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Der Morgen danach
"Die Troubadoure
des Mittelalters erzählten die Geschichte des Beginns
einer Liebe mit drei typischen Figuren: den beiden
Liebenden und dem Wächter der Morgenröte (...). Der
aufgehende Morgen markierte das Ende der Zeit der
lodernden Liebe und die Rückkehr zu den Realitäten des
profanen Lebens, das voller Gefahren ist. Der Wächter
warnte die Liebenden, damit sie fliehen und die
überirdische Reinheit ihrer Idylle bewahren konnten.
Heute ist die sexuelle Freiheit größer, aber die
Gefahren der Morgenröte sind - wenn auch vielleicht
diffuser - nicht geringer geworden. Und da ist kein
Wächter, um rechtzeitig zu warnen."
(2004, S.70) |
Ein neuer Blick auf die Paarbildung
Das Buch
Der Morgen danach von Jean-Claude
KAUFMANN hat etwas scheinbar Unzeitgemäßes, aber das war bereits
bei Schmutzige Wäsche (1992) der Fall
.
Seit letztem Jahr
propagieren die Medien marktschreierisch die Rückkehr der
Romantik in Deutschland. Manieren und Rituale sollen die
unerwünschte Orientierungslosigkeit eindämmen. Entgegen diesem
scheinbaren Trend setzt KAUFMANN auf die "Tugend der
Orientierungslosigkeit".
Der Morgen danach -
so eine Hauptthese - ermöglicht gerade durch die Offenheit
der Situation, durch die Einzigartigkeit der
Identitätsneuerfindung die Überwindung der Fremdheit zweier mehr
oder weniger Unbekannten.
Dauerhaft ist
nur die Trennung hieß Anfang der 1990er Jahre eine beliebte
Klage (Spiegel Nr.2/1991 ).
Dagegen heißt es bei KAUFMANN: "Zu einer Beziehung kommt es,
weil man nicht Schluss macht" (2004, S.238).
Dieses
Kontinuitätsmodell der Liebesbeziehung widerspricht der
gerne gepflegten sozialpopulistischen Single-Rhetorik.
Im Nachfolgenden
soll gezeigt werden, warum KAUFMANNs Sicht der Dinge auf die
Logik der modernen Liebesbeziehung unseren Blick auf das
Phänomen der Paarbeziehung revolutionieren könnte.
Paarforschung in Deutschland
Zwei Jahrzehnte
Single-Rhetorik haben es nicht vermocht das Thema Partnerschaft
ins Zentrum der wissenschaftlichen Forschung zu rücken.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
Die
Single-Debatte ist längst in eine Sackgasse geraten. Dies
wird in diesem Buch u.a. der Individualisierungsthese des
Münchner Soziologen Ulrich Beck angelastet.
Das Buch
sollte als Beitrag zur Versachlichung der Debatte
verstanden werden und liefert deshalb Argumente für eine
neue Sichtweise auf das Single-Dasein im Zeitalter der
Demografiepolitik. |
Die Soziologie, die
als Wissenschaft von der Gesellschaft prädestiniert dazu wäre,
den sozialen Wandel zu untersuchen, weigert sich hartnäckig die
neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten in den Blick zu nehmen.
Im Mittelpunkt der
Soziologie steht weiterhin fast ausschließlich die Familie, in
letzter Zeit auch der Übergang vom Paar zur Familie. Dagegen ist der Übergang vom Solo-Leben zum Paar, also
der Prozess der Paarbildung, weitgehend unerforscht.
In Deutschland
haben sich im Hinblick auf eine Soziologie der Paarbeziehung
besonders Karl LENZ ("Soziologie der Zweierbeziehung") und Günter BURKART
("Lebensphasen - Liebesphasen") verdient gemacht.
Ersterer hat mit
seiner
Soziologie der Zweierbeziehung das Paar ins Visier
genommen, während letzterer mit Lebensphasen - Liebesphasen
den Mythos Single - also das Alleinleben als lebenslange
Alternative zum Paar und zur Familie - demontiert hat.
Der französische
Soziologe Jean-Claude KAUFMANN ist mit seinen Untersuchungen
über die Schmutzige Wäsche und über den Morgen danach
ein weiterer Pionier dieser Paarforschung. Sein originärer
Gegenstand ist das Zusammenprallen der Gewohnheiten.
KAUFMANN beschreibt
in seinen Studien akribisch den Einfluss individueller
Gewohnheiten auf den Prozess der Paarbildung.
Der Mensch als Gewohnheitstier
Im Volksmund wird der
Mensch gerne als Gewohnheitstier bezeichnet. In der Wissenschaft
dagegen spielt das System der Gewohnheiten selten eine zentrale
Rolle für die Erklärung des sozialen Verhaltens.
Flexibilität
ist eines der Zauberwörter der New Economy gewesen. Und auch
heutzutage ist der Ruf nach mehr Flexibilität längst nicht
verschollen.
Biografische
Brüche gelten seit der Debatte um Joschka FISCHERs
Lebenslauf nicht nur als Normalität, sondern gar als
vorbildhaft. Das ging so weit, dass politische Gegner wie
Friedrich MERZ Kontinuitäten zu verbergen trachteten und
biografische Brüche in Szene setzten.
Jean-Claude
KAUFMANN hat sich in seiner neuesten Untersuchung von 12 Frauen
und 11 Männern ihre Erlebnisse am Morgen danach erzählen lassen.
Im Gegensatz zur
"großen Politik" betonen die Erzählungen nicht mehrheitlich den
biografischen Bruch, sondern die Kontinuitäten.
Das Erleben von
biografischen Brüchen hängt in erster Linie davon ab, in welcher
Form sich der Morgen danach abspielt. Unsere Gewohnheiten
spielen dabei eine nicht unerhebliche Rolle.
Der Morgen danach - Eine erste Annäherung
Der Morgen danach, das ist
"der Morgen nach der ersten gemeinsamen Nacht" (S.11). Dieser
Morgen ist geprägt durch typische Szenen.
Es beginnt mit dem
Erwachen und dem "Refugium Bett". Danach folgt das Aufstehen,
die Morgentoilette und das Frühstück.
