|
"Alterslast" und "Krieg zwischen den Generationen"?
"Der Diskurs über
Generationenbeziehungen kann als ein typisches Beispiel
für einen »Stellvertreterdiskurs« angesehen werden:
Aufgrund der existentiellen und dramatischen Bezüge zur
Demographie eignet sich der Diskurs, um von anderen
Problemen (z.B. der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt)
abzulenken bzw. deren Komplexität auf diesen »Ur-Konflikt«
zwischen den Generationen zu reduzieren."
(1998, S.10)
"Wir vermuten, daß die
Attraktivität der Demographie als statistischer
Wissenschaft darin begründet ist, daß sie in Zeiten von
Unsicherheit scheinbar sicheres Wissen in Form von
Objektivität signalisierenden Zahlen anbietet."
(Andreas
Lange, Bettina Bräuninger, Kurt Lüscher 1998,
S.11) |
Einführung
Im ersten
Teil dieser Serie über die Bevölkerungsentwicklung in
Deutschland haben wir uns mit den Mythen über den
Geburtenrückgang in Vergangenheit und Zukunft beschäftigt
. Im zweiten Teil
wenden wir uns nun der Altenlast zu, denn - so sagen uns die
Experten - die Alten sind uns sicher. Aber wie sicher sind uns
die Alten überhaupt? Und sind es nicht andere Faktoren als die
rein quantitative Zunahme der Alten, die z.B. für die
Finanzprobleme der Sozialversicherung verantwortlich sind?
"Alterslast" und "Krieg zwischen den Generationen"?
"In
das übergreifende Panorama der Gesellschaftsbeschreibungen
reiht sich derzeit die bedrohliche Behauptung ein, es
zeichne sich ein »Krieg der Generationen« ab. So lautet
der Titel eines Artikels im »Focus«: »Jung gegen Alt. Der
neue Krieg ums Geld« (Juni 1996: 192ff.). Zum Artikel
gehört ein Photo, das zeigt, wie ein alter Mann und ein
junger Mann gegeneinander fechten. »Der Spiegel« behandelt
das Thema Rentenversicherung unter der Überschrift »Auf
Kosten der Jungen« (6/1997: 25ff.). Im Fernsehen wird
gefragt »Rentner - abgezockt?« (ZDF, 01.04.1997). Auch der
Sendereihe »Live aus dem Schlachthof« ist der »Krieg der
Generationen« (Bayerischer Rundfunk, 20.03.1997) ein
Streitgespräch wert."
(Andreas Lange, Bettina Bräuninger, Kurt Lüscher 1998, S.4) |
Ende der
1980er und in den 1990er Jahren wurde die Debatte um die
zunehmende Altenlast als Krieg der Generationen
inszeniert, wie der Artikel "Alterslast" und "Krieg zwischen
den Generationen" in der Zeitschrift für
Bevölkerungswissenschaft, Heft 1, S.3-17 aus dem Jahr 1998
eindrucksvoll belegt. Nach der Jahrtausendwende rückten dagegen die
Kinderlosen in den Mittelpunkt.
"Alterslast" und "Krieg zwischen den Generationen"?
"Die jeweilige
Akzentuierung der Argumentation mit demographischen Daten
folgt eigenen Thematisierungslogiken. Im Verlauf der
letzten dreißig Jahre sind sehr heterogene demographische
Sachverhalte in das Zentrum der öffentlichen
Aufmerksamkeit (...) gerückt.
Münz rekonstruiert diese Konjunkturen der demographischen
Beobachtungen (1997:50) anhand der Formel »Vom Volk ohne
Raum zur kinderlosen Gesellschaft« (...).
In den 80er Jahren wurden vor allem die Konsequenzen des
Geburtenrückgangs diskutiert, was sich in Buchtitel
ausdrückt wie z.B. »Sterben wir aus? Die
Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland«
(Heck 1988) oder »Geburtenrückgang besorgniserregend oder
begrüßenswert?« (Olechowski 1980). (...). Beck-Gernsheim
macht darauf aufmerksam, daß der Kinderwunsch im Gefolge
demographischer Warnsignale zum attraktiven Thema für
Wissenschaft und Öffentlichkeit wird,
»und zwar setzt das
neue Interesse in genau den Jahren ein, wo die
Geburtenzahlen drastisch zu fallen beginnen« (1988: 107).
