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Wer sind die Kinderlosen?
In der
Bevölkerungswissenschaft wird von einer Kultur der
Kinderlosigkeit gesprochen
. Selten wird jedoch die Heterogenität
der Gruppe der Kinderlosen aufgezeigt. Welche Einseitigkeiten
von Seiten der Bevölkerungswissenschaft (und in gleicher Weise
bei den Sozialpolitikern) vorherrschen, zeigt das Lehrbuch
Bevölkerungssoziologie des Schweizer Familiensoziologen
François HÖPFLINGER, das dieses Jahr in 2. Auflage erschienen
ist. Dort werden die Kinderlosen folgendermaßen beschrieben:
Bevölkerungssoziologie
"Kinderlosigkeit
bzw. ein Erwachsenenleben ohne Kinder wird - in
Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern -
vermehrt zu einer attraktiven Wahloption. Namentlich in
urbanen Regionen entstand (und konzentriert) sich eine
wachsende Gruppe, die aufgrund individualistischer
Orientierungen (z.B. mit Kindern kann man das Leben nicht
mehr so genießen) eine Elternschaft schon früh ausschließt.
So zeigt die Analyse von Kerstin RUCKDUSCHEL (2004) zu den
Determinanten des Kinderwunsches in Deutschland, dass
Selbstverwirklichungsstreben und Wohlstandsdenken den
Wunsch nach Kindern reduzieren. Eine Untersuchung von
unter 40-jährigen deutschen Ehepaaren belegt zudem, dass
auch ein geringer wahrgenommener affektiver Wert von
Kindern den Übergang zu einem ersten Kind negativ
beeinflusst (Henz 2008). Zumindest einige Gruppen von
Frauen und Männer verlängern zudem ihr jugendnahes
Erwachsenenalter jenseits des dritten Lebensjahrzehnts. Zu
erwähnen sind beispielsweise langjährige und spät
Studierende
[mehr]
oder freizeitorientierte urbane Personen, die
in ihren bisherigen Freizeit- und Konsummilieus verharren
und mit der Zeit wenige Anreize erleben, eine Familie mit
Kindern zu gründen und die dazu notwendige langfristige
elterliche Verantwortung zu übernehmen. Eine weitere
Gruppe, die - aus anderen Gründen - in einem kinderlosen
Lebensmilieu verbleibt, sind homosexuelle Männer und
Frauen, die vor allem in urbanen Gebieten eine eigene -
oft stark jugend- und körperbetonte - Erwachsenenkultur
pflegen
[mehr].
Daneben sind im Einzelnen
auch
Geschlechtsrollenzugehörigkeit und Partnerschaftsverläufe
von Bedeutung. So kann die gestiegene Trennungshäufigkeit
von Partnerschaften die Geburtenhäufigkeit negativ
beeinflussen (Eckhard 2006), ebenso wie ein Trend zu
spätem Wegzug aus dem Elternhaus (Nesthocker-Syndrom) oder
eine ausgedehnte jugendorientierte Lebensgestaltung.
Kinderlos gebliebene Frauen und Männer umfassen deshalb
eine sozial heterogene Gruppe, und die Gründe für
Kinderlosigkeit können im Einzelnen biologische,
biographische oder wertorientierte Ursachen aufweisen.
Soziologisch bedeutsam ist die Feststellung, dass sich
heute durchaus eine urbane Kultur kinderlosen
Erwachsenenalters entwickelt hat, die dadurch gestärkt
wird, als durch die demographische Alterung Familien bzw.
Haushalte mit Kindern in immer mehr Regionen zu einer
soziodemographisch wie soziokulturellen Minderheit werden.
Nach Ansicht von Jürgen Dorbritz (2005: 389) sind es
individualistisch deutbare
»Gründe, bei denen sich diejenigen ohne Kinder und ohne
Kinderwunsch am stärksten von denen unterscheiden, die
sich für ein Leben mit Kindern entschieden haben. Es ist
nach diesen Ergebnissen eine Gruppe in der Bevölkerung
vorhanden, die sich aufgrund individualistisch geprägter
Orientierungen gegen Kinder entscheiden.«"
(2012, S.74f.) |
Typisch für das Feindbild
Kinderloser ist, dass die Anteile derjenigen, die
"individualistische Orientierungen" aufweisen, im Dunkeln
bleibt. Verschwiegen werden in dieser Sicht auch die
vielfältigen strukturellen Hemmnisse.
