|
Deutschland am Abgrund?
Im März des Jahres 2006 lag
wieder einmal Endzeitstimmung über dem Land. Frank SCHIRRMACHER
veröffentlichte sein Buch Minimum und die Mitte-Presse
steuerte untertänigst den Untergang Deutschlands mit Hilfe
gefakter statistischer Daten über die demographische Lage bei.
Single-generation.de berichtete darüber ausführlich im
Thema des Monats Mai 2006
.
Bereits
im Herbst 2006 erschien das Buch Die Kinderfrage heute
von Elisabeth BECK-GERNSHEIM, das in der Öffentlichkeit bislang
ziemlich unbeachtet blieb, obwohl die Soziologin bereits seit
den 1980er Jahren wichtige Bücher zum Thema Geburtenrückgang
veröffentlicht hatte.
Ihre
Buchveröffentlichungen zur Kinderfrage und Geburtenentwicklung
fassen jeweils den aktuellen Stand der Debatte zusammen, die
sich an der Entwicklung der Geburtenzahlen festmachen lässt
(nicht zu verwechseln mit der Geburtenrate
).
Deshalb steht am Anfang ein Vergleich der jetzigen und früheren
Debatten anhand der Buchveröffentlichungen von Elisabeth BECK-GERNSHEIM. Danach
soll gefragt werden, ob ein Wandel in der Debatte erkennbar ist,
oder ob eher die Gemeinsamkeiten überwiegen. Die Soziologin will
jedenfalls einen Wandel erkannt haben.
Die westdeutschen Minimums der Nachkriegszeit
Schaubild
1 |
|
Quelle:
Jahrbücher des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden |
Wie aus dem Schaubild
ersichtlich ist, gab es im Westdeutschland der Nachkriegszeit
etliche Minimums, d.h. Tiefpunkte der Geburtenzahlen.
Die
Entwicklung bis 1965 ist in dieser Darstellung bereits eine
Konstruktion, die sich als Bonner Republik bezeichnen
lässt. Bis 1958 berechnete das Statistische Bundesamt nämlich
die Geburtenzahlen für Westdeutschland ohne Saarland und
West-Berlin und noch bis 1964 blieb West-Berlin außen vor.
Da wir hier jedoch nur die Debatte nach 1965 betrachten, wird
dieser Aspekt vernachlässigt. 1964
wurde in Westdeutschland mit 1.065.379 Geburten der
absolute Höchstwert erreicht. Aus Sicht der Dramatisierer des
Geburtenrückgangs stellt dieses Jahr den Ausgangspunkt der
bevölkerungspolitischen Perspektive dar. Seitdem geht es dieser
Lesart zufolge bergab.
Ein
Blick auf das Schaubild zeigt jedoch, dass dies nicht der
Realität entspricht. In den 1970er Jahren gab es zwei Tiefpunkte.
1975 wurden 600.512 Kinder geboren und 1978 nur noch 576.468,
während sich die Geburtenzahlen bis 1976 geringfügig auf 602.851
gestiegen waren. In
den 1980er Jahren fielen die Geburtenzahlen vom Hoch in 1981
(624.557 Lebendgeborene) auf 584.157 im Orwell-Jahr 1984. Von da
an stiegen sie bis 1990 auf 727.199. 1995 stellte mit 681.374
den nächsten Tiefpunkt dar.
Jahr |
Anzahl der Lebendgeborenen |
|
Minimum |
Maximum |
1964 |
|
1.065.379 |
1965 |
1.044.328 |
|
1966 |
|
1.050.345 |
1975 |
600.512 |
|
1976 |
|
602.851 |
1978 |
576.468 |
|
1981 |
|
624.557 |
1984 |
584.157 |
|
1990 |
|
727.199 |
1995 |
681.374 |
|
1997 |
|
711.915 |
Der Wandel der Debatte um den
Geburtenrückgang
Im Jahr 1975 titelte der
Spiegel am 24. März Sterben die Deutschen aus? Mehr
Sex - weniger Babys. 1978 entdeckte Hermann SCHREIBER in
einer 3teiligen Spiegel-Serie den Single. Am 19. Juni
titelte das Hamburger Nachrichtenmagazin dazu:
Alleinleben.
