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Die
Reproduktionsmedizin und die Ordnung der Familie
Der Journalist und
Kulturwissenschaftler Andreas
BERNARD verquickt mit seinem Buch Kinder machen (2015
auch in der BPB-Schriftenreihe erschienen) die
Entwicklungsgeschichte der neuen Reproduktionstechnologien
mit deren Folgen für die Familienbildung. Es ist außerdem die
Geschichte eines Einstellungswandels zur künstlichen
Befruchtung, die sich in den 1990er Jahren vollzieht, d.h. in
jenen Jahren als
Deutschlands Entwicklung zur
Single-Gesellschaft heftig kritisiert wurde, und die
Kinderlosigkeit der Karrierefrau zum Menetekel der vergreisenden
Gesellschaft wurde. Während BERNARD diesen gesellschaftlichen
Kontext ausblendet, soll hier dieser individualisierende Blick
einer biopolitischen Perspektive gegenüber gestellt werden, in
der die
Demografisierung gesellschaftlicher Probleme sichtbar und
damit kritisierbar wird.
Gestiegene Kinderzahlen als
Erfolgsmaßstab der Reproduktionsmedizin
Welchen Einfluss die
Reproduktionsmedizin auf die Geburtenrate hat, das lässt sich
kaum belegen, denn es gibt für Deutschland keine verlässlichen
Zahlen. Lediglich ein Teil der Geburten werden im Deutschen
IVF-Register erfasst. In Deutschland nicht zugelassene Verfahren
können damit auch nicht registriert werden. Zudem sind manche Technologien aus den Anfangszeiten der
Reproduktionsmedizin inzwischen so alltäglich geworden, dass sie
als solche gar nicht mehr gesondert erfasst werden. BERNARD schreibt dazu:
Kinder machen
"Die Verfahren der
assistierten Empfängnis sind im Jahr 2014 keine
Randerscheinung mehr. Ein halbes Jahrhundert nach Gründung der
ersten Samenbanken in den USA und über 35 Jahre nach der
Geburt der ersten in vitro gezeugten oder von einer bezahlten
Leihmutter ausgetragenen Babys haben diese Techniken jede
Exotik verloren und bestimmen, je nach Rechtslage der
einzelnen Länder, den Alltag der Reproduktionsmedizin.
Weltweit gibt es bereits über fünf Millionen durch
In-vitro-Fertilisation entstandene Menschen. In Deutschland
geht derzeit jede vierzigste Geburt auf eine künstliche
Befruchtung zurück; vor den Einschränkungen der
Kostenübernahme im Jahr 2004 war es sogar jede dreißigste. Die
Zahl der durch Samenspende eines Dritten gezeugten Kinder soll
sich nach Angaben der Samenbank-Betreiber in Deutschland auf
über 100 000 belaufen; dieser Wert kann aber, im Gegensatz zu
den seit 1982 im »Deutschen IVF-Register« erfassten Geburten,
durch kein Verzeichnis nachgeprüft werden. Leihmutterschaft
und Eizellspende sind gemäß den Bestimmungen des
»Embryonenschutzgesetzes« weiterhin verboten. Die Zahl jener
deutschen Paare aber, die den Offerten des
Reproduktionstourismus folgen und in Ländern, die diese
Verfahren anbieten, eine künstliche Befruchtung mit fremder
Eizellen durchführen lassen oder sogar eine Leihmutter
engagieren, hat in den vergangenen Jahren erheblich
zugenommen."
(2014, S.19) |
Dass die Erfolge der
Reproduktionsmedizin keineswegs unabhängig von
bevölkerungspolitischen Aspekten betrachtet werden dürfen,
zeigen die als Einbruch der Geburtenzahlen wahrgenommene
Einschränkung der Kostenübernahme durch die Krankenkassen im
Jahr 2004. Diese bevölkerungspolitische Debatte wird von BERNARD
nur ganz am Rande erwähnt, aber nicht systematisch beim
Siegeszug der Reproduktionsmedizin betrachtet. Die Soziologin
Susanne SCHULTZ beschreibt dagegen in ihrem Artikel
Mehr Deutsche via IVF im
Gen-ethischen
Informationsdienst Nr.194
vom Juni 2009 die Hintergründe dieses Deutungskampfes um
ausgefallene Geburten:
Mehr Deutsche
via IVF
"Seit einem Jahr hat der
Kampf gegen die
»Vergreisungsfalle«
ein neues Steckenpferd hinzubekommen, nämlich die
In-vitro-Fertilisation (IVF). Diskutiert wird, inwiefern
Bevölkerungspolitik an der Finanzierung dieser Maßnahme
moderner Reproduktionsmedizin ansetzen könne. Im Juli 2008
preschten die drei Bundesländer Sachsen, Thüringen und
Saarland vor und überzeugten den Bundesrat, sich für eine
Aufhebung der neuen restriktiveren Finanzierungsmodi für IVF
seit 2004 auszusprechen. Begründung;
»Deutschland
ist (...) in einer demographischen Falle, die es erfordert,
alle Maßnahmen zu fördern, um der zunehmenden Vergreisung
und dem damit einhergehenden Druck auf die Steuer- und
Sozialabgabensysteme entgegenzuwirken.«
Hintergrund der Debatte ist das Gesetz zur Modernisierung
der gesetzlichen Krankenversicherung
(GKV-Modernisierungsgesetz, GMG) vom November 2003. Das
gesundheitspolitische Sparprojekt der rot-grünen
Koalitionsregierung hob die bisherige Vollfinanzierung von
vier IVF-Zyklen für verheiratete Paare durch die
gesetzlichen Krankenkassen auf."
