 % (Frauen). Der Anteil der 65-70
Jährigen Pflegebedürftigen lag bei 2,8 % (m) und 2,4 % (w). Bei
den 70 - 75 Jährigen lag der Anteil bei 4,9 % (m/w). Erst bei
den 75-80 Jährigen stieg der Anteil auf 8,5 % (Männer) und auf
10,3 % (Frauen).
Gemäß
Pflegestatistik 2005 (2007, S.13) waren 2005 von den 16,8
Millionen 60-80 Jährigen ca. 690 Tausend pflegebedürftig. Das
entspricht einer
Pflegequote von 4,1 % also eine um 0,9 % geringere Pflegequote
als bei HRADIL angenommen. Dies bedeutet, dass sich der
Gesundheitszustand dieser Altersgruppe verbessert hat, was nicht
nur bei HRADIL unberücksichtigt bleibt. Gemäß Gerd BOSBACH ist
diese unzulässige Vermischung von dynamischen und statischen
Aspekten typisch für die neoliberale
Ideologie der Privatisierung sozialer Risiken
.
Hinsichtlich des Pflegebedarfs muss zwischen Männern und Frauen
unterschieden werden. Frauen werden im höheren Alter häufiger
als Männer nicht zuhause gepflegt (S.22).
Der Anteil alleinlebender Frauen ist jedoch im Alter - im
Gegensatz zu den Annahmen von HRADIL - rückläufig
.
HRADIL veranschlagt die Anzahl der stationär Pflegebedürftigen
im Alter von 60 - 80 Jahren im Jahr 2005 auf 200.000 ohne die
Alleinlebenden. Gemäß
Pflegestatistik 2005 (2007, S.13) gab es jedoch im Jahr 2005
nur 182.178 stationär Pflegebedürftige inklusive (ehemaliger)
Alleinlebender. Und das obwohl der Anteil der zu Hause
gepflegten Personen zurückging (nur noch 68 % statt der von
HRADIL angenommenen 75 %).
Bereits diese Analyse
zeigt, dass das von HRADIL vorgestellte Szenario nicht
realistisch war. Das Szenario ging davon aus, dass das
Alleinleben eine Alternative zur Familie sei, was offensichtlich
nicht stimmt, sondern das Alleinleben ist in erster Linie eine
Lebensphase. Wenn aber bereits Berechnungen über einen Zeitraum
von nur 15 Jahren so sehr daneben liegen, dann sollten
50-Jahres-Berechnungen wie sie in der Politik beliebt sind,
verboten (oder zumindest nicht veröffentlicht) werden.
Die Analyse von Singles im
Familienlebensalter wird amtlicherseits erschwert
Aufschluss darüber,
ob das Alleinleben eine Lebensform oder nur eine Lebensphase
ist,
könnte eine Analyse der Singles im Familienlebensalter, d.h. der
35 - 45 jährigen Alleinlebenden geben. Diese Analyse ist
aufgrund der unzureichenden Veröffentlichungspraxis des
statistischen Bundesamtes nicht möglich. In der Publikation
Alleinlebende in Deutschland werden nur Daten über die
Einkommenssituation, den Familienstand und das Geschlecht der
35-64Jährigen bereitgestellt. Angesichts der Tatsache, dass
damit akademische Berufseinsteiger mit Vorruheständlern, Ledige
und Geschiedene, Kinderlose und Frauen, deren Kinder noch nicht
geboren bzw. Eltern, deren Kinder das Elternhaus bereits
verlassen werden, zusammen betrachtet werden müssen, ist die
Aussagekraft mehr als bescheiden.
Betrachtet man den
Familienstand der 35-64jährigen Alleinlebenden im Jahre 2011,
dann macht der Anteil der Geschiedenen und Verheiratet
Getrenntlebenden 39,3 % aus, 8,2 % sind bereits verwitwet, d.h.
nur 52,5 % dieser Alleinlebenden kämen überhaupt für ein
dauerhaftes Alleinleben in Betracht. Lediglich 19,3 % gehören zu
den Karriefrauen/-männern (Alleinlebende in Führungspositionen).
Fast genauso viele Singles, nämlich 15,1 % verdienen unter 700
Euro, gehören also eindeutig zu den Geringverdienern bzw. armen
bzw. armutsgefährdeten Alleinlebenden. 21,9 %
verdienen zwischen 700 und 1100 Euro und gehören damit ebenfalls
nicht zu den Besserverdienenden. Nur 23,1 % verdienen 2000 und
mehr Euro. Von einer Homogenität dieser Alleinlebenden zu
sprechen, wie es HRADIL tut, verbietet sich eigentlich von
selbst. Vielmehr müsste von einer Polarisierung gesprochen
werden. Man kann also festhalten: Die Politik verhindert die
Bereitstellung von Daten zur Lebenslage Alleinlebender, die
aussagekräftig sind, weswegen nur Anhaltspunkte geliefert werden
können. Das Bild vom Single als Yuppie beschreibt eine
Minderheit der Alleinlebenden im mittleren Lebensalter (nach den
sehr merkwürdigen Altersgrenzen). Solange keine Daten über
Einkommen, Familienstand und Geschlecht für Altersgruppen von
jeweils 5 Jahren geliefert werden, ist die Situation
unbefriedigend. Man muss dahinter Politik vermuten, d.h. es soll
verhindert werden, dass die Lebenslage der Alleinlebenden
detailliert vermessen werden kann. Stattdessen werden
Interpretationen geliefert. Wir wollen Fakten!
Exkurs: Die Armutsgefährdung von "Singles"
Selbst in der
Publikation Alleinlebende in Deutschland werden
Alleinlebende mit Singles gleichgesetzt. Zur Armutsgefährdung
heißt es dort:
Alleinlebende
in Deutschland. Ergebnisse des Mikrozensus 2011
"Alleinlebende (sind)
überdurchschnittlich häufig auf Hartz IV-Leistungen
angewiesen: Im Dezember 2011 bezogen laut Daten der
Bundesagentur für Arbeit 12,9 % aller Single-Haushalte
Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach
dem SGB II. Damit war rund jeder achte
Alleinlebenden-Haushalt hilfebedürftig. Die SGB II-Quoten
der Paare ohne Kinder (3,8 %) sowie der Paare mit Kindern
(7,2 %) lagen niedriger, die der Alleinerziehenden mit
39,4 % allerdings deutlich höher. Die Hilfequote aller
Haushaltsformen lag im Dezember 2011 bei 10,3 %." (2012, S.5) |
Das Statistische
Jahrbuch 2013 unterscheidet bei den Alleinlebenden zwischen
Alleinlebenden unter 65 Jahren und Alleinlebenden über 65
Jahren. Danach gehören insbesondere Haushalte unter 65jähriger
Alleinlebender mit 36 % zu den armutsgefährdeten Haushalten.
Auch was die Armut im Alter betrifft, gehören die Haushalte der
Alleinlebenden mit 24 % zu den armutsgefährdeten Haushalten.
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Quelle:
Statistisches Jahrbuch 2013, S.169 |
Auch dies ist ein
deutlicher Hinweis darauf, dass "Singles" keineswegs mit
"Yuppies" gleichgesetzt werden dürfen. Weiter unten wird
analysiert, welche Auswirkungen die Hartz-IV-Gesetzgebung auf
die Paarbildung hat.
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