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Thema des Monats

 
       
   

Singles und ihre Ängste

 
       
   

Teil 2 - Soziale Ängste, erlernte Hilflosigkeit und der Teufelskreis der Angst

 
       
     
       
   
     
 

Zitate: Singles und ihre Ängste

Mars

"Ich möchte uns mit Einsiedlerkrebsen vergleichen. Der Einsiedlerkrebs ist vorne hübsch gepanzert und stabil, aber sein Hinterleib ist nackt. Deshalb muß er seine verletzliche Blöße in leeren Schneckenhäusern bergen, wobei der bewehrte Vorderleib aus dem Schneckenhaus herausschaut. Wenn der Einsiedlerkrebs wächst, wird ihm mit der Zeit sein gemietetes Gehäuse zu eng, und er muß notgedrungen in ein größeres umziehen. Welche Qualen muß nicht solch ein Einsiedlerkrebs ausstehen, wenn er sich mit seinem allen Fressern preisgegebenen Hinterteil zu einem neuen Haus vorwagen muß! Wie fruchtbar muß die Zeitspanne für ihn sein, wenn er sein altes schützendes Haus bereits auf Nimmerwiedersehen verlassen hat und noch nicht wissen kann, wo er eine neue, seinen jetzigen Körpermaßen entsprechende Behausung findet! Ich denke mir, solche Einsiedlerkrebse waren wir auch. Vorne waren wir recht bekömmlich gepanzert, aber hinten drohte Blöße. Nur waren wir keine sehr tapferen Einsiedlerkrebse und zogen es vor, unter Qualen im zu engen Haus zu verkümmern."
(Fritz Zorn 1977, S.75f.)

Abschaffel

"Hätte ihn doch nun jemand besucht! (...).
Natürlich kam kein Mensch, und das war allein Abschaffels Schuld. Er hielt sich alle Personen vom Leibe, weil er glaubte, mit niemand etwas anfangen zu können."
(Wilhelm Genazino 1977, S.30)

"Er fühlte sich häufig behindert und eingeschränkt. Vermutlich hatte sich dieses Gefühl überhaupt an die Stelle seines Lebens gesetzt".
(Wilhelm Genazino 1977, S.90f.)

"Eine hochkarätige Trauer kündigte sich an (...). Abschaffel mußte schnell flüchten oder sich ablenken oder vielleicht schlafen. Er blieb aber stehen und sah auf zwei hellbraune Hasen, die am Boden des Schaufensters in einem Sperrholzkasten saßen. Kinder klopften an die Scheibe, und manchmal zuckten die Hasen deswegen zusammen, manchmal auch nicht. Er merkte, wie ihm die zitternden Hasen leid taten, und er ging dazu über, sein eigenes Leben dem Leben der Hasen gleichzusetzen: man sitzt in einem Kasten, von außen wird dauernd geklopft, aber niemand weiß, wie man flüchten soll, und also verbringt man zitternd seine Tage."
(Wilhelm Genazino 1977, S.108)

Das Ende der Berührbarkeit

"Aus seinem Briefkasten sahen die Wochenendzeitungen hervor. Sonst fand er keinerlei Post. Langsam ging er die steilen und engen Treppen zu seiner Wohnung im obersten Stockwerk hinauf. Er schloß die Wohnungstür auf, wie oft nach ein paar Tagen Abwesenheit in der leichten Spannung, ob die Wohnung vielleicht ausgebrannt oder ausgeraubt sei, oder ob er auch einfach nur vergessen hatte, ein Licht oder das Radio auszumachen."
(Jochen Schimmang 1981, S.32)

Vertrautes Gelände, besetzte Stadt

"Die Zunahme des öffentlichen Selbstgesprächs ist nicht zu übersehen, und nicht selten ertappe ich mich selber dabei. Dem entspricht, daß der Versuch der Kontaktaufnahme mit anderen oft groteske und peinliche Formen annimmt. An der Kasse bei Saturn wiederholt ein kleiner Mann mittleren Alters, nachdem er seine Videocassetten bezahlt hat, dreimal sehr langsam, flehend fast den Versuch, das Gespräch noch nicht abzubrechen: »Ja, dann - auf Wiedersehen, schönen Tag noch!« Die Kassiererin nickt dreimal geradezu besänftigend, als wittere sie Gefahr, befürchte einen bevorstehenden Amoklauf. Nach dem dritten Mal muß der kleine Mann in seiner Verzweiflung erkennen, daß die Möglichkeiten des Kontakts an dieser Stelle ausgeschöpft sind und er sich nun trennen muß. Langsam entfernt er sich. Niemand sagt etwas, niemand lacht, niemand nimmt Blickkontakt mit dem Nachbarn oder der Kassiererin auf, jeder möchte diese Momente so schnell wie möglich vergessen."
(Jochen Schimmang 1998)

"Vormittags gegen halb zehn, wenn es klingelt, drücke ich den Türöffner ohne Nachfrage durch die Gegensprechanlage, weil ich weiß, daß um diese Zeit der Briefträger ins Haus will. Zu jeder anderen Zeit aber, wenn ich niemanden erwartet habe, schrecke ich leicht zusammen, wenn der reichlich schnarrende Ton der Klingel zu hören ist. Der spontane Besuch, gewissermaßen das An-die-Tür-Klopfen im Vorübergehen, ist in der Großstadt, zumindest in meinem Milieu, nicht mehr üblich. Man verabredet sich, bevor man jemanden überfällt.
(...). Wir alle haben Angst, aufdringlich zu sein, die intime Sphäre des anderen zu verletzen, und Angst davor, daß die eigene Sphäre verletzt werden könnte."
(Jochen Schimmang 1998)

"Während (...) im Kino Gelächter, auch das kollektive Gelächter eines ganzen Publikums, erlaubt und nicht selten erwünscht ist, sind Tränen noch immer peinlich, auch wenn der Film sie fordert. (...). Der einsame Videozuschauer dagegen kann ihnen freien Lauf lassen, ohne sie verstecken zu müssen, und nur so ist manchem Film gerecht zu werden. Denn nicht nur das Medium der sentimentalen und der großen Gefühle ist das Kino, sondern ebenso das der zeitgemäßen Katharsis. Anders als in der griechischen Antike scheint aber die öffentliche und kollektive Karthasis bei uns nicht mehr möglich, und so muß jeder sie für sich vollziehen."
(Jochen Schimmang 1998)