Somit wird deutlich, daß es bestimmte Sachverhalte für
»Themenkarrieren« gibt (...).
Heute hingegen wird der Geburtenrückgang hauptsächlich in
Zusammenhang mit dem Anwachsen der älteren Bevölkerung
problematisiert. Es kursieren Schlagworte wie »Alterslast«
oder »Rentnerschwemme« (das 1996 zum Unwort des Jahres
gekürt wurde) (...)."
(Andreas
Lange, Bettina Bräuninger, Kurt Lüscher 1998,
S.10f.) |
Es gibt
gewisse Themenkonjunkturen, die nicht erst seit den 1970er Jahren in
gewisser Regelmäßigkeit wiederkehren. Und jedes Mal vermarkten
sich die Anheizer der Kampagnen als Tabubrecher.
Deutschland-Thriller
Am 07. März 2005
präsentierte uns Frank SCHIRRMACHER einen Deutschland-Thriller.
Bislang lebten wir Deutschen im Tal der Ahnungslosen, dann kam
der Weckruf. Der FAZ-Feuilletonchef ließ uns in einem
10teiligen Grundkurs Demographie von dem
nationalkonservativen Bevölkerungswissenschaftler Herwig BIRG
über den Geburtenrückgang aufklären. 30 Jahre nach zwölf wäre es
nun.
Deutschland-Thriller
"Wenn
für die Mehrheit einer Demokratie etwas
»zu spät« oder verloren
ist und diese Mehrheit das Unausweichliche der Verspätung
auch begreift, dann wird, wie es nach Kriegen oder großen
Katastrophen zu geschehen pflegt, die individuelle
Biographie von unzähligen Menschen dramatisch politisiert.
In dieser Lage befinden
wir uns bereits. Daß im Augenblick über Kinder plötzlich
wieder biographisch geredet wird, liegt daran, daß der
typische Deutsche heute älter als vierzig ist.
Die Frauen
des Geburtsjahrgangs 1964 - des letzten der Baby-Boomer -,
die bisher keine Kinder bekamen, werden aller
Wahrscheinlichkeit nach auch keine mehr bekommen. Was
einst als privatester aller privaten Entschlüsse galt,
entwickelt sich jetzt vor den fassungslosen Augen der
Beteiligten zu einem Politikum.
Welche Anklagen, welche
Sanktionen warten auf die Kinderlosen? Eine Generation,
die sich mit Friedfertigkeit, Mülltrennung und Dosenpfand
zu den besten Ahnen aller Zeiten machen wollte, spürt
bereits daß sie in den nächsten Jahren aus ganz anderen
Gründen verdammt und im Alter zur Rechenschaft gezogen
werden könnte. Dem biologischen und demographischen
Zu-Spät entspricht der finanzielle Bankrott: Wer unter den
heuten lebenden Deutschen mit vierzig Jahren noch nichts
für seine Rente getan hat - vulgo: wer in den letzten
zwanzig Jahren den Versprechungen des Staates glaubte -,
holt nicht mehr auf." |
Die 1960 - 1980
Geborenen stilisiert Frank SCHIRRMACHER (selber Jahrgang
1959) zur betrogenen
Generation. Die Kinderlosen sollen schuld sein am Niedergang
Deutschlands. Wie
beliebig diese Anschuldigung ist, zeigt die Tatsache, dass
Theodor SCHMIDT-KALER, ein Verfechter der
bevölkerungsdynamischen Rente, im Jahr 1979 noch die 1934 -
1959 Geborenen als Schuldige identifizierte. Fast 25 Jahre
später wird dagegen Susanne GASCHKE die vor 1943 Geborenen
freisprechen
.
Wie sicher sind unsere Renten?
