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Thema des Monats

 
       
   

Geburtenkrise

 
       
   

Die politische Konstruktion eines Themas: Indikatoren der Geburtenkrise im Spiegel der Medien und der Wissenschaft

 
       
     
       
   
     
 

Zitate: Die Geburtenkrise

Bevölkerungsrückgang: neue Qualität gesellschaftlicher Probleme

"Vor allem in den den Großstädten ist für die Zukunft auch mit einem sehr hohen Anteil kinderloser Familien zu rechnen. Besonders krasse Beispiele sind Berlin (West) und Hamburg, wo sich selbst für die schon 1961 - 1965 geschlossenen Ehen, aus denen keine weiteren Kinder mehr zu erwarten sind, je 100 Ehen nur 128 bzw. 140 Kinder ergeben."
(Karl Schwarz, 1978, S.40)

Auf dem Weg in die kinderlose Gesellschaft?

"Geburtenanstieg im Jahr 1980 um fast 8 % (...). Hier wird inzwischen ein leichtes Ansteigen der ehelichen Fruchtbarkeit in der Altersjahrgängen besonders der über 25jährigen Frauen erkennbar."
(Max Wingen, 1982, S.118)

Der soziale Wandel der Familienformen in der Bundesrepublik Deutschland seit der Nachkriegszeit

"Die Generationenrate ist von 1,17 im Jahre 1965 auf 0,60 im Jahre 1985 abgefallen und seitdem tendenziell leicht ansteigend."
(Rüdiger Peuckert in Gegenwartskunde 2/1989)

Das System, nicht die Probleme kurieren

"In den neuen Bundesländern hat es in der DDR-Zeit keinen hohen Anteil kinderreicher Familien gegeben. Dennoch kam es zu einem extrem hohen Fertilitätsrückgang nach 1989, der aber bereits den Verzicht auf Kinder überhaupt betraf. Die tatsächliche Kinderzahl je Frau fiel in den neuen Bundesländern auf die weltweit einzigartige Größe von 0.83.
Diese »Nettoreproduktionsziffern« müssen in Erinnerung gerufen werden, weil sie von grundlegender Bedeutung sind. (...) Ein Wert unter eins bedeutete, dass die vorausgegangene Generation nicht ersetzt wird."
(Tilman Mayer in Aus Politik und Zeitgeschichte, 2000)

Kinder! Kinder!

"Zehn Millionen Menschen weniger wird es in fünf Jahrzehnten in diesem Land geben, schätzt das Statistische Bundesamt. Noch schlimmer, ein anderes Szenario besagt, dass wir statt heute 82 Millionen Menschen im Jahre 2050 nur noch 65 Millionen sein könnten."
(Susanne Mayer in der ZEIT vom 10.08.2000)

Familien in Deutschland: Verraten und verkauft

"Im dreissigjährigen Krieg verlor Deutschland zwischen 1618 und 1648 zirka 30 bis 40 Prozent seiner Bevölkerung, und es dauerte weit über 100 Jahre, bis der Vorkriegsstandard der Lebenshaltung wieder erreicht wurde. Etwa die gleiche Größenordnung wird die Bevölkerungsschrumpfung in Deutschland bis zum Jahr 20030 ausmachen."
(Jürgen Borchert im Stern vom 22.02.2001)

Kinderlos ist kein Ideal

"Die Geburtenrate in Deutschland sinkt seit 1967. Seit 1972 liegt sie unter jener der Kriegsjahre 1917/18 und 1944/45, errechnete das Heidelberger Büro für Familienfragen. 1965 wurden in Gesamtdeutschland noch 1,3 Millionen Kinder geboren. 1999 waren es gerade mal 771 000 und damit rund 42 Prozent weniger.
Sollte diese Entwicklung anhalten, werden im Jahr 2030 nur noch 470 000 Kinder geboren."
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(Astrid Wirtz im Kölner Stadt-Anzeiger vom 04.04.2001)

Praktizierte Gleichberechtigung - größere Kinderzahl

"Betrachte man - anders als die deutsche Statistik - nicht nur die aktuelle Geburtenentwicklung pro Jahr, sondern das jeweilige Verhalten von Frauen-Altersgruppen (so genannten 'Kohorten'), so werde deutlich, dass der Geburtenrückgang langfristig weniger dramatisch sein dürfte."
(Ron Lesthaeghe im Interview mit Tome Levine in der Berliner Zeitung vom 14.04.2001)

S.O.S. Familie

"1870 kamen auf eine Frau hierzulande noch durchschnittlich fünf überlebende Kinder. Schon ab 1920 zählten Statistiker nur noch zwei Kinder pro Frau. Der Anteil der kinderlosen Frauen nahm von knapp 10 Prozent im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts auf rund 24 Prozent aller 1960 geborenen Frauen zu."
(Renate Schmidt, 2002, S.24)

Immer tiefer ins demographische Loch

"Als in Westdeutschland der Anteil der zeitlebens kinderlos bleibenden Frauen, der für den Jahrgang 1940 bei 10,6 % gelegen hatte, bis zum Jahrgang 1955 auf 21,9 Prozent gestiegen war, war er in der DDR für den gleichen Geburtsjahrgang auf sieben Prozent gesunken".
(Manfred Sohn in der jungen Welt vom 18.02.2003)

Einführung in die Problematik

In der familien- und sozialpolitischen Debatte geben neuerdings Familienfundamentalisten den Ton an. Der Spiegel ängstigt mit dem letzten Deutschen (05.01.2004). Die ZEIT ruft die "Geburtenkrise" aus (15.01.2004). Der Rheinische Merkur fordert gleich eine neue Bevölkerungspolitik (31.07.2001) und die FAZ setzt die Demographische Zeitbombe auf die Agenda.

Land ohne Lachen

"In Wahrheit ist die Geburtenrate der nächsten Jahrzehnte weitgehend programmiert. Weil die Zahl der potenziellen Mütter bereits seit langem sinkt und Ungeborene nun mal keine Nachfahren in die Welt setzen".
(Jochen Bölsche u.a. im Spiegel v. 15.01.2004)

Neue Rechte und Neue Linke unterscheidet sich nur noch dadurch, dass erstere den Frauen die Schuld geben, während Letztere die Männer ins Visier nehmen. Keine Frage, Kinderlosen wird gegenwärtig der Prozess gemacht. Junge Singles sollen die Zeche dafür zahlen, dass sie gerade jetzt jung sind. Anders als ihre Eltern aus der 68er-Generation haben sie nicht die Gnade des günstigen Altersaufbaus auf ihrer Seite, im Gegenteil: Die Älteren und einige Mitläufer aus den eigenen Reihen  werfen ihnen vor, dass sie ihren Gebär- , Zeugungs- und Erziehungspflichten nicht nachkommen. Keine Kinder, keine Rente und Poppen für die Rente sind die Slogans im Zeitalter der Demografiepolitik. Dieser Sozialpopulismus kann sich auf die populäre Individualisierungsthese stützen. Selten werden die Argumente näher beleuchtet, sondern die ständige Wiederholung der immer gleichen Formeln und Zahlen haben sich zu unhinterfragbaren Gewissheiten verdichtet. Damit hat sich die Strategie des Bevölkerungswissenschaftlers Herwig BIRG als erfolgreich erwiesen. Nicht um Aufklärung, sondern um Propaganda geht es in der politischen Auseinandersetzung. Lebenslang Kinderlose sind eine kleine Minderheit in dieser Gesellschaft. Die Rhetorik des Aussterbens dreht den Spieß um. Es wird behauptet, dass Familien die wirkliche Minderheit wären. Die Lobbyliste der Familienverbände ist lang, während Singles nicht organisiert sind. Das Parteien- und Verbändesystem in Deutschland ist durch eine gravierende Schieflage gekennzeichnet. Singles haben - im Gegensatz zu Yuppies - keine Lobby.

Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte

"Dies ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt. Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
          
 Es wird aufgezeigt, dass sich die nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen."

Im Rahmen dieses Beitrags sollen u. a. die Argumente der Sozialpopulisten mit den Zahlen konfrontiert werden, die wissenschaftlich erhoben werden. Es zeigt sich, dass zum einen ein Erhebungsproblem (Ausrichtung der Bevölkerungsstatistik an der lebenslangen Ehe) besteht und andererseits in der öffentlichen Debatte die Sachlage verzerrt dargestellt wird.  

