Was wäre
wenn...
1968 gilt den einen als Chiffre für die
Befreiung Deutschlands aus dem Muff der Nachkriegszeit, den
anderen gilt es als eine Art Untergang des Abendlandes. Der
Mythos 1968 ist der Ausgangspunkt für die Nostalgiker auf
beiden Seiten geworden.
Die Erzählungen jener, die - je nach Standpunkt durchaus
unterschiedliche - ungeliebte Errungenschaften der letzten 35
Jahre rückgängig machen möchten, beginnen mit 1968 (die Nennung
ist dazu gar nicht mehr notwendig) und fahren dann mit Folgen
fort, die eine Linearität der Geschichte voraussetzen, die
selten gegeben ist, aber im Nachhinein an Plausibilität zu
gewinnen scheint.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Mit dem modernen
Antifeminismus und der Kritik an der vaterlosen
Gesellschaft stehen (...) zunehmend auch Alleinerziehende
und Mitglieder von Patchworkfamilien im Kreuzfeuer der
Kritik. Der postfeministisch beflügelte Antifeminismus von
Rainer Paris arbeitet sich am Phantombild der 68er-Karrierefrau
ab, das für die Generation Ally längst seine
Prägekraft verloren hat, aber den Blick auf das männlich
dominierte Alleinleben im Familienlebensalter verstellt."
(2006, S.10) |
Die
neue Männerbewegung formiert sich
Rainer PARIS hat sich mit dem Beitrag
Doing Gender eingereiht in die neue Männerbewegung, die im Gleichschritt mit dem Postfeminismus unserer Tage,
gegen den Popanz des 1970er-Jahre-Feminismus (Feindbild Alice
SCHWARZER) angetreten ist, um den Tod des Märchenprinzen
(Svende MERIAN) zu verhindern.
Spätestens seit dem Erfolg von Michel HOUELLEBECQs Romanen
Ausweitung der Kampfzone und
Elementarteilchen trauen
sich auch weniger mutige Männer an die Front des
Geschlechterkrieges, um dem kränkelnden Mann zu seinem Recht zu
verhelfen:
Doing Gender
"Nichts erhöht das Aggressionsniveau
einer Gesellschaft mehr als die Vergiftung der
Geschlechterverhältnisse. Sie raubt den Menschen das
emotionale Hinterland, die Hoffnung, daß es jenseits der
privaten Miseren und Katastrophen vielleicht doch eine Chance
von Glück geben könnte. Wenn sich bei einer relevanten
Minderheit von Männern das Grundgefühl ausbreitet, daß es
keine Frauen mehr gibt, zumindest keine, die es wert scheinen,
begehrt zu werden, so ist dies in seinen atmosphärischen
Auswirkungen und Folgen für die mentale Verfaßtheit der
gesamten Gesellschaft kaum zu unterschätzen."
(Mai 2003) |
Damit ist die Motivation von Rainer
PARIS‘ Streitschrift gegen den 1970er-Jahre-Feminismus auf jenen
Punkt gebracht, der nicht wenigen Männern aus der Seele sprechen
dürfte.
Die
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
In einer Zeit, in der neoliberaler
Arbeitsplatzabbau, Niedriglohnsektor und Umbau des Sozialstaats
die traditionelle (Flucht-)Sphäre des Mannes bedroht
(ganz zu schweigen vom Einbruch weiblicher Konkurrenz), muss der
private Rückzugsort - traditionell als Ehe und Familie gedacht -
aufgeräumt sein.
Das bescheidene Männerglück wohnt also im Winkel der
neuen Klassengesellschaft. PARIS hilft bei der notwendigen
Entrümpelung der Privatsphäre, indem er erstens die
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ausblendet und zweitens
diese öffentliche Sphäre auf den Aspekt des Geschlechterhasses
reduziert.