"Sind
die Kinderzahlen bestandserhaltend - das wurde stets
stillschweigend beim Rentenkonzept angenommen! - und
werden die Kinder so ausgebildet, daß sie eine Wirtschaft
hoher Produktivität betreiben können, so ist (...) nur die
Ansammlung eines ausreichenden Kapitals während des
Erwerbslebens nötig, um die Rente zu gewährleisten. Fehlen
jedoch Kinder, so werden im gleiche Maße Erwerbspersonen
fehlen, wenn - 40 Jahre später! - die Renten beansprucht
werden. Diese zusätzliche Last wird nach dem jetzigen
System einfach auf die folgende Generation abgeladen. Die
Generation der heute 20- bis 45jährigen zehrt an der
Substanz des Humankapitals, sie konsumiert ohne
ausreichende Vorleistung für die eigene Alterssicherung."
(Theodor Kaler-Schmidt, Aus Politik und Zeitgeschichte 1979, S.11f.) |
Wer die Schuldigen sind,
ist also sogar unter den Anklägern umstritten. Neue Erkenntnisse
können von heute auf morgen die Schuldfrage in anderer Form
aufwerfen. Ankläger können sich auf einmal selber auf der
Anklagebank wieder finden. Das letzte Wort ist noch lange nicht
gesprochen.
Ein
weiteres beliebtes Vorurteil lautet, dass wegen der NS-Zeit in
Deutschland keine aktive Bevölkerungspolitik betrieben werden
konnte. Diese hätte uns vor dem Geburtenrückgang und seinen
schlimmen Folgen bewahrt. Tatsächlich?
Die Alterspyramide stand Kopf - und keiner
hat es bemerkt?
Der Geburtenrückgang ist
kein Phänomen des Nachkriegsdeutschlands, sondern bereits im
Kaiserreich und der Weimarer Republik wurde den Deutschen ihr
Aussterben prophezeit
. Der Volkswirtschaftler
Ernst KAHN rechnete in seinem Bestseller
Der internationale
Geburtenstreik (1930) vor, dass die Alterspyramide in
Deutschland im Jahr 1975 Kopf stehen wird. Betrachtet
man das nachfolgende Schaubild, so verblüfft die scheinbare
Treffergenauigkeit der Berechnungen von KAHN hinsichtlich des
Altenquotienten, der heutzutage gerne als Indikator für
die Vergreisung angesehen wird und insbesondere die Debatten
um die Finanzierungsprobleme der Renten-, Pflege- und
Krankenversicherung bestimmt.
In der Literatur gibt es
abweichende Definitionen des Altenquotienten. Lediglich,
dass er in irgendeiner Form das Verhältnis der Alten zu den Erwerbsfähigen
widerspiegelt, ist diesen Definitionen gemeinsam. In
der Debatte der letzten Jahre dominierte eine Betrachtung,
wonach sich die Gesamtbelastung der Beitragszahler
(gleichgesetzt mit den 20 - 59jährigen Erwerbsfähigen) zum einen
aus dem Verhältnis zu den unter 20Jährigen (Jugendquotient) und
zum anderen aus dem Verhältnis zu den 60Jährigen und älteren
(Altenquotient) ergibt.
Als
KAHN seine Berechnungen erstellte, sprach man von Greisen und
meinte damit die 65Jährigen und älteren. Wie hoch die Altenlast
also ist, hängt immer auch davon ab, welche Altersgruppen als
nichterwerbsfähig gelten.
Bevölkerungsentwicklung und soziale Sicherung
"Als Indikatoren zur Kennzeichnung der
Altersstrukturentwicklung - vor allem auch in ihrer
wirtschafts- und sozialpolitischen Bedeutung - werden
häufig sogenannte »Belastungsquotienten« herangezogen. Im
Hintergrund steht dabei die Frage, in welchem Umfang
diejenigen, die im erwerbsfähigen Alter stehen, für solche
Personen »aufzukommen« haben, die noch nicht oder nicht
mehr am Erwerbsleben teilnehmen. (...).
Für die Berechnung der Quotienten ist von
herausragender Bedeutung, wie das erwerbsfähige Alter
abgegrenzt wird, also welches die untere und die obere
Altersbegrenzung für die Erwerbsfähigkeitsphase ist."