Die neue Freiheit. Auf dem Cover blickt uns eine Frau mit
entblößtem Busen, aber mit abwehrender Hand entgegen.
Die
1980er Jahre brachten dann endgültig die enge Verbindung von
demografischer Entwicklung und der Krise des Sozialsysteme,
die sich bereits in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre
abzeichnete.
Renten in Gefahr. Die Last wird zu groß titelt der
Spiegel am 4. März 1985 und am 23. Dezember beginnt Renate
MERKLEIN eine vierteilige Spiegel-Serie unter der
Überschrift
Den Alterskassen ein Baby schenken?
Vor
diesem Debattenhintergrund müssen auch die
Buchveröffentlichungen von Elisabeth BECK-GERNSHEIM gesehen
werden.
Schaubild
2 |
|
Quelle:
Jahrbücher des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden |
Das Schaubild 2 zeigt,
dass das Buch Vom Geburtenrückgang zur Neuen Mütterlichkeit?
Über private und politische Interessen am Kind rechtzeitig
zum Minimum der Geburtenzahlen erschien. In
den Jahren 1981 - 1984 leitete die Soziologin ein DFG-Projekt
zum Thema Geburtenentwicklung und gesellschaftlicher
Individualisierungsprozeß. Ein erster Aufsatz über
Geburtenrückgang. Die wissenschaftliche Karriere eines
politischen Themas erschien bereits im Jahr 1982 im
Sonderheft der Fachzeitschrift Soziale Welt. Bereits
damals stellte BECK-GERNSHEIM eine Verlagerung der Debatte um
den Geburtenrückgang fest:
Geburtenrückgang. Die wissenschaftliche Karriere eines
politischen Themas
"Bezieht man den bevölkerungswissenschaftlichen
Ansatz (...) auf die gesellschaftlich virulente Diskussion
um das Problematische am Geburtenrückgang, so scheint
diese Forschungstradition zunächst einen Ausweg aus der
festgefahrenen Kontroverse zu bieten. Indem sie nach den
möglichen Folgeproblemen des Geburtenrückgangs in
einzelnen Politik- und Versorgungsbereichen fragt, erzielt
sie eine strategisch wichtige Verlagerung der Diskussion.
Jetzt kann man das Problematische am Geburtenrückgang
aufzeigen, ohne sich auf schwierige Argumentationen über
das Aussterben der Nation einzulassen: Das Thema
Geburtenrückgang wird aus der Streitzone entfernt und
übersetzt in jene sicheren Bereiche - Rentensicherung,
Gesundheitsversorgung, Arbeitsmarktbedarf und
Wirtschaftsentwicklung -, wo ein grundsätzlicher
Problemkonsens noch herstellbar scheint. Das ist die
spezifische Leistung dieses Forschungsansatzes - und
Wissenschaft gewinnt dabei zentrale Definitionsmacht: Die
öffentlich nicht mehr entscheidbare Frage, ob der
Geburtenrückgang ein Problem darstellt, wird nur noch
abgelöst vom unmittelbaren Thema der Geburtenentwicklung
diskutiert und aufgelöst in ein Netz von Folgeproblemen,
die allein über wissenschaftliche Modellannahmen
kalkulierbar sind. Der öffentliche Konflikt muß ganz
durchs Nadelöhr des Expertenwissens hindurch."
(aus: Sonderheft Soziale Welt 1982,
S.246) |
In ihrem neuen Buch
Die
Kinderfrage heute findet sich diese Einschätzung im
Unterkapitel Vom nationalen Untergang zur unsicheren Rente
wieder.
Die Kinderfrage heute
"Nicht
mehr das »Aussterben der Deutschen« wird als Katastrophe
beklagt und zum Weltuntergangsdrama stilisiert. Statt
dessen die Brüche im Generationenvertrag, unsichere
Renten, überlastete Sozialsysteme, stagnierende Wirtschaft
- das sind die Stichworte, die typischen
Schreckensszenarien von heute."
(2006, S 13) |
Die Bewertung von
BECK-GERNSHEIM bezieht sich hier also keineswegs auf die Debatte
seit den 1970er Jahren, sondern auf die Debatten der 1920er und
1930er Jahre, obwohl die Spiegel-Titel von 1975 und 2004
deutliche Anklänge an die nationalistischen Debatten aufweisen.
