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Elementarteilchen
"Ein literarisches
Zeitbild der letzten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts: Die
einsamen und verstörten Halbbrüder Michel und Bruno teilen
ein glückloses Leben mit einer lieblosen Mutter. Bruno
wird Opfer seiner verzweifelten sexuellen Besessenheit.
Michel lebt ein autistisches Forscherleben als
Molekularbiologe, bis er das unsterbliche und
geschlechtslose menschliche Wesen klont - die Vision
jenseits des Egoismus und sexuellen Elends."
(aus: Klappentext 1999) |
Die
Pathologien der "Single-Gesellschaft"
Sound of Silence
People talking without
speaking
People hearing without listening
People writing songs that voices never share
And no one dare disturb the
Sound of silence
"Fools!" said I
"You don't know silence like a cancer
grows"
(Paul Simon 1964) |
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
vom 12. Oktober 1999 hat Thomas STEINFELD die
Frage
aufgeworfen, was denn das Anstößige an
dem Buch sei und darauf die Antwort
gegeben, es seien die "antimodernen
Einwände gegen das moderne Leben". In den
essayistischen Passagen des Buches kritisiert
HOUELLEBECQ dann auch vehement die
Individualisierungstendenzen in den westlichen
Gegenwartsgesellschaften. Er spricht gar vom
"Selbstmord der westlichen Welt".
Das Buch
liest sich in weiten Passagen wie eine
Pathologie
der "Single-Gesellschaft". Die beiden
Hauptakteure des Romans - die Halbbrüder Bruno
und Michel - sind um die Vierzig und keine
Randexistenzen wie in den üblichen Büchern, die
vom Scheitern erzählen. Sie gehören vielmehr
zur Mittelschicht. Bruno ist Lehrer und Michel
ein erfolgreicher Molekularbiologe. Dem
beruflichen Status entspricht jedoch kein
adäquater Familienstand. Beide sind
Alleinlebende
im Familienlebensalter. Bruno hat seine
Ehe bereits hinter sich und Michel hat nie
geheiratet. Man könnte sie sozusagen als
alt gewordene, bindungsunfähige Yuppies
bezeichnen.
Die Anschlussfähigkeit an die
wissenschaftliche Debatte
HOUELLEBECQ
kann mit diesen männlichen Single-Typen an den wissenschaftlichen
Diskurs der 1980er und 1990er Jahre anknüpfen. Während Ulrich BECK seine soziologische
These
von der "Single-Gesellschaft" noch als
Antithese zur psychoanalytischen Perspektive von
Christopher LASCH ("Das Zeitalter des
Narzißmus", 1995) formuliert hat, gehen beide
Versatzstücke bei HOUELLEBECQ eine zweifelhafte
Synthese ein, die in eine Krankheitsgeschichte
der westlichen Zivilisation mündet.
Ich sag' mir selber Guten Morgen
"Nachdem Singles als
Pioniere der Moderne »entdeckt« wurden, droht ihnen das
Schicksal der Mystifizierung und Idealisierung - eine
Gegenbewegung gegen die frühere Verunglimpfung als »alte
Jungfer« oder »Hagestolz«. Idealisierungen aber ereilt
immer wieder das gleiche Schicksal: Man entdeckt
schließlich, daß sie nicht zutreffen, und schlägt die
umgekehrte Richtung ein."
(1992, S.260) |
Die
"Pioniere
der Moderne" wie Singles gerne bezeichnet werden,
erscheinen nicht als Vorboten einer modernisierten Moderne,
sondern als Vorboten des Untergangs. HOUELLEBECQ muss sich den
Vorwurf gefallen lassen, dass er die Probleme der
Gegenwartsgesellschaft einzig im Wertesystem des westlichen
Individualismus erblickt.
Für Brüche oder gar
Widersprüche bleibt da kein Raum. Diese Sichtweise ist nicht
neu, genauso wenig wie die Abrechnung mit den 68ern. Eine
differenzierte Analyse der Gegenwartsgesellschaft bleibt bei
einem solchen "Paradigmenstreit" auf der Strecke.
Ein
Vergleich mit "Mars" von Fritz Zorn
Mars
"»Ich bin jung, reich
und gebildet; und ich bin unglücklich, neurotisch und
allein. Ich stamme aus einer der allerbesten Familien des
rechten Zürichseeufers, das man auch die Goldküste nennt.