Die typischen
Erfahrungen in diesen Situationen werden uns von Jean-Claude
KAUFMANN anhand der Schilderungen der Befragten plastisch und
prägnant vor Augen geführt. KAUFMANN ist hier ein kleines
Kunstwerk gelungen, das von der so genannten "Fliegenbeinzähler"-Soziologie
selten gewürdigt wird.
Im Gegensatz zur
quantitativen Soziologe, deren Heiligtümer Repräsentativität,
Transparenz und Wiederholbarkeit heißen, legt KAUFMANN mehr Wert
auf die Intensität und Dichtheit der Beschreibungen.
Die qualitative
Sozialforschung und die verstehende Soziologie sind dort
gefordert, wo es um ein neues Forschungsfeld geht. Der Morgen
danach ist wahrlich ein solch neues, noch unerschlossenes
Gebiet.
KAUFMANN betreibt
eine Ethnologie des Alltags und er nähert sich mit den
Methoden der Grounded Theory (A. STRAUSS) seinem Gegenstand. Er
gibt uns einen ersten tiefen Einblick in die Intimitäten eines
Morgens danach.
Wie der Morgen danach erlebt wird
Jean-Claude KAUFMANN
beschreibt zuerst die beiden Erlebnisextreme: der
Morgen danach mit bösem Erwachen wird dem Morgen voller
Zauber gegenübergestellt.
Das Drehbuch
liefert hierfür scheinbar das Kino der großen Gefühle.
"Wie im Film" heißt eine jener vielen Überschriften, die
einzelne Erfahrungen immer wieder genau auf den Punkt bringen.
Es erstaunt
vielleicht den einen oder anderen, dass sich nicht so sehr die
Literatur, sondern der Film ausgiebig dem Morgen danach gewidmet
hat:
Der Morgen danach
"der Morgen danach hat in
der Literatur nur einen Nischenplatz. Zwischen den nächtlichen
Liebesspielen und den Ereignissen es Tages, die darauf folgen,
werden dem Morgen allenfalls einige kurze Übergangszeilen
zugestanden. Dies steht in einem verblüffenden Kontrast zum
Film, wo sich die Kamera im Gegensatz dazu lange bei dem
ungewissen Erwachen, den kleinen Verwechslungen, der
nachlässigen Bekleidung und dem improvisierten Frühstück
aufhält. Diese unterschiedliche Behandlung des Morgens danach
ist keineswegs dem Zufall geschuldet, sondern erklärt sich durch
die besonderen Modalitäten, nach denen der Morgen danach abläuft
und die sich durch die Dominanz der gefühlsmäßigen gegenüber der
reflexiven Intelligenz auszeichnen; die Sinne (und vor allem der
Blick) leiten das Denken. Der Morgen danach ist eine sehr
visuelle Sinneserfahrung, die sich an die mehrdeutigen Details
einer ungewohnten, fremden Normalität heftet - Details, die
intuitiv in einem Bild wahrgenommen werden und zu kompliziert
sind, um in einem Text wiedergegeben zu werden."
(2004, S.278) |
Die Rolle des Films
für die Entstehung des neuen Liebesmodells wird von KAUFMANN
nicht behandelt, obwohl vieles dafür spricht, dass die
Sozialisation des Jugendlichen im Kino (alternativ durch
Fernsehen, Video usw.) durchaus unsere Vorstellungen vom Morgen
danach geprägt haben könnten.
Während die
zeitgeistige Kulturkritik im Anschluss an Michel HOUELLEBECQ
die "Bilder vom schönen Sex" für das angebliche Versiegen des
sexuellen Begehrens verantwortlich machen möchte, könnten
dagegen die Bilder vom Morgen danach gerade unsere Phantasien
beflügelt haben.
Die 12 Unterkapitel
des Buches werden von KAUFMANN durch literarische Zeugnisse
eingeleitet, die jeweils einen spezifischen Aspekt des Morgens
danach beleuchten.
Sowohl Literatur
als auch der Film sind Medien der Überzeichnung. Der Morgen
danach als modernes Massenphänomen ist dagegen eher ein
Nicht-Ereignis, das gerade durch seine Unscheinbarkeit den
biografischen Bruch ermöglicht. So lautet zumindest eine weitere
Hauptthese des Buches.
Der Morgen danach mit bösem Erwachen
Einfach unwiderstehlich
"Am nächsten Morgen wachte
sie auf, früh und aus irgendeinem Grund auf dem Bett, und das
Zimmer war kalt und stank nach Erbrochenem, aus dem halbleeren
Faß tröpfelte es auf den Boden. In ihrem Kopf hämmerte es (...).
Der Film-Student von der N. Y. U. lag neben ihr (...) und er sah
viel kleiner aus und sein Haar länger, als sie es in Erinnerung
hatte, seine Haarstacheln waren schlaff geworden."
(Bret Easton Ellis 2001, S.12) |
Jean-Claude KAUFMANN sieht
in Disco- Konzert- bzw. Kneipenbesuchen, Partys, Feten oder
zumindest partyähnlichen Anlässen jene Gelegenheiten, bei
denen heutzutage mehr oder weniger ungeplant, Paarbeziehungen
konkret ihren Ausgang nehmen.
Alkohol und andere
Drogen spielen dabei häufig eine wichtige Rolle. Katerstimmungen
sind am Morgen danach deshalb nicht ungewöhnlich.
Man sollte hier
anmerken, dass sich unter den 23 Fallgeschichten, die KAUFMANN
erhoben hat 15 Geschichten von jungen Erwachsenen
(Postadoleszenten) im Alter zwischen 22 und 28 Jahren stammen.
Bei der Art des
Kennenlernens muss sowohl das Alter als auch die
Generationenzugehörigkeit beachtet werden.
KAUFMANN beschreibt
sozusagen ein historisch relativ neues Phänomen, das eng mit der
Zunahme des Single-Daseins und den Veränderungen der Frauenrolle
verbunden ist. Die Verlängerung der Ausbildungszeiten in Schule,
Beruf und Universität und die Bildungsexpansion in den 1960er
Jahren hat ebenfalls dazu beigetragen, dass heutzutage feste
Paarbeziehungen relativ spät eingegangen werden.
Die Logik der Ereignisse: One-Night-Stand oder doch mehr?
Ein Morgen danach mit
bösem Erwachen, läuft - aus der Logik der Ereignisse betrachtet
- auf einen Abbruch des Paarbildungsprozesses hinaus.
