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Singles in Großbritannien

 
       
   

Britische Singles und gesellschaftlicher Wandel in den Medien (Teil 2: 2018 - heute)

 
       
   
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2018

KAHLWEIT, Cathrin (2018): Gutes von gestern.
Die britische Küstenstadt Blackpool war mal sehr schön, jetzt ist sie sehr heruntergekommen. Trotzdem suchen gerade hier viele Menschen ein kleines bisschen Glück,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 19.03.

Die Reportage von Cathrin KAHLWEIT aus dem britischen Blackpool erinnert an Berichte über Pirmasens. Beide Städte werden als Magnete für einkommensschwache Gruppen gesehen, die von billigem Wohnraum und guter Infrastruktur angezogen werden. Während es in Pirmasens die Migranten sind, die angezogen werden, sind es in Blackpool einheimische Arme. In Zeiten des Neoliberalismus ist eine solche Entwicklung nicht gern gesehen, denn Städte müssen aufgrund der kommunalen Standortkonkurrenz nicht für Arme, sondern für Einkommensstarke attraktiv sein.

"Wo gibt es in England und Wales die niedrigsten Löhne, die höchste Arbeitslosigkeit, die meisten Kranken und die meisten Arbeitsunfähigen? Die meisten Menschen ohne Ausbildung, die höchste Kriminalitätsrate, das schlechteste Lebensumfeld, die niedrigste Lebenserwartung? Blackpool ist immer ganz vor. Blackpol ist außerdem ganz vorn bei Scheidungsraten, Alkoholismus, Depression",

schreibt KAHLWEIT, die in den englischen Küstenorten das Hauptproblem des Niedergangs der Industrieregionen sieht:

"Die radikale Sparpolitik der Regierung hat alle Kommunen ausgeblutet. Den Städten an der Küste geht es finanziell besonders schlecht."

BORRELLI, Silvia Sciorilli (2018): Keine Lust auf Frankfurt.
Im Zuge des Brexits sollen Tausende Banker London in Richtung Kontinent verlassen. Davon ist bisher wenig zu sehen. Vor allem die Ehefrauen verhindern den Umzug,
in: Welt v. 09.05.

Silvia Sciorilli BORRELLI berichtet über "Yummi Mummys", was sie mit "Latte Macchiato Mamas" übersetzt. Angeblich ziehen Banker nur dorthin, wo ihre Ehefrauen leben wollen. Ein Mythos, der sich gut für Kaffeekränzchen eignet, aber nichts mit der Realität zu tun hat. Eher ist die abwartende Haltung der Banker dadurch erklärbar, dass harte Fakten in Sachen Brexit fehlen. Warum also umziehen? Diese Frage stellt der Artikel erst gar nicht und dass in Zeiten, in denen Wochenendbeziehungen in bestimmten Kreisen normal sind. Multilokalität wird im Artikel gar nicht als Option beschrieben als ob Frankfurt nicht nur einen Katzensprung von London entfernt wäre.

WELT-Themenausgabe: Die Würde des Alters

BOLZEN, Stefanie (2018): Angewiesen auf die Barmherzigkeit der eigenen Bürger.
Der britische Staat spart Milliarden im Sozialbudget ein. Besonders hart trifft es die Alten. Ohne Freiwillige wären diese auf sich allein gestellt,
in: Welt v. 10.08.

In Großbritannien herrschen geradezu paradiesische Zustände, wenn man ein deutscher Neoliberaler ist. Es wundert deshalb kaum, dass Stefanie BOLZEN vom unentgeltlichen Ehrenamt schwärmt. Ein ehemaliger Manager des Lebensversicherers Standard Life und jetziger Schatzmeister von Aging better wirbt - im Eigeninteresse - für das Ehrenamt.

Die Leistungskürzungen der Konservativen werden damit verteidigt, dass sie die Lebensqualität der Rentner erhöhen:

"Die finanzielle Krise (...) hat (...) einen positiven Effekt: Zahlreiche Ehrenamtliche genießen den Beitrag, den sie für die Gesellschaft leisten. (...) Eine Studie bescheinigte im Jahr 2013 sogar, dass das Ehrenamt im Alter das Leben verlängert."