Alleinleben - Chance oder Defizit

"Günther Höhler (...) lebt (...) in einem fast völlig abgedunkelten Apartment, bezieht Sozialhilfe und bekommt regelmäßig Lebensmittelpäckchen seiner Mutter. Ein Hund, mit dem er zweimal täglich Spaziergänge macht, das tagsüber sorgfältig zusammengestellte Fernsehprogramm und selbst zubereitete warme Mahlzeiten strukturieren seinen Tagesablauf. Abends gegen sechs Uhr wartet er den Anruf seiner Mutter ab, den er interesselos oder mit Abscheu über sich ergehen lässt, hängt den Hörer aus und steigt in seine Fernseh-Traumwelt ein. Er hat sich seit Jahren ausschließlich auf seine Phantasiewelt zurückgezogen, in der er sich mit dem Filmhelden aus »Heimat« identifiziert. Oder er phantasiert sich in seine Traumberufe - Schauspielerei, Journalismus, Jazz - die er als Gegenwelt zu seinem Elternhaus ansieht".
(Jutta Stich 2002, S.197)

Singles und ihre Ängste

Nachdem im ersten Teil die gesellschaftliche Dimension der Angst behandelt worden ist und das Phänomen Angst eher allgemein beschrieben wurde, wird im zweiten Teil näher auf die Ängste der Singles eingegangen. Die Formen der Angst und ihre Erscheinungsformen werden anhand einer Romanfigur konkret sichtbar gemacht. Dabei werden verschiedenen Aspekte angesprochen wie die erhöhte Selbstaufmerksamkeit, die selektive Wahrnehmung der sozialen Umwelt, Selbstunsicherheit und geringes Selbstwertgefühl. Die individuelle "Angstkarriere" kann als erlernte Hilflosigkeit dazu führen, dass ängstliche Personen hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben, deshalb wird in einem Exkurs auf einen möglichen Zusammenhang zwischen Erfahrungen der Unkontrollierbarkeit, Hoffnungslosigkeit und schwachem Selbstwertgefühl eingegangen. Danach wird der Perfektionismus und seine Folgen betrachtet. Ängste können innerhalb der Wohnung genauso auftreten wie in der Öffentlichkeit. Sozialer Rückzug ist deshalb keine dauerhafte Lösung.  Am Ende des zweiten Teils wird der Teufelskreis der Angst vorgestellt. Das Aufschaukeln der Ängste kann bis zur Panikattacke mit Todesangst führen. Betroffene können jedoch lernen diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Über diese und weitere Bewältigungsmöglichkeiten wird in einem abschließenden vierten Teil informiert.

Single ist nicht gleich Single

Welche Ängste für Singles spezifisch oder besonders problematisch sind, das hängt davon ab, ob es sich um Alleinwohnende, Partnerlose, Kinderlose, junge oder alte Singles, weibliche oder männliche Singles handelt. Und nicht zuletzt spielt eine Rolle, ob ihr Single-Dasein erzwungen oder mehr oder weniger freiwillig ist.

Sind Singles ängstlicher als Nicht-Singles?

Singles sind nicht von vornherein ängstlichere Menschen als Nicht-Singles. Dies ist umso weniger der Fall je normaler Phasen des Singleseins in einer Gesellschaft sind. Der Kitt zwischen Paaren ist nicht selten die Angst vor dem Alleinsein und auch Familien werden mitunter durch Ängste zusammengehalten. Wenn es hier also um Singles und ihre Ängste geht, dann stehen jene Singles im Mittelpunkt, die sich durch ihre Ängste in ihrem Lebensentwurf und ihrer Lebensführung eingeschränkt fühlen.

Singles und soziale Ängste

In diesem Beitrag wird es in erster Linie um jene Ängste gehen, die Singles beim Aufbau eines Freundes- bzw. Bekanntenkreises behindern. Psychologen, die sich mit krankhaften Formen der Angst beschäftigen, haben den Begriff "soziale Phobie" geprägt. Im Fachaufsatz Das Störungskonzept der sozialen Phobie oder der sozialen Angststörung aus dem Sammelband Soziale Phobie und Soziale Angststörung, herausgegeben Ulrich STANGIER & Thomas FYDRICH schreiben die Herausgeber:

Das Störungskonzept der sozialen Phobie oder der sozialen Angststörung

"intensive Angst, in sozialen Situationen durch bestimmte Verhaltensweisen oder durch das Sichtbarwerden von körperlichen Angstsymptomen peinlich aufzufallen und abgelehnt zu werden."
(aus: Soziale Phobie und Soziale Angststörung 2002, S.10)

Soziale Phobien stellen eine extreme Form normaler sozialer Ängste dar. Dazwischen liegt ein breites Kontinuum von unterschiedlichen Ausprägungsgraden sozialer Angst. Die Angst eine fremde Person anzusprechen, zu einer Gruppe hinzuzutreten oder vor Small Talk-Situationen ist weit verbreitet.

Erhöhte Selbstaufmerksamkeit

Der Schriftsteller Wilhelm GENAZINO hat in den 1970er Jahren den  allein lebenden Angestellten Abschaffel erfunden. Die drei Bände der Roman-Trilogie wurden im Jahr 2002 als Taschenbuch neu aufgelegt und erschienen 2004 sogar als Hardcover. Abschaffel hat in zahlreichen Situationen soziale Ängste entwickelt. Ein zentrales Kennzeichen von sozial ängstlichen Personen ist eine erhöhte Selbstaufmerksamkeit:

Abschaffel

"Nachmittags war Abschaffel noch zweimal auf der Toilette und wusch sich die Hände. Er betrachtete sich jedesmal lange im Spiegel über dem Waschbecken, und erst spät fiel ihm auf, daß er nur hatte feststellen wollen, wie weit er selbst noch entfernt war vom körperlichen Zustand des alten Mannes, von dem Frau Schönbeck erzählt hatte. Abschaffel war dreißig Jahre alt und lebte allein. Oben rechts an der Stirn gingen ihm die Haare aus, und er überlegte, ob sich eine Frau eines Tages genierte, seinen Kopf mit beiden Händen an sich zu drücken, weil er zuwenig Haare haben könnte. Und er brach auf der Toilette in ein unerhörtes Selbstmitleid aus; alles störte ihn und gefiel ihm nicht mehr. Er hatte plötzlich das Gefühl, als stünden mehrere Menschen auf seinen Armen und Beinen. Wie gelähmt ging er auf seinen Platz zurück und hoffte, daß ihn niemand mehr ansprechen würde bis zum Schluß des Arbeitstages. Warum war denn wieder alles so merkwürdig? Es beschäftigte ihn, daß er kaum einen Tag zu Ende bringen konnte, ohne daß eine sonderbare Stimmung ihn überfiel."
(1977, S.11)