Gewollte, freiwillige,
bewusste Kinderlosigkeit, Kultur der Kinderlosigkeit - In der
Wissenschaft herrscht Uneinigkeit über die Einordnung des
Phänomens
Die Charakterisierung der
Kinderlosigkeit als gewollt bzw. ungewollt wird in der Literatur
ziemlich uneinheitlich gehandhabt. Selbst bei ein und denselben
Autoren differieren die Bezeichnungen. Jürgen DORBRITZ (2005,
S.387) z.B. schreibt zur Policy Acceptance Studie (PPAS)
1992 und 2003, dass mit der Umfrage nicht zwischen gewollter und
ungewollter Kinderlosigkeit unterschieden werden kann. Dies
liegt daran, dass DORBRITZ die Kinderlosen als "diejenigen, die
keine Kinder haben und sich auch keine Kinder wünschen"
definiert, d.h. er beschreibt implizit die gewollte
Kinderlosigkeit. Die Kinderlosen mit Kinderwunsch, d.h.
ungewollt Kinderlose, bleiben bei dieser Betrachtung außen vor.
In der Zusammenfassung wird entsprechend von einer "Kultur der
Kinderlosigkeit" gesprochen, die jedoch nicht näher
konkretisiert wird.
DORBRITZ/LENGERER/RUCKDESCHEL
schreiben in ihrer Publikation
Einstellungen zu demographischen Trends und zu
bevölkerungsrelevanten Politiken aus dem Jahr
2005 dagegen explizit, dass das besondere Ergebnis der
Befragung zunehmend durch gewollte Kinderlosigkeit geprägt sei.
Einstellungen zu demographischen Trends und zu
bevölkerungsrelevanten Politiken
"Das besondere Ergebnis
der vorliegenden Befragung besteht in der Erkenntnis, dass
die Zahlen zum Kinderwunsch zunehmend durch gewollte
Kinderlosigkeit geprägt wird. 20 % der Befragten in der
relevanten Altersgruppe haben freimütig in unserer Umfrage
bekannt, keine Kinder zu wollen. Und von den 20- bis 39-
Jährigen, die noch keine Kinder hatten, wollten immerhin
36 % auch keine Kinder mehr haben. Bislang sind hier die
Einstellungen der Frauen beschrieben worden. Männer
wünschen sich noch weniger Kinder und würden gern häufiger
kinderlos bleiben. Hiermit haben wir eines der wichtigen
Ergebnisse unserer Studie vorgestellt: In Deutschland hat
sich das Ideal der freiwilligen Kinderlosigkeit
ausgebreitet."
(2005, S.5) |
DORBRITZ & RUCKDESCHEL
distanzieren sich in ihrem Beitrag Kinderlosigkeit in
Deutschland - Ein europäischer Sonderweg? für den Sammelband
Ein Leben ohne Kinder 2007
dagegen davon, dass die Kinderlosen ohne
Kinderwunsch mit gewollt Kinderlosen gleichzusetzen seien und
sprechen stattdessen von einem Indiz für eine "Kultur der
Kinderlosigkeit".
Kinderlosigkeit in Deutschland - Ein europäischer Sonderweg?
"Die besondere
Situation Westdeutschlands bei der realen Kinderlosigkeit
ist also bereits im Kinderwunsch angelegt. Es handelt sich
hier nicht um die Gruppe der gewollt Kinderlosen, gewollte
und ungewollte Kinderlosigkeit ist an dieser Stelle nicht
unterscheidbar, es zeigt aber, dass es in einigen Ländern
Europas eine Bevölkerungsgruppe gibt, die keine Kinder
haben möchte. Für Deutschland könnten die überaus hohen
Anteile von Personen ohne Kinderwunsch ein Indiz der sich
ausbreitenden
»Kultur der
Kinderlosigkeit« sein".
(2007, S.78) |
DORBRITZ & SCHWARZ
("Kinderlosigkeit in Deutschland - ein Massenphänomen?",
Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, Heft 3/1996) sowie DORBRITZ 2005 identifizieren zwei soziale Milieus "gewollt
Kinderloser" entlang unterschiedlicher Bildungsgruppen:
Kinderlosigkeit in Deutschland und Europa - Daten, Trends und
Einstellungen
"Die Gruppe der
Kinderlosen ist relativ klein, beträgt bei den Frauen in
der Altersgruppe 20-29 Jahre 15,7 % und bei den 30- bis
39-Jährigen 15,0 %.".
