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Nur nicht zu optimistisch rechnen
"Vor allem aus
einem Grund ist (...) die Prognose des Statistischen
Bundesamts gefährlich: »Eine zu positive Prognose mildert
den Druck auf die Politik, wegen des Fachkräftemangels
aktiv zu werden.«"
[mehr]
(Pressemitteilung des
IW Köln vom 02.07.2015)
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Einführung
Im ersten
Teil dieser Serie über die Bevölkerungsentwicklung in
Deutschland haben wir uns mit den Mythen über den
Geburtenrückgang in Vergangenheit und Zukunft beschäftigt
. Im zweiten Teil
ging es um die Mythen und Fakten über die Altenlast
. Im dritten
Teil geht es darum wie Bevölkerungsvorausberechnungen zur
Durchsetzung von politischen Interessen missbraucht werden.
Beispielhaft soll dies am Vergleich der fast zeitgleich
veröffentlichten Bevölkerungsprognose des
Instituts
der deutschen
Wirtschaft in Köln (kurz: IW Köln) und der
13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des
Statistischen Bundesamts Ende
April 2015 dargestellt werden.
Die Falschdarstellung der 13.
koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen
Bundesamts durch das IW Köln
Im Beitrag
Die Entwicklung der Bevölkerung Deutschlands bis 2030 - ein
Methodenvergleich des Ökonomen Philipp DESCHERMEIER in den
IW Trends Nr.2 vom 27. April 2015 wird die
interessengeleitete Bevölkerungsprognose des IW Köln als
Überlegenheit der stochastischen Bevölkerungsprognose gegenüber
der vom Statistischen Bundesamt verwendeten Szenariotechnik
inszeniert. DESCHERMEIER beschreibt die Vorgehensweise des
Statistischen Bundesamts folgendermaßen:
Die Entwicklung der Bevölkerung Deutschlands bis 2030 -
ein Methodenvergleich
"Vorausberechnungen
bestimmen die zukünftige Bevölkerung durch Annahmen über
die Entwicklung der Geburten, Lebenserwartung und
Nettomigration. Der Unsicherheit wird dabei durch eine
Kombination von optimistischen (Entwicklung der
demografischen Trends verläuft positiver als gegenwärtig),
neutralen (der aktuelle Trend setzt sich in der Zukunft
fort) und pessimistischen Annahmen (ungünstigere
Entwicklung) in Form von Szenarien Rechnung getragen".
[mehr]
(Deschermeier 2015, S.98) |
Gemäß
Pressemeldung des IW Köln wird die Bevölkerungsvorausberechnung des
Statistischen Bundesamts als zu positiv bewertet. Damit
stellt sich die Frage, ob die kritisierten Varianten 1 und 2 der
13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung tatsächlich zu positiv sind.
Das IW Köln zielt dabei lediglich auf die Annahmen des Statistischen
Bundesamts zur Nettozuwanderung bis 2030:
Nur nicht zu optimistisch rechnen
"Die Zuwanderung
bleibt zunächst auf rekordhohen 500.000 Personen pro Jahr,
langfristig sinkt die Zahl auf 100.000 bis 200.000. Davon
geht das Statistische Bundesamt in seiner 13.
Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung aus und kommt
zu dem Ergebnis, dass die Bevölkerung in Deutschland in
den nächsten 15 Jahren fast konstant bleibt."
[mehr]
(Pressemitteilung des
IW Köln vom 02.07.2015)
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Auch in der
Tabelle von DESCHERMEIER (2015, S.101) wird behauptet, dass das
Statistische Bundesamt mit zunächst 500.000 Zuwanderern rechnet.
Im Text heißt es dazu:
Die Entwicklung der Bevölkerung Deutschlands bis 2030 -
ein Methodenvergleich
Die "13.
koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung (Statistisches
Bundesamt, 2015) (...) unterscheidet sich besonders in den
unterstellten Annahmen über die Entwicklung der
Nettomigration von der Vorgängerversion (Statistisches
Bundesamt, 2009). Die neue Auflage berücksichtigt die hohe
Zuwanderung der letzten Jahre nach Deutschland und
unterstellt, dass dieser Trend weiter anhalten wird."