(Gen-ethischer Informationsdienst Nr.194, Juni 2009) |
Das
Deutsche IVF-Register (DIR) ist auch keine - wie man
vielleicht fälschlicherweise annehmen könnte - amtliche
Statistik, sondern eine freiwillige Erhebung der deutschen
Reproduktionskliniken. Nach einer
Selbstdarstellung (Website abgerufen am 05.08.2014) ist das
Register 1982 von Reproduktionsmedizinern gegründet worden, aber
erst seit 1996 offiziell eine Einrichtung der Deutschen
Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), das zudem
erst seit 1999 für seine Mitglieder verpflichtend ist. Die Datenqualität ist daher
durchaus unterschiedlich. Zudem lässt sich daran ablesen, dass
die Bedeutung der Reproduktionsmedizin erst Mitte der 1990er
Jahre gesellschaftspolitisch wirklich relevant geworden ist.
Mitte der Nuller Jahre ist ihre bevölkerungspolitische Relevanz
im Deutungskampf um den demografischen Wandel zudem daran
abzulesen, dass z.B. mit "ausgefallenen Geburten" argumentiert
wird, worauf später noch näher eingegangen wird. Diese Hintergründe werden
bei Andreas BERNARD thematisiert, sondern sie werden lediglich
indirekt sichtbar, wenn er den Einstellungswandel gegenüber der
künstlichen Befruchtung anhand dem Begriffswandel vom
Retortenbaby zum Wunschkind beschreibt.
Vom
Retortenbaby zum Wunschkind
Noch Mitte der 1980er
Jahre zeigt sich die Skepsis gegenüber der künstlichen
Befruchtung gemäß BERNARD anhand des Gebrauchs des Begriffs
Retortenbaby, der die Künstlichkeit der Entstehung betont:
Kinder machen
"Die kritische Aufnahme der
extrakorporalen Befruchtung bildet sich (..) in der
Bezeichnung der Kinder ab, die auf diese Weise gezeugt werden:
in den Begriffen »Test-tube Baby« und der deutschen
Entsprechung »Retortenbaby«. Das englische Wort ist allerdings
nicht neu. Es stammt aus einer früheren Epoche der
Reproduktionsmedizin, aus den 1930er Jahren, als in den USA
die Samenspende eines Dritten aufkam. (...). Bereits im
Zusammenhang mit den Forschungen von John Rock und Miriam
Menkin in Boston wird der Begriff allerdings auch für die
möglichen Erfolge von Befruchtungen außerhalb des Körpers
benutzt, und als die Experimente Edwards' und Steptoes Anfang
der siebziger Jahre erstmals für Aufsehen sorgen, bürgert er
sich als Synonym für in vitro gezeugte Kinder ein. Keine
deutsche Zeitung etwa kommt nach dem 25. Juli 1978 ohne das
Wort »Retortenbaby« in den Schlagzeilen aus (...).
Die Begriffe »Test-tube«, »Retorte« und »Reagenzglas« sind bis
heute Bestandteil jeder skeptischen Beschreibung der
Reproduktionsmedizin, und vor diesem Hintergrund ist es
aufschlussreich, dass keine einzige erfolgreiche
In-vitro-Fertilisation jemals in einem solchen Gefäß
stattgefunden hat. Denn seit Miriam Menkins Zeiten verwenden
die Embryologen bekanntlich flache, breite Petrischalen, um
die menschlichen Eizellen und Samenproben zu vereinigen."
