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Das
Diktat der Fruchtbarkeit als individualisierender Blick auf die
Reproduktionsmedizin
Mit der Gleichsetzung von
Eugenik im Sinne einer Menschenzüchtung und qualitativer
Bevölkerungspolitik gelingt BERNARD die Ausblendung des
Zusammenhangs von Reproduktionsmedizin und Bevölkerungspolitik
in der modernen Gesellschaft. Die Soziologin Susanne SCHULTZ
kritisiert eine solche Sichtweise. Sie unterscheidet im
Anschluss an den französischen Philosophen Michel FOUCAULT zwei Ebenen
einer Biopolitik:
Familienpolitik und die "demografische Chance".
Zur postkatastrophistischen Phase einer neuen deutschen
Bevölkerungspolitik
"Foucaults
Analyse von Biopolitik als zentrales Moment der Herausbildung
moderner Staatlichkeit und als zwei Pole umfassend, nämlich den
einer disziplinierenden Körperpolitik einerseits und den einer
Verwaltung von Bevölkerung andererseits, ist inzwischen ein
allseits bekanntes, vielfach wiederholtes Koordinatensystem
(...). Allerdings gerät der letztere, totalisierende und
spezifizierende
Pol der Bevölkerungsverwaltung - und damit auch
die an Prozesse der Verstaatlichung gebundenen Dimensionen von
Biopolitik - gegenüber dem zweiten Pol einer
individualisierenden Körper- bzw. Verhaltenspolitik heute im
sozialwissenschaftlichen Mainstream eher in den Hintergrund. Es
dominieren Perspektiven, die
Tendenzen einer abstrakten
Individualisierung neoliberaler Selbstverantwortung im Rahmen
biotechnologischer oder biomedizinischer Entwicklungen in den
Vordergrund stellen".
(aus: Prokla 173 Familie und Staat, Dezember 2013, S.540f.) |
In einer solchen
individualisierenden Sichtweise erscheint das Kind dann z.B. als
biographisches Projekt und die Nutzung reproduktionsmedizinischer Verfahren
wird als Selbstoptimierung gebrandmarkt:
Kinder machen
"Die Kurierung des
»Kinderwunsches«, dieses kaum zwanzig Jahre alten, vom
Siegeszug der Reproduktionsmedizin hervorgebrachten Symptom,
ist für manche zu einer Obsession geworden - und vielleicht
hat die gegenwärtige Lage doch mehr mit Huxleys Dystopie zu
tun als im ersten Moment gedacht. Die »Schöne neue Welt« der
Fortpflanzung besteht achtzig Jahre nach Erscheinen des Romans
allerdings nicht darin, dass eine staatliche Autorität mit
ihren biopolitischen Programmen die Menschen unterdrücken
würde. Unfreiheit und Zwang sind vielmehr Folgen jenes
selbstgewählten Diktats, dass Fruchtbarkeit willkürlich
herstellbar sei. Dies führt in den Communitys der
Kinderwunsch-Foren zum unablässigen Vergleich der eigenen
Leistungen bei dem Versuch, endlich ein Kind zu zeugen. (...).
Das Vertrauen in die transformierende Kraft der
Einsatzbereitschaft hat sich in jüngster Vergangenheit
bekanntlich erhöht. In den Castingshows künftiger Popstars und
Topmodels erfahren die Fernsehzuschauer seit fünfzehn Jahren
unentwegt, dass man nur an sich glauben und hart an sich
arbeiten müsse, um seine Ziele zu erreichen. Diese Rhetorik
setzt sich im Berufsleben fort (...) und wenn eine Frau Mitte,
Ende dreißig feststellt, dass sie trotz monate- und
jahrelanger Versuche nicht schwanger wird, findet sie eine
Reproduktionsindustrie vor, die das Versprechen der
Selbstoptimierung auch auf den fortpflanzungsfähigen Körper
anwendet. Familienplanung wird im Modus der Karriereplanung
vorgenommen - das Kind ein weiteres »biographisches Projekt«"
(2014, S.442f.) |
Selbst in der
Zurückweisung solcher Zuschreibungen wie z.B. in dem kürzlich
erschienenen Spiegel-Artikel
Gefrorene Zeit einer 34jährigen Spiegel-Reporterin
erscheinen dann die biopolitischen Zumutungen der modernen
Gesellschaft als Rechtfertigungsgrund der Inanspruchnahme
reproduktionstechnologischer Verfahren:
Gefrorene Zeit
"Als ich vor Kurzem
die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung aus meinem
Briefkasten zog, ärgerte ich mich über einen Artikel, in dem
es um das sogenannte Social Freezing ging. (...)(Es) wurde
darin von ein paar Experten erklärt, was in meinem Leben
alles falsch laufen könnte. Als Social Freezing-Kundin hätte
ich typischerweise gerade eine gescheiterte Beziehung hinter
mir. Eigentlich sei ich ohnehin schon ziemlich alt fürs
Kinderkriegen. Nun würde ich mir von geschäftstüchtigen
Ärzten das Geld aus der Tasche ziehen lassen. Ich sei Teil
eines Lifestyle-Phänomens (...).
Es ist nicht das erste Mal, dass ich so etwas höre oder
lese. Frauen, die ihre Eizellen einfrieren lassen, werden in
Deutschland wahlweise als verblendete Egoistinnen oder
verwirrte Opfer beschrieben. Die einen, so die Erzählung,
folgen gnadenlos und wider die Natur dem Weg der
Selbstoptimierung. Die anderen sind ohnehin nicht
zurechnungsfähig, weil die drohende Unfruchtbarkeit ihnen
den Verstand raubt.
Tatsache ist: Social Freezing ermöglicht Frauen, auf eine
noch umfassendere Art über den eigenen Körper zu verfügen.