[mehr]
(Deschermeier 2015, S.101) |
Das
Statistische Bundesamt geht jedoch keineswegs davon aus, dass in
den nächsten Jahren pro Jahr 500.000 Zuwanderer mehr kommen als
gehen, wie das in dieser Textpassage und der Pressemitteilung
suggeriert wird, sondern bereits für das Jahr 2016 wird in der
Variante 2 (Kontinuität bei stärkerer Zuwanderung) nur noch von
450.000 Zuwanderern ausgegangen. Danach reduziert sich die
Nettozuwanderung bis zum Jahr 2021 pro Jahr um 50.000 Zuwanderer
auf langfristig 200.000. In der Variante 1 (Kontinuität bei
schwächerer Zuwanderung) geht die Nettozuwanderung im Jahr 2016
bereits auf 350.000 zurück und danach pro Jahr bis 2021 auf
100.000. Aus der nachfolgenden Tabelle ist ersichtlich wie
sich die Darstellung des IW Köln vom Statistischen Bundesamt
unterscheidet:
Tabelle: Übersicht der Annahmen der Bevölkerungsprognose
(BP) des IW Köln und der 13. koordinierten
Bevölkerungsvorausberechnung (BV) des Statistischen
Bundesamts zur Entwicklung des Wanderungssaldos in
Deutschland |
Jahr |
Falschdarstellung der Varianten 1 und 2 der 13.
koordinierten BV durch das IW Köln |
Variante 1 der 13. koordinierten BV |
Variante 2 der 13. koordinierten BV |
Unter-
und Obergrenze in der BP des IW Köln |
2014 |
500.000* |
500.000 |
500.000 |
180.000
bis 220.000 |
2015 |
500.000* |
500.000 |
500.000 |
180.000
bis 220.000 |
2016 |
500.000* |
350.000 |
450.000 |
180.000
bis 220.000 |
2017 |
500.000* |
300.000 |
400.000 |
180.000
bis 220.000 |
2018 |
500.000* |
250.000 |
350.000 |
180.000
bis 220.000 |
2019 |
500.000* |
200.000 |
300.000 |
180.000
bis 220.000 |
2020 |
500.000* |
150.000 |
250.000 |
180.000
bis 220.000 |
2021 |
100.000
(V.1)
200.000 (V.2) |
100.000 |
200.000 |
180.000
bis 220.000 |
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Quelle: Deschermeier 2015, S.101;
Statistisches Bundesamt
Bevölkerung Deutschlands bis 2060 - Tabellenband -
Ergebnisse der 13. koordinierten
Bevölkerungsvorausberechnung 2015, S.34 (Variante
1) und S.63 (Variante 2); eigene Darstellung.
Erläuterungen: * Zur Begründung der Personenzahl siehe
Näheres hier |
Vergleicht
man die Berechnungen von IW Köln und Statistischem Bundesamt,
dann unterscheiden sich die Annahmen nur dadurch, dass das IW
Köln bis 2019 (Variante 1 des Statistischen Bundesamts) bzw. 2021 (Variante 2
des Statistischen Bundesamts) von einer
geringeren Nettozuwanderung ausgeht, während danach die beiden
Varianten des Statistischen Bundesamts bezüglich des
Wanderungsüberschusses unterhalb den Berechnungen des IW Köln
liegen.
In der
Tabelle wird dem IW Köln unterstellt, dass die Zuwanderung bis
2020 auf "Rekordniveau" bleibt, tatsächlich steht das nirgends
explizit so da, sondern es wird ungenau formuliert, so
dass dieser Eindruck entstehen kann. Da heißt es: "Zunächst
500.000, langfristig 100.000 (200.000) Personen" (Tabelle S.101)
Dagegen heißt es im Tabellenband Bevölkerung Deutschlands bis
2060 des Statistischen Bundesamts: "Schrittweise
Anpassung von 500 000 im Jahr 2014 auf 100 000 (Anm.: 200 000 in
der Variante 2) im Jahr 2021, danach konstant". (2015, S.5) Auch
an anderer Stelle bleibt der Beitrag des Textes vage: "Diese unterstellen zunächst einen sehr hohen
Wanderungsüberschuss von 500.000 Personen, der sich über die
Jahre (...) abschwächen wird." (S.104f.) Dadurch dass keine
exakten Zahlen angegeben werden, wird hier von Suggestion
gesprochen, d.h. wer nicht genau hinschaut, der könnte
fälschlicherweise davon ausgehen, dass das Statistische
Bundesamt in den Jahren bis 2021 mit 500.000 Personen
Wanderungsüberschuss rechnet. In der Presse wird dieser Eindruck
aufgrund der Pressemitteilung des IW Köln nahe gelegt,
beispielhaft im Welt-Artikel des Wirtschaftsredakteurs
Tobias KAISER:
Ökonomen warnen vor naiver Bevölkerungsprognose
"Die offiziellen
Statistiker berücksichtigen in ihrer aktuellen Prognose
die Rekordzuwanderung der vergangenen Jahre und gehen
davon aus, dass dieser Trend anhält: Im Jahr 2013 lag die
Nettozuwanderung bei 429.000 Menschen. Für das vergangene
und das laufende Jahr erwarten die Statistiker, dass
Deutschland durch Zuwanderung jeweils eine halbe Million
Einwohner hinzugewinnen wird."