Wer gegen wen?
Unter der Frage Wer
gegen wen? verhandelt BECK-GERNSHEIM jene Frage, die hier
näher betrachtet werden soll, weil sie von der Soziologin nur
unbefriedigend beantwortet wird.
Die Kinderfrage heute
"In
den 1970er Jahren, als das Ende des Babybooms zunehmend
sichtbarer wurde, der Geburtenrückgang wieder einmal ins
Blickfeld geriet, war das Geschlechterverhältnis in
besonderer Weise spannungsgeladen. »Emanzipation« war das
Schlagwort der zeit - und war gleichzeitig das Reizwort,
das endlose Tumulte und Turbulenzen auslöste, nicht
zuletzt auch in die Diskussion um die Geburtenentwicklung
hineinwirkte. Dabei traten insbesondere zwei Gruppen
hervor, die jeweiligen Gegenpositionen verkörpernd. Auf
der einen Seite die Frauen der sich neu formierenden
Frauenbewegung, von revolutionärem Eifer erfüllt, die die
traditionelle Mutterrolle als Unterdrückungsinstrument
begriffen und die Parole »Mein Bauch gehört mir«
formulierten, die zum Gebärstreik aufriefen und für die
Freigabe der Abtreibung demonstrierten. Und auf der
anderen Seite die Politiker, Wissenschaftler,
Leitartikel-Schreiber der konservativen Fraktion, denen
Mutterschaft als eigentliche Bestimmung und Erfüllung der
Frau galt - und die deshalb die Protestaktionen der
Frauenbewegung als Verirrung ansahen, ein Ergebnis von
Selbstsucht und falschem Bewußtsein.
Und
heute dagegen? heute sind die Töne meist weniger schrill,
auf beiden Seiten ist man vorsichtiger geworden. Die
Frauenbewegung, oder was es davon noch gibt, hat an
Sturmkraft verloren und ist den zähmenden Weg durch die
Institutionen gegangen; und ihre Gegner, sofern sie sich
als solche noch öffentlich äußern, wissen inzwischen, daß
das Thema Geschlechterverhältnis politischen Sprengstoff
enthält und diplomatische Wortwahl erfordert. Dennoch
lassen sich in der Fülle der Beiträge einige
männertypische und frauentypische Argumentationsmuster
erkennen. Im allgemeinen sind es eher die Männer, die das
demographische Krisenszenario verbreiten, während Frauen
sich häufig verwahren gegen das
»Geburtenraten-Krisengetöse«, gegen die
»Propagandaschlacht für Fortpflanzung«, gegen die
»Gebär-Animationskampagnen«. (...).
Aber
gleichzeitig sind die Trennlinien zwischen Männern und
Frauen durchaus auch unscharf, es gibt Abweichler und
Ausbrecher auf beiden Seiten. Trotz mancher Gegensätze:
die Gefechte bleiben begrenzt, ein Geschlechterkampf mit
festen Fronten findet nicht statt."
(2006, S 13f.) |
BECK-GERNSHEIM vergleicht
die heutige Situation mit den 1970er Jahren und kommt vor diesem
Hintergrund zum Schluss, dass ein Geschlechterkampf mit festen
Fronten nicht mehr stattfindet. Sicher
ist das richtig, wenn man die Hochphase der Frauenbewegung und
hier besonders die Extrempositionen betrachtet. Aber
bereits in den 1980er Jahren haben sich jene Fronten
herausgebildet, die auch heute noch die Debatte prägen und auf
die die Bücher von BECK-GERNSHEIM reagieren.
Neue Mütterlichkeit contra kinderlose
Karrierefrauen
Elisabeth BECK-GERNSHEIM
kann man als Schutzpatronin der Karrierefrau mit Kinderwunsch
betrachten. In allen ihren Kampfschriften geht es um die
Durchsetzung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, wobei der
Neuen Väterlichkeit eine wichtige Rolle zugewiesen wird.
Vom Geburtenrückgang zur Neuen Mütterlichkeit?