Abschaffels Gedanken drehen sich fast ausschließlich um sich selbst. Im Mittelpunkt stehen dann häufig sozial bedrohliche Ereignisse. Dabei kann es sich zum zurückliegende Erlebnisse handeln oder um die Vorwegnahme zukünftiger Situationen wie in dem obigen Beispiel. Abschaffel hat sich aber auch Spiele des Alleinseins angewöhnt:

Abschaffel

"Abschaffel beeilte sich, in das Café zu kommen (...). Abschaffel tat sich, als er auf einem Stuhl Platz genommen hatte nicht besonders hervor, um auf sich als Gast aufmerksam zu machen, weil er herausfinden wollte, ob die Bedienung ihn durch sein bloßes Kommen bemerkt hatte.
Er wußte nicht, warum er sich so anstrengte, diese Nebensächlichkeit wahrzunehmen, und warum er es zuließ, daß er sich selbst mit solchen überflüssigen Einstellungen beengte. Denn er wußte nicht, daß das Alleinsein darin besteht, daß der Alleinstehende alles Geschehen um sich herum auf sich bezieht. Da nichts wirklich mit ihm zu tun hat, glaubt er, alles müßte mit ihm etwas zu tun haben; er ist ununterbrochen damit beschäftigt, Verbindungen zu toten Sachen herzustellen. Diese Verbindungen kommen zustande, aber es sind Einbildungen und Hirngespinste. Deshalb neigt der ständig Alleinlebende zu einem wahnhaften Leben. Wenn es zum Beispiel passierte, daß Abschaffel die Küche seiner Wohnung betrat, und im gleichen Augenblick begann das Aggregat des Kühlschranks zu summen, dann suchte Abschaffel, weil er glaubte, auch das Summen des Aggregats auf sich beziehen zu müssen, nach der Bedeutung dieses Geräuschs für sein Leben. So war er beschäftigt, sein wartendes Leben mit Bedeutungen und Verbindungen auszufüllen, die er untereinander verglich und vollständig ernst nahm.
Die Bedienung kam erst, nachdem Abschaffel dann doch durch mehrfaches Aufblicken und Drehen des Kopfes verstärkt auf sich aufmerksam gemacht hatte. (...). Solche Lächerlichkeiten nahm Abschaffel in unerhörter Vergrößerung wahr. Er fühlte sich mißachtet und verlassen, und es war ihm nicht möglich, auch nicht für kurze Zeit, sich in die bedrängte Lage der Bedienung zu versetzen."
(1977, S.14f.)

Was heutzutage an diesem Text irritiert, das sind GENAZINOs Verallgemeinerungen, wonach solches Verhalten typisch sein soll für "ständig Alleinlebende". Als GENAZINO die Abschaffel-Trilogie verfasste, da war der Begriff "Single" für Alleinlebende noch nicht üblich und das Alleinleben galt als durchweg defizitäre Lebensweise. Heutzutage muss man die Geschichte von Abschaffel als Geschichte eines überängstlichen und sozial isolierten Alleinlebenden lesen. Das Alleinwohnen und die Partnerlosigkeit verstärkt bei überängstlichen Menschen die negativen Dispositionen.

Soziale Isolation

Der 30jährige Abschaffel ist ein sozial isolierter Alleinlebender, d.h. er wohnt nicht nur allein oder ist partnerlos, sondern er hat auch keinen einzigen Freund. Seine einzige Einbindung ist der Kollegenkreis und ab und zu eine Affäre. Selbst eine überlokale Einbindung fehlt:

Abschaffel

"Es fiel ihm nicht einmal ein, an wen er wenigstens einen Brief schreiben könnte. Seit Jahren hatte er keinen Brief mehr geschrieben, höchstens Postkarten, aber eigentlich auch keine Postkarten. Es ärgerte ihn, daß ihm seine Eltern einfielen, an die er schreiben konnte. Immer die Eltern, etwas Besseres stellte sich in seinem Leben nicht ein."
(1977, S.18)

Wenn Abschaffel also sein Büro nach der Arbeit verlässt, dann ist er ganz und gar auf sich selbst zurückgeworfen:

Abschaffel

"Später, nach Feierabend, stolperte Abschaffel in der Innenstadt umher. Er versuchte, das Eintreffen in seiner Wohnung möglichst hinauszuschieben, obwohl er nicht wußte, was er in der Stadt machen sollte. Er schob sich durch Kaufhäuser und Fußgängerzonen und wurde nicht zufrieden dabei. Er hatte wieder das Gefühl, alles, was sein Leben ausmachte, könne nicht so bleiben. Obgleich er immer wieder Miniaturen erlebte, die ihn für Augenblicke heiter stimmten."
(1977, S.42)

In der Anonymität der Großstadt Frankfurt kann sich Abschaffel in die am wenigsten angstbesetzte Beobachterrolle zurückziehen.

Selbstunsicherheit und Selbstabwertung

Mit der erhöhten Selbstaufmerksamkeit geht eine reduzierte Aufmerksamkeit für die soziale Außenwelt einher, die selektiv auf negative Aspekte ausgerichtet ist:

Abschaffel

"Plötzlich bekam er Lust, alle Leute reglementieren zu wollen. Ein Mann war vor ihm durch ein Kaufhaus gegangen, und Abschaffel bemerkte, wie dieser Mann zweimal entgegenkommende Personen mit der Schulter angerempelt hatte. Dieser Mann war der Auslöser für seine Reglementierlust. Er hätte ihn am liebsten angehalten und ihm gesagt, daß er so, wie er es getan hatte, nicht durch ein Kaufhaus gehen könne. Dann gefiel ihm die Jacke eines anderen Mannes nicht. Die Jacke hing nach vorn herunter, und die Revers flatterten wie Lumpen. Abschaffel wollte ihm sagen, wo sich die Anzugabteilung befand. Seine Lust, sich über alles zu beschweren, erstreckte sich am Ende auf alle Personen, die zu klein, zu alt, zu schäbig waren. Endlich fiel er sich selbst auf, und er beruhigte sich augenblicklich. Er dachte mehrfach. Mein Gott, mein Gott, und es legte sich die Unruhe.
Nun beschimpfte er sich selbst. Das konnte er genausowenig ertragen, schon gar nicht auf Dauer."
(1977, S.12)

Am Ende der Gedankenkette steht hier die Selbstabwertung, die typisch ist für selbstunsichere Menschen.