Fake-Science müsste man solche Interpretationen nennen, bei denen von Korrelationen auf Ursachen geschlossen wird. Die umgekehrte Interpretation, dass Wohlhabende gesünder sind und deshalb auch vermehrt ehrenamtlich tätig sind, ist mindestens genauso plausibel.

"Im Vergleich zu Deutschland hat Großbritannien eine jüngere Bevölkerung, das Durchschnittsalter liegt bei 40 Jahren. Dazu kommt eine Geburtenrate von durchschnittlich 1,8 Kindern pro Frau. In der Bundesrepublik verbesserte sich diese zuletzt zwar auf 1,5, das Durchschnittsalter liegt jedoch bei fast 46 Jahren. Im Gegensatz zu Deutschland, wo das Thema Alter regelmäßig auf der politischen Agenda auftaucht, spielt es in Großbritannien keine allzu große Rolle",

behauptet BOLZEN. Die Geburtenzahlen stammen noch aus dem Jahr 2015.2016 stiegt die Geburtenrate in Deutschland auf 1,59, während sie im Vereinigten Königreich bei 1,79 stagniert. Die Briten haben sicherlich ganz andere Probleme als die angebliche "Vergreisung", die von deutschen Neoliberalen auf die Agenda gesetzt wird.

KAHLWEIT, Cathrin (2018): Armut bedeutet Stress.
Drogen, Gewalt, Protestwahl: In Großbritannien avanciert ein Memoir aus der schottischen Unterschicht zum Sensationserfolg,
in: Süddeutsche Zeitung v. 24.09.

Cathrin KAHLWEIT entdeckt über 10 Monate nach dem Erscheinen des Buchs Poverty Safari, dass sich Darren McGARVEYs Buch gut als Waffe gegen eine in Deutschland als gefährlich eingestufte Form der erfolgreichen Erneuerung der französischen Literatur aus dem Geiste einer Minderheitenbewegung eignet:

"Der Bericht über eine Jugend in Glasgow, über eine alkoholkranke Mutter und eine Welt voller Sucht, Aggression, Missbrauch, Not und Angst werden als »Erklärbuch für die Wut der britischen Unterschicht« gehandelt. Und es ist gut möglich, dass das Buch bald schon Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« als Bibel jener europäischen Intellektuellen ablöst, die zunehmen verzweifelt nach Gründen für den Aufstieg des Rechtspopulismus und den Zerfall der Gesellschaft suchen."

Die Erklärung des Rechtspopulismus durch den Neoliberalismus und der damit verbundenen Entstehung einer neuen Klassengesellschaft ist wesentlich gefährlicher als Erklärungsansätze, die den Neoliberalismus und seine Folgen verharmlosen wie das z.B. bereits bei Hillbilly Elegie von J.D. VANCE der Fall war.

Wie kam es zu dieser Verzögerung der Wahrnehmung? Erst musste das Buch von einem britischen Lord geadelt werden, damit es in der britischen Klassengesellschaft satisfaktionsfähig war. Deutungen erscheinen zudem umso zutreffender, insofern sie durch die Biografie des Autors als "authentische Stimme" vermarktet werden kann. Je mehr typische Unterschichtmerkmale ein Autor aufweisen kann, desto mehr "Street credibility" besitzt er nach landläufiger Meinung.

"Im Mittelpunkt des Werks stehen die tiefen Gräben zwischen Mittel- und Unterschicht. Die Klassengesellschaft und ihre Unversöhnlichkeit. Und die Apathie, die in der Unterschicht aus dem Gefühl erwächst, nicht verstanden und nicht gehört zu werden.
Das alles aber mündet bei dem 34-Jährigen nicht in Selbstmitleid oder Larmoyanz, sondern, im Gegenteil, in dem Versuch, Brücken der Verständigung zu bauen - vom Armenviertel Pollock, wo er aufgewachsen ist, hinüber in die Welt der Politik. Auch wenn, oder vielleicht gerade weil der Autor feststellt, er glaube nicht mehr daran, dass Armut ein Problem sei, das von der Politik gelöst werden könne",

beschreibt KAHLWEIT das Anlegen des Rappers, der als

"junger Mann (...) häufig in Radio- und Fernsehsendungen eingeladen worden (war), weil er nicht nur gut rappen, sondern auch gut erklären konnte; er sollte Zeugnis ablegen von einer Welt, die, so McGarvey, von einer Armutsindustrie verwaltet, von Sozialarbeitern und Psychologen begutachtet, (...) doch nicht verstanden wird."

