Der
Bielefelder Pädagoge Peter KRAFT setzt sich in
seinem Aufsatz Die Mär vom
Geburtenrückgang und der Mythos von der
Vorherrschaft der Ein-Kind-Familie
detailliert mit der Aussage auseinander:
Die Mär vom Geburtenrückgang und der Mythos von der
Vorherrschaft der Ein-Kind-Familie
"daß in den letzten 25 Jahren die
Geburtenrate um 50% gesunken sei".
(Peter Kraft,
2000) |
Aussagen in dieser
oder ähnlicher Form sind in wissenschaftlichen
und journalistischen Publikationen weit
verbreitet. Sie sind inzwischen zur
gesellschaftlichen
Selbstverständlichkeit geworden, die
nicht mehr hinterfragt wird. Anders ist nicht zu
erklären, dass sie ständig reproduziert werden.
Wenn die eigenen alltäglichen Erfahrungen dem
Gelesenen widerspricht, dann wird eher die eigene
Erfahrung als die Glaubwürdigkeit der
Publikation in frage gestellt.
Peter KRAFT liefert
Belege dafür, dass die Aussage über 10 Jahre
hinweg immer wieder übernommen wurde. Das
Problem dabei ist, dass sich die Aussage
Die
Geburtenrate ist in den letzten 25 Jahren um 50%
gesunken, nur auf einen Zeitraum
bezieht. Es wird kein Jahr angegeben, das als
Bezugsjahr verwendet werden könnte. Wenn eine
solche Aussage auch noch 10 Jahre nach ihrer
Erstpublikation verwendet wird, dann setzt dies
voraus, das eine kontinuierliche Entwicklung
vorliegt. Bei der Entwicklung der Geburtenzahlen
ist dies jedoch nicht der Fall:
Die Mär vom Geburtenrückgang und der Mythos von der
Vorherrschaft der Ein-Kind-Familie
"Zunächst
schaue ich mir den Hochpunkt (1.065.437) und
den Tiefpunkt (576.468) der Kurve an und
stelle fest, daß sich der größte Rückgang
(46%) der Geburtenziffer in einem Zeitraum
von 14 Jahren zwischen 1964 und 1978
abgespielt hat (dies ist der berühmte,
gleichwohl aber falsch bezeichnete
"Pillenknick").
Danach steigt die Geburtenziffer (mit
Ausnahme der Jahre 1984 und 1985) ständig an
und erreicht 1990 mit 727.199 einen neuen
Hochpunkt. Dies wäre ein Anstieg innerhalb
von 12 Jahren um 26%. Unter Beibehaltung des
Zeitraumes von 14 Jahren würde ich einen
Zuwachs von 25% konstatieren, da 1992 die
Geburtenziffer 720.794 betrug.
Die letzte Überlegung zeigt, daß man bei
einem größeren Zeitraum die Kurve
(beabsichtigt oder auch unbeabsichtigt)
'glättet' - Hoch- bzw. Tiefpunkte werden
übersprungen."
(Peter Kraft,
2000) |
Peter KRAFT
belegt eindrucksvoll wie aus einer ehemals
richtigen Aussage eine Falschaussage wird, die in
den Folgejahren in verschiedenen Werken zitiert
wird.
Ein weiteres
Beispiel ist der "Mythos
Ein-Kind-Familie" wie es Peter
KRAFT nennt. Er beschäftigt sich mit der Aussage
Die Mär vom Geburtenrückgang und der Mythos von der
Vorherrschaft der Ein-Kind-Familie
"In ca. 80% der Familien wachsen die Kinder
nur mit einem oder keinem Geschwister auf".
(Peter Kraft,
2000) |
In dieser Behauptung werden zwei unterschiedliche
Sachverhalte zusammengefasst. Die summarische
Prozentangabe lässt jedoch keinen Rückschluss
darauf, inwieweit die Ein-Kind-Familie verbreitet
ist. Kinder mit nur einem Geschwister wachsen
erstens in einer Zwei-Kind-Familie auf und Kinder
in einer Ein-Kind-Familie zu sein, heißt
zweitens nicht, dass keine weiteren Geschwister
vorhanden sind, denn diese könnten bereits
außer Haus leben.
Was Peter KRAFT für
den Fall des Geburtenrückgangs und den
"Mythos Ein-Kind-Familie" belegt,
lässt sich in der öffentlichen Debatte
um die Single-Gesellschaft immer wieder
feststellen. Zitate werden aus ihrem
ursprünglichen Kontext gerissen und ohne Angabe
ihrer Herkunft zitiert oder verschiedene
Sachverhalte werden summiert, um eine Mehrheit zu
konstruieren (z.B. Karl
Otto HONDRICH im Tagesspiegel v.
02.09.2000)
Das Thema
Kinderlosigkeit ist in dieser Hinsicht besonders
sensibel. Es wird oft so getan, als ob gesicherte
Erkenntnisse über das Ausmaß der
Kinderlosigkeit vorhanden wären. Dem
ist jedoch nicht so:
Kinderlosigkeit in Deutschland - ein Massenphänomen?
"Gegenwärtig
erlaubt es die Datenlage nicht, exakte
bevölkerungsstatistische Angaben zur
Kinderlosigkeit zu machen. Zu groß sind die
in den Konzepten der Datenerhebung angelegten
Schwierigkeiten."
(Jürgen Dorbritz & Karl Schwarz, 1996) |
DORBRITZ
& SCHWARZ (1996) nennen drei Wege, um
die Kinderlosigkeit zu bestimmen:
1) Schätzungen der
Verteilung der Lebendgeborenen nach der
Lebendgeborenenfolge anhand der Daten der
amtlichen Statistik. Solche Daten liegen
aber nur für verheiratete Frauen in bestehenden
Ehen und nicht für Unverheiratete und für
Mehrfachverheiratete vor. Das
Analyseinstrumentarium der amtlichen Statistik
ist immer noch auf die lebenslange Ehe
ausgerichtet. Kinder von ledigen
Müttern und Scheidungen existieren zwar in der
Realität, jedoch nicht für die amtliche
Statistik.
2) Die Daten des Mikrozensus
beziehen sich dagegen auf die Haushaltsfamilie.
Kinder, die den Haushalt verlassen haben, können
hier nicht zugeordnet werden.
3) Sozialwissenschaftliche
Erhebungen wie der repräsentative Family and Fertility Survey (FFS).
Hier muss jedoch mit Stichprobenfehlern gerechnet
werden.
Aus den genannten
Gründen ist der Spielraum für Interpretationen
gerade auf diesem sensiblen Gebiet, das im
Brennpunkt der Debatte um die Single-Gesellschaft
steht, enorm hoch. Angesichts der Lücke in der
Empirie ist es um so wichtiger Aussagen kritisch
zu überprüfen.
Was die
Prognosefähigkeit
betrifft, so muss man noch skeptischer sein. Die
zukünftige Geburtenentwicklung wird von den
Bevölkerungswissenschaftlern im Zusammenhang mit
dem Heiratsverhalten gesehen. Sind die Annahmen
bezüglich des Heiratsverhaltens falsch, so sind
die Prognosen über die Geburtenentwicklung
ebenfalls davon betroffen. Andererseits könnte
auch eine Entkopplung von Ehe und Familie die
Prognosen beeinträchtigen. In dieser Hinsicht
wäre es interessant, die Prognosen der
Bevölkerungswissenschaftler aus den 1960er und
1970er Jahren für das Jahr 2000 mit der
tatsächlichen Entwicklung zu vergleichen.
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