KAUFMANN beschreibt
detailliert, wie ein solches Erwachen vonstatten geht. Es gibt
eine Vielzahl von Gründen, die zu einem bösen Erwachen führen. Schlechter Sex am Abend zuvor, spielt nicht immer jene
zentrale Rolle, die man heutzutage erwarten würde.
Der Absturz auf
den Boden der Realität findet häufig erst am Morgen
danach statt, vor allem wenn Alkohol oder andere Drogen im
Spiel waren.
Ein tiefer Absturz
ist umso wahrscheinlicher, desto weniger ich über den anderen
Menschen weiß. Aber selbst wenn ich dem Geliebten vorher schon
als Bekannten oder Freund begegnet bin, birgt der Morgen danach
noch Überraschendes.
Dies beginnt
bereits mit dem Erwachen. Wenn ich ein Morgenmuffel bin und der Partner ist ein ausgesprochener Morgenmensch,
dann sind Spannungen vorprogrammiert.
Die Nähe- und
Distanzbedürfnisse können unterschiedlich sein und dadurch
zu Missverständnissen führen. Der andere wird plötzlich als
distanziert erlebt, obwohl man doch weitere Zärtlichkeiten
erwartet.
Der morgendliche
Gang auf die Toilette kann zum Spießrutenlauf werden, weil man
sich nur von seiner besten Seite zeigen möchte. Die
Schamgrenzen können individuell sehr unterschiedlich sein.
War die Nacht
ungeplant oder sie findet nicht zuhause statt, so können
möglicherweise die eigenen Hygienestandards nicht
eingehalten werden. Morgendlicher Mundgeruch stellt uns vor die
Frage, ob ein Kuss jetzt noch angebracht ist.
Die morgendliche
Abfolge kann uns verwirren. Wir sind es vielleicht gewohnt
zuerst die Morgentoilette hinter uns zu bringen, während der
Partner gewöhnlich zuerst frühstück. Die Länge der einzelnen
Szenen steht zur Debatte. Wann wird es Zeit aufzustehen? Der
eine Partner würde gerne länger im Bett bleiben, den anderen
drängt es dagegen an den Frühstückstisch.
An einem Morgen
danach mit bösem Erwachen geraten wir gefühlsmäßig in eine
Abwärtsspirale, wenn wir dem nicht entgegenwirken:
Der Morgen danach
"Ein böses Erwachen ist
erfüllt von negativen Gefühlen - Ängsten und verschiedenen
Formen von Ärger, aber auch Schamgefühlen und Unbehagen
vielfältigen Ursprungs: Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich
des gewünschten Fortgangs der Dinge, Unsicherheiten hinsichtlich
der Charakterisierung des Partners, die Schwierigkeit, einen
angemessenen Umgang miteinander zu finden, unverständliche
Scham, die aggressive Fremdheit des Ortes, die Gegenwart von
Zeugen, die weitere Neudefinitionen erforderlich mach oder ein
Hin und Her zwischen kaum vereinbaren Rollen auslöst, etc. In
diesen Situationen, in denen es an Orientierungspunkten fehlt,
um dem Handeln einen klaren Rahmen zu geben, wirkt das Unbehagen
häufig anstecken; Unbehagen ruft Unbehagen hervor."
(2004, S.109) |
Das entscheidende Problem
besteht darin, dass wir nicht sicher sein können, ob der Partner
das gleiche fühlt wie wir. Hat der Partner es vielleicht von
vorneherein nur auf einen One-Night-Stand abgesehen, oder haben
wir die Sache selber vermasselt? Und überhaupt. Wie steht es mit
unseren eigenen Gefühlen? KAUFMANN schreibt,
dass im Gegensatz zu früher, der Morgen danach kein Passageritus
mehr ist. Am Morgen nach der Hochzeitsnacht gab es nichts zu
entscheiden. Ganz anders heute:
Der Morgen danach
"Weitermachen oder nicht?
Und der andere, der einem da gegenübersitzt, was denkt er wohl?
Das Schweigen und die ausgetauschten Banalitäten geben nur wenig
Aufschluss. Für Virginie überhaupt keinen. »Ich wusste nicht
einmal, ob er den Morgen überhaupt noch bleiben oder gleich nach
dem Frühstück schon gehen würde.« In diesen Momenten entscheidet
sich die Zukunft des Paares."
(2004, S. 89) |
Im Buch finden sich viele
Beispiele für einen Abbruch der Beziehungen, aber auch für
Situationen, in denen die Paarvorstellungen unvereinbar sind.
Ungewollt in eine Beziehung hineinschlittern
"Ein böses Erwachen führt
nicht automatisch dazu, das es keine gemeinsame Zukunft gibt",
schreibt KAUFMANN, weshalb er auch auf jene Situationen eingeht,
bei denen es ungewollt zur Paarbildung kommt.
Am Abend zuvor gibt
es nur selten klare Abmachungen.
Routinierte Singles legen sich deshalb für Trennungen Strategien
zu, wenn sie es nicht einfach vorziehen, ohne Worte zu
verschwinden. So mancher verschwindet auch mit den Worten, nur
mal Brötchen zu holen, um nie wieder zu kommen. Ist man jedoch
der Gastgeber, so ist Flucht nicht möglich, sondern man muss dem
Anderen klarmachen, dass er unerwünscht ist.
War es für beide
eine böses Erwachen, dann ist die Trennung zwar immer noch
problematisch, aber es geht im Grunde nur noch um die
Modalitäten des Auseinandergehens.
Die Gefahr
ungewollt in eine Beziehung hinein zu schlittern, ist dann
besonders groß,
Der Morgen danach
"wenn es nicht für beide
zu einem bösen Erwachen kommt, sondern der andere - im Gegensatz
zu einem selbst - auf eine Art und Weise zu handeln und zu reden
scheint, die darauf ausgerichtet ist, der Geschichte
Dauerhaftigkeit zu verleihen."
(2004, S.103)
|
Und nicht selten sind sich
beide nicht ganz klar darüber, ob es ein nächstes Mal geben
soll. Dann entscheiden oft kleine Dinge darüber, ob die
Geschichte eine Zukunft hat.