Die zusammengesetzte Geburtenziffer in Deutschland: Geburten je gebärfähiger Frau (15- bis 45-Jährige)

Die Bevölkerungspolitik arbeitet mit einer Vielzahl von Indikatoren, die das generative Verhalten der Deutschen erhellen sollen. In diesem Beitrag geht es nicht darum die einzelnen Indikatoren abschließend zu bewerten, sondern es sollen die wichtigsten Kennzahlen anhand der öffentlichen Debatte und wissenschaftlicher Erhebungen dargestellt und erörtert werden. Dabei wird deutlich, dass die einzelnen Autoren die gleichen Kennzahlen anders darstellen, bzw. damit bestimmte Aspekte besonders hervorheben. Bei der Geburtenrate wird oftmals zwischen den alten und neuen Bundesländern unterschieden oder zwischen deutschen und ausländischen Frauen differenziert. Nicht immer werden in der öffentlichen Debatte diese Differenzierungen genannt, sodass der Leser mit Geburtenraten zwischen 1,2 und 1,4 konfrontiert wird. Unterschiede ergeben sich auch dadurch, dass das Erhebungsjahr ungenannt bleibt. Nicht selten werden in Büchern oder auch in neuen Artikeln Zahlen verwendet, die bereits einige Jahre zuvor erhoben worden sind. Die Bevölkerungswissenschaftler ROLOFF & SCHWARZ haben z.B. im Jahr 2002 die Geburtenrate von 1999 berechnet, d.h. es liegen 3 Jahre zwischen dem Erhebungsjahr und der Veröffentlichung.

Die Kinder wollen keine Kinder mehr

"zur Zeit jede bundesdeutsche Frau zwischen 15 und 45 im Durchschnitt noch gerade 1,5 Kinder zur Welt bringt (DDR: 1,7)"
(Spiegel Nr.13 v. 24.03.1975)

Wieviele Ernährer braucht das Land?

"Tatsächlich bildet die Bundesrepublik mit einer durchschnittlichen Geburtenrate von 1,41 Kindern pro Frau zusammen mit Italien, Spanien und Griechenland das Schlußlicht in Europa."
(Claudia Pinl in den Blättern für deutsche und internationale Politik, H.9, 2001)

Bericht 2001 über die demographische Lage in Deutschland

"1999 betrug die auf die Nationalität der Mütter/Frauen bezogene zusammengefasste Geburtenziffer (ZGZ) auf 1.000 der deutschen Frauen 1.286 Geburten; gegenüber 1991 waren dies 31 Geburten mehr. (...). Die ZGZ insgesamt in Deutschland stieg von 1.332 (1991) auf 1.361 (1999)".]
(Juliane Roloff & Karl Schwarz in der Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 1/2002, S.25)

Die gierige Generation

"Im Durchschnitt bringen die Frauen in Westdeutschland lediglich 1,4 Kinder und die Frauen in Ostdeutschland ein Kind zur Welt. Die Folgen sind ein drastischer Bevölkerungsrückgang und eine Überalterung unserer Gesellschaft, die das Rentensystem in naher Zukunft zum Kollabieren bringt."
(Bernd W. Klöckner, 2003, S.8)

Land ohne Lachen

"Deutschlands Frauen bringen im Schnitt nur noch 1,35 Kinder zur Welt".
(Jürgen Bölsche u.a. im Spiegel vom 05.01.2004)

Das kinderlose Land

"Geburtenrate bei nurmehr 1,29".
(Susanne Gaschke in der ZEIT vom 15.01.2004)

Die rohe Geburtenziffer: Lebendgeborene je 1000 Einwohner

Die Lebendgeborenen je 1000 Einwohner werden oftmals beim internationalen Vergleich verwendet (z.B. im Spiegel). Der Soziologe Erwin K. SCHEUCH hat jedoch bereits 1978 in seinem Beitrag Kein "Pillenknick". Der Geburtenrückgang ist Ausdruck eines veränderten Zeugungsverhaltens für den Sammelband Schrumpfende Bevölkerung. Wachsende Probleme? Ursachen - Folgen - Strategien, herausgegeben von Warnfried DETTLING, darauf hingewiesen, dass dieser Indikator nur bei konstantem Bevölkerungsaufbau aussagekräftig ist . Die rohe Geburtenziffer wird von der jeweiligen Altersstruktur einer Bevölkerung beeinflusst. Eine Veränderung dieser Geburtenziffer ist deshalb nicht gleichbedeutend mit einem veränderten Gebär- oder Zeugungsverhalten.

Der Sozialhistoriker MARSCHALCK ("Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert") verweist darauf, dass nur die Zusammenschau von bereinigter (z. B. zusammengesetzter Geburtenziffer) und roher Geburtenziffer ein "tendenziell vollständiges Bild von einer Bevölkerungsentwicklung" liefert. (1984, S.9). Ein historischer Vergleich der Lebendgeborenen je 1000 Einwohner anhand zweier Spiegel-Titelgeschichten (1975, 2004) dürfte das Bild vom Geburtenrückgang etwas relativieren:

Die Kinder wollen keine Kinder mehr

"Geburtenrate (...) mit dem Wert 10,0 einen historischen Tiefstand erreicht. Die Bundesrepublik rangiert am Ende sämtlicher Länder der Welt, in Europa weit hinter Ländern wie Frankreich (16,4), Italien (16,0) oder Schweden (13,5); nur die DDR (10,6) ist vergleichbar knapp an Kindern".
(Spiegel vom 24.03.1975)

In der Spiegel-Titelgeschichte über den letzten Deutschen vom 05.01.2004 findet sich ein Schaubild, bei dem Deutschland mit 8,7 Lebendgeborenen je 1000 Einwohner den 185. Rang im Nationenranking einnimmt. Im internationalen Vergleich sieht Deutschland also auf den ersten Blick ziemlich schlecht aus. Dies relativiert sich jedoch, wenn man die Zahlen mit den europäischen Nachbarländern vergleicht. Vorbild Frankreich (12,5) und Italien (8,6) stehen im Vergleich mit 1975 ebenfalls schlechter da. Bei Italien ist sogar ein gravierender Rückgang von 16,0 auf 8,6 zu verzeichnen. Deutschlands Zahlen sind dagegen über einen langen Zeitraum recht konstant geblieben. Die Zahlen im Spiegel stammen aus dem Jahr 2002, dagegen haben die Bevölkerungswissenschaftler ROLOFF & SCHWARZ in der Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft einen längeren Zeitraum betrachtet:

Bericht 2001 über die demographische Lage in Deutschland

"Die rohe Geburtenziffer, d.h. die Lebendgeborenenzahl je 1.000 Einwohner weist seit 1991 eine leicht sinkende Tendenz auf. Entfielen 1991 auf 1.000 Einwohner in Deutschland 10,4 Geburten, waren es 9,4 Geburten im Jahr 1999"
(aus: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, Heft 1, 2002, S.23)

Abschließend lässt sich sagen, dass ein Nationenranking wie im Spiegel weniger aussagekräftig ist, als dies auf den ersten Blick erscheinen mag.

Die bestandserhaltende Geburtenrate: Welcher Frauenjahrgang hat das bevölkerungspolitisch geforderte Soll erfüllt?

In der Debatte um die Rentenreform des vergangenen Jahres stand unter anderem die Frage im Mittelpunkt, welche Generation welchen zukünftigen Beitrag zur Stabilität der Rentenversicherung zu zahlen hat. Susanne GASCHKE (ZEIT vom 14.08.2003) verwies dabei auf die Bestandserhaltung als ausschlaggebendes Kriterium bei der Lastenzuweisung  . Dieses Kriterium ist jedoch mehr als fragwürdig. Zum einen gilt, dass die Beitragsstabilität nicht in erster Linie von der Zahl der Geburten abhängt, sondern vom Verhältnis zwischen erwerbstätigen Beitragszahlern und Leistungsempfängern (sowohl die Höhe der jeweiligen Arbeitslosigkeit als auch die Anzahl jener, die trotz Arbeitseinkommen nicht gesetzlich versichert sind, relativiert hier das Demografieproblem), den jeweiligen Einkommenshöhen und Eintrittsalter beim Berufsbeginn und damit Beitragsvolumina sowie den Höhen der Transferzahlungen und dem Alter, ab dem jemand zum Bezug von Renten berechtigt ist. Neben den Geburten, tragen auch Zuwanderungen und Abwanderungen zur Stabilität der Bevölkerungszahl bei, d.h. GASCHKEs Ansatz ist latent zuwanderungsfeindlich.

Neben diesen politischen Fragen, ergeben sich auch Fragen der Zurechnung von Geburten zu Generationen. Der Begriff Generationengerechtigkeit ist zwar in aller Munde und suggeriert, dass es so etwas geben könnte, aber die Berechnung der bestandserhaltenden Geburtenrate ist umstritten.

Bei der Geburtenrate gibt es nicht unerhebliche regionale Unterschiede innerhalb von Deutschland. So schreibt der nationalkonservative Bevölkerungswissenschaftler Karl SCHWARZ im Sammelband Schrumpfende Bevölkerung. Wachsende Probleme? Ursachen - Folgen - Strategien, herausgegeben von Warnfried DETTLING:

Bevölkerungsrückgang: neue Qualität gesellschaftlicher Probleme

"Es gibt kein Bundesland, keine kreisfreie Stadt und schon gar keine Großstadt, in der die gegenwärtige Geburtenhäufigkeit die Erhaltung des Bevölkerungsstandes garantieren könnte. (...). Auch unter den 268 Landkreisen gibt es schon nach den Beobachtungen im Jahre 1974 nur noch 26, in denen die Geburtenhäufigkeit für die Bestandserhaltung der Bevölkerung ausreicht. Es handelt sich dabei um ausgesprochen ländliche Gebiete mit niedriger Bevölkerungsdichte, verbunden mit einem immer noch verhältnismäßig hohen Anteil landwirtschaftlicher Bevölkerung und einem relativ niedrigen Stand der Schulbildung. Der Einfluß der Religionszugehörigkeit spielt daneben kaum noch eine Rolle."
(aus: Schrumpfende Gesellschaft 1978, S.40)

Warum sollten jene Frauen, die in Gemeinden, Städten und Landkreisen mit einer  bestandserhaltenden Geburtenrate genauso haftbar gemacht werden, wie jene, die weniger dazu beitragen?