(2014, S.427f.) |
BERNARD geht ausgiebig auf
die kulturelle Bedeutung der Metapher "Reagenzglas" ein, die als
Ausdruck einer entfesselten Wissenschaft gilt, während dem
Begriff "Petrischale" keine Symbolkraft zugeschrieben wird:
Kinder machen
"(Die) Bedeutungstradition
des Reagenzglases, als zweifelhafte Ikone einer entfesselten
Wissenschaft, hat vermutlich dazu geführt, dass dem Gefäß in
der Geschichte der Reproduktionsmedizin eine faktisch
grundlose Repräsentationskraft zugewiesen wurde. Die
Petrischale hingegen, ihre diskrete Erscheinung, eignet sich
nicht zum Symbol. Der tatsächliche Schauplatz epochaler
Verwandlungen, jenes Glas, dem die In-vitro-Fertilistation
ihren Namen verdankt, ist bis heute semantisch neutral
geblieben."
(2014, S.429) |
Dass sich die Petrischale
durchaus als Symbol eignet, zeigt das Spiegel-Titelbild
Der künstliche Kindersegen: In einer Petrischale liegen
Drillinge als Symbol einer eher unfreiwilligen Fruchtbarkeit.
Insbesondere das
Frankenstein-Motiv und die Dystopie
Schöne neue Welt von Aldous HUXLEY wird immer wieder in
Verbindung mit den neuen Reproduktionstechnologien gebracht und
kann zu einem gesellschaftlichen Konsens ansonsten
divergierender gesellschaftlicher Gruppen führen:
Kinder machen
"Die Sorge, dass die
Reproduktionsmedizin das Gut des Lebens in ein technisches
»Produkt« verwandle, unabhängig von der körperlichen
Vereinigung zweier Menschen, verbindet ansonsten unvereinbare
politische Lager: Feministinnen und Kirchenvertreter,
alternative und konservative Parteien. Schlagzeilen und
Buchtitel greifen immer wieder zu Metaphern der Dehumanisierung; jene Frauen, die sich In-vitro-Befruchtungen
und Embryonentransfers unterziehen, werden als
»Gebärmaschinen« oder »Mutter-Maschinen« bezeichnet. Die
extrakorporale Zeugung bringt Erinnerungen an
jahrhundertealte, von der Literatur und Mythologie
durchgespielte Imaginationen des künstlichen Menschen hervor,
die sich nun zu verwirklichen scheinen. Es ist daher
folgerichtig, dass die frühen Diskussionen um die
In-vitro-Fertilisation (wie in der Anfangszeit der
Samenspende) unablässig von Verweisen auf die phantastische
Literatur begleitet werden, insbesondere auf zwei berühmte
Vertreter des Genres: Mary Shelleys »Frankenstein« von 1818
und Aldous Huxleys 1932 erschienene Dystopie »Brave New World«, »Schöne neue Welt«.
(2014, S.430) |
Anhand der neun Titelgeschichten
des Magazins Spiegel lässt sich der Einstellungswandel gegenüber der
Reproduktionsmedizin bereits an den Titelbildern der Jahre 1978
("Ein
Schritt Richtung Homunkulus"; 1986
"Von Menschenzüchtung triebhaft fasziniert"; 1987
"Mein Gott, was habe ich getan?", 1992
"Tun wir den Frauen Gutes?", 1996
"Nur noch halbe Männer", 1999
"Der Kinder-Crash", 2002
"Babys auf Rezept", 2008
"Geschäft mit der Hoffnung" und 2014
"Oh, Baby!" sichtbar
machen.
Während bis Mitte der
1990er Jahre die Künstlichkeit der Entstehung im Vordergrund der
Debatte
steht, treten danach die Probleme der Unfruchtbarkeit bzw. der
unerfüllte Kinderwunsch in den Vordergrund. Erst mit der Zunahme später
Mütter gerät die Reproduktionsmedizin erneut in ein Spannungsverhältnis zur Bevölkerungspolitik,
die auf eine Zunahme junger Mütter abzielt. Es zeigt sich, dass
sich der Aufbau des Deutschen IVF-Registers in den letzten
Jahren im Gleichschritt mit der Zunahme der
bevölkerungspolitischen Relevanz der Geburtenentwicklung
vollzieht.
Die
neuen Reproduktionstechnologien und die Gefahren der
Menschenzüchtung
BERNARD weist darauf hin,
dass die Reproduktionsmediziner schon immer das Problem der
Unfruchtbarkeit zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit gemacht haben,
während in der Öffentlichkeit dieses Problem bis in die 1990er
Jahre überschattet gewesen sei von der ethisch-moralischen
Kontroverse darum, ob ungewollte Kinderlosigkeit als Schicksal
hingenommen werden muss oder ob sie mittels künstlicher
Befruchtung behoben werden darf.