Ein Morgen voller Zauber
Für KAUFMANN ist ein
Morgen voller Zauber nur möglich, wenn Liebe im Spiel ist:
Der Morgen danach
"Das Wunder resultiert aus
dem Eintreten in die Zweisamkeit; und dieses Eintreten
beschleunigt sich seinerseits mit dem Erleben des Wunders.
(...). Der Preis der Verzauberung ist das Zurücklassen das alten
Ichs (...). Erst, wenn man seine Autonomie und die alten Grenzen
seiner Identität hinter sich lässt, dringt man voller
Glücksgefühl in das ganze Universum »der Person« ein, die so zum
geliebten Wesen wird."
(2004, S.120) |
Selten klingt
wissenschaftliche Forschung derart pathetisch wie hier bei
KAUFMANN.
Es ist, was es
ist, die Liebe. Dabei könnte man es belassen, aber die
Wissenschaft möchte es genauer wissen. Liebe ist für KAUFMANN zum einen ein intensives Gefühl
und zum anderen der Zusammenbruch unserer alten Identität, die
zur Neuerfindung als Paar führt.
Die Intensität der
Gefühle hängt dabei mit dem Alter und dem Erfahrungsgrad ab. Je
jünger und desto unerfahrener, desto intensiver wird ein Morgen
voller Zauber erlebt.
Verliebtheit oder Liebe?
Den Übergang von der
Verliebtheit zur Liebe macht KAUFMANN an der Identität fest.
Der
Bindungsunfähige (KAUFMANN) erlebt nur den Rausch der Sinne,
schreckt jedoch vor der Aufgabe seines alten Ichs zurück. Die
Verschmelzung bzw. die Neuerfindung der Identität bleibt ihm
verschlossen. Swinging Singles
oder liebschaftsorientierte Singles (Ronald BACHMANN 1992)
können es in Affären bzw. Liebschaften bis zur Meisterschaft
bringen. In KAUFMANNs Studie
finden sich mit Charles-Antoine und Manuel zwei Beispiele dieses
Typus. Manuel sammelt
Der Morgen danach
"Nächte ohne ein Danach
und ist ein wahrer Liebhaber von Morgen danach.
Doch es handelt sich hier um eine sehr komplexe Kunst, einen
delikaten Drahtseilakt, der einer gewissen Erfahrung bedarf.
Denn normalerweise führt das Vermeiden einer engeren Bindung zu
der logischen Folge, dass der Zauber gebrochen wird. Die
Beziehungen (sowohl zu der Person als auch zu den Gegenständen)
kühlen sich ab und die Unsicherheit der Situation schafft
Unbehagen. Die Erfahrung des Reizes eines touristischen Morgens
danach ist nur schwer zu machen, und dieser Reiz bleibt zudem
immer begrenzt. Er hat weder die Intensität noch die Qualität
der wahren Verzauberung."
(2004, S.130) |
KAUFMANN besteht hier also
auf einem grundsätzlichen Erfahrungsunterschied.
Bindungsunfähigkeit oder Bindungsdesinteresse?
Ronald BACHMANN spricht im
Gegensatz dazu nicht von Bindungsunfähigen, sondern nennt sie
Bindungsdesinteressierte. Dieser Begriff ist weniger
normativ und beschreibt Partnerlosigkeit nicht von vorneherein
als Defizit.
BACHMANN hat in
seiner Studie zwei unterschiedliche Identitäten des
Bindungsdesinteressierten gefunden. Zum einen die sexuell
autonomen Singles,
Singles
"die sich nicht in die
Handlungssysteme von zwischengeschlechtlicher Liebe,
Partnersuche und Partnerwahl einbinden lassen (...)
wollen"
(1992, S.140). |
Zum anderen ist er auf liebschaftsorientierte Singles
gestoßen, die für sich feste Bindungen mit Nachdruck ablehnen.
Singles
"Eigenbestimmte, temporäre Liebschaften erscheinen ihnen
vielmehr als eine Loslösung von kulturell »vorgestanzten«
Bindungsvorstellungen und der Ausdruck ausgeweiteter
persönlicher Handlungsmöglichkeiten".
(1992, S.140) |
Manuel wird von KAUFMANN
im biografischen Anhang, der etwas sehr dürftig ist, als "alleinstehend
mit Freundin" beschrieben. Er ist damit ein typisches Beispiel
für liebschaftsorientierte Singles im Sinne von BACHMANN. Dieser
schreibt dazu:
Singles
"Auffallend ist dabei die
ausgesprochene Dauerhaftigkeit ihrer Sexualverhältnisse. Wir
konnten unter diesen Singles keine auf kurze Zeit terminierte,
wechselnde Geschlechtskontakte feststellen. Typisch waren
vielmehr auf Dauer angelegte Sexualpartnerschaften -
gewissermaßen mit einer je eigenen Beziehungsgeschichte."
(1992, S.142) |
Der Ansatz von KAUFMANN
wird besonders dort fragwürdig, wo er im gemeinsamen Haushalt
einen konstitutiven Bestandteil einer Paarbeziehung sieht.
Sind Paare ohne gemeinsamen Haushalt
überhaupt richtige Paare?
Für KAUFMANN sind Paare
ohne gemeinsamen Haushalt keine richtigen Paare.
Bereits in der
Besprechung des Buches Schmutzige Wäsche wurde dieses
Manko des Ansatzes von KAUFMANN kritisiert. Dort
bezeichnet er solche Paare als Quasi-Paare
.
Auch im neuen Buch
werden diesbezügliche Vorbehalte deutlich. Am Beispiel des
24jährigen Immobilienmaklers Rodolphe beschreibt KAUFMANN diesen
Paartypus. Er führt dazu aus:
Der Morgen danach
"Ob man in den Alltag des
anderen und in das neue, sich gerade erst herausbildende
partnerschaftliche Alltägliche eintaucht oder nicht, ist
durchaus keine marginale Frage, nicht einfach das Sahnehäubchen
auf dem Kuchen der Liebe. Es handelt sich um ein zentrales
Element, das darüber entscheidet, ob es ein gemeinsames Leben
wird oder nicht. Im negativen Fall endet die Geschichte hier
oder sie konzentriert sich auf den sexuellen Aspekt der Liebe,
wobei jeder auf Distanz bleibt und seinen Alltag für sich
organisiert (Paare mit getrennten Wohnungen)." (2004, S.134)
|
KAUFMANN macht also die
Unterscheidung zwischen Liebespartnerschaft und
Sexualpartnerschaft am Kriterium der gemeinsamen Wohnung
fest.