Die übliche Berechnung der Geburtenrate bezieht sich auf alle Frauen im gebärfähigen Alter, das auf Frauen zwischen 15 und 45 Jahren begrenzt ist. Die Tatsache, dass inzwischen jedoch auch Schwangerschaften nach der Menopause möglich sind, wird wohl in Zukunft auch dieses Kriterium fraglich werden lassen.

Will man die Geburtenrate für spezielle Frauenjahrgänge ermitteln, dann ist man auf Schätzungen angewiesen, die umso ungenauer sind, je weniger das Geburtenverhalten bestimmten Mustern unterworfen ist. Johannes KOPP schreibt dazu:

Geburtenentwicklung und Fertilitätsverhalten

"Insgesamt ist bei einem Vergleich der im 20. Jahrhundert geborenen Frauen in keiner Dimension des Geburtenverhaltens eine lineare Entwicklung festzustellen. Während beispielsweise die älteren dieser Frauen erst relativ spät eine Geburt verzeichnen und der Anteil der Kinderlosen relativ hoch ist, lässt sich für die Geburtskohorten bis etwa 1940 eine stetige Vorverlagerung und ein deutlicher Rückgang der auf Dauer kinderlosen Frauen festhalten. Danach lässt sich eine erneute Verschiebung der Geburten auf eine spätere Phase der Biographie beobachten, die auch mit einer erneuten Zunahme der Kinderlosen einhergeht".
(2002, S.14)

Während der Soziologe KOPP darauf verweist, dass es im Geburtenverhalten keine lineare Entwicklung gibt, wird in der öffentlichen Debatte oftmals eine lineare Entwicklung konstruiert:

Sozialismus im Rollstuhl

"Seit Ende des 19. Jahrhunderts hat in Deutschland praktisch jeder Frauenjahrgang weniger Kinder als der jeweils vorangegangene, und der Anteil der zeitlebens kinderlos bleibenden Frauen an einem Jahrgang ist ebenso kontinuierlich gestiegen: von 10,6 Prozent (1940) auf 26,0 Prozent (1960). Die jüngeren Jahrgänge erreichen einen Wert von 30 bis 35 Prozent".
(Hans Thie im Freitag vom 19.09.2003)

Die Frage, welche Frauenjahrgänge zur Bestandserhaltung in welcher Höhe beigetragen haben, ist aufgrund der Schwankungen im Gebärverhalten schwer zu berechnen. Die nachfolgenden Zitate zeigen, dass hier keine Einigkeit besteht: 

Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert

"Die um 1955 beginnende neue Phase in der Fruchtbarkeitsentwicklung der Bundesrepublik ist durch einen Anstieg der Gesamtfruchtbarkeit (von 2,13 auf 2,54 im Jahre 1964) und eine Verkürzung des Generationenabstandes um weitere zwei Jahre gekennzeichnet. Ihr wesentliches Merkmal dürfte aber eine Fruchtbarkeitswelle sein, die deutliche Vermehrung der Zahl der Geburten für die Jahrgänge 1926 - 1933 und der ebenso deutliche Rückgang der Fruchtbarkeit der Jahrgänge 1934 - 1941."
(Peter Marschalck, 1984, S.95).

Eine Frage der Zeit

"Der zweite Zwischenbericht der Enquete-Kommission »Demografischer Wandel« des Deutschen Bundestages hält fest, dass »nur bis zu den Frauengenerationen, die vor 1880/1881 geboren wurden, die Zahl der Kinder ausgereicht hat, um die Elterngeneration zu ersetzen«.
Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts liegt die Geburtenrate knapp unter zwei Kindern pro Frau, steigt bei den Frauen-Jahrgängen zwischen 1926 und 1940 leicht über zwei und fällt seither wieder."

(Johannes Schroeter im Rheinischen Merkur vom 24.11.2000)

Entwicklung der Bevölkerung bis 2050

"Die Geburtenhäufigkeit liegt in Deutschland seit etwa 30 Jahren unter dem für die Bestandserhaltung der Bevölkerung notwendigen Niveau. Zieht man als Maß dafür die zusammengefasste Geburtenziffer heran, so zeigt sich, dass der für die Erhaltung der Bevölkerungszahl erforderliche Wert von 2,1 Kindern je Frau im früheren Bundesgebiet mit Ergebnissen um 1,4 und zeitweise auch 1,3 in den letzten Jahrzehnten erheblich unterschritten wurde. Eine grundlegende Änderung wird nicht erwartet".
(Bettina Sommer in Wirtschaft und Statistik, 1/2001)

Die deformierte Gesellschaft

"Die Jahrgänge, die mehr Kinder großzogen, als sie selber zählten, wurden in Deutschland vor über einem Jahrhundert geboren. Der Jahrgang 1892 war der letzte, der sich in der Zahl seiner Kinder ersetzte. Seitdem ist jede Kindergeneration zahlenmäßig kleiner als ihre Elterngeneration. Damit hat Deutschland schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den jahrhundertealten Pfad des Bevölkerungswachstums verlassen. Nur die Geburtsjahrgänge 1930 bis 1937 erreichten in den sechziger Jahren noch einmal eine annähernd bestandserhaltende Geburtenrate."
(Meinhard Miegel 2002, S.14f.; genannte Quelle: Statistisches Bundesamt, Gebiet und Bevölkerung 1997, S.190 ff.)

Zum Bedeutungsverlust von Ehe und Familie: Irrtum oder Faktum?

"Mit Ausnahme der Frauen, die um 1935 geboren wurden und ihre Kinder um 1965 bekamen, hat keine Frauengeneration aus dem vergangenen Jahrhundert im Durchschnitt die Zahl der Kinder geboren, die mit über zwei für den Generationenerhalt erforderlich gewesen wären. Bei den heutigen Verhältnissen, mit ganz wenigen Sterbefällen von Frauen unter 45 Jahren, wären das - je 100 - ca. 208."
(Karl Schwarz in den BiB-Mitteilungen H.3, v. 08.12.2003, S.17)

Aus den Beispielen geht zum einen hervor, dass der Geburtenrückgang kein Phänomen ist, das erst seit 1968 besteht, sondern bereits Anfang des 20. Jahrhunderts haben Frauen das Kriterium von Susanne GASCHKE nicht mehr erfüllt . Ob und welche Frauenjahrgänge genau ihr Soll erfüllt haben, das wird von den Autoren unterschiedlich beantwortet. Der Bevölkerungswissenschaftler Karl SCHWARZ schreibt deshalb vage von den "um 1935" geborenen Frauen. Da diese Frauen inzwischen ihren Gebärzyklus vollendet haben, ist die Berechnung noch recht einfach. GASCHKE wirft jedoch ihren Altersgenossen, also den um 1965 Geborenen, Gebärfaulheit vor. Diese Frauen haben jedoch ihren Gebärzyklus noch gar nicht abgeschlossen. Wir werden weiter unten noch näher darauf eingehen, dass verschiedene Aspekte darauf hinweisen, dass der Unterschied zwischen den Geburtenraten der 68er und der Generation Golf keineswegs so groß ist, wie das GASCHKE behauptet hat .      

Erhebungsmethoden: Die Schätzung des Anteils von Kinderlosen pro Frauenjahrgang

In der gegenwärtigen Debatte dominieren jene, die eine Polarisierung zwischen Familien und Kinderlosen behaupten. Die Rede vom schwindenden Familiensektor bezieht sich dabei jedoch nur auf das Leben in Haushalten mit Kindern, d.h. durch die Umdefinition von Eltern in Kinderlose wird die Minderheit der lebenslang Kinderlosen einer angeblichen Mehrheit zugeordnet . Will man nun die Zahl der lebenslangen Kinderlosen ermitteln, dann stößt man bald an die Grenzen der deutschen Geburtenstatistik. Der Bevölkerungswissenschaftler Karl SCHWARZ (2002) unterscheidet zwei grundsätzliche Erhebungsmethoden, während Jürgen DORBRITZ noch sozialwissenschaftliche Erhebungen berücksichtigt:

a) Erhebung per Bevölkerungsstatistik

Die nach dieser Methode erfasste Kinderlosigkeit ist genauer als die unter b) abgehandelte Methode. Probleme bei der Zuordnung von Kindern zu Frauen ergeben sich jedoch durch die Ausrichtung der Bevölkerungsstatistik an der lebenslangen Ehe .

b) Erhebung per Volkszählung bzw. Mikrozensus (Haushaltsstatistik)

Hier handelt es sich um Frauen mit ledigen Kindern im Haushalt. Daraus ergeben sich folgende Verzerrungen:
- Es fehlen Angaben über die Kinder welche den mütterlichen Haushalt bereits verlassen haben.
- Es fehlen die Kinder von Spätgebärenden. Dies gilt umso stärker je früher die Schätzung vorgenommen wird.
- Stief- und Adoptivkinder werden mitgerechnet.
- Es fehlen Scheidungskinder, die beim Vater aufwachsen.
- Es fehlen früh verstorbene Kinder.

c) Sozialwissenschaftliche Stichprobenerhebungen

Eine dritte Methode sind sozialwissenschaftliche Stichprobenerhebungen. Hierzu gehört der Family and Fertility Survey (FFS) aus dem Jahr 1992. Darauf wird im Kapitel Ehen ohne Kinder näher eingegangen.  Alle drei Zugänge sind mit speziellen Problemen behaftet, sodass eine genaue Zuordnung unmöglich ist. Es handelt sich letztendlich immer um Schätzungen. Die Zahl der kinderlosen Frauen ist jedoch leichter zu erfassen, als die Anzahl kinderloser Männer, weswegen die Gebärfähigkeit der Frauen im Mittelpunkt der Betrachtungen von Demografen steht. DORBRITZ & SCHWARZ (1996) haben auf die Probleme bei geschlechterspezifischen Fragenstellungen hingewiesen:

Kinderlosigkeit in Deutschland - ein Massenphänomen?