Kinder machen
"Im Empfinden der
Protagonisten assistierter Empfängnis steht die Krise der
Unfruchtbarkeit (...) schon immer im Vordergrund, als Impuls
ihrer medizinischen Forschungen, Geschäftsideen oder
Hilfsgesuche. Diese Priorität spiegelt sich aber bis weit in
die achtziger Jahre hinein nicht in der öffentlichen
Wahrnehmung wider. Die In-vitro-Fertilisation wird (...)
primär in ihrem Verhältnis zur Menschennatur verhandelt, und
wenn das Problem der Infertilität in den Debatten einmal
auftaucht, dann keineswegs als Universallegitimation für die
Anwendung des Verfahrens, sondern in einem kontrovers und
kritisch aufgefassten Sinn.
(...).
(Das) Beharren auf einer »Ontologie« der Unfruchtbarkeit, die
durch keine Auslagerung der Fertilisation zu überlisten sei
(auch wenn die betreffende Frau dadurch ein Kind gebiert),
bleibt lange Zeit ein typisches Argument gegen die assistierte
Empfängnis. Letztlich geht es bei diesem Einwand um die Frage:
Was ist Sterilität? Die bloße Dysfunktionalität eines für die
Kinderzeugung notwendigen Organs (...), die durch einen
ärztlichen Eingriff umgangen werden kann? Oder ein
Allgemeinbefinden, ein persönliches Schicksal, das von der
Medizin nur dann erlöst werden dürfte, wenn der körperliche
oder psychische Ursprung der Sterilität aufgespürt und kuriert
wäre?
In der heutigen Praxis assistierter Empfängnis, die mittels
ICSI unfruchtbare Söhne aus den Spermatiden unfruchtbarer
Väter hervorbringt, ist diese Vorstellung einem strikten
Pragmatismus gewichen. Fruchtbar ist, wer mit seinen eigenen
Keimzellen ein Kind zeugen kann, egal wie. Im Jahr 1985 aber
(...) wird der physiologischen oder psychosomatischen Diagnose
der Sterilität noch elementare Bedeutung beigemessen. In (...)
Leitfäden wie auch in den journalistischen Begleitartikeln
taucht immer wieder die Behauptung auf, dass die
Kinderlosigkeit mancher Frauen und Paare durchaus ihre
Berechtigung habe und keinesfalls durch die Errungenschaften
der Reproduktionsmedizin behoben werden solle."
(2014, S.437f.) |
Diese Darstellung
erscheint jedoch zu einfach, weil die neuen
Reproduktionstechnologien in der Argumentation der Gegner dieser
Technologien immer wieder in Verbindung mit der Möglichkeit der
Menschenzüchtung gebracht wurde. Typisch dafür ist die
Besprechung des Buches Muttermaschine von Gene COREA
durch die Grünen-Politikerin Waltraud SCHOPPE im Spiegel:
Die
Kleinfamilie wird das nicht verkraften
"Ich halte das Argument
der Wissenschaftler, nur den unfruchtbaren Frauen helfen zu
wollen, für eine erhabene Lüge. Die
Reproduktionstechnologien eröffnen die Möglichkeiten der
Menschenzüchtung. Das beginnt schon bei der Insemination,
wenn sich nur bestimmte Paare diese Behandlung finanziell
leisten können, wenn etwa lesbische Paare ausgegrenzt werden
und wenn Ei und Samen aus einem ausgewählten Spender- und
Spenderinnenkreis kommen. Corea berichtet von einer Umfrage,
die ergab, daß 80 Prozent der verwendeten Samen aus dem
Kreis der an der Reproduktionstechnik arbeitenden
Wissenschaftler und Studenten kommen - nach den Aussagen der
Befragten nicht nur deshalb, weil diese Samenspenden schnell
zur Hand sind, sondern vor allem, weil sich die Spender
selbst für besonders hochwertige Menschen halten."
(Spiegel
Nr.37 v. 08.09.1986) |
Dass BERNARD diesen Aspekt
ausblendet, liegt darin, dass seine Argumentation gerade darauf
hinaus läuft, diesen Argumentationszusammenhang zu widerlegen.
Dabei bezieht er sich in erster Linie auf Zeugung durch die
Samenspende eines Dritten, d.h. auf die heterologe
Insemination:
Kinder machen
"Erst seit 1970 gilt die
heterologe Insemination (...) unter den Ärzten nicht mehr als
»standesunwürdig«, und auch die Ausrichtung des 1990
verabschiedeten Embryonenschutzgesetzes ist im Vergleich zu
den europäischen Nachbarstaaten auffallend restriktiv.
Begründet wird diese Vorsicht in der Anwendung der
Reproduktionsmedizin, sowohl von den Entscheidungsträgern als
auch in der kommentierenden Öffentlichkeit, stets mit der
Erinnerung an die Politik der »Menschenzüchtung« im
Nationalsozialismus; noch die jüngsten Bundestagsdebatten zur
eingeschränkten Zulassung der Präimplantationsdiagnostik
standen ganz im Zeichen dieser unheilvollen Tradition. Es ist
vielleicht nicht übertrieben, wenn man sagt, dass das
grundsätzliche Misstrauen, das in Deutschland bis heute jeder
technologischen Annäherung an das Gut des »Lebens«
entgegengebracht wird, vom Schreckensbild der
nationalsozialistischen Herrschaft geprägt ist.