Wir drehen an der biologischen Uhr. Wir halten sie an,
zumindest für eine paar Jahre. (...). Es ist ein zutiefst
menschlicher Zug, die Grenzen der Natur herauszufordern.
(...).
Die Gesellschaft erwartet von mir als Frau heute, dass ich
arbeite und finanziell unabhängig bin. Sie erwartet auch,
dass ich Kinder bekomme. Die Modelle, beides miteinander zu
vereinbaren, sind noch immer dürftig. Da verbitte ich mir
jede Vorschrift, wann und wie ich für Nachwuchs sorgen will.
Ich finde, dass man sich freuen kann, wenn ich 3000 Euro in
das Einfrieren meiner Eizellen investiere und nicht in einen
Bausparvertrag oder einen Wellness-Urlaub in der Karibik.
Wer sich darum kümmert, auch in späteren Jahren noch ein
Kind bekommen zu können, betreibt nichts anderes als
Familienplanung."
(Nicola Abé im Spiegel Nr.29 v. 14.07.2014, S.44f.) |
Eine solche Sicht blendet
den bevölkerungspolitischen Imperativ entweder ganz aus oder
bedient sich seiner unreflektiert. ABÉ beschreibt das Social
Freezing, so genannt, weil das Einfrieren der Eizellen nicht aus
medizinisch-gesundheitlichen Gründen wie z.B. bei
Krebspatientinnen vorgenommen wird, sondern aus
gesellschaftlichen Gründen, z.B. weil die Politik es in den
vergangenen Jahrzehnten versäumt hat die Vereinbarkeit von Beruf
und Familie auf die politische Agenda zu setzen. In einem
Artikel der Süddeutschen Zeitung befürchtet die
Journalistin Christina BERNDT, dass Social Freezing dazu führen
könnte, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht mehr
mit Nachdruck verfolgt werden würde:
Glück auf Eis
"Wenn Frauen das
Kinderkriegen aufschieben können, kann dies auch schnell von
ihnen erwartet werden. Das Verständnis für Mütter am
Arbeitsplatz könnte weiter sinken. Und Staat und Arbeitgeber
hätten noch weniger Druck, sich um ausreichende
Kinderbetreuung zu kümmern, familienfreundliche
Arbeitsplätze zu schaffen und Väter zu mehr Engagement für
ihren Nachwuchs zu erziehen. Social Freezing klingt nach
mehr Freiheit. Es könnte aber nur ein bisschen mehr Freiraum
in einer Gesellschaft bedeuten, in der Muttersein oft
unnötig großen Verlust von Freiheit bedeutet."
(Christina Berndt in der Süddeutschen Zeitung v. 19.07.2014) |
Die Bevölkerungspolitik,
der es um junge Mütter geht, hätte sozusagen einen Pyrrhussieg
erreicht: statt junger Mütter bekäme sie potenziell junge
Mütter. Das Erstgebäralter könnte dann weit über die Menopause
hinaus geschoben werden. Angesichts der prognostizierten ständig
steigenden Lebenserwartung wäre das durchaus rational.
In der diesjährigen
Spiegel-Titelgeschichte Späte Eltern wird die späte
Mutter- und Vaterschaft dem urbanen, westdeutschen
Akademikermilieu zugeordnet:
Oh, Baby!
"»Späte
Eltern« nennen Wissenschaftler die etablierten Frauen ab
Mitte dreißig und ihre oft noch älteren Männer. Sie finden
sich vor allem in Universitätsstädten wie Bonn, in
Großstädten und deren Speckgürtel - und grundsätzlich eher
im Westen als im Osten (...). Beide Partner sind studiert,
auch die Frauen arbeiten bald nach der Geburt wieder in
hoher Stundenzahl, sie verdienen gut und besser, sie leben
in einer Ehe oder stabilen Partnerschaft, sie teilen
Haushalt und Hausarbeit. Und sie bedeuten, so zahlreich sind
sie längst, einen Lichtblick inmitten düsterer
demografischer Statistik.
Ideale Bürger einer leistungsorientierten Gesellschaft also
- und gleichzeitig deren Fluch. Die neue Spielplatzelite
steht an der Spitze einer problematischen Entwicklung:
Deutschlands Eltern entfernen sich zunehmend von jenem
Lebensalter, das die Biologie für diese Rolle vorgesehen
hat. Nachwuchs ist, wenn überhaupt, für viele Menschen ein
Projekt de zweiten Lebenshälfte. »Ein Megatrend«, urteilt
Wolfgang Holzgreve, Professor für Frauenheilkunde und
Ärztlicher Direktor am Universitätsklinikum Bonn, »er wird
in seiner Bedeutung noch vollkommen unterschätzt.«"
(Katja
Thimm im Spiegel
Nr.17 v. 19.04.2014, S.33f.) |
Bereits im Jahr 1913, also
vor ziemlich genau 100 Jahren erschien das Buch Das sterile
Berlin von Felix A. THEILHABER, in dem die Berliner Neigung
zur Unfruchtbarkeit im Mittelpunkt stand. Und welch ein Wunder:
das problematische, kinderarme Milieu war schon damals das
Akademikermilieu, nur dass es damals nicht im Prenzlauer Berg,
sondern im bürgerlichen Charlottenburg angesiedelt war. Selbst
die Ursachendiagnosen lesen sich modern: die Unsicherheit der
freien Berufe, die Spätehe und der Feminismus. Das Phänomen der
späten Mutterschaft wurde -
im Gegensatz zu dieser Website - lange Zeit nicht
unterschätzt - wie Katja THIMM behauptet -, sondern tabuisiert,
d.h. ignoriert oder verleugnet. Selbst vor kurzem verharmloste
das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung das Phänomen
noch in seiner aktuellen Grafik des Monats Juli:
Geburten nach dem 40. Lebensjahr sind selten
"Wie das
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) errechnet
hat, waren im Jahr 2012 lediglich 4,2% der Mütter bei der
Geburt ihres Kindes 40 Jahre oder älter, nach dem 45.