"Die FFS-Ergebnisse des BiB zeigen sowohl im früheren Bundesgebiet als auch in den neuen Bundesländern höhere Kinderlosenanteile der befragten Männer. Als Haupteinflußfaktoren sind die niedrige Erstheiratsneigung der Männer und die geringere Neigung nach einer Scheidung erneut zu heiraten, zu vermuten. Zum anderen sollte beachtet werden, daß Männer bei der Eheschließung älter als die Frauen sind und auch später (als über 39jährige) Vater werden. Der Frauen-Männer-Vergleich in den einzelnen Geburtsjahrgängen ist somit durch alters- und geschlechtsspezifische Effekte verzerrt. Daneben könnten Einflüsse der Interviewersituation, das »sich nicht zur Vaterschaft von nichtehelichen Kinder Bekennen« und in geringem Maße auch die Unkenntnis über die Vaterschaft die höheren Kinderlosenanteile bewirken."
(Jürgen Dorbritz & Karl Schwarz in der Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, H.3, 1996, S.234)

Die Geburtenrate und der Kinderlosenanteil spezieller Jahrgänge

In der gegenwärtigen politischen Debatte wird vor allem die Gebärfaulheit der in den 1960er Jahren geborenen Frauen diskutiert. Es wird davon ausgegangen, dass diese Frauen wesentlich weniger Kinder gebären als alle anderen Frauenjahrgänge vor ihnen.

Die Kinderlosigkeit der um 1960 Geborenen

Der Frauenjahrgang der um 1960 Geborenen hat den Gebärzyklus fast abgeschlossen, d.h. die Höhe der Kinderlosigkeit lässt sich relativ genau ermitteln:

"Familie ist, wo Kinder sind"

"Von den Frauen, die 1935 geboren wurden, blieben nur 9 Prozent kinderlos. In der nächsten Generation, dem Jahrgang 1958, blieben schon 23 Prozent ohne Kinder".
(Ursula Ott in der Woche vom 10.12.1999)

Kinderlosigkeit in Deutschland - ein Massenphänomen?

"Für den Geburtsjahrgang 1960 lassen die Ergebnisse einen Kinderlosenanteil von 25 % erwarten. Die in den 40er Jahren geborenen Frauen waren nur zu 10 - 15 % kinderlos. Der Geburtsjahrgang 1960 erreicht im Verlauf des Jahres 1996 das 36. Lebensjahr. Spätgebärende könnten den bislang ermittelten Kinderlosenanteil noch etwas vermindern, ein deutlicher Rückgang ist jedoch nicht mehr zu erwarten."
(Jürgen Dorbritz & Karl Schwarz in der Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, H.3, 1996, S.234)

Immer älter, immer weniger - das Bevölkerungsproblem

"In einer auf Flexibilität und Selbstverwirklichung angelegten Zeit stellt die Entscheidung für ein Kind eine langfristige Festlegung dar (...). Besonders gut ausgebildete Frauen wollen sich diesem Risiko oft nicht aussetzen, weshalb der Prozentsatz der Frauen, die innerhalb eines Jahrganges kinderlos bleiben, in nur acht Jahren von 15 Prozent (Geburtsjahrgang 1950) auf 23 Prozent (Geburtsjahrgang 1958) empor geschnellt ist."
(Frank-Walter Steinmeier in der Welt vom 23.05.2001)

Die kinderlose Gesellschaft

"Geht man davon aus, daß über 40-jährige Frauen keine Kinder mehr bekommen, was zu fast 99 % zutrifft, so sind von den 40-jährigen Frauen heute, mit wachsender Tendenz, über ein Viertel kinderlos geblieben."
(Karl Schwarz in Die Neue Ordnung, H.5, Oktober 2002) 

Land ohne Lachen

"Rund 26 Prozent der 1960 geborenen Frauen sind kinderlos, unter den Akademikerinnen sogar 42 Prozent."
(Jürgen Bölsche u. a. im Spiegel vom 05.01.2004)

Der Kinderlosenanteil der um das Jahr 1960 Geborenen liegt nach den Berechnungen der Bevölkerungswissenschaftler bei ca. 25 %. Aufgrund der Ausrichtung der Geburtenstatistik auf die lebenslange Ehe sind auch diese Zahlen mit Vorsicht zu genießen. Die Zunahme unehelicher Geburten und die Abnahme der Heiratsneigung führen dazu, dass die Probleme bei der Zuordnung steigen.

Die Generation Ally: Die Geburtenrate und der Kinderlosenanteil der 1965 Geborenen

Der Jahrgang 1965, seit Kaja KULLMANNs Bestseller als Generation Ally bekannt, steht in der gegenwärtigen Debatte im Brennpunkt. Werden für die um 1960 Geborenen ein Kinderlosenanteil von 25 % berechnet, so wird für die um 1965 geborenen Frauen gar prognostiziert, dass jede dritte Frau kinderlos bleiben wird. Es ist diese Steigerung, durch die sich Sozialpopulisten zu Horrorszenarien berechtigt fühlen. Es stellt sich dann nämlich die  Frage, ob die um 1970 Geborenen vielleicht zu 40 % kinderlos bleiben werden. Dann könnte tatsächlich von einer Polarisierung zwischen Familien und Kinderlosen gesprochen werden, wie es u. a. Tilman MAYER und Jürgen BORCHERT prophezeien:

Das System, nicht die Probleme kurieren

Von enormer gesamtgesellschaftlicher Bedeutung ist weiter, dass der Anteil zeitlebens kinderlos bleibender Frauen ständig wächst. Im Frauenjahrgang 1940 blieben in Westdeutschland nur gut zehn Prozent kinderlos, im Frauenjahrgang 1955 aber bereits 20 Prozent. Zwischenzeitlich ist davon die Rede, dass der Kinderlosenanteil auf bis zu 40 Prozent steigen könnte."
(Tilman Mayer in Aus Politik und Zeitgeschichte, 2000)

Familien in Deutschland: Verraten und verkauft

"Gesamtdeutschland noch bis Mitte der 60er Jahre in der damaligen EWG die zweithöchste Geburtenrate (hinter Irland). Damals blieb nur etwa jede zehnte Frau kinderlos, während der Anteil der lebenslang Kinderlosen sich heute auf 40 Prozent zubewegt."
(Jürgen Borchert im Stern vom 22.01.2001)

Es zeigt sich jedoch, dass diese Prognosen nicht haltbar sind. Die Horrorzahlen, die für die Generation Ally in der sozialpolitischen Debatte im Umlauf sind, beruhen auf Erhebungen, die bereits Anfang der 90er Jahre durchgeführt worden sind:    

Kinderlosigkeit in Deutschland - ein Massenphänomen?

"Birg und Flöthmann schätzen für die jüngeren Geburtsjahrgänge einen weiteren Anstieg der Kinderlosigkeit auf über 30 %. Für den Geburtsjahrgang 1965 wurde ein Kinderlosenanteil von 32,1 % angegeben."
(Jürgen Dorbritz & Karl Schwarz in der Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, H.3, 1996, S.234; bei der Berechnung wird auf Birg & Flöthmann 1993, S.35 verwiesen)

Die Zahlen von DORBRITZ & SCHWARZ werden von den Polarisierern auch noch fast ein Jahrzehnt später - ohne Bezug auf die Quelle - verbreitet:

Kinder! Kinder!