Ich bin bürgerlich erzogen worden und mein ganzes Leben
lang brav gewesen. Meine Familie ist ziemlich degeneriert,
und ich bin vermutlich auch ziemlich erblich belastet und
milieugeschädigt. Natürlich habe ich auch Krebs, wie aus
dem vorher Gesagten selbstverständlich hervorgeht.« So
beginnt der junge Schweizer Autor, der sich Fritz Zorn
nennt, sein Buch, und er beendet es mit dem Satz: »Ich
erkläre mich als im Zustand des totalen Krieges.« Anfang
und Ende sind die Klammern für einen dreißigjährigen
seelischen Krieg in scheinbarem Frieden"
(aus: Klappentext 1979). |
Üblicherweise
wird der Roman mit CAMUS' Der erste Mensch
oder Aldous HUXLEYs Schöne Neue Welt
verglichen. Wenn es jedoch um das Scheitern eines
Singles geht, dann fällt einem älteren Leser
vielleicht das Buch
Mars
von Fritz ZORN ein. Dieser
autobiografische Bericht aus den 1970er Jahren
zeigt einige Parallelen zu den Protagonisten der Elementarteilchen.
Der Ich-Erzähler in Mars war Lehrer wie
Bruno und führte ein asexuelles Leben in noch
umfassenderer Weise als Michel. Er begeht keinen
Selbstmord oder endet in der Psychiatrie, sondern
stirbt 32jährig an Krebs. Sein Leiden sieht er
im Zusammenhang mit seinem Elternhaus. Er leidet
jedoch nicht an der physischen Abwesenheit seiner
Eltern wie Michel und Bruno. Es ist nicht die
Mutter, die nach Selbstverwirklichung strebend,
ihre Söhne im Stich lässt. Es ist vielmehr ein
Elternhaus, das dem Ideal der
bürgerlichen Kleinfamilie entspricht,
wie es sich Bruno und Michel ersehnen. Und
dennoch ist der Ich-Erzähler der Auffassung,
dass er "aus Mangel an Liebe zugrunde
ging". Nicht die sexuelle Befreiung sieht er
als das Problem, sondern die Verdrängung der
Sexualität im "kanzerogenen bürgerlichen
Milieu". Hier ist noch nicht die
Atomisierung der Familie das zentrale Thema,
sondern die Kritik an einem Erziehungsstil.
Während der Ich-Erzähler in Mars dem
Denkmuster der sexuellen Befreiung folgend, die
elterlichen Erziehungsvorstellungen kritisiert,
sehen HOUELLEBECQs Protagonisten gerade in diesem
Denkmuster einen Beitrag zum Zerfall der Familie.
Sind die Elementarteilchen in diesem
Sinne eine konsequente Übertragung des Stoffes
in die 1990er Jahre?
Die Akteure
beider Romane interpretieren ihr
Leiden
an der Welt im Lichte des jeweiligen Zeitgeistes.
Dieser Zeitgeist veranlasste den Ich-Erzähler in
Mars seine Krankheitsgeschichte in den Worten der
Psychoanalyse zu erklären, während Michel die Welt mit den Augen
eines Naturwissenschaftlers auf Distanz hält, denn die
öffentliche Debatte
Elementarteilchen
"sollte zu diesem
Zeitpunkt keinen Raum für eine neue Philosophie lassen,
sondern im Gegenteil sämtliche Intellektuellen
diskreditieren, die sich auf die »Humanwissenschaften«
beriefen; der zunehmende Einfluss der Naturwissenschaftler
in allen Bereichen des Denkens war von da an unvermeidlich
geworden".
(1999) |
Das
Buch in der Debatte:
Ines KAPPERT
betrachtet die männlichen Singles in dem Roman im Buch
Der Mann in der Krise unter den Gesichtspunkten der
Depression und des Ressentiments.
Der Mann in der Krise
"Gemeinhin ist der
>Mann in der Krise< ein Stadtbewohner und zwischen dreißig
und fünfzig Jahren alt. Er verfügt über einen Job, und
Geldnot zählt nicht zu seinen Problemen. In seiner
zurückgenommenen Körperlichkeit, tatsächlich erscheint er
als eher blass und unsexy, ist er ein unauffälliger
Vertreter der weißen Mittelschicht und zeichnet sich durch
Teilnahmslosigkeit, Verunsicherung und eine eher zynische
Haltung gegenüber seinen Mitmenschen aus. Von den
Konventionen ist er so überfordert wie ihnen treu ergeben;
nur widerwillig beginnt er sie in Frage zu stellen. Doch
er muss sich eingestehen, dass er sich in dem
gegenwärtigen Ordnungssystem immer weniger zurechtfindet.
Es will ihm einfach nicht gelingen, seinem Leben und der
Gesellschaft, in der es stattfindet, eine
sicherheitsstiftende Sinnhaftigkeit abzutrotzen. Zu Frauen
hat er in der Regel ein gestörtes Verhältnis und zu seinen
Kindern, so vorhanden, wahrt er Distanz: sein Sexleben ist
eine Katastrophe. Die Figur des >Mannes in der Krise<
zeichnet sich durch eindeutig depressive Züge aus."
(2008,
S.209f.) |
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