Lebensjahr waren es sogar nur noch 0,2%. (...). Viele Frauen
entscheiden sich zur Geburt eines Kindes erst dann, wenn sie
im Beruf etabliert und finanziell abgesichert sind. Dies
gilt in besonderem Maße für Hochqualifizierte, die Kinder
vornehmlich zwischen dem 35. und 39. Lebensjahr gebären."
(BIB 19.07.2014) |
Sicher ist der Anteil der
Geburten von 40-jährigen und älteren Frauen hinsichtlich der
Gesamtbevölkerung gesehen gering. Das BIB verschweigt
aber den Anteil bei den Hochqualifizierten oder gar der
Wissenschaftler an Hochschulen
. Er könnte im zweistelligen
Prozentbereich liegen und damit keineswegs vernachlässigbar
sein. Was bezweckt also die Bevölkerungswissenschaft und die
Bevölkerungspolitik mit ihren Desinformationskampagnen? Die
derzeit umstrittenen Reproduktionstechnologien werden nicht als
bevölkerungspolitische Lösung gesehen, sondern als Problem
betrachtet. So kritisiert THIMM das Soical Freezing
folgendermaßen als bevölkerungspolitisch kontraproduktiv:
Oh, Baby!
"So
entlastend die Lösung im Einzelfall (...) sein mag: als
Reparaturprogramm einer ganzen Gesellschaft taugt sie allein
deshalb nicht, weil sie Politik und Wirtschaft aus der
Verantwortung entließe. »Wir müssen politisch ansetzen«,
sagt (...) Hans Bertram, der langjährige Berater zahlreicher
Ministerien."
(Katja
Thimm im Spiegel
Nr.17 v. 19.04.2014, S.37) |
Es ist diese
Argumentation, die sich auch bei Christina BERNDT wiederfindet
und die Sichtweise des Buches Zukunft mit Kindern -
wie
weiter oben erläutert -
wiedergibt.
Kinderlosigkeit zwischen dem Recht auf ein eigenes Kind und dem
bevölkerungspolitischen Imperativ
In der Spiegel-Titelgeschichte
Tausendmal probiert ... und nie ist was passiert beschreiben
Ulrike DEMMER & Udo LUDWIG das Drama der ungewollten
Kinderlosigkeit zwischen der Sehnsucht nach einem Kind, das
bisweilen als Recht auf ein eigenes Kind eingefordert wird, und
dem bevölkerungspolitischen Imperativ folgendermaßen:
Geschäft mit der Hoffnung
"Bis
vor 30 Jahren hatten kinderlose Paare keine andere Chance,
als sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Der liebe Gott, so
hieß es dann, habe es halt nicht gewollt. Heute, angesichts
von rund 150 000 Kindern, die allein in Deutschland
inzwischen mit Hilfe der gut 120 Fertilitätskliniken geboren
wurden, sind die Begehrlichkeiten groß: Kaum jemand scheint
noch willens, die Laune der Natur zu akzeptieren. (...).
Befeuert von einer Wissenschaft, die mit immer
ausgeklügelteren Methoden das Baby auf Bestellung verheißt,
sind heute immer mehr Paare zum Äußersten bereit. Viele
ruinieren sich finanziell, manche gesundheitlich – und oft
halten die Beziehungen dem Druck nicht stand.
Ihr Wunsch kann zur Manie werden, gar zu einer Sucht, die
das ganze Denken beherrscht. Schließlich wird dieser Wahn
auch unablässig genährt von einer Gesellschaft, die den Wert
der Familie wiederentdeckt hat, Mutterglück idealisiert und
Väter vom Arbeitsplatz an den Wickeltisch komplimentiert.
Schauspielerinnen inszenieren ihre Schwangerschaft,
Fußballer stellen beim Torjubel pantomimisch das Wiegen
eines Säuglings nach, Top-Models präsentieren sich kugelrund
und im Nu wieder gertenschlank, und selbst Politiker werden
öffentlich Papa – wenn auch nicht notwendigerweise mit der
Ehefrau.
Galt Kinderlosigkeit zu Zeiten der Emanzipationsbewegung
noch als Nachweis von Selbstbestimmung, so wird das Gebären
heute eingefordert, als handle es sich um eine
vaterländische Pflicht. Zeugungsverweigerer, so haben
Familienpolitiker unlängst angeregt, sollen weniger Rente
beziehen. Höhere Pflegeversicherungsbeiträge leisten sie
heute schon.
Wie eine Aussätzige fühle sie sich, sagt Sabine Steinkamp,
in einen Topf geworfen mit all den Paaren, die keine Kinder
wollen. »Es gab Freunde, die haben uns Selbstsucht
vorgeworfen, als karrieregeile Dinks beschimpft«, berichtet
Heiner Steinkamp. Die Abkürzung steht für »Double income, no
kids« – die Traumkombination vieler Hedonisten ist für die
Steinkamps der Alptraum ihrer Realität.
Dem Ehepaar schnürt es die Kehle zu, wenn ihnen von
Plakatwänden dieses planschende Baby der »Du bist
Deutschland«- Kampagne entgegengrinst oder wenn im
dazugehörenden Fernsehspot eine sanfte Stimme zu anrührenden
Kinderbildern erzählt, dass Babys in der Anschaffung
kostenlos seien und Deutschland mehr Nachwuchs brauche.