(2005, S.387)
"Bereits anhand des
1992er Datensatzes der PPAS ist nach sozialen Gruppen mit
hoher Kinderlosigkeit gesucht worden. Damals wurden zwei
so genannte soziale Milieus der Kinderlosigkeit gefunden,
das
»Milieu der
konkurrierenden Optionen« (niedriges bis mittleres
Einkommen, eine Entscheidung für Kinder wäre eine
Entscheidung gegen Lebensqualität) und das »Karrieremilieu«
(vollerwerbstätig, unverheiratet, hoch qualifiziert, eine
Entscheidung für Kinder gefährdet die Vollerwerbstätigkeit
und Karriere)
Dorbritz/Schwarz 1996:246. Das Fortbestehen dieser
Milieus der Kinderlosigkeit bestätigen die Ergebnisse des
Jahres 2003"
(2005, S.389)
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Tatsächlich können diese
Milieus von DORBRITZ gar nicht differenziert werden, denn die
Betrachtung erstreckt sich auf die Altersgruppe der 20 bis
45jährigen Frauen (1959-1983 Geborene). 26,1 % der Fach- und
Hochschulabsolventinnen dieser Altersgruppe seien kinderlos,
aber nur 14,7 % seien Eltern. Zum einen wird ein
Hochschulabschluss äußerst selten mit 20 Jahren erreicht, d.h.
Frauen, die vor ihrem Abschluss Kinder bekommen haben, können
nicht berücksichtigt werden. Zum anderen werden
Hochqualifizierte spät Eltern, sodass ein solcher Vergleich nur
für die Altersgruppe der 40-44Jährigen überhaupt aussagekräftig
wäre. Des Weiteren ist ein niedriges Einkommen von 25jährigen
Berufsanfängerinnen anders zu bewerten als bei einer 40Jährigen.
Es handelt sich bei diesen sozialen Milieus also weniger um real
vorfindbare Milieus, sondern um idealtypische Milieus, d.h. eine
Person kann in jungen Jahren dem "Milieu der konkurrierenden
Optionen" angehören, während sie nach der Etablierung im Beruf
dem "Karrieremilieu" angehört.
Neokonservative Moralisten
wie Paul NOLTE sehen im Hedonismus der kinderlosen
Akademikerpaare das Hauptproblem einer gespaltenen Gesellschaft:
Die
Abschiebung der Reproduktion
"Kinderlosigkeit von
Akademikerinnen und Akademikern bedeutet ja: die gut
Gebildeten und Verdienenden, die Chancenreichen lassen die
ohnehin Ärmeren zunehmend auf den Kindern und den
Erziehungsaufgaben sitzen. Die akademischen
Mittelschichten nehmen Kinderlosigkeit als
Schutzmechanismus für ihr Selbstverwirklichungsprivileg in
Anspruch. Das ist ein zusätzlicher Grund, warum materielle
Lebensverhältnisse auseinanderdriften: Den akademisch
gebildeten Single-Paaren mit zwei vollen Einkommen stehen
transferbedürftige Familien oder Familienbruchstücke der
neuen Unterschichten gegenüber. Natürlich können die
Akademiker beredter als diese darüber klagen, daß es ihnen
an Betreuungsmöglichkeiten fehle und sie erst ihre
Karriere sichern müßten - als ob solche Risiken in anderen
sozialen Schichten nicht viel größer wären. Der Effekt des
Kinderverzichts hat es den Eltern unter den Akademikern,
den Fach- und Führungskräften in den letzter Jahren, eher
schwerer als leichter gemacht, sich mit familiärer und
beruflicher Verantwortung an den Arbeitsplätzen zu
behaupten, ohne als Sonderlinge dazustehen. Nicht zuletzt
auf diese Milieus trifft die Feststellung zu, inzwischen
lebten ganze Bevölkerungsgruppen ohne jeden Kontakt zu
Minderjährigen."
(Welt v. 26.01.2005) |
Es stellt sich also die Frage
wie viele "gewollt Kinderlose" es überhaupt gibt und welchen
Milieus sie angehören. Fragen, die bislang eher die Domäne
öffentlicher Spekulationen sind.
Sind Kinderlose ohne Kinderwunsch identisch mit gewollt
Kinderlosen?
Oftmals werden Kinderlose
ohne Kinderwunsch mit gewollt Kinderlosen gleichgesetzt. Dies
kann implizit oder explizit geschehen (siehe oben).
Problematisch ist diese Gleichsetzung bei Frauen und Männern,
die ihre reproduktive Phase noch nicht abgeschlossen haben.
