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Thema des Monats

 
       
   

Von der Spaßgesellschaft zur Angstgesellschaft?

 
       
   

Teil 1 - Individualisierung, Kultur der Angst und Neoliberalismus

 
       
     
       
   
     
 

Zitate: Die Kultur der Angst

Feindliches Gebiet

"Du findest immer einen Stacheldraht
und Scherben in der Suppe und im Tee
Da geht die Mauer durch den Küchentisch,
am Schirmständer lehnt ein MG.
Tiefe Gräben unterm Teppichboden,
die Fliesen sind aus kaltem, dünnen Eis.
Und von wegen fließend Wasser, aus den Hähnen
kommt nur kalter, fremder Schweiß.

Glaubt nicht, daß ihr kneifen könntet,
wenn ihr in die Eigenheime flieht.
Wer sich auf sich selbst zurückzieht,
kommt erst recht in feindliches Gebiet."
(aus: Thommie Bayer "Feindliches Gebiet", 1980) 

Keiner hat Zeit

"eva denkt an klaus und sie ruft ihn oft an
mit herzklopfen denkt sie: er geht sicher nicht dran
und wenn sie ihn erreicht, hat er keine zeit
so geht das jetzt seit wochen, sie ist es noch nicht leid

klaus denkt nicht an eva, er ruft sie auch nicht an
wenn das telefon klingelt, geht er einfach nicht ran
und wenn er sie mal trifft, hat er keine zeit
so geht das jetzt seit wochen und er ist es langsam leid

(...)

und ich lieb sie alle und kann mich nicht entscheiden
und eh daß ich nen korb krieg, laß ichs besser gleich bleiben
ich bin auch viel zu schüchtern und hab keine zeit
so geht das jetzt seit wochen und ich bin es längst leid"
(aus: Cochise "keiner hat zeit",  1982)

Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit

"Geh doch mal zum Bahnhof
in der so genannten Frühlingszeit
Sag »Hallo« zu einem Fremden
der einem Zug entsteigt
Lad' ihn ein zur Cola
im Imbiss gegenüber
Vielleicht hat er Probleme
und möchte reden drüber

Wahrscheinlich hat er gar keine Zeit
Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit"
(aus: Tocotronic "Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit, 1995)

Die neue Bitterkeit

"Ich bin ganz schön cool geworden
aber nicht im Sinne von resigniert
Es ist die neue Bitterkeit
sie hat mein Leben reformiert"
(aus:  Britta "Die neue Bitterkeit", 1999)

Angst essen Seele auf

"»Angst« war ein Ideologem par excellence. In den fünfziger Jahren wurde sie nicht nur von oben verordnet, sondern machte zugleich von unten als »(German) Angst«, als »malaise« oder als »Ekel« im internationalen Beatnik- und Existenzialismus-Underground Furore. Sie popularisierte nicht nur die festungsähnlich formierte Kleinfamilie, sondern auch Subjektpositionen wie jene von Binx, des an einer gottlosen Welt erkrankten Protagonisten aus Walker Percys Roman »The Moviegoer«"
(Tom Holert in der Jungle World vom 31.10.2001)

Pille gegen die Schüchternheit

"Eine neue Pille soll helfen, Schüchternheit zu überwinden (...).
Schüchternheit kann dramatische Konsequenzen für den Betroffenen haben. So gibt es Menschen, die Angst haben, neue Personen kennen zu lernen, Telefongespräche anzunehmen oder ins Restaurant zu gehen."
(SAD im Hamburger Abendblatt vom 27.11.2001)  

Angst

"Vor allem jungen Männern hilft die Angst, die Selbstbestimmung aufschieben zu können. Lieber lassen sie sich in einer von Müttern und anderen Frauen bestimmten Geometrie verorten. Der Geburtsvorgang darf nie enden. Aufgehoben wird die Angst nur in einem Lied, das die Fee vom Paradies der unendlichen Möglichkeiten singt."
(Guido Graf in der Frankfurter Rundschau vom 20.04.2002)

 Klick sie weg!

"Die Generation fun ist längst abgelöst von der Generation fear"
(Holger Gertz in der Süddeutschen Zeitung vom 12.10.2002)

Anfang am Ende

"Ich habe nicht mehr viele Freunde, die noch eine feste Stelle haben.
Bin ich der Nächste? Ich habe Angst.
Es ist eine Angst, die ich nicht kannte. Ich wuchs auf mit der Erfahrung zu bekommen, was ich bekommen wollte, und zu werden, was ich werden wollte."