Sabine Steinkamp kommen dann die Tränen, und ihr Mann ist
geneigt, mit der Bierflasche den Bildschirm zu zertrümmern.
Kinderlose, so steht es im Talmud, sind tot bei lebendigem
Leib."
(Ulrike
Demmer & Udo Ludwig im Spiegel Nr.35 v. 26.05.2008, S.39) |
Bis in die Definition der
ungewollten Kinderlosigkeit
hinein, spiegelt sich der Siegeszug der Reproduktionsmedizin
durch die Eingrenzung des "ungewollten" auf eine
biologisch-medizinische Kategorie.
Kinder machen
"Laut den Angaben der
Weltgesundheitsorganisation bleibt heute ein Siebtel aller
Paare ungewollt kinderlos. »Steril« wird eine Partnerschaft
nach der klinischen Definition genannt, wenn nach einem Jahr
des regelmäßigen ungeschützten Geschlechtsverkehrs keine
Schwangerschaft eingetreten ist."
(2014, S.19f.) |
Und auch jene kinderlosen
Paare mit Kinderwunsch übernehmen bereitwillig diese Aufspaltung
der Kinderlosen in "gute" ungewollt und "böse" gewollt
Kinderlosen wie der Spiegel-Titel aus dem Jahr 2008
zeigt. Dabei scheint die Trennschärfe des Begriffs durchaus
fragwürdig. So schreiben noch 1992 ZIEBELL/QUEISSER/SCHMERL in
ihrem Buch
Lebensplanung ohne Kinder zur Kinderlosigkeit:
Lebensplanung ohne Kinder
"Dem Alltagsverständnis zufolge sind Personen
kinderlos, die keine Kinder haben. Bei näherer Betrachtung
stellt sich dann heraus, daß zwischen den Kinderlosen
differenziert werden kann.
Die einen dürfen keine eigenen Kinder haben, weil sie zwar
geschlechtsreif, aber noch zu jung sind, die anderen können
keine Kinder bekommen, weil sie unfruchtbar oder nicht
zeugungsfähig sind, und wieder andere sind alt genug,
fruchtbar oder zeugungsfähig, wollen aber keine Kinder.
In den Nachschlagwerken - auch den feministischen - fehlt
der Begriff Kinderlosigkeit völlig. Weder in Brockhaus und
Duden noch in soziologischen und psychologischen Handbüchern
ist Kinderlosigkeit definiert. Frauen und Männer, die bewußt
keine Kinder haben wollen, tauchen auch explizit in keiner
Statistik auf.
In den medizinischen Wörter- und Handbüchern finden wir zur
Kinderlosigkeit über den Umweg der Sterilität. Sterilität
wird als Zustand der Unfruchtbarkeit mit physischer und/oder
psychischer Ursache angesehen, die auf medizinischem Wege zu
beheben sei (vgl. Pschyrembel 1986: 1595f.). Mediziner, wie
auch Statistiker, erfassen die Kinderlosigkeit nur bei
Ehepaaren. Medizinisch gesehen kann eine Ehe dann als
kinderlos angesehen werden, wenn ohne Anwendung von
Verhütungsmitteln nach zwei Jahren keine Schwangerschaft
vorliegt (vgl. Tauber 1972:3).
Für den Statistiker ist eine Ehe kinderlos, wenn aus dieser
bestehenden Ehe keine Kinder hervorgehen, die Gründe für
diese Kinderlosigkeit werden nicht erhoben. Für die Vielfalt
familialer Lebensformen ist statistisch noch keine Kategorie
gefunden. Alleinlebende und unverheiratete Paare ohne
Kinderwunsch werden nicht erfaßt, was zugegebenermaßen auch
Schwierigkeiten bereiten würde.
Somit wird verständlich, daß die angegebene Zahl derer, die
kinderlos sind, erheblichen Schwankungen unterworfen ist. Je
nachdem, welcher Personenkreis zu den Kinderlosen
hinzugezählt wird, schwanken die Zahlen für die
Bundesrepublik zwischen 5 und 20 %. Wobei es sich bei den 20
% Kinderlosen um Hochrechnungen bis zum Jahr 2000 handelt
(vgl. Nave-Herz 1988a:17).
Bei vielen der angegebenen Berechnungen vermischen sich dann
auch noch die Gründe für die Kinderlosigkeit. Als Grund kann
eine medizinisch bedingte Kinderlosigkeit vorliegen, ein
noch nicht erfüllter Kinderwunsch oder eine bewußt gewählte
Kinderlosigkeit.
Eine bewußt gewählte Kinderlosigkeit ist exakt kaum zu
erheben, da jeweils detaillierte Angaben über den Grund der
Kinderlosigkeit vorliegen müßten, um die bewußt gewählte
Kinderlosigkeit von der zeitlich begrenzten Kinderlosigkeit
unterscheiden zu können."
(1992, S.45f.) |
Dies zeigt bereits wie
problematisch die Begrifflichkeit zur Kinderlosigkeit ist. Es
wäre z.B. zu überprüfen, inwiefern früher der Aufschub von Geburten
aufgrund der Unvereinbarkeit von Beruf und Familie als
ungewollte Kinderlosigkeit betrachtet wurde. Und ob sich dies
geändert hat, nachdem die Familienpolitik die Vereinbarkeit auf
die politische Agenda gesetzt hat. Für die letzten Jahre gilt
jedenfalls der Geburtenaufschub als gewollte Kinderlosigkeit
.
Inwieweit also der Siegeszug der Reproduktionsmedizin bzw.
bevölkerungspolitisch motivierte Umdeutungen einen
Begriffswandel hinsichtlich der Kinderlosigkeit bewirkt hat, das
wäre eine spannende Frage. Eine umfassende Geschichte des
Begriffs- und Bedeutungswandels der Kinderlosigkeit steht noch
aus.