Sozialer Rückzug

Abschaffel lebt nicht nur sozial zurückgezogen, sondern sein Alltag ist auch durch Energielosigkeit und Interesselosigkeit geprägt:

Abschaffel

"Er war es überdrüssig geworden, sich auf etwas Neues einzulassen, ging hinüber ins Zimmer und legte sich auf das Bett. Draußen war es dunkel geworden, und Abschaffel schaltete eine kleine Lampe ein, weil er das Gefühl vermeiden wollte, mit dem langsamen Dunklerwerden des Abends selbst zu verschwinden. Er war müde, ohne einschlafen zu können, und er hatte begonnen, der Lampe zuzusehen, wie sie Licht gab und das Zimmer damit ausfüllte. (...). Bald fühlte er einen schlechten Geschmack im Mund; der schlechte Geschmack war nicht ungewöhnlich, er gehörte zu den bekannten Erscheinungen des Liegens, Halbschlafens und Ausruhens. Er hätte nur aufstehen und ein halbes Glas Wasser trinken müssen, und er hätte keine Gelegenheit mehr gehabt, sich schlecht zu fühlen. Aber er war liegengeblieben und schmeckte den schlechten Geschmack und sagte sich mehrfach: Was für ein schlechter Geschmack. Dabei betrachtete er wieder das Licht in seinem Zimmer, das von der kleinen Lampe ausging, und langsam kam er zu einer schlechten Meinung über das Licht in seinem Zimmer.
(...).
Er ließ es zu, daß seine Langeweile sich langsam ausdehnte."
(1977, S.24f.)

Abschaffel geht weder einem Hobby noch einer anderen Aktivität nach, die ihn auf andere Gedanken bringen könnte und es wundert kaum, dass er lange arbeitet und das Heimkommen hinauszögert: "Er wollte nicht nach Hause gehen, weil zu Haus nichts, gar nichts, sein würde" (S.44). Hobbys wertet Abschaffel als nicht altersgemäß ab:

Abschaffel

"Ratlos saß er in seinem Zimmer. Und wirklich kam er auf den Gedanken, er müßte sich vielleicht ein Hobby zulegen. Hatte er nicht schon immer fotografieren wollen? Jawohl! Fast ging es ihm schon wieder etwas besser, da beschimpfte er sich wegen dieses lächerlichen Einfalls. War es denn schon so schlimm um ihn bestellt, daß er ins Hobbyalter hinüberwechselte? Wollte er seine Trostlosigkeit bebildern? Was im Ernst wollte er denn fotografieren?"
(1977, S.74)

Was Hänschen nicht gelernt hat, das lernt Hans nimmer mehr, könnte man diese Perspektive bezeichnen. Lebenslanges Lernen war in den 70er Jahren noch keine Selbstverständlichkeit. Erst im zweiten Teil Die Vernichtung der Sorgen erfährt der Leser, dass Fotografieren die letzte Station lebensregelnder Jugendwünsche war. Nach der Tarzan- , Rennrad- Elvis- und Aquariumsphase wünschte sich Abschaffel einen Fotoapparat. Bereits die Aquariumsphase war ein erster sozialer Rückzug des 16jährigen Abschaffel, denn

Die Vernichtung der Sorgen

"ein Aquarium war ein Beruhigungsinstrument für einen ewig Enttäuschten, der sich abends zu seinen kleinen Fischen setzte und deren Anspruchslosigkeit bewunderte. (...). Mit dem Bild der ruhigen Fische, die für ihn vollkommene Zufriedenheit und also Wunschlosigkeit ausstrahlten, wollte er sich noch heute manchmal trösten."
(1978, S.28)

Mit 17 unternimmt Abschaffel einen letzten Ausbruchsversuch:

Die Vernichtung der Sorgen

"Er las Fotozeitschriften und suchte in der Zeitung nach Kaufangeboten, in denen vielleicht ein gebrauchter Apparat günstig angeboten wurde. In dieser Zeit erfuhr ein Onkel von seinem Wunsch, und der Onkel sagte, er hätte einen gebrauchten Fotoapparat, und er würde ihm den Apparat schenken. Es sei nur eine kleine Reparatur nötig, dann sei der Apparat wie neu. So dicht war eine Wunscherfüllung niemals zuvor an ihn herangekommen. Er gab alle Versuche, selbst zu einem Apparat zu kommen, sofort auf, und wartete auf das Geschenk des Onkels."
(1978, S.28)

Die kleine Reparatur stellt sich jedoch als Unmöglichkeit heraus, denn das notwendige Ersatzteil war nicht mehr lieferbar:

Die Vernichtung der Sorgen

"So erhielt Abschaffel nach mehreren Wochen, in denen er sich bereits beschenkt und erfüllt geglaubt hatte, den Apparat als wertloses Ding zurück. Nach dieser Versagung hatte er nicht mehr die Kraft, sich noch einmal einem neuen Wunsch zuzuwenden. (...). Er konnte sich nicht erinnern, nach dem Fotoapparat noch einmal etwas gewünscht zu haben, was er auf ähnliche Weise mit der Fügung seines Lebens in Verbindung gebracht hätte. Ob er, wenn er damals einen Fotoapparat gekriegt hätte, heute ein selbständiger, viel beschäftigter, vielleicht sogar berühmter Fotograf geworden wäre? Wie kranke Gespenster tauchten solche Fragen auf. Oder sollte er sich gar heute einen Fotoapparat kaufen und es noch einmal versuchen? Nein, das ging auch nicht. Zu späte Wunscherfüllung war eben keine Wunscherfüllung mehr. Die Erfüllung wäre nur eine Erinnerung an einen alten Wunsch gewesen, der verletzt worden war, weil er so lange unerfüllt blieb. Deswegen wandelte sich zu späte Wunscherfüllung in Enttäuschung um.
Oder vielleicht doch nicht? Er wollte gerade anfangen, diese ihn innerlich schmerzenden Vorgänge von einem anderen Ende her noch einmal durchzudenken, da klingelte das Telefon".
(1978, S.28f.)

Offenbar hat der jetzt 31jährige Abschaffel die jugendliche Wunschversagung immer noch nicht angemessen verarbeitet.