"In
praktisch allen Industrieländern wird etwa seit Mitte der
60er Jahren ein Geburtenrückgang verzeichnet, der in der
Bundesrepublik besonders ausgeprägt ist.
Bevölkerungswissenschaftler in unserem Land warnen vor den
Folgewirkungen für die verschiedenen Politikbereiche, von
Rentenversicherung und Wirtschaftswachstum bis
Gesundheitswesen und Bildungssystem. Die Medien greifen
das Thema mit publikumswirksamen Schlagworten auf: Das
Stichwort von der »sterbenden Nation« macht die Runde. Die
Debatte wird weiter verschärft unter dem Eindruck der
Wirtschaftskrise, mit der eine Phase schnell steigender
Arbeitslosigkeit beginnt. (...). Da bietet sich immer der
Ausweg an, die Randgruppen und Reservearmeen nach Haus zu
schicken - in die Frührente, in die Türkei oder zu Küche
und Kind.
So
tauchen im Schnittpunkt dieser politisch brisanten
Entwicklungen mit einem Mal wieder die alten Überlegungen
und Rezepte auf: gegen die sogenannten Doppelverdiener
oder genauer gegen die Doppelverdienerinnen. Das
Motto »Frauen zurück an den Herd« verbindet sich mit dem »Frauen
zurück an die Wiege«. Die Partei, die jetzt
Regierungspartei ist, formuliert das Programm der Neuen
Mütterlichkeit."
(1984, S.9) |
22 Jahre später sieht die
gesellschaftliche Ausgangssituation mit der Jobkrise der
Generation Golf
und der Generation Praktikum
ähnlich
aus wie 1984, nur dass der Regierungskoalition nun ein Programm
der Neuen Väterlichkeit zugeschrieben wird, das auf Widerstand
stößt. Wie aber sieht die Lage auf Seiten der Frauenbewegung
aus?
Vom Geburtenrückgang zur Neuen Mütterlichkeit?
"Ein
Umschlag ist festzustellen, innerhalb weniger Jahre: Wo
früher vor allem das Recht der Frau auf Selbstbestimmung
über ihren Körper betont und die Auflehnung gegen den »Mutterschaftszwang«
formuliert wurde, wird jetzt, im sogenannten »zweiten
Schritt«, vielfach auch der Wunsch nach dem Kind, nach der
Erfahrung des »Mutterwerdens« geäußert. Daraus entwickeln
sich politische Forderungen, die nicht in die falsche
Alternative des Entweder-Oder hineinführen, sondern
Kinderhaben und ein Stück eigenes Leben erlauben.
Daneben entsteht an den Randszenen der Frauenbewegung auch
ein neuer Mutterschaftskult, der seine eigenen Mythen und
Riten schafft, Symbiose aus »feministisch« und »grün« und »natürlich«,
auf eine Formel gebracht: »Zurück zur Natur und zur
Mutter!« Schließlich entdecken nicht wenige Frauen, daß
die schönen Verheißungen von Gleichberechtigung im Beruf
oft genug bloße Verheißungen bleiben und da, wo sie in
Erfüllung gehen, meist unbequem und zermürbend sind. Mit
den Härten der Männerwelt konfrontiert, wählen manche dann
den alten weiblichen Weg, um neuen Inhalt und Sinn für ihr
Leben zu finden. Wo derart der »Postfeminismus« blüht,
gibt es auch eine Wende: »Die neue politische Einheit
heißt Mutterundkind«. Schon deuten neue Gegensätze und
Spaltungen sich an: Mütter und Nicht-Mütter;
alleinstehende und verheiratete Mütter; frühe und späte
Mütter.
(...).
Kind oder kein Kind, das ist also die Frage. Da ist die
Nahtstelle, wo ganz unterschiedliche Interessen
aufeinandertreffen, politische und private, die
charakteristisch eigene Bezugspunkte und Sprachformen
haben - hier »Bevölkerung und Geburtenzahlen«, dort »Lebensform
Mutterschaft« -, die je für sich zahlreiche Fronten und
Verwicklungen aufweisen und untereinander in mancherlei
Koalitionen zusammenfinden." (1984, S.10f.) |
Die Einschätzungen von
Elisabeth BECK-GERNSHEIM aus dem Jahr 2006 gehen hinter diese
Beschreibung der Sachlage aus dem Jahr 1984 deutlich zurück,
wenn sie behauptet, dass die aktuelle Debatte um den
Geburtenrückgang erst im Frühjahr 2006 eingesetzt hat.