"Jede dritte Frau des Jahrgangs 1965 wird kinderlos bleiben, doppelt so viele wie im Jahrgang 1950."
(Susanne Mayer in der ZEIT v. 10.08.2000)

Im Jahr 2001 hat DORBRITZ die Geburtenrate der Generation Ally überprüft. Er hat dabei eine Angleichung der Geburtenraten von Ost und West festgestellt:

Familienbildungsverläufe der Generationen. 1950 und 1965 im Vergleich

"Für die westdeutschen Geburtsjahrgänge (...) gilt, dass die jeweils älteren Jahrgänge mehr und die jeweils jüngeren Jahrgänge weniger Kinder geboren haben. 1000 Frauen des Geburtsjahrgangs 1950 hatten 1693 Kinder geboren. Im Geburtsjahrgang 1965 betrug diese Zahl nur noch 1473. Die ostdeutschen Geburtsjahrgänge 1940 - 1964 haben durchgängig mehr Kinder als ihre westdeutschen Vergleichsjahrgänge geboren. Im Geburtsjahrgang 1950 waren dies 100 Kinder mehr (...). Fertilitätssenkende soziale Erfahrungen wurden mit dem Ergebnis gemacht, dass der ostdeutsche Geburtsjahrgang 1965 mit einer endgültigen Kinderzahl von 1532 kaum mehr Kinder geboren hat als der westdeutsche Vergleichsjahrgang."
(Jürgen Dorbritz in den BiB-Mitteilungen H.1 v. 09.03.2001, S.10f.)

Wichtiger als diese Angleichung ist jedoch, dass der Anteil der Kinderlosen in der Generation Ally möglicherweise gar nicht höher ist als bei den um 1960 Geborenen. Obwohl der Gebärzyklus dieser Frauen noch nicht vollendet ist, hat DORBRITZ statt der 33 % Kinderlosen nur noch 27 % ermittelt:

Familienbildungsverläufe der Generationen. 1950 und 1965 im Vergleich

"Die Schätzungen zur Kinderlosigkeit werden immer genauer, je niedriger der Schätzanteil an der endgültigen Kinderzahl ist. Dies führt dazu, dass mit aktuelleren Schätzungen auch die Anteile kinderloser Frauen zu revidieren sind. So haben wir für den Geburtsjahrgang 1965 vor einigen Jahren noch Kinderlosenanteile von mehr als 30 % erwartet. Die neueren Schätzungen zeigen, dass sich über späte Erstgeburten die Kinderlosenanteile auf 27 % verringert haben."
(Jürgen Dorbritz in den BiB-Mitteilungen H.1 v. 09.03.2001, S.12)

Dieses Ergebnis ist nur verständlich, wenn sich die Zahl der Spätgebärenden enorm erhöht hat . Während der Debatte um die Pflegeversicherung hat als einziger Demograf der Belgier Ron LESTHAEGHE auf diesen Sachverhalt verwiesen (vgl. "Praktizierte Gleichberechtigung - größere Kinderzahl", Berliner Zeitung 14.04.2001). In der deutschen Debatte wurde diese Wortmeldung jedoch ignoriert, stattdessen ist das Bundesverfassungsgericht der Argumentation von Herwig BIRG gefolgt, der einer Polarisierung von Familien und Singles das Wort geredet hat.

Obwohl seit 2001 bekannt ist, dass der Anteil der Kinderlosen in der Generation Ally nicht oder unbedeutend höher ist als bei den um 1960 Geborenen, wird dies in der öffentlichen Debatte weiterhin nicht berücksichtigt, wie die folgenden Beispiele zeigen:   

Die deformierte Gesellschaft

"Bei den jüngeren Jahrgängen hat die Geburtenfreudigkeit noch weiter abgenommen. So hat von den 1965 Geborenen ein Drittel bislang kein Kind. Zwar sind für sie abschließende Aussagen noch nicht möglich, weil sie vielleicht erst spät Kinderwünsche verwirklichen. Sollte es jedoch zu solchen nachgeholten Geburten nicht kommen - und hierfür spricht viel -, stiege der Anteil der Kinderlosen in naher Zukunft auf rund ein Drittel".
(Meinhard Miegel, 2002, S.19; keine Quelle genannt)

Familien in Deutschland

"Schon jede vierte Frau des Jahrgangs 1960 und knapp jede dritte Frau des Jahrgangs 1965 werden kinderlos bleiben."
(Signe Zerrahn, 2002, S.7)

Auch der Bevölkerungswissenschaftler Karl SCHWARZ hat für die Generation Ally keinen Anteil von über 30 % ermittelt. Die Kinderlosenzahlen für Deutschland beziffert er auf 24 %:

Kinderzahl der Frauen in den alten und neuen Bundesländern im Jahr 2000

"Im Mai 2000 (Anm. d. V.: Es handelt sich hier um Mikrozensuserhebung. Zu den Problemen siehe unter Erhebungsmethoden) wurden je 100 Frauen in Deutschland (...) folgende Zahlen über im Haushalt der Mutter lebende Kinder ermittelt:
(...) nach der Zahl der Kinder in % keine 24. (...) Es handelt sich hierbei um die Kinder der in den Jahren 1961/65 geborenen Frauen."
(Karl Schwarz in den BiB-Mitteilungen H.1 v. 15.03.2002, S.8)

Bei der Betrachtung der alten Bundesländer kommt SCHWARZ ebenfalls nur auf 27 %:

Kinderzahl der Frauen in den alten und neuen Bundesländern im Jahr 2000

"Die Abnahme der Heiratsbereitschaft betrifft unmittelbar den Anteil der Kinderlosen, der bei den Frauen mit so gut wie endgültiger Kinderzahl von 10 auf 27 % für die Frauenjahrgänge 1960/1965 (Anm. d. V.: Es handelt sich hier um die Zahlen für die alten Bundesländer) bis zum Jahr 2000 zugenommen hat".
(Karl Schwarz in den BiB-Mitteilungen H.1 v. 15.03.2002, S.8)

Dies hindert prominente Singlefeinde wie Jürgen BORCHERT jedoch nicht, weiterhin erhöhte Kinderlosenzahlen zu verbreiten:

Verfassungsboykott

"Die Hauptursache der Bevölkerungsentwicklung besteht in der zunehmenden Kinderlosigkeit. Im Geburtsjahrgang 1965 ist der Anteil lebenslang Kinderloser auf bald 35 Prozent gestiegen"
(Jürgen Borchert im Rheinischen Merkur vom 11.12.2003)

Selbst Betreiber von Agenturen für Nachrichten aus den Sozialwissenschaften verbreiten die überhöhten Zahlen:

Halali auf Nachwuchsverweigerer

"Heute bedeutet Nachwuchs für Frauen keine unmittelbare Lebensgefahr. Dennoch bleiben in der Kohorte der 1965 geborenen Frauen mindestens jede dritte ohne Nachwuchs."
(Michael Klein, Welt 30.12.2003)

Aber auch in sozialwissenschaftlichen Fachzeitschriften findet man die überhöhten Kinderlosenzahlen:

Deutschlands Bevölkerung in der Zukunft

"Während die in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts geborenen Frauen nur zu rund 10 % kinderlos blieben, ist bei den in den 50er Jahren geborenen Frauen bereits jede 5. ohne Kinder, für die 10 Jahre jüngeren Frauen rechnet man bereits mit 30 % Kinderlosigkeit". [mehr]
(Evelyn Grünheid, 2002, S.60; keine Quelle genannt)

Es fehlt in Deutschland offensichtlich eine Interessengruppe, der an der Verbreitung der korrekten Zahlen gelegen ist.

Solange Familienfundamentalisten daran interessiert sind, Kinderlose zu bestrafen und rigorose Änderungen im Bereich der sozialen Sicherungssysteme auf Kosten der Kinderlosen durchzusetzen, wäre es kontraproduktiv, wenn die niedrigeren Zahlen in Umlauf kämen. Dies sagt gleichzeitig auch etwas über die fehlende Organisierbarkeit der Interessen von lebenslang Kinderlosen in Deutschland aus.

Der Wandel des generativen Verhaltens und die Rolle der Spätgebärenden 

Weiter oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass die enorme Zunahme von Spätgebärenden dazu beigetragen hat, dass die Geburtenrate der Generation Ally lange Zeit falsch eingeschätzt wurde. Bereits Ende der 1980er Jahre und Anfang der 1990er Jahre wurde die Zunahme der Erstgebärenden bei den über 30jährigen Frauen diskutiert:

"Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden errechnete (...), daß 1971 Deutschlands Mütter bei der Geburt ihres ersten Kindes durchschnittlich 24,33 Jahre alt waren. Im Jahr 1985 war dieses Durchschnittsalter aber bereits auf 26,18 Jahre gestiegen (...). Um auf ein Durchschnittsalter von 26 Jahren zu kommen, muß die Zahl der Frauen, die erst nach ihrem 30. Geburtstag Mutter werden, in den letzten Jahren extrem angewachsen sein. Und sie steigt ständig weiter".
(Wiener, Januar 1988)

"Milde Form des Irreseins"

"In der Bundesrepublik hat bereits jedes dritte Erstgeborene eine Mutter über 30, pro Jahr bekommen rund 50 000 Frauen ihr erstes Baby, wenn sie ihren 35. Geburtstag schon gefeiert haben".
(Spiegel Nr.20 v. 17.05.1993)

Da die deutschen Demografen diese Verhaltensänderung bei ihren Berechnungen nicht ausreichend berücksichtigt haben, ist es nicht verwunderlich, wenn Journalisten dies erst recht nicht tun:

Viel Job, wenig Liebe

"Jede dritte Frau im Alter von 35 Jahren ist kinderlos. Der Anteil der Last-Minute-Mütter rettet die Bilanz dabei nicht: Nur jede 30. Frau bekommt jenseits des 35. Lebensjahres noch ihr erstes Kind."
(Barbara Dribbusch in der taz vom 02.02.2001)

Dieser Artikel erschien kurz bevor DORBRITZ (siehe weiter oben) die Zahlen für die Generation Ally korrigierte und damit DRIBBUSCH widerlegte. Bereits im Jahr 2000 war folgende Mitteilung zu lesen:

Warum denn erst so spät Mutter?