Umfragen wie der PPAS sind Querschnittuntersuchungen, die
Veränderungen des Kinderwunsches im Zeitverlauf nicht erfassen
können. Nicht selten wird jedoch eine Konstanz unterstellt, wie
z.B. von HÖHN/ETTE/RUCKDESCHEL in Publikation
Kinderwünsche in Deutschland aus dem Jahr 2006:
Kinderwünsche in Deutschland
"Neben dem Kinderwunsch steht
in wachsendem Maße der Wunsch nach Kinderlosigkeit. Besonders
die Männer stellen sich immer häufiger auf ein Leben ohne eigene
Kinder ein: Insgesamt 23 Prozent sagten 2003 in einer
repräsentativen Bevölkerungsbefragung, daß sie sich keine Kinder
wünschen, in Westdeutschland waren es sogar 27 Prozent gegenüber
21 Prozent im Osten. Dagegen wünschten sich 15 Prozent aller
Frauen keine Kinder. Hier war der Ost-West-Unterschied noch sehr
viel ausgeprägter: 17 Prozent der westdeutschen Frauen wollten
keine Kinder, aber nur sechs Prozent der ostdeutschen (BiB &
Robert Bosch Stiftung 2005, S. 10;
Dorbritz et al. 2005, S. 36). Da eine Entscheidung gegen
Kinder meistens nicht mehr verändert wird (Ruckdeschel 2004, S.
365), müssen diese Zahlen beunruhigen."
(2006, S.20) |
HÖHN/ETTE/RUCKDESCHEL berufen
sich bei ihrer Stabilitätsannahme auf das Bamberger
Ehepaar-Panel (zitiert wird jedoch nur Ruckdeschel 2004), dessen
Stichprobe jedoch so besonders ist, dass die dort gefundenen
Ergebnisse keinesfalls auf Kinderlose ohne Kinderwunsch
verallgemeinert werden können, wie Marina RUPP schreibt
.
Das Hauptproblem der
Kinderwunschforschung ist, dass es bisher keine
Panel-Untersuchung gibt, die einen eindeutigen Zusammenhang
zwischen Kinderwunsch und Geburt eines Kindes auf der
individuellen Ebene nachweisen konnte. Eine Person könnte einen
Kinderwunsch haben, aber keinen geeigneten Partner finden. Eine
andere Person ohne Kinderwunsch könnte nach einer Trennung von
seinem bisherigen Partner einen Kinderwunsch entwickeln. Dirk KONIETZKA & Michaela KREYENFELD haben
in ihrem
Sammelband-Beitrag Kinderlosigkeit in Deutschland -
theoretische Probleme und empirische Ergebnisse aufgezeigt, dass sich der
Begriff "gewollte Kinderlosigkeit" im Laufe der Zeit verändert
hat und heutzutage jedwede Kinderlosigkeit meint, die nicht
durch Unfruchtbarkeit hervorgerufen wurde.
Kinderlosigkeit in Deutschland - theoretische Probleme und
empirische Ergebnisse
"In
der Literatur wird häufig zwischen gewollter und ungewollte
Kinderlosigkeit unterschieden (...). Allerdings hat sich die
Bedeutung dieses Begriffspaars über die Zeit verändert. So
klassifizierte Veevers (1979:3) unverheiratete Frauen als
ungewollt kinderlos. Heute besteht dagegen Konsens darüber, dass
unter ungewollter Kinderlosigkeit nur biologisch bedingte
Unfruchtbarkeit zu verstehen ist. Auch wenn es problematisch
ist, den Anteil biologisch bedingter Kinderlosigkeit in einer
Population präzise zu schätzen, wird meistens davon ausgegangen,
dass zwischen 5 und 10 Prozent aller Frauen in entwickelten
Ländern biologisch bedingt kinderlos bleiben (...).
Eine strikte Unterscheidung zwischen ungewollter und gewollter
Kinderlosigkeit ist schwierig, weil Fruchtbarkeit altersabhängig
ist und Individuen häufig erst dann von ihrer Unfruchtbarkeit
bzw. Subfekundität erfahren, wenn sie einen konkreten
Kinderwunsch haben. Rindfuss, Morgen und Swicegood (...)
betonen, dass im Lebenslauf gewollte temporäre Kinderlosigkeit
in ungewollte dauerhafte Kinderlosigkeit umschlagen kann. Morgan
(...) sieht das Aufschieben von Fertilitätsentscheidungen als
einen der wichtigsten Gründe dafür, dass eine Frau ungewollt
kinderlos bleibt (...). Allerdings liegen kaum mikroanalytische
Studien vor, die den Prozess rekonstruieren, wie ein zunächst
latenter, aber aufgeschobener Kinderwunsch in ungewollte,
endgültige Kinderlosigkeit mündet (eine Ausnahme sind die
Analysen des Bamberger Ehepaar-Panels, siehe Rupp 2005)
(2007, S.14f.) |
Umfragen zum Kinderwunsch
sind also nicht geeignet, zwischen gewollter und ungewollter
Kinderlosigkeit zu unterscheiden, weil Personen nicht unbedingt
über ihre Unfruchtbarkeit Bescheid wissen. Nichtsdestotrotz
ermöglichen Umfragen zum Kinderwunsch zumindest eine erste
Annäherung an die Thematik.