[mehr]
(Welt.de v. 02.07.2015) |
Hier könnte
man sogar davon ausgehen, dass das Statistische Bundesamt von
einer weiter steigenden Zuwanderung in den nächsten Jahren ausgeht,
statt wie oben gezeigt von einem kontinuierlichen Rückgang der
derzeitig hohen Nettozuwanderung bereits ab dem Jahr 2016.
Auch
hinsichtlich der Bevölkerungsentwicklung bis zum Jahr 2030
stellt die Pressemitteilung des IW Köln zum Beitrag von
DESCHERMEIER falsche Behauptungen auf. So heißt es dort:
Nur nicht zu optimistisch rechnen
"Die Zuwanderung
bleibt zunächst auf rekordhohen 500.000 Personen pro Jahr,
langfristig sinkt die Zahl auf 100.000 bis 200.000. Davon
geht das Statistische Bundesamt in seiner 13.
Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung aus und kommt
zu dem Ergebnis, dass die Bevölkerung in Deutschland in
den nächsten 15 Jahren fast konstant bleibt.
Das Ergebnis des IW Köln sieht ganz anders aus: Bei der
IW-Bevölkerungsprognose sinkt die Bevölkerungszahl stetig
und liegt 2030 mindestens knapp eine Million unter der
Zahl des Bundesamtes."
[mehr]
(Pressemitteilung des
IW Köln vom 02.07.2015)
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Tatsächlich
wird das im Beitrag von DESCHERMEIER gar nicht behauptet. In der
Abbildung 2 (S.107) wird die Bevölkerungszahl für die IW Köln-Prognose
mit 78,7 Millionen angegeben. Diese liegt lediglich um eine
halbe Million Menschen unter der Variante 1 des Statistischen
Bundesamts mit 79,2 Millionen. Die Variante 2 liegt dagegen
mit 80,9 Millionen um 2,2 Millionen höher als die IW Köln-Prognose,
wobei deren Prognose-Obergrenze bei 79,4 Millionen liegt
(200.000 Personen über der Variante 1 und 1,5 Millionen Personen
unter der Variante 2 des Statistischen Bundesamts). Diese
Unterschiede beruhen vor allem auf der Tatsache, dass das IW
Köln in seinen Berechnungen die derzeitige Zuwanderung
schlichtweg gänzlich ignoriert wie im Folgenden gezeigt wird.
Die tatsächliche Zuwanderung
liegt inzwischen sogar höher als in der
Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts
angenommen
Die
tatsächliche Entwicklung des Wanderungssaldos der letzten Jahre
ist aus der nachfolgenden Tabelle ersichtlich:
Würde man den
Wanderungssaldo der letzten 5 Jahre fortschreiben, dann müsste
man von einer weiteren Steigerung der Nettozuwanderung ausgehen.
Das tut das Statistische Bundesamt aber gerade nicht. Die
Annahmen liegen für das Jahr 2014 mit 500.000 Personen sogar
schon um 50.000 Personen unterhalb der tatsächlichen
Zuwanderung. Für das Jahr 2015 muss sogar noch mit einer weiter
steigenden Zuwanderung gerechnet werden. Aufgrund dieser
Entwicklung ist bereits ersichtlich, dass das Statistische
Bundesamt in seinen Varianten 1 und 2 keineswegs ein
positives Szenario der Bevölkerungsentwicklung aufgezeigt hat,
sondern ein neutrales bis pessimistisches Szenario der
Zuwanderung entwickelt.