Der Spiegel-Titel
aus dem Jahr 2008 von DEMMER & LUDWIG zeigt am eindeutigsten wie
Bevölkerungspolitik und Reproduktionsmedizin verflochten sind.
Mit Rückgriff auf Schätzungen des privaten, neoliberalen
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung und Zahlen
des professionspolitischen Deutschen IVF-Register wird ein
Zusammenhang zwischen Einschränkungen der Kassenleistungen im
Jahr 2004, dem Rückgang der Behandlungszahlen in deutschen
Reproduktionskliniken und einem darauf beruhenden
Geburtenausfall konstruiert:
Geschäft mit der Hoffnung
"Rund
10000 Kinder kommen seit 2004 pro Jahr in Deutschland
weniger zur Welt - das ist in etwa die Zahl der Neugeborenen
einer Großstadt wie Köln. Besonders stark ist der Rückgang
in ärmeren Bundesländern wie Bremen, Mecklenburg-Vorpommern
und Sachsen.
So ist der Streit um die Bezahlung der künstlichen
Befruchtung zu einem Muster verkorkster Sozialpolitik
geworden: Das volkswirtschaftlich gebotene Ziel, die
Überalterung der Gesellschaft durch mehr Geburten
einzudämmen, wird glatt hintertrieben.
Das ist umso unverständlicher, als die finanziellen Effekte
für das Gesundheitssystem kaum der Rede wert sind (...).
Nach medizin-ökonomischen Rechnungen, sagt Heribert
Kentenich, Chefarzt der Berliener DRK-Frauenklinik und
Leiter des Fertility Center Berlin, »erwirtschaftet ein
Retortenbaby weit mehr Geld, als es kostet«."
(Ulrike
Demmer & Udo Ludwig im Spiegel Nr.35 v. 26.05.2008, S.41f.) |
Die Soziologin Susanne
SCHULTZ hat diese Darstellung kritisiert, wonach jährlich 10.000
Kinder weniger aufgrund der Einschränkungen der Kassenleistungen
zur Welt gekommen sein sollen
.
Liest man die Broschüre
Ungewollt kinderlos des Berlin-Institut für
Bevölkerung und Entwicklung, so zeigt sich wie wenig
nachvollziehbar bzw. überprüfbar solche Angaben sind (vgl. 2007,
S.28ff.)
Die bevölkerungspolitische Rahmung der Debatte
um die Reproduktionsmedizin
Am Beispiel von
Titelgeschichten des Spiegel zur Reproduktionsmedizin
lässt sich zeigen, dass im Laufe der 1990er Jahre die Skepsis
gegenüber reproduktionstechnologischen Verfahren zuerst in der
Bevölkerung gewichen ist. Dann ist aufgrund der Debatte um den demografischen
Wandel und seinen befürchteten Auswirkungen auch die veröffentlichte Meinung
umgeschwenkt. BERNARD hat diesen Einstellungswandel am
Wandel der Begrifflichkeit vom Retortenbaby zum Wunschkind
herausgearbeitet. Dabei wird jedoch die Ambivalenz der
Einstellung zu den neuen Reproduktionstechnologien
vernachlässigt, die sich eher im Begriff des Wunschkindes aus
der Retorte festmachen lässt. Denn die Stellung der
Reproduktionsmedizin beruht auf zwei Säulen: zum einen der
Nachfragemacht der Klienten und zum anderen auf der Möglichkeit
ihre Interessen als bevölkerungspolitisch relevant darstellen zu
können. Die Spiegel-Titelgeschichten aus dem Jahre 2008
und aus dem Jahre 2014 zeigen deutlich die
bevölkerungspolitische Rahmung der Debatte um die
Reproduktionsmedizin. 2008 konnten die Lobbyisten der
Reproduktionsmedizin im Einklang mit dem Berlin-Institut für
Bevölkerung und Entwicklung, das zusammen mit der
Bertelsmann-Stiftung und der Initiative Neue Soziale
Marktwirtschaft die neoliberal geprägte Debatte um den
demografischen Wandel mit "Studien" befeuert und damit die
Demografisierung gesellschaftlicher Probleme in den Medien
etabliert haben - wie weiter oben gezeigt, ihre Interessen
durchsetzen. Dagegen zeigt der Titel aus dem Jahr 2014, dass es
ein Spannungsverhältnis zwischen der Reproduktionsmedizin und
der derzeitigen bevölkerungspolitischen Strategie gibt. Das
Interesse an möglichst jungen Müttern, bestimmt zumindest in
Zeiten, in denen die zusammengesetzte Geburtenrate (TFR)
unverändert auf einem als niedrig eingeschätzten Niveau
verharrt (oder gar sinkt), die bevölkerungspolitische Debatte. Das neue Verfahren
des Social Freezing wird zumindest so lange umstritten bleiben,
bis es seine Vereinbarkeit mit bevölkerungspolitischen
Strategien belegen kann. Das Verfahren kommt zwar dem
bevölkerungspolitischen Wunsch nach jungen Müttern entgegen,
indem es zumindest als Option auf junge Eizellen das
Kinderkriegen der potenziellen
Mütterelite wahrscheinlicher
machen könnte. Gegner des Verfahrens heben jedoch die damit verbundenen
Unwägbarkeiten hervor. Kann das Verfahren halten, was es
verspricht: die ungewollte Kinderlosigkeit zu überwinden bzw.
ein Recht auf ein eigenes Kind zu gewähren? Faktisch wirkt sich
das Verfahren durch die erweiterten Möglichkeiten des
Geburtenaufschubs dahingehend aus, dass das Erstgeburtalter
zumindest der potenziellen Mütterelite weiter steigen könnte,
die damit verbundenen Tempoeffekte führen dazu, dass die
zusammengefasste Geburtenziffer (TFR) auch bei gestiegener
Geburtenrate der Frauen (im Sinne der Kohortenrate CFR) auf
niedrigem Niveau verharrt, d.h. der von familienministerieller
Seite dringend notwendige Erfolg einer steigenden Geburtenrate
könnte dadurch verhindert werden. Als Alternative dazu wäre es
denkbar, den bevölkerungspolitischen Erfolgsmaßstab zu ändern
und statt der zusammengefassten Geburtenziffer, eine Schätzung
der Kohortenrate (CFR) zu verwenden
.
