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Kochende Leidenschaft
Der moderne Esser "geht
aus dem Zusammentreffen dreier Kräfte hervor, die im
Zentrum der fortgeschrittenen Moderne stehen: der
Emanzipation der Frauen, die versuchen die Belastungen
durch den Haushalt zu vermindern, der Autonomie der
Individuen, die versuchen, der Disziplin der
Tischgemeinschaft zu entkommen, und dem immer größeren
Angebot an neuen Produkten und Dienstleistungen."
(2006, S.54) |
Einführung
Mit dem Buch Kochende
Leidenschaft ist Jean-Claude
KAUFMANN in der postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft
angekommen. Als single-generation.de im Jahr 2000 das
Buch Schmutzige Wäsche besprach, war die
Nichtberücksichtigung dieses Aspektes ein zentraler Kritikpunkt
. Das Buch
war in Frankreich bereits im Jahr 1992 erschienen und zwei Jahre
später auch in Deutschland. Seit Anfang der 90er Jahre hat sich
die häusliche Kultur rapide verändert, wie ein Vergleich der
beiden Bücher offenbart
.
Seit zwei
Jahrzehnten erforscht der französische Soziologe das Feld der
Haushaltstätigkeiten. Im Mittelpunkt seiner Forschung stand
bislang der Prozess der Paarbildung, ob es nun um die schmutzige
Wäsche, den
Morgen danach oder die
Soziologie des Oben-ohne ging. Nicht wie üblich die großen
gesellschaftlichen Strukturbedingungen, sondern der private
Alltag stand dabei im Vordergrund.
Mit dem Buch
Kochende Leidenschaft stellt nun KAUFMANN erstmals die
Familie in den Mittelpunkt. Wer jetzt denkt, das hat doch mit
Singles nichts zu tun, der irrt sich. Hier soll unter anderem
gezeigt werden, dass man die Erkenntnisse von KAUFMANN genauso
gut auf das Single-Dasein und das Paarleben anwenden kann.
Die Soziologie des
Kochens und Essens ist ein weites Feld. Sie ist
Zivilisationsgeschichte, Evolutionstheorie, Anthropologie,
Sittengeschichte und nicht zuletzt Kultur- und
Gesellschaftsgeschichte. Es ist ein anregendes Buch, das zur
Weiterbeschäftigung mit der Thematik verführt. Es gibt keine
langatmigen statistischen Beweisführungen, sondern anschauliche
Fallgeschichten, die das Typische erhellen.
In den Mittelpunkt
seiner Soziologie stellt KAUFMANN die Frage, wie Familie
hergestellt wird. Seine Antwort darauf ist für manchen
verblüffend: durch Kochen und Essen. Wir werden hier dagegen das
Thema - in Anlehnung an den Soziologen Karl Otto HONDRICH -
abwandeln und fragen: Wie wird das Familiale hergestellt.
Der Fall der Geburtenrate - ein Glücksfall
"Wer zur Familie
gehört, entscheiden letztlich nicht Biologen, Demographen
und Statistiker anhand vorgefasster Kriterien, sondern die
Beteiligten selbst, indem sie sich gegenseitig Liebe,
Intimität und Halt schenken, also die zentralen Funktionen
der Familie erfüllen."
(Karl
Otto Hondrich in der Neuen Zürcher Zeitung vom 29.07.2006) |
Jean-Claude KAUFMANN
beschreibt drei Tendenzen, die unsere moderne Koch- und
Esskultur geprägt haben und die nun kurz skizziert werden
sollen.
Von der Tischordnung zur Kühlschrankkultur
Der Schweizer Soziologe
Urs JAEGGI, Jahrgang 1931, beschreibt in dem Aufsatz Was auf
den Tisch kommt, wird gegessen aus der gleichnamigen
Aufsatzsammlung prägnant, was KAUFMANN in seinem Buch als
Flucht vor der Disziplin der Tischgemeinschaft beschreibt.