Die
Berliner Republik und ihre Hamburger Verhältnisse
Am Anfang der Erzählung von PARIS steht
ein scheinbar belangloser Vorfall in einem Berliner Stadtteil:
Eine Frau mokiert sich über das Verhalten eines männlichen
Hundebesitzers. Für PARIS ist diese Szene das Urbild eines feministischen Rassismus,
dessen Entstehen er im Rahmen der Neuen sozialen Bewegungen
verortet:
Doing Gender
"Was (...) Feminismus und
Frauenbewegung von anderen Bewegungen dieser Ära unterscheidet
und die (...) Dynamik noch einmal verschärft, ist ein
Mechanismus, den ich analytisch als Externalisierungssperre
bezeichnen möchte. Gemeint ist folgendes: Während man als
Trotzkist, Autonomer, Friedensmensch oder Anti-AKW-Kämpfer all
seine Wut und Protestenergie auf klar konturierte und zugleich
weit entfernte »Zentren des Bösen« (...) richten, den Feind
also externalisieren kann und somit in seinem sonstigen Alltag
im Grunde nicht weiter tangiert ist, lauert für die
frauenbewegte ‚Frau der Feind, also der männliche
Unterdrücker, an allen Ecken und enden: Zu Hause, auf der
Straße, im Beruf - überall Männer!"
(Merkur, Heft Mai 2003) |
PARIS verharmlost hier einerseits
Kader- und Sektenstrukturen innerhalb der männlichen Neuen
Linken, um sie anderseits den Auswüchsen der feministischen
Bewegung gegenüber zu stellen.
Das Urbild des öffentlichen Geschlechterhasses, den PARIS
beschreibt, findet sich bei Svende MERIAN im Kultbuch Der Tod
des Märchenprinzen. Das Buch beschreibt die "Hamburger
Verhältnisse" am Ausgang der 1970er Jahre:
Der Tod des
Märchenprinzen
"Ich bin 24, und es ist das erste
Mal, daß ich einem Typen, der mich angebrabbelt, eine
gescheuert hab. Und ich bin alleine. Ich bin alleine in der
S-Bahn. Keiner kennt mich hier. Keine Feministin in Sicht, die
eingreifen würde, wenn der Typ zurückschlägt. Ich bin alleine
und habe es gewagt, einem fremden Typen in der Öffentlichkeit
eine zu scheuern.
Ich bin 24. Seit ungefähr zehn Jahren werde ich täglich
angegafft, angesabbelt und angegrabbelt. heute habe ich zum
erstenmal zurückschlagen können. Zehn Jahre habe ich dazu
gebraucht, lange genug. Aber was sind schon die zehn Jahre,
die ich hinter mir habe, wenn ich daran denke, daß ich ab
heute täglich den Mut haben werde, mich auch körperlich zu
wehren."
(1980) |
Rainer Paris als Vertreter der neuen Identitätspolitik
Was PARIS aber im Grunde kritisiert,
das ist die Identitätspolitik, die in der Lesben- und
Schwulenbewegung entwickelt und seit dem letzten
Bundestagswahlkampf selbst die CSU erreicht hat.
Mit Katherina REICHE ist Identitätspolitik im Mainstream der
Minderheiten angekommen, denn nicht mehr randständige
Minderheiten, sondern alte & neue Mitte haben den Spieß
umgedreht und betreiben nun ihrerseits Identitätspolitik.
PARIS‘ Beitrag ist Teil dieser Identitätspolitik, die im Gewande der
Normalisierung daher kommt und der Normalität zum Recht
verhelfen möchte. Die neue Konfliktlinie heißt Familien
contra Singles.
Als Vertreter der Normalität stilisiert sich PARIS zum
Gemeinwohl-Kämpfer gegen den partikularistischen Extremismus.