Die Aussagen der Ärzte und Parteifunktionäre zwischen 1933 und
1945 ergeben aber (...) ein anderes Bild. Ihre politische
Ideologie, von eugenischen Vorstellungen getrieben, führt zur
Ermordung von Millionen von Menschen, die den »rassischen«
oder »erbbiologischen« Vorgaben nicht genügen. Verbunden mit
diesen Exzessen einer »negativen« Eugenik ist jedoch eine
unerwartete Scheu vor der Anwendung der künstlichen
Befruchtung als Element einer »positiv« eingreifenden
Bevölkerungspolitik. Die Historiker des Nationalsozialismus
sind sich heute einig, dass die NSDAP die systematische
Erzeugung von genetisch wünschenswerten Kindern zwar für eine
unbestimmte Zeit nach dem Ende des Krieges in Betracht zog,
aber bis 1945 nicht einmal in bescheidenem Maß in die Tat
umsetzte."
(2014, S.238f.) |
BERNARD sieht die
Reproduktionsmedizin also gerade nicht in der Tradition des
Nationalsozialismus und eugenischer Bestrebungen. Er geht sogar
von einem Gegensatz zwischen solchen eugenischen Bestrebungen
einer qualitativen Bevölkerungspolitik und den neuen
Reproduktionstechnologien aus.
Die
Entwicklung der Reproduktionstechnologie und das Hilfspersonal
Man kann die Geschichte
der Reproduktionsmedizin anhand der Verfahrensverfeinerungen
oder anhand ihres Hilfspersonals beschreiben. BERNARD verbindet
beide Herangehensweisen. Bei Letzterer steht die Erweiterung der
Familie durch Fremde im Vordergrund. Eine moderne Familie
zeichnet sich demnach durch bis zu fünf Elternteile aus, eine
Konstellation, der mit Skepsis begegnet wurde und teils noch
immer wird:
Kinder machen
"Seit den 1970er Jahren
bevölkern (...) zunehmend Figuren die Welt der
Reproduktionsmedizin, die den Prozess der menschlichen
Fortpflanzung, die Sphäre der intimen Paarbeziehung
schlechthin, öffnen und erweitern. Diese Konstellation ist nur
schwer in das überlieferte Bild der Kernfamilie zu
integrieren. Der Bundesverfassungsrichter Willi Geiger etwa
schreibt 1960, im Hinblick auf das in den USA bereits bekannte
Verfahren der Samenspende, kategorisch: »Ehe ist die
Lebensgemeinschaft zweier Personen verschiedenen Geschlechts,
die die Geschlechtsgemeinschaft umfaßt - eine Gemeinschaft,
die ihrem Wesen nach nicht der Erweiterung fähig ist.« Ein
halbes Jahrhundert nach diesem Verdikt zeigt sich, dass das
Wesen der Ehe doch elastischer gewesen ist als gedacht.
Dennoch stellen die assistierten Reproduktionstechnologien bis
heute die Frage, wie die Organisation von Verwandtschaft und
Familie im Modus der Samenspende, Eizellspende oder
Leihmutterschaft aufrechterhalten werden kann. Denn diese
Techniken bringen fragmentierte Familienkonstellationen
hervor; Jahr für Jahr kommen Tausende Kinder zur Welt, die bis
zu fünf Elternteile haben. Enorme rechtliche und soziale
Anstrengungen sind nötig, damit die problematischen
Nähe-Distanz-Verhältnisse, die mit der Entkopplung von
biologischer Verwandtschaft und Familienbildung einhergehen,
ausbalanciert werden können."
(2014, S.21) |
BERNARD beschreibt
ausführlich die wahrgenommene Bedrohung, die immer wieder
dadurch entsteht, dass die Grenzen der bürgerlichen Kleinfamilie
durch die an der Kindesentstehung mitbeteiligten Fremden porös
werden. Immer wieder kommt er dabei auf den Film
The Kids Are All Right zu sprechen, um diesen Aspekt
hervorzuheben.
Kinder machen
"Der Samenspender ist eine
gefährliche Figur. Er bedroht die Einheit der Familie, und
deshalb muss sein Verhältnis zu ihr durch aufwendige
rechtliche Konstruktionen im Zaum gehalten werden. Im Jahr
2010 lief ein Film in den Kinos, der dieses
Beziehungsgeflecht, in der Öffentlichkeit weitgehend
unbekannt, einem großen Publikum präsentierte. »The Kids Are
All Right« von Lisa Cholodenko (...) erzählt eine prekäre,
aber versöhnlich endende Familiengeschichte vor dem
Hintergrund der Reproduktionsmedizin. Es geht um den
Samenspender eines lesbischen Paares, der von den beiden
jugendlichen Kindern ausfindig gemacht wird, mit ihnen in
immer engeren Kontakt tritt und schließlich ein
Liebesverhältnis mit einer der beiden Mütter beginnt.