Bewusste
Kinderlosigkeit
Manche Autoren sprechen von
bewusster Kinderlosigkeit. In ihrem Beitrag Der Kinderwunsch der
Kinderlosen verweist Kerstin RUCKDESCHEL auf die Spannbreite der
Kinderlosigkeit, bei der die bewusste Kinderlosigkeit nur eine
Teilgruppe der Kinderlosen darstellt.
Der
Kinderwunsch von Kinderlosen
"Die
Kinderlosen (...) stellen eine sehr heterogene Gruppe dar, die
nach den Ursachen der Kinderlosigkeit weiter ausdifferenziert
werden muss, wobei die Grenzen nicht immer klar abgrenzbar sind.
Schneewind schlägt vor, bei lebenslang Kinderlosen zwischen drei
Gruppen zu unterscheiden: a) bewusst Kinderlosen, b) Kinderlosen
mit Kinderwunsch, der aus gesundheitlichen Gründen nicht erfüllt
werden konnte und c) Kinderlosen mit Kinderwunsch, der aber
solange aufgeschoben wurde, bis er aus biologischen Gründen
nicht mehr erfüllt werden konnte (Schneewind 1995, 458). Dabei
muss der Kinderwunsch keine Konstante im individuellen
Lebenslauf sein, sondern kann sich je nach Gegebenheiten ändern.
Carl weist auf das breite Kontinuum zwischen bewusster
Kinderlosigkeit und lebenslang unerfülltem Kinderwunsch hin, in
dem der »Kinderwunsch im Laufe des Lebens variiert und damit als
Prozess zu begreifen ist«"
(Zeitschrift
für Familienforschung, Heft 2,
2007, S.211f.) |
Auch hier gilt wieder, dass
die Grenzen unscharf sind. Man kann also festhalten, dass die
Einordnung des Phänomens Kinderlosigkeit noch weiterer Forschung
bedarf, weswegen sich single-generation.de diesem Thema
weiter widmen wird. Hier soll zum Abschluss noch auf die
Bücher Generation Kinderlos von Günter KEIL & Fisela
BRUSCHEK, FrauenLeben ohne Kinder von Susie REINHARDT und
Kinderfrei von Nicole HUBWER hingewiesen werden, die das Spektrum "gewollter
Kinderlosigkeit" in Deutschland verdeutlichen.
Es darf jedoch gefragt
werden, ob die Verengung des Begriffs "ungewollter
Kinderlosigkeit" auf die Unfruchtbarkeit nicht lediglich dem
bevölkerungspolitischen Imperativ geschuldet ist. Kann z.B.
jemand, der keinen geeigneten Partner findet, als "gewollt
kinderlos" bezeichnet werden? Zumal Partnerlosigkeit heutzutage
dem entspricht, was früher Ehelosigkeit hinsichtlich des
Kinderkriegens bedeutete. Zudem beinhaltet der Normenkomplex
"verantwortlicher Elternschaft", dass bestimmte Voraussetzungen
des Kinderkriegens erfüllt sein sollten. Können also
individuelle Kompetenzen, gesellschaftliche Restriktionen bzw.
Rahmenbedingungen aus dem Begriff der "gewollten
Kinderlosigkeit" herausgehalten werden? Dies gilt umso mehr, da
gewollte Kinderlosigkeit in der Öffentlichkeit oftmals mit
Hedonismus und Egoismus gleichgesetzt werden, wie Jürgen
DORBRITZ zu Recht schreibt.
Kinderlosigkeit in Deutschland und Europa - Daten, Trends
und Einstellungen
"Die Hinweise darauf,
dass es sich vor allem bei gewollter Kinderlosigkeit nicht
nur um eigennütziges und sozial unverantwortliches
Verhalten zu Lasten von Eltern und Gesellschaft handelt,
sondern auch mit modernen Lebensstilen,
Erwerbsorientierungen, ausgeprägter Leistungsbereitschaft
und Kinder- und Familienunfreundlichkeit der Gesellschaft
zu tun hat, gehören inzwischen zu den leiseren Tönen."