(Winfried Schmähl, 1986, S.176f.)
|
Den
obigen Altenquotienten hat KAHN nicht selber berechnet, sondern
er ist eine Rekonstruktion aus seinen Angaben zur Entwicklung
der Altersgruppen, die KAHN - im Gegensatz zur heutigen gängigen
Praxis - übersichtlich in einer Tabelle aufgelistet hat.
Heutige
Vorausberechnungen zeichnen sich meist durch Intransparenz aus.
Nicht selten werden grundlegende Annahmen in unübersichtlichen
Texten versteckt oder gar nicht erwähnt. Wenn
Wissenschaftlichkeit Überprüfbarkeit bedeutet, dann ist es um
die Wissenschaftlichkeit von Bevölkerungsvorausberechnungen
schlecht bestellt.
Was
sagt uns das obige Schaubild? Zum einen hat sich gemäß KAHN der
Altenquotient in der heutigen Bedeutung zwischen 1930 und 1965
verdoppelt und würde dann rasant zunehmen. Würde das Schaubild
nur bis 1970 reichen, dann hätte man KAHN sozusagen als
Propheten bezeichnen müssen. Solche und ähnliche Kurven wurden
uns in den letzten Jahrzehnten immer wieder für die fernere
Zukunft bis zum Jahr 2000, nach der Jahrtausendwende, nach 2010, nach 2020, nach
2030 usw. usf. vorausberechnet.
Was
manchen verblüffen mag. An der Vorausberechnung von KAHN bis zum
Jahr 1970 ist - außer dem Altenquotienten - so gut wie nichts
eingetroffen. Die Realität eines Weltkrieges und eines
"Babybooms" haben alle Annahmen KAHNs widerlegt. Und wie gesagt
- mit einem solchen Altenquotienten hätte KAHN selber nie
gerechnet, weil er der damaligen Gesellschaft nicht angemessen
war. So ist also auch die Treffsicherheit hinsichtlich des
Altenquotienten nur ein Märchen. Ein Märchen, das uns - wie jene
obige Geschichte von SCHIRRMACHER - auf den ersten Blick
plausibel erscheint. Bei näherer Betrachtung löst sich dann der
Spuk im Nichts auf. Es
wäre jedoch zu einfach, die Debatte der vergangenen Jahrzehnte
als reine Hirngespinste abzutun. Deshalb soll in dieser Serie näher
hingeschaut werden. Was ist wirklich dran?
"Die Alten sind uns sicher"
Zum Problem der langfristigen Alterssicherung
"Aussagen
der 5. Koordinierten Bevölkerungsvorausschätzung aus dem
Jahre 1975
- über die Entwicklungen der Bevölkerung im Alter von 60
und mehr Jahren bis über das Jahr 2030 hinaus - soweit es
die Sterblichkeitsannahmen betrifft - (können und
müssen) als der »sicherste« Teil der einschlägigen
Prognosen angesehen werden".
(Bert Rürup, Aus Politik und Zeitgeschichte, 1979, S.26)
Bevölkerungsentwicklung und soziale Sicherung
"Im Vergleich zum Jugendquotienten dürfte die
Vorausberechnung des Altenquotienten weitaus verläßlicher
sein. Wenn sich die Sterblichkeitsverhältnisse nicht
erheblich verändern, so ist (läßt man exogene Ereignisse,
wie Kriege, außer Betracht) mit großer Verläßlichkeit
vorauszusagen, wie hoch die Zahl der älteren
Bevölkerungsmitglieder sein wird, da diejenigen, die im
Jahr 2030 60 Jahre und älter sein werden, ja z.B. 1980
bereits geboren waren".
(Winfried Schmähl, 1986, S.177) |
Die Anzahl der Alten ist
nach Meinung der Befürworter von Bevölkerungsvorausberechnungen
unter allen Aspekten der demografischen Entwicklung am
sichersten vorauszusagen. Da
es sich hier um das zentrale Argument handelt, wird sich der
nächste Teil dieser Serie nur diesem einen Aspekt widmen. Wir
werden fragen, inwieweit die Bevölkerungsvorausberechnungen die
Anzahl der Alten richtig vorausgeschätzt hat.