Anschaulich zeigt dieser Handlungsgang also, dass immer dort,
wo es um assistierte Empfängnis geht, sofort das Problem der
Aufrechterhaltung und Überschreitung poröser Familiengrenzen
verhandelt wird."
(2014, S.83f.) |
Mit dem Fortschritt der
Reproduktionstechnologien erweitert sich das Figurenpersonal Zug
um Zug. Und gleichzeitig führen der Fortschritt bzw. politische
Entscheidungen dazu, dass die angewandten Verfahren in
unterschiedlichem Ausmaß zu den Geburtenzahlen beitragen:
Kinder machen
"1970 hat der Deutsche
Ärztetag jene »Standesunwürdigkeit« des Verfahrens aufgehoben,
die von dem Gremium Ende der fünfziger Jahre festgeschrieben
worden war. Seitdem sollen in Deutschland wie erwähnt 100 000
Kinder durch die Samenspende eines Dritten gezeugt worden
sein, die allermeisten von ihnen in spezialisierten
Reproduktionszentren mit eigener Samenbank (...). Im Jahr
1993, nach der Etablierung des ICSI-Verfahrens, ging die
Anzahl der Inseminationen zunächst um die Hälfte zurück, weil
es nun einem Gutteil zuvor unfruchtbarer Männer ermöglicht
wurde (...) doch noch ein eigenes Kind zu zeugen. Dieser Wert
hat sich aber im letzten Jahrzehnt wieder nach oben bewegt,
einerseits wegen der Halbierung des Krankenkassenzuschusses
bei IVF- und ICSI-Behandlungen seit 2004, der viele Paare die
günstigere Insemination in Betracht ziehen lässt, andererseits
durch den stark gewachsenen Anteil von lesbischen und
alleinstehenden Frauen als Klientinnen."
(2014, S.88) |
Verfahren können also zum
einen durch standespolitische Restriktionen verhindert bzw.
durch Gesetzesänderungen beeinträchtigt werden und zum andere
können ältere durch neuere Verfahren substituiert werden.
Gleichzeitig verändern sich dadurch auch die potentiellen
Zielgruppen. Allein dadurch wird eine Schätzung angeblich
ausgefallener Geburten erheblich erschwert.
Die
Leihmutterschaft als fragwürdigste Variante der neuen
Reproduktionstechnologien
BERNARD arbeitet in seinem
Buch den Unterschied zwischen der Figur des Samenspenders und
der Leihmutter folgendermaßen heraus:
Kinder machen
"Man muss die
unterschiedliche Rechtsbestimmung von Vaterschaft und
Mutterschaft in Erinnerung behalten, um die Figuren des
»Samenspenders« und der »Leihmutter« in der
Reproduktionsmedizin genauer voneinander zu trennen. In den
Samenbanken geht es um die Präsentation von Exzellenz im
körperlichen, sozialen und vor allem geistigen Sinne; es
befinden sich vorwiegend akademisch gebildete Männer in der
Kartei, die, was ihre Talente und Fähigkeiten betrifft, den
Auftragseltern mindestens ebenbürtig, in der Regel aber
überlegen sein sollen. Im Delegieren der Zeugung an einen
herausragenden Samenspender leben eugenische Utopien aus dem
ersten Drittel des 20. Jahrhunderts fort. Vor diesem
Hintergrund ist es aufschlussreich, die Anpreisung der Spender
(...) mit den Agenturprofilen der Leihmütter zu vergleichen.
Auch sie sind bis in die frühen 1990er Jahre, vor der
Aufspaltung des Verfahrens in Eizellspenderin und Tragemutter,
für die Hälfte der genetischen Information de Kindes
verantwortlich; es wäre also folgerichtig, wenn sich ihre
Auswahl und Präsentation genauso auf Bildung, intellektuelle
Fähigkeiten oder zumindest besondere soziale Talente
fokussieren würde. Man wird all dies aber vergeblich in den
Leihmutter-Profilen suchen."