Das IW Köln setzt die Nettomigration
der nahen Zukunft bewusst zu niedrig an, um den Fachkräftemangel
auf die politische Agenda zu setzen
Ein Vergleich
zwischen der tatsächlichen Entwicklung des Wanderungssaldos und
den Annahmen des IW Köln zeigt, dass bereits für die Jahre
2014 und 2015 die Nettozuwanderung viel zu niedrig ausgewiesen
hat:
Tabelle: Vergleich der IW Köln-Prognose mit der
tatsächlichen Entwicklung des Wanderungssaldos |
Jahr |
tatsächlicher
Wanderungssaldo |
prognostizierter
Wanderungssaldo |
2014 |
550.483 |
180.000 bis
220.000 |
2015 |
voraussichtlich weitere Steigerung |
180.000 bis
220.000 |
|
Quelle:
www.destatis.de (Seitenabruf am 21.11.2015);
Deschermeier 2015, S.101; eigene Darstellung
|
Allein für
das Jahr 2014 hat das IW Köln die Nettozuwanderung zwischen ca.
330.000 und 370.000 Personen zu niedrig angesetzt. Für das Jahr
2015 kommen noch einmal mindestens die gleiche Anzahl hinzu,
d.h. in nur 2 Jahren liegt die Berechnung des IW Köln allein
beim Wanderungssaldo um mindestens eine halbe Million Menschen
zu niedrig, wenn nicht gar um eine Million. DESCHERMEIER
begründet dies in seinem Beitrag folgendermaßen:
Die Entwicklung der Bevölkerung Deutschlands bis 2030 -
ein Methodenvergleich
"Das
Zeitreihenmodell für die Nettomigration, das der
IW-Bevölkerungsprognose zugrunde liegt, prognostiziert
(...) auf Basis der vergangenen Entwicklung im Zeitraum
1970 bis 2013 zukünftige Werte, die jährlich zwischen
220.000 und 180.000 Personen liegen. Am aktuellen Rand
unterschätzt die Prognose auf Basis von Zeitreihenmodellen
die Migration, da Ereignisse wie Kriege (aktuell der Krieg
in Syrien und im Irak) oder Krisen nicht sinnvoll
prognostiziert werden können. Auf mittlere und lange Sicht
erweisen sich die Prognosefehler dennoch als geringer"
[mehr]
(Deschermeier 2015, S.106) |
Übersetzt man
dieses Fachchinesisch ins Deutsche, dann wird ganz offen
zugegeben, dass die derzeitige Situation in der IW Köln-Prognose
nicht richtig wiedergegeben wird. Es wird jedoch angenommen,
dass es sich bei der derzeitigen Situation um eine
Ausnahmesituation handelt, die sich mittel- und langfristig
nicht im relevanten Maße auf die zukünftige
Bevölkerungsentwicklung auswirkt. Nicht nur kurzfristig, sondern
auch mittel- und langfristig hat aber selbst
eine Ausnahmesituation gravierende Auswirkungen (siehe z.B. den
Babyboom Mitte der 1960er Jahre. Hätte man diesen einfach so
herausrechnen können wie das IW Köln das nun mit der
Zuwanderung praktiziert?), ganz davon
abgesehen, dass sich diese Deutung der derzeitigen Zuwanderung
als kurzzeitigen Ausnahmezustand als falsch erweisen könnte.
Das Statistische Bundesamt argumentiert in seinem
Begleitmaterial zur Pressekonferenz am 28. April 2015 in
ähnlicher Weise wie das IW Köln:
Bevölkerungsentwicklung Deutschlands bis 2060 -
Begleitmaterial zur Pressekonferenz
"Die gesamte
Wanderungsbilanz war in Deutschland mit Ausnahme einzelner
Jahre positiv. Im langfristigen Durchschnitt bewegte sich
der Wanderungssaldo zwischen 142 000 Personen pro Jahr vor
der deutschen Vereinigung und 186 000 Personen pro Jahr im
gesamten Zeitraum zwischen 1954 und 2013."
[mehr]
(Statistisches Bundesamt 2015, S.37) |
Während das
IW Köln also lediglich die Entwicklung der Jahre 1970 bis 2013
in ihren Annahmen berücksichtigt, greift das Statistische
Bundesamt sogar auf den Zeitraum 1954 bis 2013 zurück.
Erstaunlicherweise entspricht der langfristige Durchschnitt der
Jahre 1954 bis 2013 ziemlich genau der Untergrenze
Nettomigration beim IW Köln. Von daher liegen die Trendannahmen
also keineswegs so weit auseinander wie das IW Köln dies
darstellt. Warum also diese harsche Abgrenzungsrhetorik?