(Henning Sussebach in der ZEIT vom  28.11.2002)

Unantastbar

"gesetzt der fall,
wir hätten keine angst.
(...)

wir wären giganten
unantastbar.
(...)

doch unser motto heisst
keine zeit,
wir spielen mit und tun uns leid."
(aus: Surrogat "Unantastbar", 2003)

Von der Spaßgesellschaft zur Angstgesellschaft?

"Die Party ist lange vorbei, die Spaßgesellschaft hat die Angst entdeckt", schreiben Angelika HAGER & Nina HOROWITZ im Artikel Kriege in der Seele (Profil 24.03. 2003). Das Magazin der Frankfurter Rundschau wagt einen "Blick ins Bodenlose" und der Angstforscher Hans-Ulrich WITTCHEN sieht ein Zeitalter der eskalierenden Angst kommen, denn bereits die 1990er Jahre sind voreilig zum Zeitalter der Angst erklärt worden ( "Angst macht uns attraktiv", FR 29.03.2003).

Gesellschaft und Angst

Tatsächlich ist die Rede von Epochen der Angst eher den forschungsinternen und medialen Aufmerksamkeitszyklen und weniger der realen Verbreitung von Angstgefühlen in der Bevölkerung geschuldet. Indikatoren wie die Anzahl von Behandlungen oder der Konsum von speziellen Medikamenten sagen eher etwas über die gesellschaftliche Infrastruktur oder Tabuisierungs- bzw. Enttabuisierungsprozesse aus. Entscheidender sind historische Wandlungsprozesse, die der Psychotherapeut Stephan LERMER folgendermaßen beschreibt:

Liebe und Angst

"Alle Menschen haben Angst, alle Menschen haben zu allen Zeiten unter Angst und Ängsten gelitten. Nur die Angstquellen und Angstinhalte und auch die Art, mit der Angst umzugehen, haben sich verändert."
(1996)

In Gesellschaften, in denen es primär um das Überleben geht, ist Angst kein öffentliches Thema, sondern selbstverständlicher Teil des Alltags. Ängste zu kultivieren gehört zum "Luxus" von Gesellschaften, die den permanenten Überlebenskampf überwunden oder an die Ränder verdrängt haben. Bezeichnenderweise ist es die Angst vor dem Absturz (Barbara EHRENREICH) und nicht die Angst der Abgestürzten, um die sich das Interesse der mittelschichtorientierten Mediengesellschaft dreht.

Angst vor dem Absturz

"Barbara Ehrenreich, die bekannt ist für ihre angriffslustigen Essays, nimmt in Angst vor dem Absturz das Innenleben der amerikanischen Mittelklasse unter die Lupe. Sie verfolgt den Weg dieser »neuen Mittelklasse« von den »linksliberalen« sechziger Jahren bis zur Yuppiekultur der achtziger Jahre und erzählt die Geschichte einer Wandlung: eine Geschichte, die mit Optimismus und Selbstlosigkeit anfängt und in Resignation und Ratlosigkeit endet."
(aus: Klappentext 1992)

Der Sozialstaat als Angstschutz

Der Sozialstaat ist ein Garant sozialer Sicherheit. In der gegenwärtigen politischen Debatte um den Umbau des Sozialstaats steht die Neudefinition der sozialen Gerechtigkeit im Vordergrund. Dabei wird völlig vergessen, dass der Sozialstaat auch eine Funktion als Angstschutz besitzt.

Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte

Die Rede von der »Single-Gesellschaft« rechtfertigt gegenwärtig eine Demografiepolitik, die zukünftig weite Teile der Bevölkerung wesentlich schlechter stellen wird. In zahlreichen Beiträgen, die zumeist erstmals im Internet veröffentlicht wurden, entlarvt der Soziologe Bernd Kittlaus gängige Vorstellungen über Singles als dreiste Lügen. Das Buch leistet damit wichtige Argumentationshilfen im neuen Verteilungskampf Alt gegen Jung, Kinderreiche gegen Kinderarme und Modernisierungsgewinner gegen Modernisierungsverlierer."

Slogans wie Sicherheit im Wandel verweisen auch auf dieses Moment, obzwar damit meist nur der Aspekt der materiellen Absicherung gemeint ist, während die umfassendere psychische Dimension vernachlässigt wird. Alleinlebende und speziell Elternlose, die keinerlei familiären Rückhalt besitzen, sind durch den Sozialstaat in beruflichen oder privaten Lebenskrisen grundsätzlich integriert. Das Wissen um die Verlässlichkeit des sozialen Netzes im Krisenfall kann als wichtiger Teil des persönlichen Sicherheitsgefühls angesehen werden, das gerade ängstlichen Personen - selbst wenn niemals sozialstaatliche Leistungen in Anspruch genommen werden -  ein Sicherheitsgefühl vermitteln kann, das in ihren persönlichen Beziehungen nicht immer gewährleistet ist. Diese Sozialstaatsabhängigkeit und ihre Gefahren hat der Soziologe Ulrich BECK dagegen als Risikogesellschaft problematisiert. Das Sicherheitsgefühl der Alleinlebenden könnte sich in seinen Augen allzu schnell als trügerisch erweisen.