"12 Prozent aller Frauen bekommen heute ihr erstes Kind mit über 35 Jahren und die Zahl steigt: Seit Mitte der 80er Jahren hat sich dieser Anteil vervierfacht."
(Monika Brickwedde in einer Mitteilung der Universität Hannover vom 31.07.2000)

Wenn bereits 12 % aller Frauen ihr erstes Kind mit über 35 Jahren bekommen, dann sind darin noch nicht jene Frauen mitberechnet, die in diesem Alter ihr zweites oder drittes Kind bekommen. Offenbar haben wir es hier mit einem Wandel des generativen Verhaltens zu tun, der in der Öffentlichkeit ignoriert wird. Stattdessen lauten die Schlagzeilen:

Kinderlos ist kein Ideal

"Nur jede 30. Frau bekommt jenseits der 35 noch ihr erstes Kind." [mehr]
(Astrid Wirtz im Kölner Stadt-Anzeiger vom 04.04.2001)

Das durchschnittliche Gebäralter unterscheidet sich bei ausländischen und deutschen Müttern. Die Kluft hat sich innerhalb der letzten Jahre vergrößert: 

Bericht 2001 über die demographische Lage in Deutschland

"Das Durchschnittsalter der Mütter bei der Geburt ihrer Kinder stieg 1999 gegenüber 1991 in Deutschland insgesamt von 28,2 auf 30,3 Jahre, darunter bei den Deutschen von 28,4 auf 30,7 Jahre und bei den Ausländerinnen von 26,1 auf 27,8 Jahre."
(Juliane Roloff & Karl Schwarz in der Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 1/2002, S.26)

Ehen ohne Kinder

Noch Mitte der 1960er Jahre war es selbstverständlich, dass die Zahl der in Ehen geborenen Kinder als ein genauer Indikator für das generative Verhalten in Deutschland angesehen wurde:

Sozialkunde der Bundesrepublik Deutschland

"Wenn auch von einem »Babyboom« wie in den Vereinigten Staaten noch nicht die Rede sein kann, so deuten sich doch Gegenbewegungen an, die die Klage über die künftige Bevölkerungsentwicklung fragwürdiger erscheinen lassen. Die Zahl von nur 1757 lebendgeborenen Kindern auf 1000 Ehen liegt zwar weit unter dem für die Bestandserhaltung der Bevölkerung erforderlichen Minimum von wenigstens 2000, in ihr sind jedoch sowohl die schon lange bestehenden Ehen, aus denen kein weiterer Nachwuchs zu erwarten ist, wie eben erst geschlossene Ehen zusammengefasst, deren Kinderzahl noch ungewiß ist."
(Claessens/Klönne/Tschoeps ", 1965, zitiert nach 2.Auflage 1968, S.357)

Die renommierten Autoren argumentieren hier mit Zahlen aus dem Jahr 1964. Über dreißig Jahre später wissen wir dagegen, dass damals in Westdeutschland 1.065.379 Kinder geboren worden sind. Das war absoluter Höchststand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die damaligen Wissenschaftler wussten dagegen nicht, dass sie in einer Zeit lebten, die als deutscher »Babyboom« in die Geschichte eingehen sollte. Im Jahr 2003 liest sich das bei GASCHKE deshalb ganz anders:

Wo sind die Kinder?

"1964 brachte eine Frau, statistisch gesehen, 2,54 Kinder zur Welt. Die Nettoreproduktionsrate lag bei 1,18 - das heißt, dass diese Eltern durch ihre Kinder mehr als ersetzt wurden." [mehr]
(Susanne GASCHKE in der ZEIT vom 14.08.2003)

Zeitdiagnosen sind also mit Vorsicht zu genießen. Was heutzutage nostalgisch verklärt wird und bei GASCHKE den Vorwurf der Gebärfaulheit begründet, das wurde damals durchaus nicht als etwas Außergewöhnliches erlebt. Stattdessen stand im Wirtschaftswunderland die zunehmende Erwerbstätigkeit der Ehefrauen in der Kritik und die kinderlose Ehe erregte die Gemüter. So schreibt Richard KAUFMANN in seinem Buch Gebrannte Kinder aus dem Jahr 1961:

Gebrannte Kinder

"Selten findet man mehr als zwei Generationen (Eltern und Kinder) in einer Wohnung, oft aber nur noch eine Generation, was sich statistisch leicht nachweisen läßt. Ein Viertel aller Ehen des Jahres 1957 war kinderlos."
(1961, S.110)

Während heutzutage die 1950er Jahre als Goldenes Zeitalter der Ehe erscheinen, galt dies für die damaligen Kulturkritiker nicht. Die Eingliederung (verheirateter) Mütter in den Arbeitsmarkt, war damals genauso umkämpft wie heutzutage.

Der Kulturkampf zwischen Alter und Neuer Mitte tobte bereits Ende der 1950er Jahre:

Gebrannte Kinder

"Wenn Kirche, Staat und Gesellschaft miteinander Eheformen sanktionieren, die nicht mehr auf dem Gedanken eines gemeinsamen Opferns, sondern auf dem eines gemeinsamen Genusses oder Verzehrs aufgebaut werden, und wenn dies nicht das Privileg einer ohnehin nicht mehr besonders geachteten Adelskaste ist (...), dann nehmen die Kinder der alten Familie mit der Zeit an, daß ihre Eltern einfach dumm sind (...).
Der Konsumgedanke wird nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Familie bestimmend. Die Ehe selbst wird - zumindest in der Vorstellung von Halbwüchsigen - etwas, das man konsumiert. Die Gesellschaft leistet diesem Denken Vorschub, indem sie alles Ehe nennt, was sich unter bestimmten äußeren Formen zusammenfindet - ganz gleich, ob es sich um Partnerschaft, Schlafgemeinschaft, Konsum- und Einkommens-Pool oder das alte, auf Lebensdauer berechnete »Ehebündnis zweier Menschen verschiedenen Geschlechts« bezieht, bei dem Besitz und Kinderzahl gemeinsames Ziel von zwei Eltern bilden, die aber gegeneinander scharf begrenzte Funktionen ausüben."

(1961, S.78)

Ging es damals jedoch nur um die Einführung der Teilzeitarbeit für verheiratete Mütter, so ist mittlerweile die Vollzeitarbeit für Mütter umkämpft. Wurde damals die »Lust am Zuverdienen« gegeißelt, obwohl in traditioneller Sicht nur die blanke Not das Zuverdienen rechtfertigte, so wird heutzutage die Ganztagsbetreuung von Kindern kritisiert und Vollzeit arbeitende Mütter gelten als Rabenmütter. Der Kehrseite dieser Debatte entspricht dann die Kritik der konservativen Alten Mitte an der Zunahme kinderloser Paare, die als double income, no kids diffamiert werden:

Kinder für das Land

"Vor allem die Generation schottet sich ab, die an der Misere schuld ist: Die ihre Entscheidung getroffen hat für eine Beziehung mit »double income, no kids« (42 Prozent der Universitätsabsolventinnen bleiben kinderlos in Deutschland)".
(Michael Rutz im Rheinischen Merkur vom 31.07.2003)

Die traditionelle Perspektive, dass Kinder nur in Ehen geboren werden dürfen, drückt sich auch in der Normativität der Geburtenstatistik aus. Nach DORBRITZ & SCHWARZ (1996) wird die Zahl der Kinder pro Frau nicht erhoben, sondern muss geschätzt werden:

Kinderlosigkeit in Deutschland - ein Massenphänomen?