Der erwartete Rückgang des
Erwerbstätigenpotentials wird für die nächsten Jahre durch die
Zuwanderung aufgehalten
Das Problem
der unterschiedlichen Sichtweisen liegt offenbar im Detail, denn
die Nettomigration erhöht zu einem hohen Prozentsatz das
Erwerbstätigenpotential und mindert damit entscheidend den von
der Wirtschaft propagierten Fachkräftemangel. Für das Jahr 2014
entfallen von den 500.000 Zuwanderern allein 396.000 auf die 20
bis 64-Jährigen. 109.000 entfallen auf die unter 20-Jährigen,
die dadurch das Erwerbstätigenpotenzial mittel- und langfristig
zusätzlich erhöhen. Die 5.000 Personen Differenz werden als Abwanderer bei den 65-Jährigen und Älteren ausgewiesen und
führen dadurch zu einer zusätzlichen, schwächeren Alterung der
Bevölkerung in Deutschland (vgl. Statistisches Bundesamt:
Bevölkerung Deutschlands bis 2060 - Tabellenband - Ergebnisse
der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung 2015,
S.34 und 63).
Betrachtet
man die Variante 2 (Kontinuität mit stärkerer Zuwanderung) des
Statistischen Bundesamts, dann zeigt sich, dass sich die
Setzung unterschiedlicher Altersgrenzen (60 Jahre, 65 Jahre, 67
Jahre) auf das Erwerbstätigenpotenzial viel stärker auswirkt als
die Veränderung des Erwerbstätigenpotenzials über die Jahre
2013, 2020 bis 2030. Bei einer Altersgrenze von 60 Jahren ergibt
sich eine Reduzierung des Erwerbstätigenpotentials zwischen 2013
und 2030 um 6,8 % (65 Jahre: Reduktion um 5,6 %; 67 Jahre:
Reduktion um 4,5 %). Die Anhebung der Altersgrenze von 60 auf 67
würde das Erwerbstätigenpotential im Jahr 2030 dagegen um fast
10 % erhöhen! Hier zeigt sich, dass die Debatte um den
so genannten Fachkräftemangel nicht nur im Zusammenhang mit der Zuwanderung,
sondern auch im Zusammenhang mit der Debatte um die Verlängerung
der Lebensarbeitszeit bzw. die Erhöhung des
Renteneintrittsalters gesehen werden muss. Die Kritik der
Wirtschaft an der Rente "mit" 63, die im Grunde lediglich eine
Rente "ab" 63 ist, weil sie nicht alle Beitragszahler in
Anspruch nehmen können, zeigt die Richtung dieser Debatte.
Zusammenfassend kann man also bislang sagen, dass die
stochastische Prognosemethode den politischen Interessen der
Wirtschaft besser gerecht wird als die neutrale bzw.
pessimistische Variante der Szenariomethode, die in der Variante
1 und 2 des Statistischen Bundesamts zum Ausdruck kommt. Sowohl
die Varianten des Statistischen Bundesamts als auch die
IW
Köln-Prognose gehen davon aus, dass die derzeitige Zuwanderung
eine Ausnahmesituation darstellt. Während das Statistische
Bundesamt jedoch die Ausnahmesituation in den Varianten 1 und 2
methodisch mitberücksichtigt, unterschlägt das IW Köln die
Ausnahmesituation gleich ganz. Damit wird die Bevölkerungsprognose
missbraucht, um den politischen Druck zu erhöhen. Diese
Intention gibt das IW Köln in seiner Pressemitteilung - wie
eingangs zitiert - auch ganz offen zu.
Weltfremde Zahlen
Der
Soziologe Stephan LESSENICH
mit Schwerpunkt Sozialpolitik und der Diskursanalytiker
Reinhard MESSERSCHMIDT, der gerade an einer Dissertation zum
demografischen Diskurs als Dystopie arbeitet, haben kürzlich in
der Süddeutschen Zeitung die 13. koordinierte
Bevölkerungsvorausberechnung als weltfremd charakterisiert.