(2014, S.271f.) |
Mit dem Aufkommen der
Leihmutterschaft tritt also erstmals eine Figur auf, die nicht dem
eugenischen Ideal der Menschenzüchtung entspricht. Nicht die Exzellenz der
Leihmutter, sondern die Robustheit ist ihr zentrales Auswahlkriterium. Anhand des
Erfahrungsberichts The Surrogate Mother des Rechtsanwalts
Noel KEANE aus dem Jahr 1981 erläutert BERNARD das damals gängige
Leihmutterprofil. Der Autor betätigte sich mit der
Vermittlung von Leihmüttern und erlangte spätestens Mitte der
1980er Jahre im Gerichtsstreit um das Baby M. Berühmtheit. Der
Spiegel beschrieb anlässlich dieses spektakulären
Gerichtsurteils zur Leihmutterschaft beispielhaft die
Lebensverhältnisse von kinderlosen Auftragsgebern und ihrer
Leihmutter folgendermaßen:
Mein Gott, was habe ich getan?
"Da
ist Lisa Spoor, 24, geschieden, Mutter zweier Kinder. »Ich
tue es erstens fürs Geld«, sagt sie, »und zweits, um zu
helfen.« Lisa ist Kellnerin mit einem Jahreseinkommen von
8000 Dollar. Mit dem Nebenverdienst will sei die Ausbildung
ihrer Kinder bezahlen. Keane bringt Lisa Spoor mit dem
kinderlosen New Yorker Ehepaar Gregory und Kathleen Zaccaria
zusammen, beide Anfang 30, Doppelverdiener, Jahreseinkommen
100 000 Dollar"
(Spiegel Nr. v. 1987, S.250) |
Für BERNARD ist die
Leihmutterschaft
die fragwürdigste Variante reproduktionstechnologischer
Verfahren, weshalb sie in der Anfangszeit auch nicht offen
propagiert wurde, sondern erst durch das Bekenntnis einer
Leihmutter offenbar wurde:
Kinder machen
"Als sich Ende der 1970er
Jahre die ersten Frauen in den USA dazu bekennen, ihr Kind für
ein anderes Paar auszutragen, werden diese Fälle als
Gründungsdaten eines neuen reproduktiven Verfahrens
registriert. Das Phänomen der »surrogate motherhood« entsteht,
in Deutschland zunächst mit dem Wort »Ersatzmutterschaft«,
seit Anfang der achtziger Jahre dann mit »Leihmutterschaft«
bezeichnet, und die scharfe Kritik an dieser Methode setzt
praktisch gleichzeitig mit dem Bekanntwerden der ersten
Schwangerschaften ein. Nach dem jahrzehntealten Prozedere der
Samenspende und der im Jahr 1978 erstmals erfolgreich
absolvierten Zeugung durch In-vitro-Fertilisation wird
Leihmutterschaft als dritte und mit Abstand fragwürdigste
Variante der neuen Reproduktionstechnologien wahrgenommen.
Es ist aber bemerkenswert, dass gerade diese jüngste,
besonders umstrittene Methode in der christlich-jüdischen
Mythologie auf eine lange Geschichte zurückblickt."
(2014, S.282) |
Die Leihmutterschaft - die
in Deutschland verboten ist - erweist sich bis heute immer
wieder als skandalträchtig, insbesondere dann, wenn Babys zum
Spielball zwischen Auftraggebern und Leihmutter werden.
Die Eizellspenderin und die Ausdehnung
der Mutterschaft über die Menopause hinaus
Erst mit dem Auftauchen
der Eizellspenderin in den 1990er Jahren entstand eine weibliche
Sozialfigur, die dem männlichen Samenspender ebenbürtig sein
sollte:
Kinder machen
"Neben dem Samenspender und
der Leih- oder Tragemutter etabliert sich im Laufe der
neunziger Jahre (...) eine dritte Figur im Personal der
Reproduktionsmedizin. Und das Auftauchen der Eizellspenderin
hat beträchtliche Konsequenzen für die Geschlechterordnung der
assistierten Empfängnis. Bislang wurde der Status der
männlichen und weiblichen Gehilfen höchst unterschiedlich
interpretiert; auf der Suche nach möglichst brillanten
Samenspendern und möglichst robusten Leihmüttern kehrten (...)
sogar antike Kategorien des Zeugungswissens in die
Reproduktionsmedizin zurück. Jetzt teilt sich der weibliche
Anteil an der assistierten Empfängnis in zwei Hälften, und
damit verschieben sich auch die Geschlechteroppositionen: Denn
für die Figur der Eizellspenderin sollen all jene Ansprüche an
genetische Exzellenz gelten, die zuvor allein an den
Samenspender gerichtet waren."