Eine solche
Sichtweise ist jedoch heutzutage nicht mehr zeitgemäß.
Vielleicht muss man
hier darauf hinweisen, dass es zwischen Frankreich und
Deutschland erhebliche Unterschiede in der statistischen
Erfassung von Haushalten gibt.
Doppelte
Haushaltsführung ist in Frankreich unbekannt, denn nicht das
gemeinsame Haushalten, sondern das gemeinsame Wohnen ist das
statistische Kriterium in Frankreich. (siehe hierzu
KAUFMANN "Les
ménages d'une personne en europe"
in der Zeitschrift Population Nr.4-5, 1994, S.935-958).
Es gibt hier also
durchaus interkulturelle Unterschiede in der Wichtigkeit
spezieller Dimensionen.
Das Problem der Unvereinbarkeit von
Berufs- und Liebesbiografie
Das Beispiel Rodolphe ist
nicht unbedingt typisch für Paare ohne gemeinsame Wohnung.
In Deutschland gibt
es mittlerweile einige empirische Untersuchungen zu solchen
Paaren, die das ganze Spektrum differenzierter abbilden.
Der Soziologe
Norbert F. SCHNEIDER ("Mobil,
flexibel, gebunden", 2002) unterscheidet z.B. Paare, die
freiwillig in getrennten Wohnungen leben (Living apart together)
und Paare, die mehr oder weniger unfreiwillig getrennt wohnen.
Hier spielt die moderne Berufsmobilität eine entscheidende
Rolle.
Dieses Problem
der Vereinbarkeit zweier Berufs- und Liebesbiografien bleibt
in KAUFMANNs Denkansatz ausgespart.
Die erste Liebe von Juliette zu Romano zeigt jedoch, dass das
Vereinbarkeitsproblem auch im Sample von KAUFMANN existiert.
Die 17jährige
Juliette erlebt mit Romano einen Morgen voller Zauber. Die
Beziehung scheiterte jedoch als Romano zum Militärdienst
eingezogen wurde:
Der Morgen danach
"Sie glaubte, ihre ganze
Zukunft erfüllt von diesem Glück vor sich zu sehen. Sie waren
noch jung und deshalb war es schwierig für sie, sich eine eigene
Wohnung zu nehmen, also entscheiden sie sich, eine Beziehung auf
Distanz zu führen, jeder wohnte bei sich zu Hause. Einige Monate
später musste Romano zum Militärdienst. Ihre jugendliche
Sorglosigkeit konnte dieser Entfernung nichts entgegensetzen und
die vorübergehende Attraktivität unbedeutender Begegnungen ließ
sie (vorübergehend, wie sie dachten) die wunderbare Intensität
vergessen, die sie zusammen erlebt hatten. Und heimlich, still
und leise brachte der Lauf der Dinge jeden von ihnen auf seinen
eigenen Weg."
(2004, S.250f.)
|
Das
Interpretationsinstrumentarium von KAUFMANN versagt angesichts
dieser Situation. "Es war ein Fehler, nicht zusammen zu leben"
heißt es dazu lapidar.
Hier zeigt sich,
dass ein Ansatz, der Strukturprobleme nicht berücksichtigt,
zu kurz greift. Die Konsequenz ist, dass Beziehungsprobleme auf
Mentalitätsprobleme reduziert werden.
Ein unscheinbarer Morgen
Den Morgen danach
beschreibt KAUFMANN am Beispiel von Éric und Anna als
Flugbahn der Kontinuität und als Nicht-Ereignis. Ihre
Geschichte beginnt bereits Jahre vorher als Freundschaft und sie
geht ohne große Brüche am Morgen danach in eine Partnerschaft
über.
Der deutsche
Songschreiber Klaus LAGE hat einen solchen Moment des Übergangs
mit dem Bild des Und es hat Zoom gemacht besungen.
Der Morgen danach
"In den meisten Fällen
entsteht eine Paarbeziehung nicht aufgrund einer Entscheidung,
sondern weil es zu keinem Bruch kommt. Die einzige wirkliche
Entscheidung ist der Bruch. Um zu einem Paar zu werden, genügt
es, dass die Bewegung, die einen mitzieht, diese Bewegung, der
Reproduktion von Gewohnheiten niemals abreißt. Es genügt, sich
am Abend nach dem Morgen danach wiederzusehen, und schon hat das
Leben den Geschmack eines beruhigenden Déja-Vus angenommen. Die
ersten Gewohnheiten stellen sich rasch ein, wenn man sie sich
nur in aller Ruhe einstellen lässt. Daher das Paradox: Wenn am
Morgen danach scheinbar überhaupt nichts passiert, passiert doch
etwas."
(2004, S.151)
|
KAUFMANN kommt es hier
darauf an, dass der Morgen danach immer einen Bruch darstellt.
Die Beziehung erhält für ihn eine neue Qualität.
Die Protagonisten
sehen das dagegen nicht immer so, sondern sie betonen oftmals
die Kontinuität. Dieses gelingt ihnen umso eher, je
unscheinbarer sich der Bruch ergibt.
Der Morgen danach und der Prozess der
Paarbildung
KAUFMANN beschreibt den
Prozess der Paarbildung als Identitätsrevolution. Die Art
und Weise der Identitätsänderung geht dabei je nachdem wie der
Morgen danach erlebt wird, unterschiedlich vonstatten.
Den Morgen
voller Zauber erklärt KAUFMANN mit dem
verhaltensbiologischen Konzept der Prägung (Konrad LORENZ),
wobei er interindividuelle Unterschiede bezüglich der
Prägbarkeit annimmt:
Der Morgen danach
"Natürlich sind angesichts
dieser Möglichkeit einer Liebesneugeburt nicht alle
Persönlichkeitstypen gleich. Die einen, die fest in ihrem
identitären Fundament verankert sind und absolute Herrscher über
ihr Schicksal sein wollen, werden bestenfalls ein paar
schüchterne Schritte in diese Richtung machen. Die anderen
werden bereit sein, sich zu verlieren, in dem neuen Universum zu
zerfließen, das mit einem Schlag des Entzückens auslöscht. Und
diese Bereitschaft werden sie in der körperlichen wie in der
beziehungsmäßigen Liebe haben. Und sie werden auch in der
Alltagsliebe dazu bereit sein, die mehr als alles andere Träger
dieser Erneuerung der Identität ist, viel mehr als die Liebe der
Nacht oder des Refugiums Bett, auch wenn sie viel diskreter ist.
