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MARTENS, Michael (2008): Nepotismus als Lebensprinzip.
Der griechischen Gesellschaft fehlt der Realitätssinn, sagt der
Soziologe Michael Kelpanides. Die derzeitigen Unruhen im eigenen Land
sieht er nicht als Aufstand einer benachteiligten Generation. Ein
Gespräch,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung
v. 12.12.
DÜCKERS, Tanja (2008): Aufstand der Angepassten.
Krawall in Griechenland: Tanja Dückers über eine
Jugend, die zwischen Straßenschlachten und brennenden Autos die
Realität entdeckt,
in:
Tagesspiegel v. 18.12.
SERALIDOU, Rodothea (2013): Luxusgut Kind.
Erheblicher Geburtenrückgang in Griechenland,
in:
DeutschlandRadio v. 21.10.
ROSER, Thomas (2016): Arme Mütter, verkaufte Kinder.
Geburten: In Griechenland floriert
der Adoptionshandel mit Roma-Babys aus Bulgarien,
in:
Stuttgarter Zeitung v. 08.01.
Der Rechtswissenschaftler Eberhard EICHENHOFER bringt uns die
neoliberale Sicht auf die EU-Reformbestrebungen und deren
gesetzlichen Niederschlag nahe:
"Da in den
Aufmerksamkeitskreis der europäischen Haushaltsaufsicht auch
die implizite Staatsschuld tritt - also jene Form staatlicher
Leistungszusagen, die aktuell noch nicht wirksam sind, aber in
den auf staatlicher Gesetzgebung angelegten
Leistungsversprechen für die Zukunft angelegt sind und dann
wirkmächtig werden -, führt die Alterung der Bevölkerung auch
zum Anstieg der impliziten Staatsschuld und gelangt so auch in
den Fokus der Haushaltsaufsicht."
Die EU präferiert für die
Mitgliedesstaaten ein kapitalgedecktes Altersvorsorgesystem,
dessen Einführung durch Duldung einer höheren
Staatsverschuldung für solche Rentensysteme gefördert wird:
"Nach der VO (EU) 1175/2011
(...) sind die Mitgliedsstaaten verpflichtet, die
gesamtstaatliche Schuldenquote in Beziehung zum Wachstum der
Staatseinnahmen anzugeben und in diesem Zusammenhang "»Informationen
über implizite Verbindlichkeiten im Zusammenhang mit der
Bevölkerungsalterung« (Art. 7 lit. b) VO (EU) 1175/2011) zu
unterbreiten. Spezielle Regeln (...) sind für die
Haushaltsüberwachung für Rentenreformen vorgesehen, »durch die
ein Mehrsäulensystem mit einer gesetzlich vollständig
kapitalgedeckten Säule eingeführt wird. Mitgliedsstaaten, die
solche Reformen durchführen, dürfen vom Anpassungspfad in
Richtung auf ihre mittelfristiges Haushaltsziel oder von dem
Ziel selbst ... abweichen.«"
Rentenreformen werden
hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der "Verbesserung der
langfristigen Tragfähigkeit des Altersvorsorgesystems
insgesamt" beurteilt. In einer solchen Sicht gelten also
kapitalgedeckte Altersvorsorgesysteme per se als nachhaltig,
denn sie belasten nicht die öffentlichen Haushalte - höchstens
wie in Deutschland für die Subventionierung der Finanzbranche
- so die neoliberale Doktrin der Nachhaltigkeit.
Am Beispiel von
Griechenland wird uns von EICHENHOFER das neoliberale
Rentenmanagement demonstriert, das 2010 mit folgenden
Zielsetzungen antrat:
"Das Ziel einer
Pensionsreform sei (...) die längere Lebensarbeitszeit,
Zurückdrängung von Vorruhestand, Gesundheits- und
Bildungsprogramme für ältere Beschäftigte, Förderung privater
Alterssicherung, Konzentration der Rentenpolitik auf
Armutsprävention und Gleichstellung von Mann und Frau",
zitiert EICHENHOFER
seinen eigenen früheren Beitrag Soziales Europa aus dem
Jahr 2014. Weil die Fremdbestimmung Widerstand erzeugte, soll
die neoliberale Sicht neuerdings den Mitgliedsstaaten als
Selbstbestimmung zugeschrieben werden. Hauptziel ist die
Überwindung der "Abhängigkeit von Zuschüssen aus dem
Staatshaushalt" und damit die baldige "Selbstfinanzierung" der
Alterssicherung:
"Für die Alterssicherung
bedeute dies die Vereinheitlichung des Leistungsrechts, einen
einzigen Träger für alle Zweige der sozialen Sicherung zu
schaffen, Frühverrentungen zu unterbinden und die
Beitragsbezogenheit der Rente zu stärken."
Die griechische
Rentenkrise wird uns von EICHENHOFER als Krise mit langem
Vorlauf präsentiert:
"Mit Beginn der
1980er-Jahre begann Griechenland als Demokratie und
EU-Mitglied das eigene Rentensystem stark auszubauen."