"Altenlast" ist nicht gleich "Rentnerlast"
Winfried SCHMÄHL hat in
einer Übersicht die Unterschiede zwischen dem Alten-Quotienten
("Altenlast") und der Rentenlast dargestellt, die sich durch
einen Rentner-Quotienten erfassen lässt.
Übersicht:
Alten- und Rentnerquotient im Vergleich |
|
Alten-Quotient |
Rentner-Quotient |
Unterschied u.a. bedingt durch |
Zähler |
Zahl alter
Menschen (Personen im Alter von (z.B.) 60 Jahren und
mehr |
Zahl der
Rentenempfänger (in der gesetzlichen
Rentenversicherung) |
"Rentnerdichte" der Altersjahrgänge (d.h. relative
Häufigkeit der Rentner pro Altersjahrgang; abhängig
u.a. von veränderter Erwerbsbeteiligung und
Ausweitung des versicherten Personenkreises |
Nenner |
Zahl der
Personen im erwerbsfähigen Alter (z.B. zwischen dem
18. und dem 60. Lebensjahr) |
Zahl der
(Pflicht-) Versicherten (in der gesetzlichen
Rentenversicherung |
Erwerbsquote
Arbeitslosenquote
Beschäftigungsstruktur
(Abgrenzung des Kreises der Versicherten; Anteil der
Beamten und Selbständigen an allen Beschäftigten)
Erwerbsleben
Durchschnittsalter bei Ausscheiden aus dem
Erwerbsleben
(Altersgrenzen; Invaliditätshäufigkeit) |
|
Quelle: Winfried Schmähl
"Bevölkerungsentwicklung und soziale Sicherung"1986, S.194
|
Im Gegensatz zum
Altenquotienten (Verhältnis der Alten zu den Erwerbsfähigen)
bezieht sich der Rentnerquotient auf das Verhältnis der
Rentenempfänger zu den Beitragszahlern.
Der Rentnerquotient kann aufgrund von
Massenarbeitslosigkeit, Frühverrentungspraxis, Abnahme oder
Zunahme der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung vom
Altenquotient abweichen. Das Verhältnis kann sowohl günstiger
als auch schlechter sein. Der Rentnerquotient berücksichtigt
somit nicht nur den demografischen Wandel, sondern auch
nicht-demografische Faktoren. Wenn wir etwas über die zukünftige
Finanzierbarkeit unserer Renten erfahren wollen, dann reicht es
nicht aus, die Altenlast zu bestimmen (siehe hierzu auch
Christian MARSCHALLEKs Artikel
Die "schlichte Notwendigkeit" privater Altersvorsorge. Zur
Wissenssoziologie der deutschen Rentenpolitik in der
Zeitschrift für Soziologie, Heft 4, August, S.285-302). Dieser Aspekt soll hier nur erwähnt,
aber erst in einem späteren Teil der Serie
wieder aufgegriffen werden.
Männer und Frauen tragen in
unterschiedlichem Maße zur Altenlast bei
Winfried SCHMÄHL hat
darauf hingewiesen, dass der geschlechtsunspezifische
Altenquotient verschleiert, dass der "geschlechtsspezifische"
Altenquotient der Frauen, also das Verhältnis der älteren Frauen
zu den Frauen im erwerbsfähigen Alter, beträchtlich über dem der
Männer liegt. Hier existiert eine Konfliktlinie, die bislang
meist nur unterschwellig die Debatten bestimmt. Selbst hart
gesottene Anti-Feministen haben dieses Thema noch nicht explizit
auf die politische Agenda gesetzt. Dies ist jedoch nur die eine
Seite der Medaille. Die
Altenlast ist immer nur im Verhältnis zu den Erwerbsfähigen
aussagekräftig. Dies bedeutet, dass eine falsche Einschätzung
des Erwerbsfähigenpotential auch Auswirkungen auf die
Altenlast hat.