"Schätzungen der Verteilung der Lebendgeborenen nach der Lebendgeborenenfolge anhand der Daten der amtlichen Statistik (...) müssen es bleiben, weil einerseits die Lebendgeborenen nach der Ordnungsfolge nur für verheiratete Frauen in der bestehenden Ehe ausgezählt wurden. Informationen fahlen somit für die Unverheirateten generell und für die Verheirateten in dem Fall, daß eine zweite oder weitere Ehe besteht. Beispielsweise wird ein in zweiter Ehe geborenes Kind, das eigentlich das dritte Kind der Mutter ist, danach als »erstes« Kind gezählt. Andererseits ist in den jüngeren Jahrgängen die endgültige Kinderzahl noch nicht erreicht. Es muß also auch das spätere generative Verhalten geschätzt werden, bevor Kinderlosigkeit konstatiert werden kann."
(Jürgen Dorbritz & Karl Schwarz in der Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, H.3, 1996, S.233)

Als Konsequenz der Ausrichtung der Bevölkerungsstatistik an der lebenslangen Ehe (Charlotte HÖHN, 1982 ) müssen andere Herangehensweisen genutzt werden. Zum einen der Rückgriff auf Daten des Mikrozensus (zum Problem siehe weiter oben Karl SCHWARZ über die Erhebungsmethoden bei Kinderzahlen von Frauenjahrgängen) und zum anderen kann auf Stichprobenerhebungen zurückgegriffen werden. DORBRITZ & SCHWARZ (1996) nennen als Beispiel den Family and Fertility Survey (FFS), der 1992 durchgeführt wurde. Im Kulturkampf um die Abschaffung des Ehegattensplittung wird dagegen aus Sicht der Neuen Mitte die Zunahme der kinderlosen Ehepaare angeprangert: 

"Familie ist, wo Kinder sind"

"Nur jedes zweite Ehepaar in Deutschland lebt mit Kindern".
(Ursula Ott in der Woche vom 10.12.1999)

Die Ursachen dieser Entwicklung sind darin zu sehen, dass es zum einen mehr Spätgebärende gibt und sich zum anderen die Empty-Nest-Phase, in der die Kinder bereits die elterliche Wohnung verlassen haben, verlängert hat. Die weiter oben bereits angesprochene enorme Zunahme von Spätgebärenden führt dazu, dass Bevölkerungswissenschaftler feststellen können:

Bericht 2001 über die demographische Lage in Deutschland

"Betrachtet man die Entwicklung der ehelich Lebendgeborenen nach ihrer Ordnungsfolge, lässt sich folgendes feststellen (...):
In Deutschland insgesamt ist die Zahl der ehelich Geborenen - egal welcher Ordnungsfolge - innerhalb des Untersuchungszeitraumes 1991/1999 gesunken. Den stärksten Rückgang um 20,5 % weisen hierunter die Erstgeborenen auf".
(Juliane Roloff & Karl Schwarz in der Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, H.1/2002, S.23)

Die Zunahme der Spätgebärenden ist u. a. eine Konsequenz der Bildungsexpansion seit den 1960er Jahren, von der vor allem die Frauen profitierten. Im Klappentext zum Roman Das verborgene Wort von Ulla HAHN heißt es:

Das verborgene Wort

"Ein Mädchen, Arbeiterkind, voller Neugier und Lebenswille sieht sich im Käfig einer engen katholischen Dorfgemeinde gefangen. Sie stößt an die Grenzen einer Welt, in der Sprache und Phantasie nichts gelten. Fast zerbricht sie an der Härte und Verständnislosigkeit der Eltern, die sie in den eigenen Lebensgewohnheiten festhalten wollen. Im Deutschland der fünfziger und frühen sechziger Jahre sucht das Mädchen seinen Weg in die Freiheit: die Freiheit des verborgenen Worts."
(aus: Klappentext 2001)

Wollte man damals die bildungsferne Schicht der Arbeiter erreichen, so war es in erster Linie das sprichwörtliche katholische Mädchen vom Lande, das die Chancen nutzte. Dies fand z.B. seinen literarischen Niederschlag in dem Roman Das verborgene Wort von Ulla HAHN. Es verwundert deshalb kaum, dass die kinderlose Akademikerin in der gegenwärtige Debatte eine besondere Rolle spielt.

Die Kinderlosigkeit der Akademikerinnen

Der Kulturkampf um die Familie wird in den Mittelschichten geführt. Es geht dabei um die richtige Politik für die Mütterelite. Um das Problembewusstsein zu schärfen, steht weniger die generelle Kinderarmut zur Debatte, sondern es ist die Kinderlosigkeit von Akademikerinnen, die in der öffentlichen Debatte besonders hervorgehoben wird:

Der Kinder-Crash

"40 Prozent der 35- bis 39-jährigen Akademikerinnen haben keinen Nachwuchs".
(Heiko Martens u.a. im Spiegel Nr.35 vom 30.08.1999)

Das Reproduktionsproblem

"Die erwähnte Zahl von einem Drittel kinderloser Frauen hat keine meßbare regionale Schwankung (das würde auf Umwelteinflüsse hindeuten), aber eine klare soziale Differenzierung: »80 Prozent aller Hauptschulabsolventinnen bekommen Kinder, jedoch nur 25 Prozent Akademikerinnen erfüllen sich ihren Wunsch auf Nachwuchs«"
(Manfred Sohn in der jungen Welt vom 08.06.2001; Kinderlosenzahlen zitiert aus: rundblick, Hannover vom 14.11.2000)

Familien in Deutschland

"Bei Akademikerinnen bleiben sogar 40 Prozent ohne Nachwuchs"
(Signe Zerrahn, 2002, S.14)

Ein Herz für Kinder - und Mütter

"Folge ist, dass (...) Deutschland die zeitniedrigste Geburtenrate mit 1,3 Kindern hat und 41 Prozent der Akademikerinnen bis 39 Jahre kinderlos sind."
(Renate Schmidt in der Welt vom 15.07.2002)

Die kinderlose Gesellschaft

"Von den 40-jährigen Akademikerinnen in Westdeutschland im Jahr 1997 waren 36% ledig und fast 40% kinderlos geblieben. Im Durchschnitt beträgt die Kinderzahl dieser Gruppe nach abgeschlossener Familienbildung 110 je 100 Akademikerinnen. Von einer Nachwuchssicherung der Akademiker über die Familien kann also – anders als früher – nicht die Rede sein. Ob das vielleicht bei den Ehen zwischen Akademikern und Akademikerinnen der Fall ist? Für sie ergaben sich 1997 167 Kinder bei 19% kinderlos Gebliebenen."
(Karl Schwarz in Die Neue Ordnung, H.5, Oktober 2002)

Damit wird die Vereinbarkeit von Beruf und Familie auf die Agenda gesetzt. Zukünftige Bevölkerungspolitik heißt in Deutschland deshalb in erster Linie die Förderung von Geburten, deren Eltern die richtige soziale Herkunft besitzen. Es werden nicht zuwenig Kinder geboren, sondern zuwenig "richtige" Kinder. Dies wird selten so deutlich gesagt wie von Michael KLEIN:

Halali auf Nachwuchsverweigerer

"finanzielle Anreize haben ihre Grenzen. Wird Menschen immer mehr dafür bezahlt, dass sie sich fortpflanzen, verliert das Kinderkriegen seine Selbstverständlichkeit noch weiter. Die Zahl derer, die Kinder bekommen, nimmt weiter ab, und die daran festhalten, tun dies (...) entweder, um ihre psychologischen Bedürfnisse in die lieben Kleinen zu projizieren - oder weil sich Kinder finanziell rechnen. Wen wundert es, wenn vor diesem Hintergrund (...) hinter vorgehaltener Wissenschaftlerhand vom »down-breeding« die Rede ist, davon, dass diejenigen, die sich fortpflanzen, nicht unbedingt zur geistigen Elite ihrer Gesellschaft gehören."
(Michael Klein in der Welt vom 30.12.2003)

Bevölkerungspolitik, die von Renate SCHMIDT mit finanziellen Maßnahmen, die nicht direkt zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie beitragen, gleichgesetzt  wird, lehnt die jetzige Familienministerin wegen der Förderung "falscher Kinder" ab:

Mehr Männerförderung!

"»Bevölkerungspolitik« bedeutet, dass man versucht, Menschen durch materielle Anreize dazu bewegen, mehr Kinder zu bekommen, als sie wollen. Solche Versuche sind von vornherein zum Scheitern verurteilt - außer vielleicht bei denen, die schlecht ausgebildet sind und geringe Einkommenschancen haben. Nur bei denen wird Bevölkerungspolitik erfolgreich sein."
(aus: Interview mit Susanne Gaschke in der ZEIT vom 19.10.2000)

Neuerdings spricht Renate SCHMIDT im Anschluss an den  Bevölkerungswissenschaftler Max WINGEN lieber von "bevölkerungsbewusster Familienpolitik":

Die bayerische Preußin

"Ich mache eine bevölkerungsbewusste Familienpolitik. Das ist mehr als Frauenpolitik."
(Renate Schmidt im Gespräch mit Silke Lambeck und Regina Zykla in der Berliner Zeitung vom 13.08.2003)

Der Begriff bevölkerungsbewusste Familienpolitik wird von jenen benutzt, die eine Enttabuisierung der Bevölkerungspolitik in Deutschland betreiben, aber unliebsame Assoziationen vermeiden möchten. Aus der Sicht derjenigen, die eine Normalisierung von Bevölkerungspolitik in Deutschland anstreben, schätzt Christian SCHWÄGERL die Lage folgendermaßen ein:

Schockprävention

"Es wird rückblickend zu den großen gesellschaftlichen Verschiebungen in Deutschland gezählt werden, daß seit dem vergangenen Jahr der demographische Wandel in allen Facetten in das Bewußtsein der Bevölkerung eindringt. Zahlreiche sozialwissenschaftliche Doktorarbeiten werden darüber abzufassen sein, wie es möglich war, daß Kindermangel, Stadtschrumpfung und kollektive Alterung derart lange tabuisiert geblieben sind. Von »verlorenen Jahrzehnten« ist nun dramatisierend die Rede"
(FAZ 27.01.2004)