Wie
kann die Soziologin auf diese - ganz offensichtlich falsche
Einschätzung - kommen? Hier wird der Standpunkt vertreten, dass
dies allein mit der speziellen Interessenposition von Elisabeth
BECK-GERNSHEIM zu tun hat.
Wann
begann die aktuelle Debatte um den Geburtenrückgang?
BECK-GERNSHEIM datiert die
aktuelle Debatte um den Geburtenrückgang auf das Frühjahr 2006.
Das Buch Die Kinderfrage heute schreibt das Thema des
Buches Die Kinderfrage fort, das 1997 bereits in dritter
Auflage erschien. Nach
Auffassung der Soziologin hat es also zwischen 1997 und 2006
keine Mediendebatte um den Geburtenrückgang gegeben.
Schaubild 3 |
|
Quelle:
Jahrbücher des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden |
Betrachtet man das
Schaubild 3, dann zeigt sich, dass seit 1997 die Geburtenzahlen
in Deutschland erneut abgenommen haben, was auf den Rückgang der
potentiellen Mütter zurückzuführen ist
. Ohne die enorme
Zunahme der Spätgebärenden aus der Generation Golf, hätte
der Rückgang der Geborenenzahlen noch früher eingesetzt
.
Im
Gegensatz zu den vorangegangenen Schaubildern wird hier nicht
die westdeutsche, sondern die gesamtdeutsche
Geburtenentwicklung aufgezeigt. Die
entscheidenden Wendemarken ändern sich dadurch nicht. Auch für
Deutschland gilt 1964 als Höchstmarke. Es entfällt zwar der
westdeutsche Tiefpunkt im Jahr 1978, aber der Tiefpunkt 1975
bleibt. Das Minimum 1984 ist dann wieder gesamtdeutsch, genauso
wie 1995.
Seit
1997 gehen also die Geborenenzahlen in Deutschland zurück und am
30. August 1999 lesen wir auf dem Spiegel-Titel: Die
Baby-Lücke. Geburtenrückgang mit dramatischen Folgen:
Vergreisung, Rentenkrise, Explosion der Gesundheitskosten.
Wir sind damit bereits mitten in der aktuellen Debatte um den
Geburtenrückgang.
Spätestens
im April 2001 jedoch, als das Bundesverfassungsgericht mit
seinem Pflegeurteil den Kinderlosen die Schuld an der Misere der
Sozialversicherungssysteme zuschrieb, ist die öffentliche
Debatte auf einem ersten Höhepunkt angelangt. Es
ist deshalb zu fragen, warum die Soziologin die Debatte von 1997
bis 2006 außen vor lässt und deshalb zu folgendem Frontverlauf
kommt:
Die Kinderfrage heute
"Die
deutsche Medienlandschaft ist, grob zusammengefaßt, in
zwei Lager gespalten. Auf der einen Seite stehen
diejenigen Blätter - vertreten vor allem durch Frankfurter
Allgemeine Zeitung und SPIEGEL -, die unermüdlich die
demographische Krise betonen; und auf der anderen Seite
diejenigen - unter den überregionalen Blättern vor allem
die ZEIT und die Süddeutsche Zeitung -, die zu solchen
Thesen eher Distanz halten."
(2006, S.14) |
Die
Soziologin muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie die
Analyse der Debatte erst in jenem historischen Moment einsetzen
lässt, in dem sich die Fronten geändert haben. Waren
bis zur Bundestagswahl 2002 und selbst noch bis 2005 auch die
Süddeutsche Zeitung und die ZEIT unter denjenigen,
die die Krisenszenarios auf die Agenda gesetzt haben, so hat
sich das seit der letzten Bundestagswahl geändert. In der ZEIT
wurde das Aussterben aber z.B. erst am 8. Juni 2006 abgesagt. Dies hat u. a. auch mit thematischen Verschiebungen der Debatte zu tun.