EICHENHOFER bezieht sich
zu den "Pathologien des griechischen Alterssicherungssystems"
auf die Ausführungen von SPRAOS & TINIOS, die 1997 den Kollaps
des griechischen Alterssicherungssystems bis 2010
prophezeiten. Dass 2010 ein erstes Hilfspaket für Griechenland
notwendig wurde, soll hier offenbar die Glaubwürdigkeit deren
neoliberaler Erzählung stärken. Bei EICHENHOFER sucht man
vergeblich irgendwelche Fakten zur griechischen
Rentenversicherung, sondern lediglich Bewertungen wie die
folgende:
"Eine unselige Allianz
aus voreingenommenen Journalisten, verbohrten Professoren und
ruchlosen Gewerkschaftsführern"
hätten die notwendigen
Reformdebatten verhindert. Dass Griechenlands Probleme in
erster Linie der schlechten Einnahmesituation aufgrund der
Steuerflucht der Reichen und den Auswirkungen der weltweiten
Finanzmarktkrise zu verdanken war - darüber herrscht
Stillschweigen.
EICHENHOFER ist ein
Anwalt, der die staatliche Alterssicherung vor allem auf ein
Fürsorgesystem der Grundsicherung reduzieren will:
"Rentenbeitrag und -höhe
(...) bestimmen (...) nicht nur die Einnahmen und Ausgaben der
Rentenversicherung, sondern zugleich die Kostenbelastungen für
Beschäftigte und Unternehmen und die Kaufkraft der Renterinnen
und Rentner. Wirtschafts- und Sozialpolitik unterscheiden sich
(...) in den Blickwinkeln, diese Gegenstände zu betrachten.
Der wirtschaftliche Blick betrachtet sie unter
Effizienzgesichtspunkten; der sozialpolitische Blick muss vor
allem die Existenzsicherung gewährleisten, weil darin der
Auftrag sozialer Sicherheit entscheidend liegt."
Zur EU gäbe es keine
Alternativen, erzählt uns EICHENHOFER zum Schluss, um die
Disziplinierung der Mitgliedsstaaten in Sachen Alterssicherung
zu rechtfertigen. Mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU
("Brexit") könnte eine solche autokratische Sicht obsolet
geworden sein.
HÖHLER, Gerd
(2016): Weihnachtsgeld für arme Rentner.
Griechenlands Regierung verteilt
Steuerüberschuss. Anzeichen für Neuwahlen mehren sich,
in: Frankfurter
Rundschau
v. 10.12.
"Rund 1,6 Millionen
Pensionäre mit weniger als 850 Euro Rente im Monat, bekommen zu
Weihnachten eine einmalige Sonderzahlung von 300 bis 830 Euro",
erklärt uns Gerd HÖHLER ein
Ankündigung des Regierungschefs von Griechenland.
PILLER, Tobias & Werner MUSSLER
(2016): Weihnachtsgeld für griechische Rentner.
Tsipras verteilt Mehreinnahmen aus
dem Staatshaushalt,
in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung
v. 10.12.
"Tsipras (...) hat (...) für
1,6 Millionen Rentner eine einmalige Rentenzulage angekündigt. Je
nach Rentenanspruch sollen die Rentner mit Monatsbezügen bis zu
800 Euro eine weitere Zahlung von bis zu 800 Euro erhalten",
erklären uns PILLER & MUSSLER.
FRAUNBERGER, Richard (2017): Der
Traum vom Süden.
Ein Haus am Mittelmeer - es ist der
Traum vieler. Doch wie ist es wirklich, dort zu bauen und zu leben?
Noch dazu in Griechenland, mitten in der Krise. Einblicke in ein
Land, das nach acht Krisenjahren und drei Hilfsprogrammen nicht von
der Stelle kommt,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 05.08.
Leider lernen wir nichts über die
Probleme in Griechenland, sondern bekommen von Richard FRAUNBERGER,
der zuletzt 2008 das nicht mehr neu aufglegte Reportagenbuch
Jedes Dorf ein Königreich: Griechische Kontraste
veröffentlichte, die deutsche Sichtweise eines Freiburgers
geschildert, der im Urlaubsort
Kymi auf der
griechischen Modeinsel Euböa ein Haus baute. 2007 ist er mit
seiner Frau nach Griechenland gezogen. 2012 hat er seinen Hausbau
gemäß FRAUNBERGER beschlossen. Nach 5 Jahren ist das Haus fertig
geworden.
2015 erschien der Artikel
Alles beim Alten in der Zeitschrift IP-Themenheft Hellas
Wahnsinn. Damals hießen die Häuslesbauer anders, aber die
Geschichte ist ähnlich und spielte sich auf der gleichen
griechischen Insel ab, nur dass der Hausbau "Kurz vor dem Ausbruch
der Krise" begann und nur 3 Jahre dauerte. Damals hieß es:
"Trotz aller Widrigkeiten sind
Rena und Ilias zufrieden mit ihrem dörflichen Leben. Lärm, Stau,
Streiks – nichts davon gibt es auf dem Land. Doch die Idylle trügt.