Exkurs: Erlernte Hilflosigkeit

Der Psychologe Martin SELIGMAN hat in den 1970er Jahren das Konzept der erlernten Hilflosigkeit entwickelt. Joachim C. BRUNSTEIN beschreibt erlernte Hilflosigkeit in einem Handwörterbuch, herausgegeben von Angela SCHORR, folgendermaßen:

Erlernte Hilflosigkeit

Eine Person "hat gelernt, daß sie hilflos ist, wenn sie nach vergeblichen Versuchen zu der Überzeugung gelangt ist, keine Handlungsmöglichkeiten zu besitzen, um positive Ereignisse herbeiführen oder negative Ereignisse abwenden zu können".
(aus: Handwörterbuch der Angewandten Psychologie 1993, S.199)

Erfahrungen der Unkontrollierbarkeit führen nach dieser Vorstellung zu Fehlanpassungen in künftigen Situationen. Erlernte Hilflosigkeit kann nach BRUNSTEIN (1993) auf drei Defizite zurückgeführt werden. Zum einen können objektiv vorhandene Möglichkeiten nach Hilflosigkeitserfahrungen nicht mehr erkannt werden. Dies führt zu Interessenverlust und damit zu Passivität. Die Vorstellung der Unkontrollierbarkeit  ist zudem mit emotionalen Belastungen verbunden, die im Extremfall zur Depression führen können.

Erklärungsmuster von Optimisten und Pessimisten

SELIGMAN bezeichnet in dem Buch Pessimisten küsst man nicht die Depression als Extremfall des Pessimismus (vgl. 1991, S.19). Die Erklärung des eigenen Verhaltens hält SELIGMAN für entscheidend bei der erlernten Hilflosigkeit. Er unterscheidet dabei zwischen Pessimisten und Optimisten:

Pessimisten küsst man nicht

"Die Art, in der Sie negative Dinge zu erklären suchen, beschränkt sich nicht allein auf die Worte, die Sie äußern, wenn etwas schiefgeht. Vielmehr handelt es sich um tiefsitzende Muster, die Sie in der Kindheit und Jugend erlernt haben. Ihre Erklärungsmuster hängen direkt mit Ihrer Ansicht darüber zusammen, welchen Platz Sie auf dieser Welt haben - ob Sie denken, Sie seien wertvoll und verdienen etwas Gutes, oder Sie seien wertlos und hätten keine Hoffnung. An Ihren Erklärungen kann man erkennen, ob Sie ein Optimist oder ein Pessimist sind."
(1991, S.57)

SELIGMAN beschreibt drei Aspekte von Erklärungsmustern (Attributionsstilen). Die erste Dimension bezieht sich auf die Dauerhaftigkeit:

Pessimisten küsst man nicht

"Menschen, die leicht aufgeben, halten die Ursachen der unangenehmen Ereignisse, die ihnen zustoßen, für dauerhaft - das Schlechte wird anhalten und ihr Leben bleibend beeinträchtigen. Menschen, die der Hilflosigkeit widerstehen, halten die Ursachen negativer Ereignisse für zeitweilig, also für vorübergehend."
(1991, S.57)

Die zweite Dimension Geltungsbereich bezieht sich nicht auf die Zeit, sondern auf die Anzahl von Situationen, für die ein Erklärungsmuster gilt:

Pessimisten küsst man nicht

"Menschen, die globale Erklärungen führ ihre Fehlschläge geben, resignieren in allen Bereichen, wenn sie auf einem einzigen Gebiet einen Mißerfolg hinnehmen müssen. Menschen, die spezifische Erklärungen geben, werden möglicherweise in diesem einen Bereich ihres Lebens hilflos, machen aber in den übrigen Bereichen weiter."
(1991, S.61)

Die Kunst des Hoffens und die Praxis der Verzweiflung

Nach SELIGMAN ist die Dauerhaftigkeit und der Geltungsbereich von Erklärungsmustern der Stoff, aus dem die Hoffnung ist:

Pessimisten küsst man nicht

"Die »Kunst des Hoffens« besteht darin, zeitweilige und spezifische Ursachen für unser Unglück zu finden. Hilflosigkeit wird durch die zeitweiligen Ursachen zeitlich begrenzt, und die spezifischen Ursachen begrenzen die Hilflosigkeit auf die spezifische Situation. Demgegenüber führen dauerhafte Gründe zu langanhaltender Hilflosigkeit, und globale Gründe dehnen die Hilflosigkeit auf alle Unternehmungen aus. Die »Praxis der Verzweiflung« besteht darin, dauerhafte und globale Gründe für unser Unglück zu finden."
(1991, S.64)

Erklärungsmuster und Selbstwertgefühl

Die dritte Dimension nennt SELIGMAN Personalisierung. Er sieht sie im Zusammenhang mit unserem Selbstwertgefühl:

Pessimisten küsst man nicht

"Wenn unerquickliche Dinge geschehen, können wir uns selbst die Schuld daran geben (internal) oder anderen Menschen oder den Umständen (external). Menschen, die sich bei Mißerfolgen selbst Vorwürfe machen, haben als Folge davon ein schwaches Selbstwertgefühl. Sie glauben, sie seien wertlos, unbegabt und nicht liebenswert. Menschen, die äußere Umstände verantwortlich machen, verlieren ihr Selbstwertgefühl nicht, wenn Unerfreuliches passiert.
Ein schwaches Selbstwertgefühl geht gewöhnlich auf internale Erklärungsmuser für negative Ereignisse zurück."
(1991, S.65)

Wendet man SELIGMANs Theorie des Pessimismus auf Abschaffel und seine Bewertung von Hobbys an, dann lässt sich Abschaffel unschwer als Pessimist einordnen. Sein Erklärungsmuster ist dauerhaft. Was mit 17 nicht geklappt hat, das klappt jetzt auch nicht mehr. Sein Erklärungsmuster ist global. Nicht nur Fotografieren, sondern alle Hobbys werden abgelehnt. Abschaffel kommt gar nicht erst auf die Idee, dass Hobbys auch Anknüpfungspunkte für Gesprächsthemen bieten und damit Kontaktmöglichkeiten eröffnen. Abschaffel ist darauf fixiert, dass das Fotografieren zum Berufsfotografen führen muss. Vielleicht wäre er gerne eine Modefotograf geworden wie der Protagonist im Kultfilm Blow up von Michelangelo ANTONIONI oder vielleicht war der Twen-Fotograf David HAMILTON sein Idol. Die Alternative, es als Amateurfotograf in einem Verein zur Anerkennung zu bringen, existiert für Abschaffel nicht.  