Die Macht der Prägung entfaltet sich im wunderbar Gewöhnlichen,
zwischen Toast und Kaffeetasse, zwischen schmutziger Wäsche und
merkwürdiger Wohnungsausstattung, am Morgen nach dem ersten Mal.
Der Effekt der Prägung ist logischerweise bei der Person größer,
die zu Gast ist"
(2004, S.139)
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Beim Morgen mit bösem
Erwachen muss dagegen das Aufeinanderprallen der
Gewohnheiten mittels identitärer Gespaltenheit
kleingearbeitet werden.
Am Beispiel von Colombine und Franck schildert KAUFMANN wie der Liebeswille quasi Berge versetzen kann:
Der Morgen danach
"Der Wunsch, sich selbst
grundlegend zu verändern, um die Beziehung zu retten, kann wahre
Wunder wirken. Die Differenzen werden über einen längeren
Zeitraum hinweg in einem gemeinsamen Kampf bearbeitet, und jeder
liefert sich eine Schlacht gegen sich selbst, gegen sein altes
Ich. Wenn der Kampf gegen sich selbst siegreich verläuft und die
Oberhand über die Irritation gewinnt, dann gelingt es dem paar,
eine atypische Flugbahn einzuschlagen, im Verlauf derer die Nerv
tötende Geste tendenziell mit der Zeit aus dem Blickfeld
verschwindet."
(2004, S. 177)
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Der unscheinbare Morgen
ermöglicht dagegen durch seinen Charakter als Nicht-Ereignis
eine Kontinuität der ungestörten Paarbildung.
Die vorangegangenen
Beschreibungen weisen darauf hin, dass KAUFMANN der Liebe im
Alltag eine zentrale Rolle zuweist. Der Prozess der
Paarbildung vollzieht sich durch das aufeinander bezogene Handeln im Alltag.
Gefühle und
Gedanken können diesen Prozess stören oder erleichtern, wobei
der Reflexion eher die Rolle des Störenfrieds zugedacht wird:
Der Morgen danach
"Die klassische Analyse
der Liebe (...) hat die emotionale Entzauberung betont, die mit
der Einrichtung auf Dauer und der Institutionalisierung
einhergeht. Routine schafft Langeweile und schwächt die Gefühle.
(...). Sicher kann es vorkommen, dass Routine ausschließlich
Langeweile und die Schwächung der Gefühle hervorbringt. Aber
meistens entsteht eine besondere Form der Liebe, die sich stark
von den emotionalen Tumulten der sexuellen Liebe unterscheidet,
so diskret und diffus, dass sie beinahe unsichtbar ist, und doch
ist sie intensiv und zutiefst prägend. Die eheliche Liebe bringt
Beruhigung, liebevolle Freundschaft, Komplizenschaft,
Unterstützung, gegenseitige Großzügigkeit und Zärtlichkeit (...)
Und sie bringt auch die Kunst der kleinen Freuden, eine wahre
Kultur des Unscheinbaren, die das Potenzial in sich birgt,
wunderschön zu werden und so gut zu tun. Und dieser Parameter
der Liebe beginnt sich schon am Morgen nach der ersten
gemeinsamen Nacht herauszubilden. Das Paradox des Gewöhnlichen
ist vor allem das: ein frühes Entdecken der zweiten Liebesform
(die sich in der Folge entfalten kann)."
(2004, S.137f.)
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Das Liebesmodell und sein Einfluss auf
das Erleben des Morgens danach
Martin HARTMANN hat in
seiner Besprechung des Buchs in der Frankfurter Rundschau die historische Abfolge der drei
Liebesmodelle knapp und präzise beschrieben:
Diese tausend Gefühle
"Kaufmann (führt) am Ende seiner
Studie, leider reichlich spät, drei Modelle der Liebe ein. Da
ist zum einen das »traditionelle« Modell der arrangierten Ehe.
Auf der Basis ökonomischer Aspekte entscheiden andere, in der
Regel die Eltern, welche Partner füreinander in Frage kommen.
Dieses Modell wird durch das »romantische« Modell abgelöst, das
gegen das traditionelle Modell rebelliert. Denn hier sind es
nicht mehr andere, die den Partner auswählen, es ist vielmehr
ein schicksalhaft auftretendes überschwängliches Gefühl, das die
Liebenden im besten Fall lebenslang aneinander bindet. Der
andere wird dabei bedingungslos idealisiert. Dieses romantische
Modell wird nun in der Gegenwart durch ein »pragmatisches«
Modell ersetzt."
(FR 24.03.2004)
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Die Vernunftehe
Während traditionell die
Vernunft bei der Partnerwahl die Oberhand behielt, setzt das
romantische Liebesmodell auf das Gefühl der großen Liebe.
Das alte Modell ist
bei KAUFMANN nur noch eine Folie, die manchmal etwas nostalgisch
daherkommt:
Der Morgen danach
"So, wie Beziehungen
früher waren, hatten sie mental Erholsames; war es erst einmal
zur Initialzündung gekommen, musste man sich nur noch vom
logischen Lauf der Liebesdinge treiben lassen. Der Morgen nach
dem ersten Mal markierte nur eine neue Etappe. Heute tut sich
ein wahrer Abgrund an Fragen auf."
(2004, S.218) |
Die 77jährige Georgette
und die 52jährige Gabrielle sind bereits Beispiele für die
romantische Rebellion gegen die Institution der Ehe.
Während Georgette
ihren Wunschpartner gegen den Willen der Eltern durchsetzte,
verbringt Gabrielle 1968 ihre erste Liebesnacht nicht erst in
der Hochzeitsnacht, sondern zwei Wochen zuvor.
Davon abgesehen
ordnen sie sich jedoch den damaligen Gepflogenheiten ohne
weitere Widerstände unter.