Seit dem Euro gleicht die Insel einem Naherholungsgebiet Athens. Bis
2010 wurde überall auf Euböa gebaut. Küste und Berge sind
zersiedelt. Neben Aliveri, auf einem kahlen Hang mit Meeresblick,
entstand in nur acht Jahren ein Neubaugebiet mit über 500 Häusern;
die meisten davon fürs Wochenende."
Dagegen heißt es nun in der
FAZ:
"Euböa, eine Insel wie aus der
Zeit gefallen, fern des Massentourismus, mit viel Ziegen, Schafen
und blechernen Ställen, erlebte einen Bauboom. Nun ist die
Bauwirtschaft abgestürzt, der Staat steht seit acht Jahren am
Abgrund, und der Traum vom Wochenendhaus ist zerplatzt. Insolvente
Unternehmen, Rekordarbeitslosigkeit, gesunkenes Einkommen,
gestiegene Steuern, höhere Sozialabgaben und eine saftige
Immobiliensteuer - viele Griechen können ihre Kredite nicht mehr
bezahlen. Andere haben sich mit einem zweiten Wochenendhaus
schlichtweg übernommen. Reiner Lindauer ist umgeben von Rohbauten,
Grundstücken und Häusern, die zum Verkauf stehen. Und niemand
kauft."
In einem
Reisebericht von FRAUNBERGER aus dem Jahr 2009 wird Euböa
dagegen als das ganz andere Griechenland geschildert:
"Keine drei Autostunden sind es
nach Athen. Trotz der Nähe zur Hauptstadt ist sie ein Mauerblümchen
unter den griechischen Inseln. Dabei hat sie alle Zutaten:
kristallklares Meer, blauen Himmel, geweißelte Kapellen auf
macchiabewachsenen Gipfeln, schroffe Berge und sichelförmige
Strände, an denen man leben kann wie ein Hippie. Die Griechen nennen
sie Evia. Sie ist die zweitgrößte Insel nach Kreta. Aber sie ist
keine Insel. Sie ist die geografische und kulturelle Verlängerung
Attikas.
Zwei Brücken und einige Fähren verbinden sie mit dem Festland. An
sonnigen Wochenenden kommen die Athener. Sonst herrscht Ruhe.
Verglichen mit Rhodos, das dreimal kleiner ist und über achtmal so
viel Betten verfügt, ist Evia ein Zwerg unter den Inseln. Was auch
daran liegt, dass die Schöpfer der europäischen Zivilisation sich
für den Bau großer Tempel und Theater andere Regionen aussuchten.
Euböa ist ein ganzes Griechenland. (...).
Bis vor gut zehn Jahren lag sie noch im Schlummer. Auf Eseln
zockelnde Großväter trieben Schafherden auf den Straßen vor sich
her. An vielen Buchten war nicht einmal eine Taverne zu finden.
Jetzt haben EU-Gelder, Investoren und allen voran der unstillbare
Drang der Griechen nach Ferienhäusern die Insel aus dem Schlaf
gerissen. Ein zweites Mykonos aber, ein touristischer Rummelplatz,
wird sie nie werden. Euböa hat den Charme des Hinterwäldlerischen.
Das schützt sie vor Golfplätzen und Wellnesspalästen."
Eine hinterwäldlerische Insel
wird uns von FRAUNBERGER also als Inbegriff griechischer
Rückständigkeit geschildert. Euböa muss nun herhalten als das
Griechenland, das "nicht von der Stelle kommt".
Fazit: Darf man sich darüber
wundern, wenn neoliberale Berichterstattung nicht mehr ernst
genommen werden kann? Das ist so, als ob jemand
Mecklenburg-Vorpommern, die Uckermark oder das Fichtelgebirge zu
deutschen Vorzeigeregionen stilisieren würde! Was würden wir
Deutschen denken, wenn US-Amerikanern ganz Deutschland als ein Land
wie die Uckermark oder das Fichtelgebirge beschrieben würde?
PILLER, Tobias (2017):
Der tägliche Überlegenskampf in Griechenland.
Die Steuern steigen, die Renten
schrumpfen, und mancher muss eine ganze Großfamilie über Wasser
halten: Mehrere Griechen berichten, wie sie ihren Alltag meistern,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.11.
"Die Generation der Großeltern hält in Ländern wie Italien mit meist
großzügigen Renten die Großfamilie über Wasser. Doch in Griechenland
ist das anders. Dort gab es gut zehn Kürzungsrunden für die Renten.
Das alte, übertriebene Rentenniveau konnte nicht aufrechterhalten
werden, als das Volkseinkommen in kurzer Zeit um 25 Prozent
schrumpfte",
erklärt uns Tobias PILLER in der
Zeitung für Besserverdienende. Nicht die Kürzung der Renten gilt
Neoliberalen als Problem, sondern die Kürzung der Renten von
Besserverdienenden. Lieber sähen es Neoliberale, wenn die Mindestrente
weniger üppig ausfallen würde und stattdessen Besserverdienende
bevorzugt werden würden, denn die Mittelschicht werde zerstört,
zitiert PILLER gut situierte AthenerInnen. Zuletzt wird Deutschland
als gelobtes Land für griechische Mittelschichtangehörige gepriesen.
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