Aussterben abgesagt
In
dem Buch Die Single-Lüge erfahren Sie, warum dieser
Artikel nicht bereits ein Jahr zuvor in der ZEIT
erschienen ist, obwohl sich am wissenschaftlichen
Erkenntnisstand nichts geändert hat [mehr]. |
Standen
in der Renten- und der sozialdemokratischen Elterngelddebatte
die Kinderlosen im Mittelpunkt
, so stehen nun in der unionsgeführten Elterngeld- und Kinderbetreuungsdebatte die
Väter und die berufstätigen Mütter am Pranger.
Wer
gerade treibende Kraft im Krisenszenario ist, das hängt also
ganz entscheidend davon ab, welche Lebensstilgruppen gerade im
Visier der Debatte stehen.
Bei
Süddeutscher Zeitung und ZEIT steht eher die
Modernisierung der Familie auf dem Programm, während es
Spiegel und FAZ eher um die Abwehr des Zurückdrängens
der klassischen Familie geht. Letztlich
geht es also um den Kampf der Lebensstile und um die
Frage, welches Familienmodell Leitbildcharakter haben soll.
Singles spielen in diesem Kampf der Giganten keine Rolle,
sondern taugen bestenfalls zum Feindbild. Schlimmstenfalls
müssen sie Kosten für die Versäumnisse tragen
.
Gibt es einen Generationenkonflikt in der
Debatte um den Geburtenrückgang?
In einer
Fußnote erwähnt BECK-GERNSHEIM, dass sich hinter der Debatte
auch ein Generationenkonflikt verbergen könnte.
Die Kinderfrage heute
"Auch
könnte es sein - dafür gibt es kleinere Hinweise am Rande
-, daß die Auffassungen vielleicht gar nicht so sehr nach
dem Muster »hier Männer, dort Frauen« variieren, sondern
mindestens ebenso, wenn nicht noch mehr nach Lebensalter.
Das Krisenszenario, so meine Vermutung, wird eher von den
älteren Männern vertreten - während die jüngeren Männer,
mit dem Alltag und den Anforderungen von Elternsein heute
direkter vertraut, mit Aufforderungen zur
Geburtenvermehrung sich eher zurückhalten. Interessant
wäre es nun, dieser Vermutung genauer nachzugehen; aber
weil Essays und Zeitungsartikel zwar den Namen des Autors
angeben, nicht aber das Geburtsjahr, wäre das eine
aufwendige Aufgabe."
(2006, Fn S.152) |
In einem
weiteren Thema des Monats werden wir dieser Frage nachgehen,
denn im Gegensatz zu BECK-GERNSHEIM besitzt
single-generation.de die fehlenden Informationen zum
Geburtsjahr der Kontrahenten.
Die aktuelle Debatte um den Geburtenrückgang
am Beispiel dreier Spiegel-Titelgeschichten
Anhand dreier
Spiegel-Titel soll nun kurz aufgezeigt werden, dass es zwischen
präsentierter Faktenlage und dem Verlauf der öffentlichen Debatte keinen
direkten Zusammenhang gibt.
30.08.1999 |
05.01.2004 |
06.03.2006 |
Die Baby-Lücke |
Der letzte Deutsche |
Jeder für sich |
Jahr |
Bevölkerung |
2010 |
77 Mill. |
2030 |
65 Mill. |
2050 |
51 Mill. |
2100 |
22 Mill. |
aus:
Schaubild zur Bevölkerungsentwicklung,S.36 |
|
"Bis 2050 könnte die
Bevölkerungszahl von jetzt 82,5 auf 70 Millionen oder noch
darunter fallen" (S.39)
Zuwan-derung |
Bevölkerung
im Jahr 2050 |
300.000 |
80,0 Mill. |
200.000 |
75,1 Mill. |
100.000 |
68,5 Mill. |
ohne |
53,7 Mill. |
aus:
Schaubild schrumpfendes Volk, S.44 |
|
|
"Seit den siebziger
Jahren werden nur noch 1,4 Kinder pro Frau geboren, jede
vierte Frau bleibt kinderlos".