Die erfolgreiche Einsetzung von Optimismus als Strategie

Die Theorie von SELIGMAN setzt voraus, dass hilflose Personen ihre Fähigkeiten falsch einschätzen. Sie unterschätzen ihre persönlichen Möglichkeiten und geben zu früh auf. BRUNSTEIN wendet deshalb ein:

Erlernte Hilflosigkeit

"Beispielsweise liegen Befunde vor, wonach »hilflose« Personen keine kognitive Defizite entwickeln, sondern ihre Kontrollmöglichkeiten illusorisch überschätzen und hoch motiviert sind, sich ihrer Fähigkeit, Kontrolle auszuüben, bei nächster Gelegenheit vergewissern (...). Wenn dennoch Defizite bei der Bewältigung von neuen Anforderungen auftreten, so liegt dies häufig an (...) Grübeleien, die die Handlungsfähigkeit einschränken und Zustände von Hilflosigkeit und Depression aufrechterhalten".
(aus: Handwörterbuch der Angewandten Psychologie 1993, S.200)

Die Einwände sind sicher berechtigt und die erfolgreiche Einsetzung von Optimismus als Strategie ist an das Vorhandensein der notwendigen Kompetenzen geknüpft. Nichtsdestotrotz gilt gerade für sozial ängstliche Personen:

Das Störungskonzept der sozialen Phobie oder der sozialen Angststörung

"Eigene soziale Fähigkeiten werden verzerrt wahrgenommen: sie sind zwar in der Regel beeinträchtigt, die eigenen Defizite werden jedoch noch negativer gesehen, als sie tatsächlich sind. Die zugrunde liegenden kognitiven Schemata sind durch Perfektionismus bezüglich sozialer Standards, die Erwartung von Ablehnung bei Verfehlen der Standards (konditionale Annahmen) sowie ein negatives Selbstwertgefühl (unkonditionale Annahmen) gekennzeichnet."
(aus: Soziale Phobie und Soziale Angststörung 2002, S.16)

Die Folgen des Perfektionismus

Abschaffel projiziert seinen eigenen Perfektionsanspruch auf seine soziale Umwelt:

Abschaffel

"Er sah einen Gastarbeiter (...), der ein Radiogerät, das in einem Plastikbeutel verpackt war, auf den Armen trug. Das Radio war eingeschaltet, und der Gastarbeiter drehte durch den Plastiküberzug hindurch an den Knöpfen und wechselte die Sender. Abschaffel glaubte, als er den Gastarbeiter sah, daß er sich niemals so verhalten könne, und diese Einschränkung reichte aus, den Gastarbeiter zu beschimpfen. Was die alles können! dachte Abschaffel; was die sich alles herausnehmen hier! Wie geschmacklos die sein können, ohne sich zu schämen! Ich kann nirgends hingehen und so geschmacklos sein! Wie lange die es aushalten, von anderen gesehen zu werden, die nicht mit ihnen einverstanden sind! Keine Minute würde ich so leben können, aber die können es, die schon, diese charakterlosen Lumpen!"
(1977, S.44)

Die eigenen erhöhten Ansprüche lassen selbst Gespräche mit Bekannten problematisch werden. Dem Anspruch jederzeit möglichst originell und geistreich zu sein, kann Abschaffel im Alltag selten gerecht werden. Die Folge sind peinliche Begegnungen:

Abschaffel

"Er traf einen früheren Bekannten (...). Sie blieben beide stehen und waren eine Weile verdutzt über die Belanglosigkeit der Sätze, die sie sich zur Begrüßung sagten. Sie sagten sich nur, was sie schon voneinander wußten (...). Die Scham über diese Dürftigkeit forderte eine rasche Verabschiedung."
(1977, S.12f.) 

Peinlichkeiten und Scham

Die Erfahrung einer Peinlichkeit ist im Allgemeinen mit Scham, Verlegenheit oder Unsicherheit verbunden. Abschaffel versucht deshalb Begegnungen zu vermeiden: "er mußte darauf achten, daß ihm niemand begegnete, weil ihm die Scham den Mund trockengelegt hatte und Abschaffel hoffte, unerklärt weiterzukommen." (21f.). Die Angst vor peinlichen Situationen führt so weit, dass er mit seinen Nachbarn nichts zu tun haben möchte. Als er von einer älteren Nachbarin gebeten wird, die Katzen übers Wochenende zu füttern, fühlt sich Abschaffel unwohl und überfordert:

Abschaffel

"Er hatte das Gefühl, es sei das Beste, mit anderen Menschen nichts zu tun zu haben und niemals angesprochen zu werden. (...) Abschaffel konnte mit Tieren nichts anfangen, sie waren ihm gleichgültig, der ganze Auftrag war ihm gleichgültig, und Frau Kaiser war ihm auch gleichgültig. (...) Er verkürzte ihr Reden, indem er in ihre Erklärungen hinein aufräumende und erledigende Sätze sagte, und er spürte, wie Frau Kaiser sich unsicher zu fühlen begann, weil sie den Eindruck hatte, es nicht richtig und ausführlich genug geklärt zu haben. Abschaffel bewegte sich in kleinen Schritten rückwärts aus der Küche (...). Sie vollzog Abschaffels kleine Schritte mit, und noch immer redend, waren sie an der Wohnungstür angelangt. Und wirklich hatte Abschaffel das Gefühl, nichts verstanden zu haben, und deswegen Angst, er werde die Katzen nicht richtig füttern können".
(1977, S.23f.)