Bereits anhand dieser denkbaren Entwicklungsmöglichkeiten wird
sichtbar, dass das Verhältnis zwischen Reproduktionsmedizin und
Bevölkerungspolitik spannungsgeladen ist. Eine spannende Frage
wäre deshalb, ob es eine kritische Masse gibt, bei deren
Erreichen nicht mehr die Bevölkerungspolitik die Debatten rahmt,
sondern umgekehrt die Reproduktionsmedizin den Takt der
Bevölkerungspolitik vorgibt. Oder diktiert die
Reproduktionsmedizin gar schon die Richtung?
Zusammengefasst lässt sich
sagen: Die Sichtweise von BERNARD ist entschieden zu einfach.
Sein individualisierender Blick, der sich in erster Linie an der
steigenden Nachfragemacht der Reproduktionsmedizin aufgrund des
in der Bevölkerung weiterverbreiteten Wunsches ungewollter
Kinderlosigkeit zu entgehen orientiert, vernachlässigt die
bevölkerungspolitische Rahmung der Debatten um die neuen
Reproduktionstechnologien. Die Gleichsetzung von qualitativer
Bevölkerungspolitik mit eugenischen Bestrebungen der
Menschenzüchtung übersieht, dass eine qualitative
Bevölkerungspolitik, die auf die Zusammensetzung der Bevölkerung
abzielt, auch mit anderen Mitteln, z.B. dem Elterngeld oder auch
der Bildungsexpansion, d.h. der Erhöhung des Anteils der
Akademiker an der Bevölkerung, verfolgt werden kann. Die
Soziologin Susanne SCHULTZ hat eine solche Ausblendung in ihrem
Artikel Familienpolitik und die "demografische Chance"
kritisiert und plädiert für eine demografiekritische Offensive.
Eine solche Kritik der Demografisierung gesellschaftlicher
Probleme wird auch auf dieser Website bevorzugt, wenngleich die
biopolitische Grundlegung durch Michel FOUCAULT dabei nicht
unbedingt im Vordergrund steht, sondern die Folgen für soziale
Gruppen, die durch eine solche Demografisierung ausgegrenzt
werden, indem die Spaltung der Gesellschaft entlang
bevölkerungspolitisch motivierter Kriterien betrieben wird.
Susanne SCHULTZ beschreibt das Problem der Demografisierung
gesellschaftlicher Probleme folgendermaßen:
Familienpolitik und die "demografische Chance".
Zur postkatastrophistischen Phase einer neuen deutschen
Bevölkerungspolitik
"Meines Erachtens ist
es hilfreich, das
Konzept der »Demografisierung« (...) in die Analyse
biopolitischer Staatlichkeit einzubinden. Der Begriff der
Demografisierung wurde von Diana Hummel, Eva Barlösius und anderen eingeführt, um die
diskursiven Effekte kritisch bearbeiten zu können, die
sich entwickeln, wenn Zahl, Verteilung und Zusammensetzung
der (nationalen) Bevölkerung explizit als Grundlage
staatlicher Politik verhandelt werden und
gesellschaftliche Krisenphänomene und Konflikte auf der
Grundlage demografischer, mathematisch-statistischer Daten
und
Prognosen auf spezifische Weise (re)formuliert werden
(vgl. Hummel 2013; Barlösius 2007).
Demografisierung ermöglicht es etwa,
Programme des Sozialabbaus als notwendige Konsequenzen
eines objektiven demografischen Sachzwangs
darzustellen und der politischen Verhandlung zu entziehen
(vgl.
PROKLA 146; Kistler/Trischler 2012; Bosbach/Korff 2012; ver.di 2003). Ein wichtiger Effekt
von Demografisierung ist zudem, dass via
Bevölkerungsstatistiken
soziale Verhältnisse bestimmten, statistisch erfassten
Gruppen zugeschrieben (ihnen sozusagen auf den Leib
geschrieben) und an deren Vermehrung oder Verminderung
gekoppelt werden (...). Demografisierung kann insofern
auch den Effekt haben, neue Konflikte zwischen so
gefassten gesellschaftlichen Gruppen zu schüren, wie etwa,
die
zwischen den Generationen oder
zwischen Eltern und Kinderlosen (vgl. Baureithel 2007).
Demografisierung sollte jedoch meines Erachtens nicht im
Sinne von Demagogie verstanden werden. Vielmehr gehe ich
davon aus, dass Strategien einer demografischen
Reformulierung sozialer Konflikte auf den Kern
biopolitischer Staatlichkeit verweisen".
(aus: Prokla 173 Familie und Staat, Dezember 2013,
S.542f.) |
Diese Problematik wurde
auf dieser Website immer wieder in den Mittelpunkt von
Themen des Monats
gestellt, wenngleich dabei der "Kern biopolitischer
Staatlichkeit" eher vernachlässigt wurde. Susanne SCHULTZ kommt
auch auf die Rolle der Reproduktionsmedizin zu sprechen:
Familienpolitik und die "demografische Chance".