(S.39) |
"Deutschlands Frauen
bringen im Schnitt nur noch 1,35 Kinder zur Welt"
(S.38)
"Bundesrepublik eine
der niedrigsten Geburtenraten der Welt aufweist:
Deutschland rangiert unter 190 Staaten sage und schreibe
auf dem 185. Platz." (S.39f.) |
"In kaum einem anderen
Land in Europa werden so wenig Kinder geboren wie bei uns,
mit 1,3 pro Frau weniger als in Frankreich (1,9), in
Großbritannien (1,7), erst recht in den USA (2,1)."
(S.77) |
"Je höher die
berufliche Qualifikation einer Frau, desto größer die
Wahrscheinlichkeit, dass sie kinderlos bleibt. 40 Prozent
der 35- bis 39-jährigen Akademikerinnen haben keinen
Nachwuchs, fast doppelt so viele wie bei den
gleichaltrigen Frauen mit Hauptschulabschluss."
(S.39) |
"Rund 26 Prozent der
1960 geborenen Frauen sind kinderlos, unter den
Akademikerinnen sogar 42 Prozent." (S.39) |
"Dreißig Prozent aller
Akademikerinnen entscheiden sich gegen das Abenteuer Kind"
(S.78) |
Die Zitate
zeigen im Hinblick auf die Prognosen zur zukünftigen
Bevölkerungsentwicklung keineswegs eine Verstärkung der
Bevölkerungsabnahme. Im letzten Artikel wird auf diese Thematik
gar nicht mehr eingegangen. Einzig bei der Geburtenrate wird ein
Rückgang von 1,4 auf 1,3 suggeriert
. Die Kinderlosigkeit der
Akademikerinnen wird noch 1999 mit 40 Prozent,
zwischenzeitlich - in der Hochphase der Elterngelddebatte -
sogar mit 42, aber 2006 nur noch mit 30 % angegeben. Die
Zunahme der öffentlichen Erregung lässt sich also aus der
präsentierten Faktenlage
allein nicht erklären. Dabei bleibt zudem noch ganz außer Acht
wie realistisch die Zahlenangaben des Spiegels überhaupt
sind. Single-generation.de hat bereits in etlichen
Beiträgen darauf hingewiesen, dass die Zahlen zur demografischen
Entwicklung mit besonderer Vorsicht zu betrachten sind
.
Fazit: Die Debatte um den Geburtenrückgang ist
komplexer als sie sich aus der Sicht einer Politik für die Mütterelite darstellt
Der Vergleich
dreier Publikationen von Elisabeth BECK-GERNSHEIM aus dem Jahr
1984, 1988 (3. Auflage 1997) und 2006 hat gezeigt, dass zum einen die
Veröffentlichungen an wichtigen Wendepunkten der
Geburtenentwicklung erfolgten, zum anderen aber der Blickwinkel
durch den speziellen Interessenstandpunkt unzulässig verengt
wird. Der
Blick auf die Debatte aus der Perspektive der Karrierefrau mit
Kinderwunsch, lässt die berechtigten Interessen der anderen
Kinderlosen völlig außen vor. Die Mediendebatte um den
Geburtenrückgang kommt nur so weit in den Blick wie sie den
Interessen dieser Gruppe zuwider läuft. Wer sich eine umfassende
Analyse der Debatte erhofft hat, der wird enttäuscht.
Im
Buch Die Single-Lüge wird die Debatte dagegen unter einem
erweiterten Blickwinkel analysiert. Zwar fehlt darin die Debatte
des Frühjahrs 2006, dafür wird aber ausführlich auf die
Vorgeschichte dieser Debatte
seit der Jahrtausendwende eingegangen. Die Argumentationsmuster
von Akteuren wie Frank SCHIRRMACHER, Norbert BOLZ oder Susanne
GASCHKE werden dabei näher unter die Lupe genommen. Die Dynamik der Debatte
und die Versäumnisse der Politik werden auf den Kampf zweier
Familienlebensstilgruppen um die kulturelle Hegemonie zurück
geführt.
Im Gegensatz zu BECK-GERNSHEIM wird also nicht vorschnell eine
der Positionen eingenommen, sondern die Auswirkungen des
Machtkampfes auch auf nicht beteiligte Gruppen betrachtet.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Dies
ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem
nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend
die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt.
Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard
Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die
Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank
Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster
Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der
Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
Es wird aufgezeigt, dass sich die
nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles
im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die
nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen." |
|
|