(2014, S.339) |
Mit der Veralltäglichung
der Eizellspende in der Reproduktionsmedizin wurde zudem Frauen
eine immer spätere erste und weitere Mutterschaft ermöglicht:
Kinder machen
"In einem berühmt
gewordenen Aufsatz (...) stellen Sauer und Paulson Ende 1990
die Ergebnisse ihrer Forschungen vor. (...). Die Ergebnisse
korrigieren das bisherige Wissen über die natürliche
Begrenzung weiblicher Fruchtbarkeit. Denn von den sieben
Probandinnen jenseits der Menopause sind nach der Eizellspende
sechs schwanger geworden: ein Wert, der dem der Gruppe
jüngerer Frauen entspricht und den der herkömmlichen
IVF-Patientinnen (nur zwei Schwangerschaften bei 22 Frauen) um
ein Vielfaches übersteigt. Die epochale Schlussfolgerung der
beiden Ärzte lautet also, »dass die Gebärmutterschleimhaut
auch bei älteren Frauen empfänglich für die Aufnahme und
Austragung eines Embryos bleibt« und das Ende weiblicher
Fruchtbarkeit allein mit dem Versiegen des Eizellen-Vorrats zu
tun hat.
Umgekehrt steht nach dieser Studie fest, dass eine Frau in
jedem Alter durch eine Eizellspende Mutter werden kann."
(2014, S.336f.) |
BERNARD spricht im
Zusammenhang mit der Eizellspende sogar von einem regelrechten
Wettlauf um die älteste Mutter der Welt:
Kinder machen
"Anfang der neunziger Jahre
findet in den Reproduktionszentren Amerikas und Europas ein
Wettlauf um die älteste jemals niedergekommene Mutter statt.
Nun, da die Eizellspende die natürliche Begrenzung der
Fruchtbarkeit überwunden hat, gebären Frauen im Alter von 45,
50 oder 55 Jahren Kinder. Der italienische Gynäkologe Severino
Antinori verhilft 1994 der 63-jährigen Rosanna Della Corte zu
einem Sohn. Viele Jahre lang gilt die Frau aus einem Dorf bei
Rom als älteste Mutter der Welt (...). In der Öffentlichkeit
sind diese Geburten starker Kritik ausgesetzt; weltweit
fordert man ein Verbot der Eizellspende bei Frauen im
Klimakterium, die ihrem Alter nach eher Großmütter der eigenen
Kinder seien und vermutlich nicht einmal deren Schulabschluss
erleben würden. Sauer und Paulson nehmen in einigen Aufsätzen
Mitte der neunziger Jahre zu dieser Debatte Stellung. Sie
verteidigen die von ihnen entwickelte Methode, verweisen auf
die gesellschaftliche Akzeptanz alter Väter und bezeichnen es
als »sexistische Haltung« der Kritiker, dieses Recht nicht
auch Frauen zu ermöglichen, nachdem es medizinisch umsetzbar
geworden ist. Kriterien wie Lebenserfahrung, finanzielle
Sicherheit und ein wohlüberlegter Kinderwunsch würden die
älteren Empfängerinnen von Eizellen überdies zu besonders
geeigneten Müttern machen. Wie so oft ist es also die »Kultur
der Reproduktion«, die der häufig unvorbereiteten oder
defizitären natürlichen Elternschaft entgegengehalten wird.
Gleichzeitig müssen Sauer und Paulson aber einräumen, dass die
Kombination von hormoneller Stimulation der Gebärmutter und
Einpflanzung fremder Eizellen doch nicht so problemlos von den
Patientinnen aufgenommen wird wie anfangs gedacht. (...).
In dem Moment also, in dem die Eizellen leichter zugänglich
und als alleinige Bedingung für die Endlichkeit weiblicher
Fertilität identifiziert sind, können sie wie die Spermien zu
einem Handelsobjekt werden. Es ist deshalb folgerichtig, dass
die ersten Agenturen für Eizellspenderinnen in Kalifornien um
das Jahr 1990 herum gegründet werden, gerade als Sauer und
Paulson ihren Aufsatz zur Möglichkeit von Mutterschaft nach
der Menopause publizieren."
(2014, S.338f.) |
Durch die Möglichkeit der
Eizellspende und die Zunahme der späten Mutterschaft, die in den
1990er Jahren zuerst von der Bevölkerungspolitik ignoriert oder
gar als quantitativ bedeutsames Phänomen geleugnet wurde,
geriet die Reproduktionsmedizin nach und nach in ein
Spannungsverhältnis zur Bevölkerungspolitik, der es an möglichst
jungen Müttern gelegen ist. Erst nach der Jahrtausendwende wurde
das Phänomen der späten Mutterschaft sichtbar, da es sich
insbesondere im Akademikermilieu zeigte, dem beim
Geburtenrückgang eine zentrale Rolle zugeschrieben wurde
.
Und in diesem Jahr schaffte es das Phänomen der späten Elternschaft
sogar auf das Cover des Spiegels. Verantwortlich dafür ist eine
relativ neue Methode, die noch umstritten ist und bei BERNARD
nur ganz am Rande abgehandelt wird: das so genannte Social
Freezing. Darauf soll jedoch später noch ausführlicher
zurückgekommen werden.
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