The Culture of Fear

"There has never been another era in modern history, even during wartime or the Great Depression, when so many people have feared so much. Three out of four Americans say they feel more fearful today then they did twenty years ago. The Culture of Fear describes the high costs of living in a fear-ridden environment where realism has become rarer than doors without deadbolts.Why do we have so many fears these days? Are we living in exceptionally dangerous times? To watch the news, you'd certainly think so, but Glassner demonstrates that it is our perception of danger that has increased, not the actual level of risk. The Culture of Fear is an expose of the people and organizations that manipulate our perceptions and profit from our fears: politicians who win elections by heightening concerns about crime and drug use even as rates for both are declining; advocacy groups that raise money by exaggerating the prevalence of particular diseases; TV newsmagazines that monger a new scare every week to garner ratings. Glassner spells out the prices we pay for social panics: the huge sums of money that go to waste on unnecessary programs and products as well as time and energy spent worrying about our fears."
(aus: Klappentext 1999)

Der US-amerikanische Soziologe Barry GLASSNER, dessen Buch The Culture of Fear 1999 zum Bestseller avancierte, sieht einen Zusammenhang zwischen Individualisierung, Sozialabbau und der Zunahme von Ängsten:

Die Kultur der Angst

"Diese Zunahme der Angst hat viel mit dem amerikanischen Individualismus zu tun (...). Wenn das an einen Punkt kommt, an dem der Einzelne zu sehr auf sich alleine gestellt ist, so wie in den USA, wo während der letzten Jahrzehnte kontinuierlich öffentliche Dienste und Einrichtungen abgebaut wurden, dann kriegen es die Leute eben mit der Angst zu tun."
(SZ 11.03.2003)

Tom HOLERT (Jungle World vom 31.10.2001) geht noch einen Schritt weiter und macht die Angst als eine Schlüsseltechnologie der Macht zum Thema. Durch Krisen-Infotainment wird Angst produziert und zugleich Zeichen der Verängstigung abgestraft. Die Debatte um den Umbau des Sozialstaats kann als ein solches Krisen-Infotainment interpretiert werden. Die Bindungskräfte von Kollektiven soll gestärkt werden. Solche Kollektive können die Nation, die viel beschworene Zivil- bzw. Bürgergesellschaft oder die Familie sein. Für viele Menschen könnte jedoch die Familie wieder zur schlechten alten Zwangsgemeinschaft (Arthur E. Imhof) werden. Denn wenn gleichzeitig die Arbeitslosigkeit steigt und die Sozialleistungen gekürzt werden, so werden vor allem jugendliche und ältere Arbeitslose zu Problemfällen. Im aktuellen Schweizer Nachrichtenmagazin Facts wird u. a. aufgezeigt, was Jugendarbeitslosigkeit für die Mittelschichtjugend bedeutet:

Suche Arbeit!

"Wenn die junge Generation arbeitslos wird, verliert sie mehr als einen Job. Eine eigene Wohnung liegt oft nicht drin, viele wohnen bei den Eltern. Kontakte zu andern Menschen, während der Arbeit eine Selbstverständlichkeit, gibts deutlich weniger. Plötzlich ist es schwierig, einen Partner zu finden. Für den Ausgang, Bars, Discos und Dancings fehlt meist das Geld. Neue Kleider kann man sich nicht mehr kaufen, Ferien werden schon gar nicht in Betracht gezogen. Im Konkurrenzkampf mit ihren Altersgenossen, die Geld verdienen, unterliegen sie an allen Fronten".
(Nadja Pastega & Harald Fritischi im Magazin Facts Nr.14 v. 04.04.2003)

Ausgeblendet bleiben im Bericht diejenigen, die zu den großen Verlierern gehören, weil sie noch nicht einmal zur Mittelschicht gehören. Alleinlebende können auch in das Nichts der Obdachlosigkeit abgleiten. Im neoliberalen Zeitalter herrscht Zwang zur Individualisierung. Wer den Anforderungen nicht gerecht wird, der gehört zu den Individualisierungsverlierern. Der richtige Umgang mit der eigenen Angst gehört in einer solchen Gesellschaft zur unverzichtbaren Kompetenz im Kampf der Existenzsicherung.