(2005,
S.363) |
Vom Problem der
kinderfernen Milieus zum gefühlten Anstieg der Geburtenrate
Ausgerechnet in den urbanen
Regionen wie z.B. München, Hamburg oder Berlin, die ja angeblich
durch Kinderferne und eine Kultur der Kinderlosigkeit geprägt
sein sollen, ist die gefühlte Babydichte besonders hoch - nicht
zuletzt wegen des medialen Baby- und Familienkults. Barbara
GALAKTIONOW beschreibt dieses Problem folgendermaßen:
Sind
doch so viele Kinder, überall!
"Da stimmt doch
was nicht. Allein im Politikressort von Süddeutsche.de
laufen zwei Kolleginnen mit runden Bäuchen herum. Der eine
stellvertretende Chefredakteur ist gerade aus der
Elternzeit zurück, der andere stöhnt:
»Ich
bin umgeben von Kindern - wo ich auch hingehe!«
Redaktionsübergreifend sind in den vergangenen zwei, drei
Jahren mindestens zehn Kinder auf die Welt gekommen. Der
betriebseigene Kindergarten? Chronisch ausgebucht.
Sind Onlinejournalisten
besonders anfällig für Schwangerschaften? Glauben wir
nicht. Auch in der wirklichen Welt tummeln sich junge
Mütter und Väter. Eine Blitzumfrage unter Kollegen und
Freunden beweist: Jeder kann mindestens zwei Schwangere in
seinem Freundeskreis nennen. Und manche der Frauen
bekommen nicht nur das erste oder zweite, sondern sogar
schon das dritte Kind. Der Wahnsinn, in München einen
Kita-Platz zu bekommen, ist Stadtgespräch."
(sueddeutsche.de v. 26.07.2012) |
Insbesondere jene
Berufsgruppe der Journalistinnen, denen eine hohe
Kinderlosigkeit zugeschrieben wird und die die Vereinbarkeit von
Beruf und Familie auf die mediale Agenda gesetzt hat, muss nun
erleben, dass ihre Propaganda so gut gewirkt hat, dass der
gegenteilige Effekt eingetroffen ist. Während vor der Einführung
des Elterngeldes, das bislang eher zu Mitnahmeeffekten bei
den gut gebildeten Frauen geführt hat, die Kinderlosigkeit hoch
geschrieben wurde, herrscht seit der Einführung des Elterngeldes
der gegenteilige politische Druck vor: es müssen Erfolge im
Sinne eines Babybooms her! Vor allem in Zeiten, in denen das
Elterngeld wieder zur Debatte steht.
Die Front der
Vereinbarkeitsvertreter ist jedoch gespalten: Jene, die auch den
Ausbau der staatlichen Kinderbetreuung weiter vorantreiben
wollen, haben kein Interesse an einem "gefühlten Babyboom",
sondern betonen weiter vor allem den fehlenden Anstieg der
Geburtenrate, die wie oben bereits festgestellt - auch kein
verlässlicher Indikator für die tatsächliche Geburtenentwicklung
ist. Jene dagegen, die am Ausbau der staatlichen Kinderbetreuung
kein Interesse haben (und eher auf betriebliche bzw. private
Lösungen setzen), jedoch den Wegfall des Elterngeldes fürchten,
müssen die Erfolge betonen - und wenn diese nur auf einem
"gefühlten Babyboom" beruhen sollten. Dies führt z.B. zu
konträren Interessen auch innerhalb der einzelnen Zeitungen.
Waren noch Anfang des Jahrtausends die Verteidiger der
Hausfrauenfamilie in Welt und FAZ vorherrschend,
geht nun vermehrt die Spaltung mitten durch die Online- bzw.
Print-Redaktionen oder trennt Print- und Onlinejournalisten, wie
der Online-Artikel der SZ zeigt:
Sind
doch so viele Kinder, überall!
"»So
viel Neugeborene wie seit 1968 nicht mehr«,
jubelte die Münchner Abendzeitung Ende Dezember
2011. Von einem
»Geburten-Rekord
2011«
war die Rede. Auch Süddeutsche.de schrieb über die
»Baby-Boom-Town«.
Und in einem Städteranking, in dem das Männermagazin
Men's Health 2010 eigens den Bevölkerungsanteil der
unter Sechsjährigen verglichen hatte, lag die bayerische
Landeshauptstadt mit fast sechs Prozent auf Platz eins von
50 aufgelisteten Städten . Die Erklärung für den Münchner
Babyboom ist relativ schlicht:
»München
hat hohe Geburtenzahlen, aber da leben auch sehr viele
junge Frauen«,
sagt Sebastian Klüsener, Experte für Historische
Demografie am Rostocker MPI. Der für Demografen und
Politiker allerdings interessantere Wert ist in der
bayerischen Landeshauptstadt allerdings nicht besonders
hoch, nämlich die Geburtenrate. Sie beschreibt das
Verhältnis der Neugeborenen zur Anzahl der Frauen, die
potenziell Mütter werden könnten. Hier liegt München mit
etwa 1,3 Kindern pro Frau im Mittelfeld, ähnlich wie
vergleichbare Großstädte wie Hamburg oder Berlin."