Was auf den Tisch kommt, wird gegessen
"Am
Schlimmsten war es mit dem Essen. Aus irgendeinem Grund
wurde mir schon beim Riechen einer Mehlsauce, die man
damals über alle Gemüse goß, aber auch bei den damals
üblichen dicken Fleischsaucen, übel. Es wurde mir übel
schon beim Betreten der Küche. Trotzdem mußte ich
mitessen, sitzen bleiben, bis der letzte Bissen weg war,
auch wenn es zwei Stunden dauerte. Manchmal gelang es mir
zwei- oder dreimal mit vollem Mund, schon bei Tisch halb
erbrechend, auf die Toilette zu rasen und das im Mund
Gestapelte herauszukotzen.
Da ich im
Rohzustand fast alles Gemüse und Fleisch aß, bat ich meine
Mutter, die Sachen für mich nur im Wasser aufzukochen oder
rasch anzubraten, saucenfrei. Mein Vater empfand das als
Extrawurst. »Ausgerechnet der Jüngste«, sagte er. »Jeder
ißt, was auf den Tisch kommt.« (Es gibt Lernprozesse: ich
habe meiner Tochter in den zwölf Jahren nicht einen
einzigen Löffel aufgedrängt; lieber als auch nur einen
Teil jener Qual und Angst zu erleiden, die mir das
Mittagessen jeweils einflößten, soll sie, so oft sie will,
ihre Pizzen und Spaghetti essen). Noch jetzt bleibt es mir
dabei ein Rätsel, wie jemand, von dem ich nie auch nur ein
einzig lautes und grobes Wort gehört habe, sich bei Tisch
so unduldsam verhielt. Daß einem aus dem Proletariat
Aufgestiegenen, der Hunger und Entbehrung am eigenen Leib
bis zur Invalidität durchgemacht hatte, jedes weggeworfene
Stück Brot und jedes verschmähte Gericht ein Sakrileg war:
ich hätte schon damals vielleicht dieses Argument
verstanden; aber bei Tisch wurden wir Kinder beim Reden ja
nur zugelassen, wenn wir gefragt wurden. Und so unterblieb
dieses Gespräch, weil nach Tisch alle Beteiligten sich
freuten, daß das Theater vorbei war.
(1981, S.44f.) |
Die Kindheitserfahrung der
Elterngeneration hat ebenso wie der Übergang von der Mangel- zur
Wohlstandsgesellschaft zum Wandel des Erziehungsstils und der
Essgewohnheiten beigetragen.
Für KAUFMANN ist
die neue Form der Mahlzeiten der alten Disziplinarordnung
entgegengesetzt, indem das Kind in den Mittelpunkt rückt, neue
attraktive Rituale geschaffen werden und vor allem das Gespräch
dominiert.
Die gemeinsame
Mahlzeit ist jedoch gefährdet durch das, was KAUFMANN als die
moderne Kühlschrankkultur bezeichnet.
Kochende Leidenschaft
"Früher versammelte
sich die Familie regelmäßig bei Tisch, um gemeinsam zu
essen. Dies konnte nur so sein, weil die Frau, mit ihren
Töpfen bewaffnet und an ihren Herd gefesselt, sich mit
Leib und Seele diesem Hausfrauenwerk widmete. Heute gibt
es ein weiteres Haushaltsgerät, das die Ausgangslage
verändert: den Kühlschrank. (...). Als (...) die
Emanzipationsbewegung der Frauen und das Angebot von
Fertiggerichten (...) zusammenkamen, ereignete sich eine
zwar diskrete, aber nichtsdestoweniger spektakuläre
Verschiebung. Von da an stand der Kühlschrank (anstelle
des Herdes) im Zentrum der häuslichen
Nahrungsorganisation. Gemäß ihrem Rhythmus und nach
Belieben öffnen die einzelnen Esser die Kühlschranktür und
nehmen sich etwas zu essen heraus. Das Naschen ist zu
Hause ebenso bequem (und verlockend) geworden wie im
öffentlichen Raum"
(2006, S.56f.) |
Der Alleinesser als neue Zielgruppe des
Handels
Der Kühlschrank, aber auch
"die Tiefkühltruhe, gepaart mit der Mikrowelle" hat den Typus
des Alleinessers begünstigt.