Zur postkatastrophistischen Phase einer neuen deutschen
Bevölkerungspolitik
"(Der) Diskurs über den
unerfüllten Kinderwunsch (kann) als staatlich relevante
Zielgröße auch darauf rekurrieren, dass es die
internationale Industrie der Reproduktionsmedizin
inzwischen erreicht hat, ihre Leistungen nicht nur als
medizinische Behandlung von Krankheiten (nämlich der
Unfruchtbarkeit), sondern auch als Frage eines staatlich
zu garantierenden Menschenrechts auf die Erfüllung von
Kinderwünschen zu etablieren."
(aus: Prokla 173 Familie und Staat, Dezember 2013,
S.551) |
Weiter oben konnte gezeigt
werden, dass bereits die Definition ungewollter Kinderlosigkeit
Ausdruck des Siegeszugs der Reproduktionsmedizin ist, und damit
neben der Spaltung Eltern gegen Kinderlose auch die Spaltung der
Kinderlosen etabliert wird. Dieser Aspekt wurde auf dieser
Webseite bereits
hier und
hier ausführlicher behandelt und wird auf dieser Website in
Zukunft noch genauer unter die Lupe genommen werden.
In der Debatte um die
Reproduktionsmedizin gibt es eingespielte Argumentationsmuster,
die von Fall zu Fall abgerufen werden können. Der
Gefahrendiskurs rankt sich jeweils um die umstrittenen
Verfahren. Derzeit sind dies in Deutschland die Präimplementationsdiagnostik (PID),
die Eizellspende und darauf beruhend das Social Freezing sowie
die Leihmutterschaft. Der Gefahrenkurs wird begleitet von
Frankenstein- und Schöne neue Welt-Motiven. Auch BERNARD
benutzt solche Versatzstücke des Menschenzüchtungsdiskurses -
wie weiter oben ersichtlich,
wenngleich er dabei die Grenzlinien ein wenig verschiebt. Im
New York Times Magazine ist kürzlich der Artikel
The Brave New World of Three-Parent I.V.F. von Kim
TINGLEY erschienen, in dem ein neues Verfahren diskutiert wird,
das selbst in den USA noch verboten ist.
Mit jedem neuen Verfahren
können also solch kulturell veralltäglichte Versatzstücke des
Gefahrendiskurses ("Frankenstein", "Schöne neue Welt",
"Designerbaby") aktualisiert werden. Die Reproduktionsmedizin
bleibt umstritten, auch wenn ältere Verfahren, die BERNARD in
den Mittelpunkt seines Buches stellt, damit immer normaler
erscheinen.
Die Reproduktionsmedizin als Retter der
bürgerlichen Kleinfamilie?
Die geradezu
positivistische Sicht von BERNARD auf die Reproduktionsmedizin
ist bestimmt von der Ausgangsthese, dass sie der bürgerlichen
Kleinfamilie zu neuer Attraktivität verholfen hat:
Kinder machen
"Anfang des 21.
Jahrhunderts (...) sind es gerade die wuchernden »unreinen«,
durch Unterstützung von Dritten und Vierten entstandenen
Familien, die ein seit Jahrzehnten brüchig gewordenes,
symbolisch ausgezehrtes Lebensmodell wieder mit neuer
Repräsentationskraft versorgt haben. Eine auffällige
historische Überschneidung veranschaulicht diese These: Denn
die entscheidenden Durchbrüche in der Geschichte der
Reproduktionsmedizin fallen genau in jenes Jahrzehnt, in dem
das traditionelle Konzept der Familie infolge der Umbrüche von
1968 in seine tiefste Krise geraten ist. (...).
Was seit dem Ende der siebziger Jahre geschieht, die
reproduktionsmedizinisch hergestellte Elternschaft von
Menschen, die als unfruchtbar galten, später auch von älteren
Frauen, Alleinstehenden und gleichgeschlechtlichen Paaren, mag
zwar politisch oder religiös überlieferte Vorstellungen des
Gebildes »Familie« verletzten. In erster Linie eröffnet sie
aber einem Personenkreis Zugang zu diesem Lebensmodell, der
zuvor aus gesundheitlichen oder biologischen Gründen
ausgeschlossen war und ihm daher umso empathischer begegnet.
Ein Kind zu bekommen ist in diesen Fällen keine
Selbstverständlichkeit mehr, kein zufälliger oder
zwangsläufiger Effekt sexueller Aktivität, sondern das Ziel
eines langgehegten Wunsches. (...).
In einem
1986 erschienen Spiegel-Artikel zur
assistierten Empfängnis schrieb die Grünen-Politikerin
Waltraud Schoppe: 'Die Reproduktionstechnologien führen das
Modell der bürgerlichen Kleinfamilie ad absurdum.' Vermutlich
ist genau das Gegenteil richtig: Die Reproduktionstechnologien
haben das Modell der bürgerlichen Kleinfamilie
aufrechterhalten und in seiner Logik bestätigt."
(2014, S.471ff.) |
Dies ist im Grunde der
einzige fortschrittliche Kern von BERNARDs Argumentation und
bietet deswegen einen gewissen Zündstoff wie die
Buchbesprechungen zeigen.