Die Normalität der Angst zwischen Angstfreiheit und Überängstlichkeit

Das Angstgefühl gehört zur normalen Grundausstattung des Menschen. Hans-Ulrich WITTCHEN bezeichnet den völlig angstfreien Menschen deshalb als Psychopathen. Während der völlig angstfreie Mensch also eher eine direkte Bedrohung für seine Umgebung bzw. die Gesellschaft darstellt, ist der überängstliche Mensch zuallererst ein Problem für sich selbst.

Der Umgang mit den eigenen Ängsten als Problem

Der Mensch kann den eigenen Ängsten auf zweierlei Arten begegnen: Er kann sie bewältigen oder abwehren. Nur im zweiten Fall wird die Angst zum dauerhaften Problem.
 
Während sich die Psychoanalyse mit vielfältigen Formen der Angstabwehr und deren Vergangenheitsbezug beschäftigt, konzentriert sich die psychologische Verhaltensforschung auf das Vermeidungsverhalten der ängstlichen Personen im Hier-und-Jetzt. Stephan LERMER hat in dem populärwissenschaftlichen Buch Liebe und Angst sieben Persönlichkeitstypen beschrieben, die jeweils durch eine spezifische Form der Angstabwehr gekennzeichnet sind. Er unterscheidet den Verdränger, das Chamäleon mit seiner Überidentifikation mit einem Rollenmodell, den Projektor auf der immerwährenden Suche nach Sündenböcken, den Unglaubwürdigen mit dem Hang zur Selbstverleugnung, den Logiker mit seiner Vorliebe für Rationalisierungen, den regressiven Infantilen und den Vermeider. Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, dass es neben diesen therapeutischen Formen der Angstbewältigung und -abwehr auch kollektive (sub-)politische Strategien gibt, die in Zukunft wieder an Bedeutung gewinnen könnten. 

Wie die Angst zum Problem für den Betroffenen wird

Die Einschränkungen, die infolge von Erwartungsängsten, d.h. der Angst vor der Angst, entstehen, beeinträchtigen mehr oder weniger schleichend die Lebensqualität von ängstlichen Menschen. Häufig muss der Leidensdruck groß sein, bis die betroffenen Menschen erste Schritte zur Bewältigung ihrer Angst wagen. Bei der Angst ist der Krankheitsgewinn oftmals größer als der subjektiv empfundene Verlust an Lebensqualität. Vielleicht muss zuerst der Partner das zerbrechliche Arrangement der Angstgemeinschaft aufkündigen. Oder ein Partner wird gar nicht erst gefunden. Nicht zuletzt kann der Körper mit Symptomen reagieren, die zum Handeln zwingen.

Die Formen der Angst

Angstforscher unterscheiden verschiedene Angstphänomene. Zum einen kann zwischen spezifischen Phobien und generalisierten Ängsten differenziert werden. Bei ersteren können einzelne Situationen (z.B. das Fahren mit Aufzügen oder das Überqueren weiter Plätze) oder Reize (z.B. Spinnen) identifiziert werden, die eine Angst auslösen. Bei generalisierten Ängsten ist der Angstauslöser nicht mehr einfach bestimmbar. Jede Situation kann potenziell angst auslösend sein. Panikattacken sind im Gegensatz zu Phobien dadurch gekennzeichnet, dass sie wie aus heiterem Himmel auftreten. Plötzlich und unerwartet werden die Betroffenen mit ihrer Angst konfrontiert. Der Franzose Romancier und Lyriker Michel HOUELLEBECQ hat in seinem Gedichtband Suche nach Glück eine solche Situation beschrieben:

Einkaufszentrum - November

"Als erstes bin ich in eine Tiefkühltruhe gestolpert
Ich fing an zu weinen und hatte etwas Angst
Irgendwer maulte, ich würde die Stimmung vermiesen
Um normal zu wirken, ging ich lieber weiter.

Herausgeputzte Vorstädter mit gnadenlosem Blick
Schlichen beim Mineralwasser umeinander herum.
Dumpfe Geräusche wie im Zirkus, wie eine verhaltene Orgie
Stiegen von den Regalen auf. Mein Gang war unbeholfen.

Ich brach vor der Käsetheke zusammen;
Zwei alte Damen standen da, Sardinen in der Hand.
Die erste dreht sich um und sagt zu ihrer Nachbarin:
»Wirklich traurig, ein junger Mann, und das in seinem Alter«"
(aus: Suche nach Glück 2000, S.7)

Die Ursachen der Angst

Lässt man angeborene und biologische Aspekte der Angst außen vor, dann sind Ängste das Produkt von Lernprozessen und können deshalb auch wieder verlernt werden.

 
     
 
       
   

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© 2002-2018
Bernd Kittlaus
webmaster@single-generation.de Erstellt: 04. April 2003
Update: 24. November 2018