Das deutet eher darauf hin, dass McGARVEY bereits seit langer Zeit von neoliberaler Seite instrumentalisiert worden ist, weil er gut zu dessen Programm passt. Aus der soziologischen Jugendkulturforschung ist schon seit Jahrzehnten bekannt, dass Jugendliche sehr schnell herausbekommen, mit welchen Antworten sie mediale Aufmerksamkeit erhalten oder womit sie sich selber aus der Medienwelt herauskatapultieren.

Andererseits stellt sich hier die Frage, ob die neoliberale Lesart von KAHLWEIT tatsächlich die einzige Lesart ist, die dem Buch gerecht wird und ob der Autor hier nicht einfach nur instrumentalisiert wird, um andere Deutungen zu verdrängen. Das zentrale Konzept "Stress" als Begleitumstand von Armut könnte auch ganz anders gedeutet werden:

"»Die erfahrbare Realität von Armut wird missverstanden«, sagte er dem Guardian, »wird leben in einer Gesellschaft mit Regeln und Gesetzen, die fordern und fördern will. Aber das funktioniert nur bei emotional stabilen Menschen. Wenn du in einem feindseligen Umfeld aufwächst, funktionieren deine Gefühlswelt und dein Gespür für Risiken ganz anders.« Das Sozialhilfesystem basiere auf der Annahme, dass die Drohung, erniedrigt oder gedemütigt zu werden, Menschen zu Leistungen ansporne. Aber das Gegenteil sei wahr. Armut lasse keinen Freiraum für Fehler. Sie mache etwas ganz anderes mit Menschen.
»Sie ziehen sich zurück« (...). Seine zentrale Erkenntnis lautet: Wer Politik für sozial Deprivierte mache, müsse auch den Kontext von Armutsstress verstehen und einsehen, dass dieser alles erstickende, alles überwölbende Stress die Ursache für Fettsucht, Rauchen, Spielen, Saufen, Drogensucht und Gewalt sei - und nicht die Folge."

Neoliberalismus kann als Erhöhung des Stresslevels für alle betrachtet werden, denn Deregulierung bedeutet die Verlagerung von Aufgaben auf den Einzelnen bei gleichzeitigem erhöhten Informationsbedarf, um den eigenen Alltag zu bewältigen. Es erscheint einleuchtend, dass die Forderung nach Eigenverantwortung insbesondere in den unteren Schichten eine gewaltsame Belastung darstellt, die die vorhandenen Probleme, die aus dem Umfeld entstehen, noch zusätzlich verschärft. Der Versuch die "Armutsindustrie" bzw. die Sozialpädagogisierung der Gesellschaft als eigentliches Problem darzustellen, greift deshalb zu kurz. Denn dieser Zugang ist ja selber Ausdruck der herrschenden neoliberalen Ideologie.

Am Ende zeigt sich dann, dass KAHLWEIT das Buch nutzt, das "Brexit-Großbritannien" zur Geißel der armen Bevölkerung zu stilisieren, wenn sie behauptet, dass diese "Menschen gegen ihre eigenen Interessen stimmen, weil sie glauben, es sei sowieso egal". ERIBON dagegen spricht von einem "Akt der Notwehr" und erklärt das Wahlverhalten der Europagegner und Nationalisten zu einem Akt, der die eigene Würde zu retten versucht, die von Neoliberalen mit den Füßen getreten wird.

"Plötzlich (...) hätten sich liberale Intelligenzia und großstädtische Elite in jenem Land wiedergefunden, »in dem der Rest von uns schon lange lebt«",

zitiert KAHLWEIT die Folgen der Brexit-Entscheidung. Ob dies zutrifft, wäre eine empirische Frage, die wohl erst die Historiker angemessen bewerten können, denn ob Arme und urbane Kosmopoliten jetzt tatsächlich in einem Boot sitzen, daran bestehen doch starke Zweifel. 

 
       
   
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Bernd Kittlaus
webmaster@single-generation.de Erstellt am: 20. September 2000
Update am: 10. Februar 2019