Die neue Frontlinie
der reproduktionstechnologischen Kontroverse verläuft zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren, die dem Modell der
bürgerlichen Kleinfamilie insofern entsprechen, weil sie eine
vollständige Familie zumindest der Anzahl nach darstellen, und
jenen unvollständigen Familien, denen vorgeworfen wird, dass ihr Kind
lediglich ein biographisches Projekt sei. Dies gilt
insbesondere für selbstbestimmte
Single-Mütter ("single-mother bei choice"):
Kinder machen
"Wenn sich Mutterschaft
(...) dank den gesellschaftlichen und medizinischen
Errungenschaften der letzten vierzig Jahre verändert hat - von
der leiblichen Tatsache eines auf Familienbildung
ausgerichteten Lebens hin zur technologisch unterstützten
Option selbstbestimmter Frauen -, dann verdeutlicht eine
Erscheinung diesen Wandel auf besondere Weise: die Figur der »single
mother by choice«, der alleinstehenden Frau, die sich bewusst
für eine Schwangerschaft ohne Partner entscheidet. Die Idee
des eigenen Kindes als biographisches Projekt zeigt sich in
dieser Konstellation, die in den USA populär, in Deutschland
laut Aussagen von Samenbank-Betreibern und
Reproduktionsmedizinern immer verbreiteter ist, mit großer
Konsequenz . Im März 2006 machte eine
lange Titelgeschichte
des New York Times Magazine dieses Phänomen öffentlich
bekannt. (...). Die Diktion dieses Artikels mit der
Überschrift »Looking for Mr Good Sperm« lehnt sich stark an
die erfolgreiche Fernsehserie »Sex and the City« an. (...). Im
Vorgehen der »single mothers by choice« sind die assistierten
Reproduktionstechnologien endgültig nichts als ein
Marktangebot; eine Samenbank liefert die möglichst glamourösen
männlichen Gameten, eine Eizellspenderin wenn nötig die
weiblichen, eine Reproduktionsklinik übernimmt schließlich die
Insemination oder extrakorporale Befruchtung. Diese souveräne
Entscheidung über Zeitpunkt und Modus der Familienplanung
könnte in nächster Zeit zudem von einer neuen Technologie
namens »Vitrifikation« unterstützt werden: ein Verfahren, das
es Frauen ermöglicht, auch unbefruchtete Eizellen dauerhaft
konservieren zu lassen."
(2014, S.444f.) |
Weiter oben wurde bereits
deutlich, dass dieses Vorgehen mit dem Schöne neue Welt-Motiv
des traditionellen Gefahrendiskurses in Verbindung gebracht wurde. Die
Single-Mutter bekräftigt also zwar die Attraktivität der nunmehr
neubürgerlich gedachten Kleinfamilie (inklusive Regenbogen- und Patchworkfamilie), aber sie tut es als Unerwünschte bzw.
weiterhin eher Ausgegrenzte, der die letzte Anerkennung verwehrt
wird. Insofern ist es kaum verwunderlich, dass Alleinerziehende
ihr Heil insbesondere in der Abgrenzung zu (kinderlosen) Singles
suchen. Zumindest hinsichtlich dieser Abgrenzung erscheinen sie
als vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft.
Fazit: Das Buch betont die
reproduktionsmedizinische Entwicklungslinie vom Retortenbaby zum
Wunschkind statt zum Designerbaby und ist damit Ausdruck des
gegenwärtigen biopolitischen Zeitgeists
Ist die
Reproduktionsmedizin nun Fluch oder Segen? Nach Ansicht von
Andreas BERNARD hat sie dem bürgerlichen Kleinfamilienmodell zu
neuer Attraktivität verholfen - insbesondere bei jenen sozialen
Gruppen, die bislang davon ausgeschlossen waren:
gleichgeschlechtliche Paare und Alleinstehende. In dieser
Hinsicht positioniert sich das Buch Kinder machen auf der
Seite eines beschränkten Fortschritts. Andererseits ist es dem bevölkerungs-
bzw. biopolitischen Zeitgeist verhaftet, indem das Phänomen
späte Mutterschaft entweder mit kritisch gesehenen
gesellschaftlichen Entwicklungen wie dem Kind als Projekt bzw.
Selbstoptimierungstendenzen in Verbindung gebracht wird oder
einfach ausgeblendet wird. Die neue Ordnung der Familie wird
damit auf das Problem der Erweiterung der bürgerlichen
Kleinfamilie durch Fremde reduziert, während der bevölkerungs-
bzw. biopolitische Aspekt unterbelichtet bleibt. Reicht
angesichts der Demografisierung gesellschaftlicher Probleme ein
individualisierender Blick auf die Reproduktionsmedizin und die
Ordnung der Familie oder ist dieser Blick nicht vielmehr
grundlegend zu hinterfragen, indem die gesellschaftlichen Zwänge
und die Eingebundenheit der Familie in eine Politik der
Bevölkerungssteuerung in den Blick genommen wird? Auf dieser
Website wird deshalb eine erweiterte Sichtweise vertreten.
Angebliche Optionserweiterungen durch die Reproduktionsmedizin
müssen immer auch daraufhin untersucht werden, inwieweit sie
neue soziale Ungleichheiten verursachen bzw. die Optionen von
Minderheiten wie z.B. lebenslang Kinderlose verringern. Das Buch
von BERNARD gibt insofern gute Einblicke in konventionelle
Verfahren der Reproduktionsmedizin, blendet aber die wirklich
neuen und damit umstrittenen Verfahren der Reproduktionsmedizin
wie z.B. die Präimplementationsdiagnostik (PID) oder Social
Freezing aus. Das Buch bleibt dem gesellschaftlichen Mainstream
verhaftet, während kontroverse
Minderheitenmeinungen außen vor bleiben und somit die Ambivalenz
der Reproduktionsmedizin unterbelichtet bleibt. Inwieweit die
Reproduktionsmedizin Fluch oder Segen ist, das wäre eine
empirisch zu klärende Frage, denn an einer Aufarbeitung dieses
gesellschaftspolitisch umstrittenen Feldes mangelt es. Das Buch
von BERNARD ist hier nicht besonders weiterführend, bietet aber
einen guten Ausgangspunkt zur kritischen Aufarbeitung des
Themas.
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