Alleinwohnen und Ängste

Der Rückzug in die eigene Wohnung verschafft Abschaffel nach solchen Situationen kurzfristige Erleichterung. Aber bald führt die Ereignislosigkeit und Langeweile zur Beschäftigung mit Nebensächlichkeiten:

Abschaffel

"Er nahm ein Geräusch wahr, es mußte von oben kommen. Er war, da er wirklich allein war, sofort bereit, dieses Geräusch zu überschätzen. War einmal etwas in seine Wahrnehmung eingedrungen, beschäftigte er sich gleich übertrieben damit."
(1977, S.74)

Die Beschäftigung mit Geräuschen und ihren Ursachen kann bei Abschaffel fast wahnhafte Züge annehmen, die ihn aus der Wohnung treiben:

Abschaffel

"Alleinsein war nicht gut. Es führte den Kopf auf die Spur der Enge und der Demütigung. Abschaffel hatte seine vorigen Phantasien (...) längst vergessen, als er plötzlich (...) eindeutig das Geräusch einer Waschmaschine hörte (...). Es war nicht zu erklären, und jetzt erst bemerkte Abschaffel, daß er einer Art Wohnwahn zum Opfer gefallen war. Der Wahn bestand darin, daß in die tote Umgebung Leben hineinimaginiert werden mußte, wenn man sich nicht selbst tot vorkommen wollte mit der Zeit. Abschaffel wurde von einer Panik ergriffen. Er führte alle Bewegungen schneller aus, und wenn ihm etwas nicht gelang, wurde er unverhältnismäßig zittrig und nervös. Er beschloß, die Wohnung rasch zu verlassen und in die Stadt zu fahren.
Noch in der U-Bahn wurde er nicht fertig mit der Panik. Er bemerkte es wie immer daran, daß ihm Harmlosigkeiten unheimlich wurden und er zu heftig auf alles reagierte, was ihm auffiel."
(1977, S.102)

In der anregungsarmen Umgebung der eigenen Wohnung kann auch die eigene körperliche Verfassung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit geraten und Ängste auslösen: 

Abschaffel

"An einem Samstagmorgen wachte er auf, als er das Geräusch von Schritten verwechselte mit dem Geräusch von Eiern in kochendem Wasser, wenn sie auf dem Topfboden leicht auf- und niederhopsten. (...). Abschaffel mochte diese Art von Irrtümern nicht; sie waren Zeichen für ihn, daß er zerstreut war, und er wollte nicht zerstreut sein. Erst in der zurückliegenden Woche war er wieder so zerstreut gewesen, daß er glaubte, den richtigen Takt seines Lebens verloren zu haben; er hatte (...) eine Flasche Haarshampoon versehentlich in den Eisschrank gestellt und eine Flasche Sprudel ins Bad. er konnte sich lange bei solchen Zerstreutheiten aufhalten und sich ängstigen; er glaubte dann, diese Fehlgriffe seien sichere Zeichen für das, was in den kommenden Jahren vermehrt auf ihn zukäme. Dann stand er am Fenster und hatte bloß noch Angst."
(1977, S.86f.)

Wird Abschaffel krank oder ist Wochenende, dann kommt ihm das Alleinwohnen unerträglich vor:

Abschaffel

"Er kicherte allein in seiner Wohnung, und es fiel ihm auf. Er stellte das Kichern ein und öffnete das Fenster. Er war wieder an dem Punkt angelangt, wo er ganz deutlich spürte, wie allein er war.
Wahrscheinlich mußte er bald die Wohnung verlassen an diesem Morgen, um einer Verhärtung dieser Gefühle zu entgehen. Es war alles zuwenig, es war alles zu eng, es war alles zu still. Zum erstenmal seit drei Tagen fiel ihm ein, daß er nicht arbeitete. Das Wohnen in diesem Zimmer war vielleicht nur gut für jemanden, der abends müde nach Hause kam. Ein richtiger voller freier Tag in diesem Zimmer wurde zu einer Gemeinheit. Abschaffel machte sich fertig zum Weggehen".
(1977, S.106f.)

In der eigenen Wohnung ist Abschaffel seinen eigenen Stimmungen ausgeliefert:

Abschaffel

"An manchen Tagen bestand er nur aus wehen Hemmungen; wenn er dann irgendwo einen Besuch machte und die Tür öffnete, sagte er etwa: Guten Tag, aber ich muß gleich wieder gehen. An den meisten Tagen machte es ihm wenig aus, allein zu sein. Dann schmorte er in seinen fehlgeschlagenen Anstrengungen und Bemühungen. Wenn alles zu arg wurde, mußte er etwas tun."
(1977, S.34)

Und nicht zuletzt macht die errungene Autonomie durch das lange Alleinwohnen Abschaffel in Situationen, die Hilfe erfordern, hilflos:

Abschaffel

"Abschaffel war es gewohnt, allein zu sein, und so fiel ihm nicht ein, jemanden, vielleicht telefonisch, um Hilfe zu bitten. Obwohl noch jung, glich er darin einem alten Mann, der nicht mehr frei darüber nachdenken konnte, wie ihm zu helfen sei. Abschaffel hielt einfach alles aus und blieb allein."
(1977, S.37)

Öffentlichkeit und Ängste

Die Flucht aus der Wohnung, wenn die Ängste und die Leere zu bedrückend wird, ist für Abschaffel ein eingeübtes Vermeidungsverhalten. Aber auch in der Öffentlichkeit ist Abschaffel Ängsten ausgesetzt, wenn er nicht die Beobachterrolle einnehmen kann:

Abschaffel

"als er in die Straßenbahn stieg, gefiel er sich bereits darin, alt zu sein und alles nicht mehr richtig zu können. (...). Er wäre nicht böse gewesen, wenn sich ihm jemand genähert und durch bloße Anwesenheit zum Ausdruck gebracht hätte, ihm, Abschaffel, könne im Notfall geholfen werden. Natürlich näherte sich ihm kein Mensch, im Gegenteil, es gab in der Straßenbahn einige Personen, die sich durch seinen Anblick veranlaßt sahen, in den hinteren Teil des Wagens weiterzugehen, weil sie vielleicht fürchteten, Abschaffel könne seine Größe und Schwere als Vorteil ausnutzen. Für ihn war es genau umgekehrt; er glaubte, seine Erscheinung werde ihm sogleich Nachteile einbringen. Die sonderbare Angst, es werde ihm etwas geschehen, blieb bei ihm, auch als die Straßenbahn schon einige Stationen gefahren und nichts geschehen war, im Gegenteil es in der Straßenbahn immer ruhiger wurde, fast sanft. Weil ihm nichts zustieß in der Straßenbahn, glaubte er, das eigentliche Unglück geschehe draußen, auf der Straße."
(1977, S.52)

Agoraphobie und die Vermeidung von Hilflosigkeit

Agoraphobie ist nach Gudrun SARTORY die

Phobie

"ausgeprägte Furcht vor Situationen in der Öffentlichkeit, in Menschenmengen und generell in Situationen, in denen keine Flucht nach Hause möglich ist, wie z.B. in öffentlichen Verkehrsmitteln, Kinos, Restaurants, etc."
(aus: Handwörterbuch der Angewandten Psychologie 1993, S.520)