(sueddeutsche.de v. 26.07.2012) |
Auf dieser Website wurde
deshalb von Mütterkriegen gesprochen. Kinderlose sind Spielbälle
im Kampf um das richtige Mutterideal und damit im Kampf um die
ideale Familien- bzw. Bevölkerungspolitik. Während GALAKTIONOW
lediglich auf eine dpa-Meldung verlinkt, ist der
interessantere Fall der Online-Artikel des SZ-Printjournalisten
Felix BERTH über den Kinderboom in München, denn dort wird
dieser noch auf die Einführung des Elterngeldes zurückgeführt:
Baby-Boom in München
"Plausibel
ist (...), dass das neu eingeführte Elterngeld gerade in
wohlhabenden Städten wie München Wirkung zeigt. Denn wie
viel Geld Eltern vom Staat erhalten, hängt von ihrem
Einkommen vor der Babypause ab. Wohlhabende Paare
profitieren stärker, weshalb der finanzielle Anreiz zum
Kinderkriegen in München höher ausfällt als in ärmeren
Städten, wo viele Eltern nur den Elterngeld-Mindestsatz
von 300 Euro bekommen."
(sueddeutsche.de v. 14.11.2008) |
Es gibt also bislang
zahlreiche blinde Flecken in der wissenschaftlichen wie auch in
der öffentlichen Debatte. Typisch für die Sichtweise der
Wissenschaft, ist der Artikel Die Bedeutung
familienpolitischer Maßnahmen für die Entscheidung zum Kind
von Petra BUHR & Johannes HUININK im Heft 1/2012 der
Zeitschrift für Sozialreform. Ein Viertel ist demnach in der
2009/2010 durchgeführten Erhebung durch familien- und
bevölkerungspolitische Maßnahmen überhaupt nicht beeinflussbar.
Die anderen dagegen unterscheiden sich anhand von Bildungsgrad
und Einkommen hinsichtlich ihrer Präferenz für ökologische
Maßnahmen, d.h. den Ausbau der Kinderbetreuung, und für
ökonomische Maßnahmen, d.h. finanzielle Unterstützungsleistungen
im Sinne von Kindergeld bzw. Elterngeld. Gemäß BUHR & HUININK
sind die Wirkungen - ausgerechnet in der Zielgruppe
Akademikerinnen gering:
Die
Bedeutung familienpolitischer Maßnahmen für die Entscheidung zum
Kind
"Das Elterngeld
ist eine Maßnahme, die nur kurzfristig wirkt (maximal 14
Monate), und bietet allein, ohne hinreichende Flankierung
durch eine langfristige Unterstützungsleistung vor allem
durch Betreuungseinrichtungen, kaum einen Anreiz zur
Familiengründung oder -erweiterung. Es ist besonders
bemerkenswert, dass höher gebildete Frauen, die eine der
Hauptzielgruppen des Elterngeldes sind, eine Erhöhung des
Elterngeldes nicht häufiger als entscheidungsrelevant
angeben als niedrig gebildete Frauen. Insgesamt spielt das
Elterngeld eine vergleichsweise geringe Rolle, vor allem
bei Familien mit mehreren Kindern".
(2012, S.337) |
Das Betreuungsgeld wird von
den Wissenschaftlern dagegen abgelehnt, weil es gerade von den
Falschen in Anspruch genommen werden könnte: "Das Betreuungsgeld
wird als ökonomische Maßnahme vor allem von Personen mit
mehreren Kindern, niedriger Bildung und niedrigem Einkommen in
Anspruch genommen werden."
Betrachtet man die Expertise
von Martin BUJARD, dann zeigt Abbildung 9, dass es im Jahr 2006
- also kurz vor Einführung des Elterngeldes - einen starken
Rückgang der kinderlosen 40jährigen Akademikerinnen (2,2 % im
Vergleich zu Schwankungen um 1 %) gegeben hat, während bei den
kinderlosen 40jährigen Nicht-Akademikerinnen gleichzeitig ein
starker Anstieg (3,4 %) zu verzeichnen war. Eigentlich hätte man
solche Effekte eher für das Jahr 2007 erwartet. Eine Erklärung
findet sich bei BUJARD nicht. Es könnte sich um ein Indiz dafür
handeln, dass der Ansatz von BUJARD (Betrachtung einzelner
Jahrgänge, statt mehrere zusammenzufassen) bei Mikrozensusdaten
eher ungeeignet ist.