Lesben und Schwule werden hier zum Alibi, um der Normalfamilie
und dem dazu notwendigen Normalpaar das Wort zu reden:
Doing Gender
"Höflichkeit wird Zurücksetzung und
bekräftigt »traditionelle Rollenklischees« (...). Kontakte und
Annäherungen werden zur »Anmache«, Hausarbeit ist von nun an
Ausbeutung. Die Umwälzung der Wahrnehmung und Gewohnheiten
ergreift den gesamten Alltag und krempelt ihn um."
(Merkur, Heft Mai 2003) |
Am Ende steht für PARIS die Verachtung
von Konvention und Rollenhaftigkeit und damit das
Erlöschen des männlichen Begehrens angesichts des Todes der
Erotik.
Die Nach-68er-Soziologie hat das veränderte Geschlechterverhältnis mit
einem Wechsel von der Rollen- zur Identitätstheorie
nachvollzogen.
PARIS greift nun auf die vor-68er-Rollentheorie zurück, um das moderne
Geschlechterverhältnis zu kritisieren.
Rollen setzen unhinterfragbare Institutionen voraus, weswegen die
bürgerliche Ehe die Folie ist, vor der alle anderen
Lebensformen als defizitär erscheinen müssen.
Das Alleinleben als defizitäre weibliche Lebensform?
Singlefrau und
Märchenprinz
"In
seinem neuen Buch untersucht der französische Soziologe
Jean-Claude Kaufmann die weibliche Seite des Phänomens.
Quelle für seine Studie über die Einsamkeit moderner
Frauen sind 150 Leserbriefe an die französische »Marie
Claire«, 150 offene und intensive Auseinandersetzungen mit
dem Alleinsein. Kaufmann, der im Auftrag der Europäischen
Gemeinschaft an einer Untersuchung zum Singledasein
gearbeitet hatte, sagte: »Das war genau das, was meiner
Studie fehlte: Das Leben, die persönliche Erfahrung.« Die
Briefe spiegeln Gedanken, Ängste und Erwartungen von
Frauen, die im Spannungsfeld von Individualität und
Selbstbestimmung einerseits und dem Wunsch nach einem
Partner andererseits leben. Mit »Singlefrau und
Märchenprinz« gelingt dem Autor der Spagat zwischen
wissenschaftlicher Empirie und praktischer Lebenskunde."
(2002) |
Im Rückgriff auf die Studie
Singlefrau und Märchenprinz des französischen Soziologen
Jean-Claude KAUFMANN beschreibt PARIS die Einsamkeit der
Karrierefrau:
Doing Gender
"Abgeschnitten vom traditionellen
Modell des Privatlebens (Mann, Kind, Haus), das sie als
‚erhobenen Zeigefinger‘ gleichwohl tief verinnerlicht hat,
findet sich die solo lebende Frau im gesellschaftlichen und
emotionalen Niemandsland wieder. Umstellt von Bildern des
Paares und der Familie erlebt sie sich auch dort als zerrissen
und defizitär, wo sie beruflich erfolgreich und nach außen hin
alles in Ordnung ist. Ja mehr noch: Gerade die Perfektheit des
schönen Scheins, mit dem sie ihr Leid kompensieren sucht,
sondert sie immer stärker von den wenigen noch in Frage
kommenden Männern ab und zwingt sie, die ‚Flugbahn der
Autonomie‘ fortzusetzen. Um sich ihren Nachteil erträglich zu
machen, akzentuiert sie die Vorteile ihres Nachteils, die den
Nachteil wiederum zementieren."
(Merkur, Heft Mai 2003) |
Diese typisch männliche Lesart - darauf
weist PARIS selbst hin - ist für das Alleinleben nicht
repräsentativ. Sie entspricht jedoch dem Wunschbild
frustrierter Männer ideal.
Es lässt sich nicht bestreiten, dass es diesen Typus der einsamen,
allein lebenden Karrierefrau gibt, quantitativ bedeutsam ist
er jedoch nicht.