Die Soziologin
Doris ROSENKRANZ hat bereits 1998 in ihrem Buch Konsummuster
privater Lebensformen die von KAUFMANN beschriebene
Individualisierung der Familie in Deutschland erforscht.
ROSENKRANZ räumt z.B. mit dem Vorurteil auf, dass die
Tiefkühlpizza vor allem bei Alleinlebenden auf den Tisch kommt
.
Diner for one
"Kaum ein Filialist fokussiert
sich besonders auf Singles. Neue Gesellschaftsstrukturen
hin oder her. (...).
»Die Neigung, außer Haus zu essen oder Bringdienste zu
ordern, ist bei vielen Singles sicherlich stärker
ausgeprägt als bei Familien«, sieht es
Unternehmenssprecherin Ulrike Jungmann. (...) Ein
gegenüber Familien kleiner Warenkorb und eher kurzfristig
orientierte Einkaufsentscheidungen machen wohl den größten
singletypischen Unterschied aus."
(aus: Lebensmittelzeitung Spezial 2001, S.60) |
Für den Lebensmittelhandel
ist weniger der Alleinlebende, sondern der situative
Einzelesser interessant. Dieser ist gerade in modernen
Familien weit verbreitet wie KAUFMANN anhand vieler Beispiele
aufzeigt.
Das
unterschiedliche Engagement in der Küche und bei Tisch in
spezifischen Lebensphasen
Für Jean-Claude KAUFMANN
fällt das größte Engagement in der Küche und bei Tisch in jene
Zeit, in der Eltern und Kind(er) in einem Haushalt
zusammenwohnen. Dagegen ist das Engagement in Single-Phasen und
in der Empty-Nestphase, also wenn die Kinder ausgezogen sind,
deutlich reduziert.
Kochende Leidenschaft
"Die nicht familiären
Situationen veranlassen ganz klar zu einer Auflösung der
Tischgemeinschaft. (...). Die Jugend und die freudige
Trunkenheit ihrer Leichtigkeit des Seins verleiten dazu,
einfach wie die Vögel zu picken (...). Aber außerhalb
dieser Situationen, vor allem im mittleren Alter,
bestätigt sich das Nachlassen der Liebe zum Kochen und
Essen. Zum alltäglichen Kochen und Essen. Denn da Singles
ziemlich häufig einen sehr aktiven Freundeskreis haben,
gleichen sie dieses Manko des Alltags durch Einladungen an
Freunde aus und vor allem auch durch Essen mit Freunden im
Restaurant (...). Zu Hause ist alles einfach und schnell
gemacht: Das Kochen wird auf die Schnelle erledigt, die
Portionen sind klein, der Tisch ist ruckzuck gedeckt. Wenn
es überhaupt einen Tisch gibt. Denn vor diesem, der wie
ein Symbol für Familie wirkt, wird häufig die Flucht
ergriffen. Singles suchen oft weiterhin noch lange nach
niedrigeren, weicheren, beweglicheren Sitzgelegenheiten,
um zu essen, wie in der Jugend. Das Singleleben ist zudem
zutiefst von dem Versuch geprägt, die Jugendlichkeit, ihre
Leichtigkeit und ihre offene Zukunft nicht zu verlieren.
Und dies wird in der Form des Kochens und des Essens
deutlich."
(2006, S.195f.) |
Bei den Ausführungen zu
den Singles kann KAUFMANN u .a. auch auf eigene empirische
Untersuchungen wie Singlefrau und Märchenprinz oder auch
Der Morgen danach
zurückgreifen. Jean-Claude
KAUFMANN sieht einen Gegensatz zwischen der schnellen Küche
und guter Küche. Aber dies muss kein Gegensatz sein, wenn
man darunter nicht wie KAUFMANN die traditionelle britische
Küche versteht (beispielhaft dafür ist der obige Text von Urs
JAEGGI). Volkshochschulen bieten z.B. gerne spezielle Kochkurse
für Singles an, wobei die Schnelle Küche bevorzugt wird.