Zusammenfassend zeigt sich,
dass die politische Interessenlage einen großen Einfluss auf die
Einschätzung der Geburtenentwicklung hat.
Bevölkerungswissenschaftler legen andere Maßstäbe an als
Medienvertreter. Aber auch die zusammengefasste Geburtenziffer,
die von deutschen Bevölkerungswissenschaftlern bislang
präferiert wird, hat ihre Tücken, weil sie das Geburtenaufkommen
durch Timingeffekte, verzerrt wiedergibt.
Die zusammengefasste
Geburtenziffer: Ihre Nützlichkeit für die bevölkerungspolitische
Propaganda und warum sie jetzt zum Problem wird
Die zusammengefasste
Geburtenziffer (TFR) lag in der Vergangenheit wegen des
steigenden Erstgebäralters weit hinter der endgültigen
Kinderzahl der jüngeren Frauenjahrgänge zurück. Dies ermöglichte
die relativ problemlose Umdeutung von Eltern in Kinderlose, ohne
dass sich dagegen groß Widerstand regte. Besonders drastisch
äußerte sich die Verzerrung in Ostdeutschland, aber auch
Westdeutschland war davon in steigendem Maße betroffen. Bereits
2004 wiesen Dirk KONIETZKA & Michaela KREYENFELD in ihrem
Zeitschriftenartikel Angleichung oder Verfestigung von
Differenzen? auf diesen
Sachverhalt hin:
Angleichung oder Verfestigung von Differenzen?
"Auch wenn Vergleichbares für
die Geburtenentwicklung in Westdeutschland nicht gilt, wird die
zusammengefasste Geburtenziffer dort ebenfalls seit vielen
Jahren durch Verzerrungen geprägt. Diese sind zwar geringer
ausgeprägt, weil das Alter bei der Erstgeburt, im Unterschied zu
dem abrupten Wandel in Mittel- und Osteuropa seit 1990, über
einen längeren Zeitraum kontinuierlich angestiegen ist. Dennoch
ist der Interpretationsgehalt der periodenspezifischen
Geburtenziffer auch in Westdeutschland durch Tempo-Effekte
gestört. Die vielzitierte Zahl von 1,4 Kindern pro Frau, die
sich aus der aktuellen westdeutschen Geburtenziffer ergibt, ist
(...) als Schätzwert für die endgültige Kinderzahl der Frauen zu
niedrig angesetzt. Ein realistischeres Bild liefern
kohortenspezifische Analysen, die z.B. auf einen Wert von 1,6
Kindern für Frauen, die um 1960 geboren sind, verweisen".
(Berliner Debatte Initial 15, Heft 4, 2004, S.28f.) |
Was aber passiert, wenn das
Erstgebäralter nicht mehr ansteigt, sondern stagniert oder sogar
zurück geht? Dieser Fall könnte bereits eingetreten sein, bzw.
in naher Zukunft eintreten. Eine mögliche Reaktion könnte die
Umstellung auf eine tempobereinigte Geburtenziffer sein.
Fazit:
Man darf auf die Ergebnisse
des Mikrozensus 2012 gespannt sein, denn sie könnten endlich
Licht ins Dunkeln der widersprüchlichen Deutungen bringen.
Kritisch zu sehen ist jedoch, dass diese wichtigen Erkenntnisse
ausgerechnet im Bundestagswahljahr veröffentlicht werden und
deshalb mit einer politische Vereinnahmung gerechnet werden
muss. Dies könnte auch dazu führen, dass Erkenntnisse, die
politisch unliebsame Entwicklungen beinhalten, zurückgehalten
werden. Dies war bereits vor dem Pflegeurteil des
Bundesverfassungsgerichtes als auch im Familienwahlkampf 2005
so. 2005 wurde die lebenslange Akademikerinnenkinderlosigkeit
weiterhin mit über 40 % beziffert - obwohl längst Erkenntnisse
vorlagen, dass sie lediglich unter 30 % lag. Auf dieser Website
werden deshalb die Ergebnisse des Mikrozensus 2012 genau unter die
Lupe genommen werden.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Dies
ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem
nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend
die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt.
Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard
Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die
Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank
Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster
Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der
Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
Es wird aufgezeigt, dass sich die
nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles
im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die
nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen." |
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