Die romantische Liebe
Das Modell der
romantischen Liebe, der Morgen voller Zauber und
verhaltensbiologische Prägungen hängen bei KAUFMANN
augenscheinlich eng miteinander zusammen, werden jedoch im Buch
nicht stringent theoretisch miteinander verbunden.
Vielmehr wird die
romantische Liebe mit der Literatur, speziell dem Roman, oder mit
der gleichnamigen politischen Strömung in Zusammenhang gebracht.
Hier hätte sich der Leser etwas mehr theoretische Distanz
gewünscht.
Die romantische
Liebe wird von KAUFMANN als eine Institution wie die
traditionelle Ehe beschrieben. Während jedoch die Ehe auf
sozialen Konventionen beruht, ist in der romantischen Liebe das
anfängliche, persönliche Gefühl der Verliebtheit das
einzige Kriterium für eine lebenslange Bindung.
Dieses Liebesmodell
basiert auf einem einmaligen Gründungsakt,
Der Morgen danach
"auf einer anfänglichen
Evidenz, die die Gefühle hervorbringt, welche dann zu der
Entscheidung führen, eine Bindung einzugehen. Alle folgenden
Ereignisse werden auf den Rang von Etappen einer Flugbahn
verweisen, welche gefühlsbedingt unausweichlich wird, einer
Flugbahn, die von ihrem Ausgangspunkt, dem Sichverlieben, zu
einem halb glücklichen, halb entzauberten Ende führt: der
etablierten Beziehung."
(2004, S.204)
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Dieses Modell gibt es
gemäß KAUFMANN immer noch, aber es dominiert nur noch in der
Jugend und bei Personen, die sich zu dieser speziellen
Lebensethik verpflichtet fühlen.
Die romantische
Liebe beinhaltet einen "fahrplanmäßigen" Ablauf der Flugbahn,
der in seiner unausweichlichen Schicksalhaftigkeit wichtiger
ist als die Leidenschaft.
Bei der
romantischen Liebe wie sie von KAUFMANN beschrieben wird, gibt
es keine Partnerwahl, sondern das Zusammentreffen ist
Vorhersehung. Wenn ich den EINZIGEN treffe, dann spüre ich
das ganz genau. ER oder SIE ist nur für mich auf dieser Welt.
Die pragmatische Liebe
KAUFMANN plädiert in
seinem Buch für ein neues Liebesmodell, das er als pragmatische
Liebe bezeichnet.
Es hat mit der
romantischen Liebe zwar das Ideal der reinen Liebe
gemein, aber im Gegensatz dazu gibt es in diesem Modell nicht
mehr den EINZIGEN Menschen, der zu mir passt, sondern allein die Partnerwahl und das Ergebnis des Partnertests
entscheidet darüber, ob eine Beziehung scheitert oder nicht.
In diesem Modell
geht es bereits am ersten Morgen danach um nichts weniger als um
den zukünftigen Stil der Partnerschaft:
Der Morgen danach
"Am Morgen danach beginnt
sich schon von den ersten Sekunden an eine neue Identität zu
formen. Je unbeschwerter und kurzlebiger das Ereignis erscheint
und je weniger es mit einem selbst zu tun zu haben scheint,
desto schneller vollzieht sich paradoxerweise die
Neuformulierung der Identität. Man sollte sich vor der
Sorglosigkeit eines verliebten Morgens in Acht nehmen"
(2004, S.174),
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warnt deshalb KAUFMANN.
Die suboptimale Partnerwahl als Krise des
herrschenden Liebesideals
Romantiker werden den
Ausführungen KAUFMANNs zur pragmatischen Liebe kaum folgen
wollen und auch die Sicht auf den "unerbittlichen
Stellungskrieg" zwischen zwei Menschen mit unterschiedlichen
Gewohnheiten wird am Morgen danach nicht jedermanns Sache sein.
Es erstaunt deshalb
kaum, dass heutzutage die pragmatische Liebe selten frei von
romantischen Vorstellungen praktiziert wird.
In seinem Buch
Singlefrau und Märchenprinz hat KAUFMANN die Relikte der
romantischen Liebe selbst in den Vorstellungen von scheinbar
nüchternen Karrierefrauen nachgewiesen. Am Morgen danach
ist die Kommunikation immer noch dem idealistischen Modell der
romantischen Liebe verpflichtet: "Es ist noch heute eine
heikle Angelegenheit, nicht zumindest einigermaßen mit dem
romantischen Modell konform zu gehen." (2004, S.265) Nach KAUFMANN verhindert
diese romantische Kommunikationsnorm die optimale Partnerwahl:
Der Morgen danach
"Wir haben es heute
tatsächlich mit einer Krise der Liebesimagination zu tun, die
schleunigst bewältigt erden sollte, will man mühsame Flickarbeit
und emotional armselige Rückzugsgefechte vermeiden und statt
dessen die neue emotionale Sensibilität befreien und ihr die
nötige Legitimität verleihen."
(2004, S.268)
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Der Erfahrungshunger der Partnerwahl
KAUFMANN sieht im homo
scientific, d.h. im Menschen, der "sein eigenes Leben wie
einen Versuchsgegenstand behandelt" den neuen Menschen.
Im Sinne von
Ulrich BECK und seinen Vorstellungen zur reflexiven Moderne
sieht uns KAUFMANN am Beginn einer "Epoche der allgemeinen
Reflexivität". Der Morgen danach gerät in dieser Sicht zu einer
wichtigen Testphase.
Die pragmatische
Liebe nimmt ihren Ausgang nicht mehr im abstrakten Ideal,
sondern im Konkreten der Situation:
Der Morgen danach
"Gefühlsausbrüche fallen
nicht mehr vom Himmel, sondern haben ihren Ausgangspunkt, wie
viele Exaltationen des Realen, mitten im Ereignis. Die
Exaltation tritt an die Stelle der Idealisierung."
(2004, S.273)
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Die Zukunft der Liebe: Von den Leiden der
Liebe zum Glück der Liebe
Im Pragmatismus der Liebe
sieht KAUFMANN ein Liebesmodell, bei dem sowohl Männer als auch
Frauen gewinnen, während die beiden vorangegangenen Liebesideale
jeweils immer nur einem Geschlecht Vorteile brachte. Den
Unterschied beschreibt er folgendermaßen:
Der Morgen danach
"Die Liebe erlebte ihre
Höhen und Tiefen im Warten, im Vermissen und im Leiden - konnten
die glücklichen Liebenden so viel Liebesleid aufwiegen? Heute
ist Liebe die Suche nach geteilter Freude und gemeinsamem
Wohlbefinden. Einfach der Traum vom Glück.