Im Extremfall führt die Agoraphobie dazu, dass ein Mensch sein Heim nicht mehr verlässt.  Diese Phobie wird häufiger bei Frauen als bei Männern diagnostiziert. Abschaffels Verhalten trägt keine ausgeprägten Züge dieser Phobie. Die Vermeidung von Hilflosigkeit ist jedoch ein Kennzeichen, das typisch für diese Angst ist. Im Notfall Hilfe erhalten zu können ist eine Voraussetzung dafür, dass die Wohnung verlassen werden kann. Einmal phantasiert Abschaffel aus, was Agoraphobiker ohne soziales Netzwerk sehnlichst wünschen:

Abschaffel

"Er fühlte sich erschöpft, ohne zu wissen, warum, und er ärgerte sich. Warum bin ich nur so erschöpft, ich kämpfe doch gar nicht, ich kämpfe doch gar nicht, dachte er. Er phantasierte (...), es müßten, vielleicht von den Krankenkassen bezahlt, in der Stadt zahlreiche Helfer geben, kräftige Männer in einer gut erkennbaren Kleidung, an die man sich wenden konnte mit der Bitte, daß man festgehalten werden möchte, wenn man erschöpft war. Abschaffel wollte plötzlich gar nichts mehr selbst machen".
(1977, S.45)

Teufelskreis der Angst

Psychologen sprechen von einem Teufelskreis der Angst, da die Angstsymptomatik von verschiedenen Faktoren ausgelöst werden kann.  Die einzelnen Komponenten können verstärkend wirken und somit die Angst aufschaukeln. So kann z.B. das Lesen eines Zeitungsberichts über Erkrankungen Ängste auslösen oder manchmal reicht sogar ein Wort, das falsch gelesen wird:

Abschaffel

"er vergrößerte die bestehende Unordnung der Einfälle, indem ihm etwas anderes einfiel; vor Tagen war er in einem Café gewesen und hatte in der aufgeschlagenen Speisekarte anstatt EINE PORTION EIS MIT FRÜCHTEN gelesen EINE PORTION EIS ZUM FÜRCHTEN, und eine Kleinangst war aufgetaucht und hatte ihm sogar das Eis verleiden wollen."
(1977, S.39)

Bei Panikattacken beginnt die Angst häufig mit der Wahrnehmung körperlicher Symptome. Hans-Ulrich WITTCHEN schreibt in dem Buch Wenn Angst krank macht:

Wenn Angst krank macht

"Stellen Sie sich einmal vor, Sie bemerken plötzlich, wie Ihr Herz schneller zu schlagen beginnt. Sie habend das Gefühl, Sie können nicht mehr richtig durchatmen. Sie haben keine Erklärung für diese Symptome, werden ängstlich und stellen sich vor, wie Sie nach Luft schnappen. Gleichzeitig denken Sie, daß Sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. Sie nehmen hier also die körperlichen Symptome wahr und bewerten sie als gefährlich - als Warnung vor etwas Schrecklichem, das bald geschehen könnte. Diese Vorstellung erzeugt Angst. Durch die Angst werden nun Ihrem Körper weitere körperliche Veränderungen im Sinne der Streßreaktion ausgelöst, und die körperlichen Symptome intensivieren sich. Ihnen wird jetzt schwindlig und heiß. Sie fangen an zu schwitzen und haben das Gefühl zu schwanken. Ihre Gedanken fangen an zu rasen, und Sie fühlen sich verwirrt. Sie denken, Sie würden verrückt und vollständig die Kontrolle über sich verlieren. Ihr Herz schlägt noch schneller, und Sie spüren Schmerzen in der Brust. Sie nehmen jetzt noch heftiger gewordene Symptome wahr und bewerten sie erst recht als gefährlich, da sie ja nun wirklich stärker geworden sind und Sie sich somit in Ihrer Befürchtung einer Gefahr bestätigt sehen. Das Geschehen schaukelt sich also hoch. Sie werden noch ängstlicher und denken, daß dieses Gefühl nie vergehen wird und Ihnen niemand helfen kann - und dies alles bis hin zum Gefühl, sterben zu müssen, also der Vorstellung des schlimmstmöglichen Unheils."
(1997, S.43f.)

Das Durchbrechen eines solchen Teufelskreis der Angst ist ein wichtiger Bestandteil der Angstbewältigung. Bewältigungsmöglichkeiten werden in einem abschließenden vierten Teil vorgestellt. Als Abschaffel eines Morgens aufwacht und sich nicht mehr erheben kann, weil sich eine Wirbelsäulenerkrankung manifestiert hat, da geht das auch mit einem Verlust des Grundvertrauens in den eigenen Körper einher. In der Folge ist Abschaffel ängstlicher:

Die Vernichtung der Sorgen

"Er war zunehmend der Überzeugung, daß er seine Wohnung eigentlich nicht mehr verstand. Er bemerkte es an unerklärlichen Ängstlichkeiten, die er als Übergriffe der Wohnung auf sich empfand. Erst vor Tagen, beim Betreten der Badewanne, als er sich duschen wollte, war er wieder von einer solchen Ängstlichkeit überfallen worden. Er blickte auf den leicht gerundeten Boden der Badewanne, wie er es immer getan hatte, ohne daß er je besondere Gedanken dabei gehabt hätte, aber vor Tagen drängte sich ihm plötzlich mit unabweisbarer Dringlichkeit die Idee auf, daß er endlich eine Gummimatte mit Saugnäpfen kaufen müsse, die er auf dem Boden der Wanne ausbreitete, damit er niemals ausrutschte. Er war überzeugt, daß er am nächsten Tag eine solche Matte kaufen mußte. Zum Glück war am nächsten Tag alles ganz anders. Er hatte die Gummimatte nicht angeschafft, und seither war die Angst, er könne in der Wanne ausrutschen, auch nicht wieder aufgetreten. Was aber zurückblieb, war eine weitere Körperverdächtigung. Neuerdings konnte sich der Körper offenbar alles erlauben. Ohne jede Vorankündigung, wann immer es ihm gefiel, durfte er die Person Abschaffel erschrecken und einschüchtern."
(1978, S.182)

Bei einer erhöhten Angstbereitschaft wird der Teufelskreis schneller in Gang gesetzt.       

Vorschau auf Teil 3: Partnersuchende und ihre Ängste

Im dritten Teil des Beitrags geht es speziell um Partnersuchende und ihre Ängste. Im Mittelpunkt stehen u.a. Probleme wie Schüchternheit, Erröten und Selbstunsicherheit. Außerdem werden Strategien zur Bewältigung der Angst vorgestellt.

 
     
 
       
   

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