Schnelle Küche für Singles
"Es muss nicht immer
Fastfood sein. Manchmal hat man auch Lust auf etwas
Frisches oder Leichtes, das man selbst zubereitet hat. Wir
zeigen Ihnen, wie man ohne Stress kleine Gerichte oder
Snacks herstellt. Sie erhalten Tipps wie man auf Vorrat
kocht. Zum Beispiel wie man aus restlichem Gemüse gefüllte
Pfannkuchen oder feine Aufläufe zaubert."
(aus dem Programm der Heidelberger VHS,
2/2006) |
Die neuere
Ratgeberliteratur für Singles betont inzwischen die Wichtigkeit
gesunder Ernährung und die Einhaltung von Tischmanieren selbst,
wenn man nur alleine isst. Ein erhöhtes
Engagement findet gemäß KAUFMANN auch in der ersten Phase der
Paarbildung statt. Dieser Phase widmet der Soziologe das Kapitel
Verführung.
Der Geschlechterunterschied
KAUFMANN stellt klar, dass
auch heute - trotz aller Emanzipationsbestrebungen - noch die
Frau die tragende Rolle in Küche und bei Tisch inne hat. Dies
gilt umso mehr, je kleiner die Kinder sind. Beim Mann
unterscheidet KAUFMANN drei Rollen: den Pascha, den Handlanger
und den modernen Helden. Das Engagement in der Küche ist beim
Pascha am geringsten und beim modernen Helden am höchsten. Um
die höchste Stufe des männlichen Küchenchefs zu erreichen, ist
eine Phase des Alleinlebens hilfreich.
Ein Problem sieht
KAUFMANN darin, dass die Weitergabe kulinarischer Techniken
von Generation zu Generation durch die Emanzipationsbestrebungen
der Frauen nicht mehr reibungslos verläuft. Klagen darüber, dass
junge Frauen ihre Frau nicht mehr in der Küche stehen können,
weil in der Herkunftsfamilie das nötige Rüstzeug nicht mehr
vermittelt wird, nehmen auch hierzulande wieder zu.
Nicht jeder wird
den Ausführungen von KAUFMANN zum lebenslauf- bzw.
geschlechtsspezifischen Engagement in Küche und bei Tisch
zustimmen. Jenseits solcher Wertefragen findet man jedoch auch
Strategisches und Praktisches im Zusammenhang mit dem Einkaufen,
Kochen und der Organisation von Mahlzeiten.
Im Gegensatz zu
vielen deutschen Soziologen sieht KAUFMANN den Wert der
gemeinsamen Mahlzeit nicht vorrangig in der Kommunikation,
sondern solche Aspekte wie Genuss und Sinnlichkeit
spielen gerade beim Kochen und Essen eine große Rolle. Allein
wegen dieser Akzentsetzung ist das Buch ein Gewinn.
Fazit: Für alle, die sich nicht nur für die
Zubereitung von Mahlzeiten, sondern auch für die sozialen
Aspekte des Kochens und Essens interessieren
Das Buch Kochende
Leidenschaft von Jean-Claude KAUFMANN bietet vielfältige
Einblicke in die moderne Welt des Kochens und Essens.
Neben der
historischen Entwicklung und kulturvergleichenden Exkursen,
stehen Fallgeschichten im Mittelpunkt, die das Typische der
modernen Koch- und Esskultur veranschaulichen. Man muss nicht
jeder These von KAUFMANN zustimmen, um das Buch mit Gewinn lesen
zu können.
Obwohl das
Schwergewicht des Buches auf der Herstellung der Familie durch
das Kochen und gemeinsame Mahlzeiten liegt, kommen auch jene
nicht zu kurz, die sich für die Bedeutung des Kochens und Essens
für das Single- und Paarleben interessieren.
Bekanntlich geht
die Liebe durch den Magen und das gilt nicht nur für die Familie
im engeren Sinne, sondern für alle Formen des gemeinschaftlichen
Essens, ob zu zweit oder im Kreise von Freunden.
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