In seinem Beitrag
Demographie, Arbeitsangebot und die Systeme
der sozialen Sicherung aus dem Jahr 1996 hat Axel H.
BÖRSCH-SUPAN die Vorausschätzungen zur Entwicklung der
Erwerbsfähigen unter die Lupe genommen. Er hat eine deutliche
Unterschätzung des Arbeitskräftepotentials in den älteren
Vorausschätzungen ausfindig gemacht. Zwei Gründe nennt BÖRSCH-SUPAN: zum einen die kontinuierliche Unterschätzung der
Einwanderung und zum anderen die Unterschätzung der
Frauenerwerbsquote.
Eine
Debatte, die einseitig nur die Altenlast in Verbindung mit den
Problemen der Sozialversicherung bringt, übersieht, dass auch
die Entwicklung der Erwerbsfähigen keineswegs nur durch die
Quantität bestimmt wird, sondern auch hier können sich
unabhängig von der Altersstruktur Verschiebungen im
Erwerbspersonenpotential ergeben. Rentenreformen können
nicht unabhängig vom Arbeitsmarkt betrachtet werden. Sie haben
Rückwirkungen, die nicht vernachlässigt werden können. Die
Erhöhung des Erwerbsfähigenpotential kann auf unterschiedliche
Weise erreicht werden. Denkbar ist eine Steigerung der
Erwerbsquote von Müttern. Hierauf zielt die Vereinbarkeit von
Beruf und Familie ab. Denkbar ist aber auch eine Erhöhung der
Zuwanderung und eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit. Die Abnahme
der Erwerbsfähigen ist also weit weniger von der
Bevölkerungsentwicklung an sich abhängig, sondern vor allem
von der Erschließung bislang ungenutzter Reserven.
Die Gesellschaft der Langlebigen im
Vergleich
Auf dieser Website wird
der Begriff Gesellschaft der Langlebigen bevorzugt, weil
er im Gegensatz zu Begriffen wie "alternde", "überaltete" oder
gar "vergreisende" Gesellschaft wertneutral ist
. Langlebigkeit
kann damit als eigenständiges Phänomen behandelt werden, statt
wie in der bevölkerungspolitischen Debatte als relationales
Phänomen, das quasireligiös in eine natürliche
Bevölkerungsbewegung eingebettet ist, als ob alle anderen
Zusammenhänge künstlich wären. Hat
man sich das vor Augen geführt, dann müsste klar sein, dass der Vergleich der Altenlast verschiedener Länder nur ein
Aspekt unter vielen ist. Da das Ranking jedoch - wie sinnvoll
auch immer - äußerst beliebt ist, kann es hier auch nicht
ausgeklammert werden, zumal der Vergleich zeigt, dass andere
Länder vergleichbare Altenquotienten aufweisen.
Bevölkerungsentwicklung und soziale Sicherung
"Der Vergleich z.B. zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und Japan zeigt interessante Gemeinsamkeiten
und Unterschiede: Während gegenwärtig AQ (Anm.d.Verf.:
Altersquotient) in Japan noch deutlich unter dem Wert für
die Bundesrepublik liegt, werden in etwa 30 Jahren beide
Länder etwa gleich hohe Relationen aufweisen. Folglich ist
die Steigerungsrate für Japan deutlich höher. Von den
industrialisierten Ländern weist Japan die weitaus
stärkste Veränderung des Altenquotienten auf.
(...).
Die Bundesrepublik Deutschland liegt hinsichtlich der
Zunahme von AQ im europäischen Durchschnitt, während die
absoluten Werte allerdings überdurchschnittlich hoch sind.
Sowohl ein stärkerer Anstieg als in der Bundesrepublik als
auch im Endjahr der Vorausberechnung ein höheres Niveau
des Altenquotienten weisen in Europa lediglich Finnland,
Luxemburg und die Schweiz auf."