Was bei der Debatte um kinderlose Akademikerinnen jedoch auffällt, ist, dass außer der hohen Kinderlosenzahl keine differenzierteren Daten genannt werden. Weder werden spezielle Milieus unterschieden, noch wird gefragt, welchen Einfluss die konkrete Berufssituation hat. Welche Frauen mit welcher sozialen Herkunft sind von Kinderlosigkeit besonders betroffen? Frauen aus benachteiligten sozialen Milieus, die hart um ihren sozialen Aufstieg kämpfen mussten, könnten im Vergleich zu Frauen mit bildungs- bzw. großbürgerlichen Hintergrund doppelt benachteiligt sein. Kinderlosigkeit als Konsequenz schichtspezifischer Benachteiligung ist jedoch kein Thema. In Bezug auf männliche Karrieren ist jedoch von Michael HARTMANN der Mythos von den Leistungseliten eindrucksvoll belegt worden. Das Merkmal "Akademikerin" sagt zudem nichts über die berufliche Situation aus, sondern verweist lediglich auf einen Bildungsabschluss. Bildungsabschlüsse garantieren heutzutage jedoch nicht automatisch eine Karriere. An die Stelle von Empirie sind in diesem Zusammenhang Ressentiments getreten. Single-generation.de vertritt deshalb eine Milieutheorie der Kinderlosigkeit:

Eine Milieutheorie der Kinderlosigkeit

"Ausgehend von den Familiengeschichten und Biografien der Journalistinnen Susanne GASCHKE und Katja KULLMANN wird eine Milieutheorie der Kinderlosigkeit entwickelt.

Weder die Feminismusschelte à la GASCHKE, noch die Ökonomische Theorie der Kinderlosigkeit von Gary BECKER bis Bert RÜRUP ist in der Lage die Kinderlosigkeit in Deutschland hinreichend zu erklären. Ganz zu schweigen von der Zeugungsstreikthese von Ulrike WINKELMANN bis Meike DINKLAGE.

Gebärunwilligkeit, Zeugungsstreik oder Kostenfalle sind lediglich Etiketten für unbegriffene Phänomene, die Symptome  eines neuen Typs von Klassengesellschaft sind." [mehr]

Einer neuen Männerbewegung, die literarisch bei Michael HOUELLEBECQ ("Ausweitung der Kampfzone" , "Elementarteilchen" ) ihren Ausdruck gefunden hat, dienen Karrierefrauen als Zielscheibe .  Die Jobkrise der Generation Golf trägt zur Zunahme von männlichen Frust-Singles bei. Die weibliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt wird dann schnell generell dem 1970er-Jahre-Feminismus angelastet. Mit Doing Gender hat der Soziologe Rainer PARIS dieser Sicht zu Popularität verholfen. Mit dem Fortdauern der Jobkrise wird diese Sicht weiteren Auftrieb erhalten .

Fazit: Nicht die Gerontokratie droht, sondern die familienfundamentalistische Restauration

In einem Artikel der Welt hat Detlef GÜRTLER nachzuweisen versucht, dass wir in einer Zeit des Umbruchs leben. So wie 1965 der Baby Boom in Deutschland nicht als solcher wahrgenommen wurde, sondern der Niedergang von Ehe und Familie diskutiert worden ist, wird heutzutage die Geburtenkrise ausgerufen, obwohl sich Anzeichen für eine neuerliche Trendwende finden lassen:

Gerontokratie? Nichts da! Bald kommt der Babyboom

"Auf die Jahrgänge 1967 bis 1969 entfallen die absoluten Minima der altersspezifischen Geburtenziffern; in den jüngeren Jahrgängen steigen die Geburtenzahlen wieder an. So hatten 1000 Frauen des Jahrgangs 1968 bis zu ihrem 25. Geburtstag 382 Kinder geboren - beim Jahrgang 1973 waren es zum gleichen Zeitpunkt bereits 421.
(...).
Belegen lässt sich damit bisher nur, dass der seit Mitte der sechziger Jahre andauernde Trend zur Abnahme der Zahl junger Mütter Mitte der neunziger Jahre gestoppt wurde. Aus den bisher vorliegenden Daten ist natürlich nicht zu entnehmen, ob die heute zwischen 20 und 30 Jahre alten Frauen, die bisher mehr Kinder bekommen haben als die vorangehenden Jahrgänge, auch insgesamt mehr Kinder bekommen werden. Wenn sich allerdings herausstellen sollte, dass auf die Jahrzehnte des andauernden Geburtenrückgangs nun eine nachhaltige Steigerung der Geburtenzahlen folgt, also ein zweiter demographischer Übergang, wird als Wendepunkt der Entwicklung wahrscheinlich das Jahr 1995 angegeben werden."
(Welt 19.08.2003)

Leben wir also in Zeiten eines neuen Babybooms, ohne dies zu wissen? Die deutschen Demografen sind bei dieser Frage jedenfalls keine große Hilfe. Sie schreiben ihre Zahlen einfach in die Zukunft fort und entwerfen Horrorszenarien, die sich zwar mit der Interessenlage des neuen Establishments decken, aber Anzeichen einer Trendumkehr stillschweigend unter den Tisch fallen lassen. Die Neue Mitte-Medien haben sie dabei vollständig auf ihrer Seite. Solange Familienfundamentalisten sozialpolitische Reformen gegen Kinderlose durchsetzen wollen, sind Meldungen über einen Babyboom kontraproduktiv. Da die Minderheit der lebenslang Kinderlosen keine Lobby besitzt, sondern nur Spielball in einem Kulturkampf ist, wird der Familienfundamentalismus in nächster Zeit die dominante Strömung sein.

Die Ruhestandsfamilie: Spätgebärende als die neuen Trendsetter

Zum Abschluss soll - nichtsdestotrotz - eine Utopie stehen, die die gegenwärtige Debatte in nicht allzu ferner Zukunft im Rückblick als Sackgasse erscheinen lassen könnte. Alvin TOFFLER hat bereits zum Ausklang der 1960er Jahre Umwälzungen der Geburtstechnologie prognostiziert, die unsere Vorstellungen von Familie revolutionieren könnten. Heute noch umstrittene Schwangerschaften nach der Menopause, die durch die Erfolge der Reproduktionsmedizin möglich werden, könnten der  "Ruhestandsfamilie" zum Durchbruch verhelfen . Kinderlose könnten zuerst ihre Karriere- und Berufspläne verfolgen und erst danach im späteren Alter eine eigene Familie gründen. Spätgebärende wären in dieser Sicht die Vorreiter eines zukunftsträchtigen Trends. In dem 1970 auf deutsch erschienenen Buch Der Zukunftsschock von Alvin TOFFLER heißt es:

Der Zukunftsschock

Es ist fraglos nur eine Sache von Jahren, bis die von Dr. Daniele Petrucci in Bologna sowie von Wissenschaftlern in den Vereinigten Staaten und in der Sowjetunion begonnenen Arbeiten es den Frauen ermöglichen, Kinder zu bekommen, ohne die Strapazen der Schwangerschaft durchstehen zu müssen.
Die möglich Anwendung solcher Entdeckungen ruft Erinnerungen an Aldous Huxleys Schöne neue Welt (...) wach. (...).
Die Auswirkungen der neuen Geburtstechnologie werden (...) unsere traditionellen Begriffe von Sexualität, Mutterschaft, Liebe, Kindererziehung und Bildung umstürzen."
(1970, S.159f.)

"Die superindustrialisierte Gesellschaft, die nächste Stufe in der öko-technologischen Entwicklung, erfordert (...) eine noch größere Mobilität der Menschen. Logischerweise werden viele Leute also in der Zukunft den Prozeß der Familienverkürzung fortsetzen (...).
Eine Alternative zur Kinderlosigkeit könnte in der aufgeschobenen Elternschaft liegen. Männer und Frauen von heute geraten oft in eine Konfliktsituation - sollen sie sich den Kindern widmen oder ihrer Karriere? Zukünftig wird man dieses Problem umgehen, indem man die gesamte Aufgabe des Kinderaufziehens in die Zeit nach der Pensionierung verlegt. Das mag heute noch reichlich seltsam klingen. Wenn die Frage der Geburt aber erst einmal von ihrer biologischen Basis gelöst ist, kann höchstens noch die Tradition vorschreiben, daß man möglichst frühzeitig Kinder bekommen soll. Warum also nicht warten und die Embryos erst dann kaufen, wenn die berufliche Laufbahn abgeschlossen ist? Demnach wird sich die Kinderlosigkeit unter jungen Ehepaaren und auch unter Ehepaaren in den besten Jahren immer mehr verbreiten, während Kinder immer häufiger von Sechzigjährigen aufgezogen werden. Die »Ruhestandsfamilie« kann durchaus zu einer allgemein akzeptierten sozialen Institution werden."
(
1970, S.195)

 
     
 
       
   

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Update: 23. November 2018