Das Alleinleben im mittleren Lebensalter ist MÄNNLICH! Es
kommt noch schlimmer: allein lebende Männer sind im Vergleich
mit verheirateten Männern und allein lebenden Frauen gewöhnlich
schlechter gebildet und überproportional unter den
Geringverdienern zu finden.
Alleinleben im mittleren Lebensalter ist also - wenn überhaupt - die
typische Lebensform männlicher Modernisierungsverlierer.
Mit der Abschaffel-Trilogie hat der Schriftsteller Wilhelm
GENAZINO einen Prototyp des allein lebenden
Modernisierungsverlierers beschrieben.
Davon abgesehen. Was nicht vergessen werden darf: Alleinleben
ist weder identisch mit Alleinwohnen, noch mit
Partnerlosigkeit
.
Die Perspektive des Haushaltsansatzes kann die Lebensverhältnisse von
Alleinlebenden nicht beschreiben und führt deshalb zu
folgenschweren Missverständnissen und Fehlinterpretationen des
Alleinlebens.
Basta!
Was wäre, wenn 1968 nicht stattgefunden
hätte? Gemäß PARIS wäre dann die Welt noch in Ordnung:
Doing Gender
"Grundsätzlich lassen sich in der
Soziologie der Paarbeziehung zwei Typen oder Bilder von Paaren
unterscheiden und gegenüberstellen: asymmetrische Harmonie
und kommunikative Partnerschaft."
(Merkur, Heft Mai 2003) |
Das erste Ideal entspricht der
bürgerlichen Ehe, die zweite Paarform steht in nicht-ehelichen
Lebensformen mit ihren Aushandlungen im Vordergrund.
Obgleich beide Formen Vor- und Nachteile besitzen, bringt PARIS nur
der ersten Form Sympathie entgegen. Das "Diktat der Gleichheit"
betone das Sachliche, statt Affekt und Leidenschaft.
Androgynität ist für PARIS das eigentliche Problem als
"Austilgen der Verschiedenheit". Und das "Säurebad der
Diskussion" sollte am besten durch ein Basta wie vom Kanzler zum
Schweigen gebracht werden.
Fazit
Es würde zu weit führen PARIS en Detail
zu widerlegen. Es dürfte auch kaum einen Mann geben, der nicht
gelegentlich den Feminismus und die moderne Partnerschaft
verflucht, obgleich er im großen und ganzen zufrieden ist.
Wenn auch PARIS und andere frustrierte Männer ungern den Preis des
modernen Gleichheitsstreben zahlen möchten, den Preis der
früheren Ungleichheit möchte so mancher auch nicht zahlen.
In der Realität entwickeln sich selbst in modernen Partnerschaften
Rituale und Gewohnheiten, die Aushandlungsprozesse in
Grenzen halten oder gar unterlaufen. Das ganze Spektrum
postmoderner Paarformen wird von PARIS auf ein
Schwarz-Weißbild reduziert. Abgesehen davon, beschränken sich
einige Probleme auf bestimmte Milieus.
Im Beitrag von PARIS fehlen gerade jene Aspekte, die heutzutage
das Leben der Männer beeinträchtigen: der demografisch bedingte Männerüberschuss und die veränderten
Bedingungen der Dienstleistungsgesellschaft.
Stattdessen muss der 70er-Jahre-Feminismus als Sündenbock herhalten
und das Alleinleben im mittleren Lebensalter wird als weibliche
Domäne, statt als männliches Problem beschrieben. Die
Perspektive von PARIS ist deshalb für die Lösung der anstehenden
Probleme eher hinderlich.
Die Ignoranz gegenüber der Pluralität von Lebensformen
verkennt, dass Lebensformen für bestimmte Menschen und bestimmte
Lebensphasen optimaler sein können als andere. Nicht
Homogenisierung wie in den idealisierten 1950er-Jahren ist die
Lösung, sondern Differenzierung.
Eine angeblich Beste aller Lebensformen für alle Menschen durchsetzen
zu wollen, das ist auch eine Form von Fundamentalismus.