Die Verwandlung der Gefühle bringt eine besonders starke
Fixierung auf den Morgen danach mit sich, besonders dann, wenn
keine gemeinsame Geschichte vorausgegangen ist. (...). Und unter
unseren Augen entwickelt sich eine wahre Kultur der
gefühlsmäßigen Erfahrung. Denn das große, einzigartige, beinahe
göttliche Gefühl ist unwahrscheinlich geworden, es muss durch
tausend kleine Emotionen ersetzt werden, von denen jede so
intensiv erlebt wird, dass es ihnen, Stück für Stück
aneinandergesetzt, genauso gut gelingt, die Seele zutiefst zu
berühren. Dank der Exaltation durch die Liebe kann noch der
lächerlichste Augenblick von märchenhaftem Zauber sein. Stroh
kann sich zu Gold verwandeln."
(2004, S.274)
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Diese schöne neue Welt des
Hedonismus, die uns KAUFMANN hier in Aussicht stellt, soll
abschließend durch einen Wechsel der Blickrichtung relativiert
werden.
Der Morgen danach im gesellschaftlichen
Kontext
KAUFMANNs Ansatz
konzentriert sich auf eine ganz konkrete Situation. Die
Handlungen der Akteure und ihre Beobachtungen am Morgen
danach stehen dabei im Mittelpunkt des wissenschaftlichen
Interesses.
KAUFMANN blendet
dadurch viele Aspekte aus, die für den Prozess der Paarbildung
genauso wichtig sind.
Die Frage, wie sich
die Partner kennen lernen, interessiert KAUFMANN nicht. Die
Gelegenheitsstrukturen in modernen Gesellschaften führen
jedoch nicht x-beliebige Menschen zusammen, sondern es treffe
sich vorzugsweise Menschen mit ähnlichem Bildungsgrad. Eine
internationale Studie von Hans-Peter BLOSSFELD und seinem
Forschungsteam ("Who
Marries Whom?", 2003) hat den
Einfluss des Bildungssystems auf unser Kontakt- und
Heiratsverhalten belegt.
Das Problem der
Vereinbarkeit unterschiedlicher Gewohnheiten, das KAUFMANN zum
zentralen Problem von Paaren erklärt, vernachlässigt den
historischen Wandel vom Alleinverdiener- zum
Doppelverdienermodell der Paarbeziehung. Die damit
verbundenen Probleme der Abstimmung zweier Berufs- und
Liebesbiografien werden von KAUFMANN nicht ausreichend
berücksichtigt.
Ein weiteres
Problem besteht darin, dass KAUFMANN Milieuunterschiede
vernachlässigt. Die pragmatische Liebe ist möglicherweise nur im
individualisierten Milieu so praktizierbar wie es von KAUFMANN
angedacht ist.
Günter BURKART hat
im Buch
Lebensphasen - Liebesphasen zudem auf einen Aspekt hingewiesen, der die von KAUFMANN
gefundenen Abstimmungsprobleme in einem ganz anderen Lichte
erscheinen lassen:
Lebensphasen - Liebesphasen
"Die
Kohabitation wurde (...) in den siebziger Jahren als neue
Lebensform etabliert, zunächst nicht als Alternative zur Ehe
im allgemeinen, sondern als Alternative zur frühen Ehe, zum
Alleinleben und zum längeren Verweilen im Elternhaus. Ihre
Träger waren die jungen Erwachsenen der
Bildungsexpansionsphase.
Hier taucht die Frage auf, ob vielleicht diese Generation der
Bildungsexpansion besonders anfällig ist für das Scheitern von
Ehe und Familie, nicht nur, weil sie die erste ist, die das
Experiment versucht, anders zu leben (erst mal nicht den
gesicherten Weg zu Familie und Karriere einzuschlagen, aber
dann, später, vielleicht nicht mehr dazu in der Lage zu sein),
sondern auch weil es sich dabei häufig um soziale Aufsteiger
handelt. Bei ihnen sind Probleme mit der habituellen
Übereinstimmung in der Partnerschaft wahrscheinlicher, sind
sie doch hin- und hergerissen zwischen dem Herkunftsmilieu
(meist Arbeiter- oder kleinbürgerliches »Harmoniemilieu«) und
dem durch den Gang ins Bildungsmilieu erworbenen
Selbstverwirklichungsdiskurs."
(1997, S.90f.) |
Die Fallgeschichten, die
KAUFMANN präsentiert, müssen also vor diesem gesellschaftlichen
Wandel gesehen werden. Erst dann können die
Kommunikationsprobleme und die Probleme der Abstimmung zweier
Menschen mit eingespielten Gewohnheiten auch angemessen
beurteilt werden.
Fazit: Der Stellenwert des Morgens danach für
die moderne Paarbildung
KAUFMANNs Verdienst
besteht darin, dass er vor allem jene psycho-biologischen
Konzepte relativiert, die dem Ersten Eindruck oder der
Liebe auf den ersten Blick das ganze Gewicht der Partnerwahl
zuschreiben.
Während es
heutzutage modern ist, das Flirtverhalten in Kneipen und
Discos zu trainieren, die Selbstpräsentation durch
Manieren- und Etikettenkurse zu verbessern oder Regeln zum
richtigen Anrufen zu konsumieren, verlegt KAUFMANN das Problem
dorthin, wo man es am wenigsten sucht.
Nicht der
schlechte Sex wird zum Problem, sondern das Aushandeln
des zukünftigen Beziehungsarrangements am Morgen danach.
Dieser Blick auf den Zusammenprall der Gewohnheiten könnte unser
Bild von der Anfangsphase eines Paares revolutionieren.
KAUFMANN liefert in
seinem Buch reichhaltiges Anschauungsmaterial zum Morgen
danach. Es könnte dadurch wichtige Debatten anregen.
KAUFMANNs Vorstellungen über Paare sind durchaus provokativ,
genau dort wo man es nicht vermutet.
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