Die Autoren kritisieren, dass von
dieser Bevölkerungsvorausberechnung "keine Signalwirkung für die
weitere demografische Entwicklung und deren Berechnung ausgeht
oder ausgehen soll". Im Gegensatz zum Statistischen Bundesamt
und erst Recht im Gegensatz zum IW Köln sehen die Autoren in der
gegenwärtigen Zuwanderung keine Ausnahmeerscheinung, sondern
eine grundlegende Änderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Sie fragen
deshalb:
Weltfremde Zahlen
"Soll mit der Fortschreibung der
gemittelten Erfahrungswerte seit der Adenauer-Ära die besorgte
gesellschaftliche Mitte beruhigt werden? Wird hier bereits die Festung
Europa der nächsten Jahrzehnte eingepreist? Oder soll am Ende die
altersstrukturelle Zukunft Deutschlands nicht in helleren Farben
erscheinen, um den
eingeübten demografiepolitischen Dramatisierungen und den
ertragreichen versicherungswirtschaftlichen Geschäftsmodellen nicht
das Wasser abzugraben?"
[mehr]
(Süddeutsche Zeitung vom 06.11.2015) |
Während LESSENICH &
MESSERSCHMIDT also auf die Beeinflussung der Rentenpolitik durch
Bevölkerungsvorausberechnungen abzielen,
macht der Sozialwissenschaftler Christoph BUTTERWEGGE auf
Telepolis darauf aufmerksam, dass ein herbei geschriebener
Fachkräftemangel keineswegs nur auf die Kompensation des
Rückgangs des Erwerbstätigenpotentials abzielt, sondern vielmehr
damit auch ein Angriff auf den Lebensstandard der Arbeitnehmer
verbunden ist:
"Neoliberale missbrauchen die gegenwärtige Zuwanderung"
"Wie die Forderungen nach
Aussetzung des seit Jahresbeginn geltenden Mindestlohns
und nach völliger Aufhebung des Verbots der Leiharbeit für
Asylbewerber sowie Geduldete - kürzlich bereits für
Fachkräfte nach drei Monaten außer Kraft gesetzt -
deutlich zeigen, missbrauchen Neoliberale und
Wirtschaftslobbyisten die gegenwärtige Zuwanderung, um in
der Bevölkerung mehr Akzeptanz für eine Rückkehr zum
unbeschränkten Lohndumping zu schaffen. Leistungskürzungen
für Geflüchtete können als Experimentierfeld für eine
generelle Absenkung des Lebensstandards der arbeitenden
Bevölkerung in Deutschland dienen."
[mehr]
(Christoph Butterwegge im Gespräch mit Reinhard Jellen
auf Telepolis vom 16.11.2015) |
Prognosen,
die einen sich verschärfenden Fachkräftemangel propagieren,
obwohl dieser derzeit und in naher Zukunft gar nicht aufgrund
des demografischen Wandels besteht,
müssen also vor dem Hintergrund des Versuchs einer
weitreichenden gesellschaftlichen Klimaänderung gesehen werden.
Fazit: Bei Bevölkerungsprognosen geht es nicht
um eine hohe Treffsicherheit, sondern um Interessenpolitik
politischer Akteure
Der hier dargestellte
Kampf um die Deutungshoheit über die gegenwärtige Zuwanderung,
zeigt, dass nicht die Treffsicherheit von Prognosen, sondern die
politischen Interessen die Konstruktion von
Bevölkerungsprognosen und damit deren Ergebnis bestimmen.
Müssten Hersteller von Bevölkerungsprognosen die Trefferquote
ihrer bisherigen Berechnungen als Gütekriterium veröffentlichen,
dann würden möglicherweise langfristige Bevölkerungsprognosen
aus der Mode kommen. Ob Szenariotechnik oder stochastische
Prognose - die Treffsicherheit hängt in beiden Fällen von den
verwendeten Annahmen ab. Die Schätzung zukünftiger Zuwanderung
hat sich in der Vergangenheit immer als sehr schwierig erwiesen,
das muss auch das IW Köln zugeben. Ganz abgesehen davon, können
jederzeit noch unvorhergesehene Strukturbrüche beim
Geburtenverhalten eintreten. Die Fortschreibung von 1,4 Kindern
pro Frau bis 2030 oder gar 2060, könnte zukünftig ganz
unerwartet ebenfalls zu einer Verringerung der Treffsicherheit
von Bevölkerungsvorausberechnungen führen.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Dies
ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem
nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend
die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt.
Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard
Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die
Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank
Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster
Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der
Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
Es wird aufgezeigt, dass sich die
nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles
im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die
nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen." |
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