(Winfried Schmähl, 1986, S.181f.) |
Hier soll dies
exemplarisch am Fall Japan aufgezeigt werden. Japan galt in
Deutschland einst als Musterknabe. Die Entwicklung des
Altenquotienten in Japan wurde hierzulande jedoch lange unterschätzt. Das
nachfolgende Schaubild zeigt, dass z.B. Winfried SCHMÄHL im Jahr 1986 die Entwicklung des Altenquotienten
noch deutlich unterschätzt hat.
Im Jahr 2005 betrug der
Altenquotient in Japan bereits 30,0. Dieser Wert liegt kaum
niedriger als der von SCHMÄHL für das Jahr 2025 geschätzte AQ
von 31,7. Florian COULMAS gibt in seinem Buch
Die
Gesellschaft Japans (2007) für das Jahr 2040 eine Schätzung
von 59,6 an. Das wäre fast eine Verdopplung innerhalb der
nächsten 35 Jahre und dies vor dem Hintergrund, dass sich der
Altenquotient bereits von 1985 bis 2005 verdoppelt hat.
Deutschland steht mit seinem Anstieg des Altersquotienten also
keineswegs allein.
Was hat die Generationenforschung zum Thema
zu sagen?
"Alterslast" und "Krieg zwischen den Generationen"?
"Durch die Verminderung
der Zahl der Geborenen und die als reale Möglichkeit sich
abzeichnende Polarisierung zwischen Eltern und gewollt
Kinderloser (Strohmeier 1991; Höhn/Dobritz 1995) ist die
ungebrochene Kontinuität und Selbstverständlichkeit
familialer Generationen zu einem Thema geworden. Die
verlängerte Lebenszeit (Imhof 1981) stellt überdies die
Schaffung familialer Kohärenz vor größere Aufgaben als
früher (Lauterbach 1995). Dasselbe gilt sinngemäß für den
(...) angestrebten Wandel im gegenseitigen Verhältnis der
Geschlechter.
Man kann darum die These vertreten, die
»Gesellschaftsdynamik« sei faktisch in die Familien
eingedrungen und das habe dazu beigetragen, sie zu einem
Teil der alltäglichen Erfahrung und des alltäglichen Bewußtseins vieler Menschen zu machen. (...).
Doch mit der
Familie ist gewissermaßen das letzte Refugium
tatsächlicher oder vermeintlicher Stabilität und
Solidarität aufgebrochen, gewissermaßen zur Disposition
gestellt worden. Das bedeutet, nach außen gewandt, daß der
gesellschaftliche Zusammenhalt, damit aber auch die
stetige Weitergabe des kulturellen und sozialen Erbes
zwischen den Generationen tatsächlich bedroht scheint.
Zieht man diese Sachverhalte in die Betrachtung mit ein,
dann verweist die Redeweise vom Krieg der Generationen auf
radikale Zweifel an der ungebrochen und kontinuierlich
fortschreitenden Entwicklung (...).
Die Metapher des Krieges schließt die Möglichkeit eines
»Endes der Geschichte« ein - eines vollständigen Bruchs
mit gesellschaftlicher Weiterentwicklung also.
(...).
Die dominanten Strömungen der sozialwissenschaftlichen
Generationenforschung stehen demgegenüber nach wie vor auf
dem festen Boden der Modernisierungstheorien."
[mehr]
(Andreas Lange, Bettina Bräuninger, Kurt Lüscher 1998,
S.13) |
Die Generationenforschung
hat seit den 1990er Jahren aus verschiedenen Gründen Konjunktur
. Im Vordergrund der
Mediendebatte standen bislang jedoch die politischen
Generationen, während das gewandelte Generationenverhältnis
innerhalb der Familie nur langsam an Bedeutung gewinnt.
Erst
die Debatte um die Erbengeneration hat ans Licht
gebracht, dass es neben dem öffentlichen "Generationenvertrag"
der Rentenversicherung auch einen privaten Generationenvertrag
gibt. Abseits öffentlicher Transferzahlungen werden Gelder
zwischen den Generationen umverteilt, die das
Generationenverhältnis entscheidend mitprägen. Wird dieser
Aspekt ausgeklammert, so erhalten wir ein schiefes Bild
. Es
zeigt sich, dass die Herkunft die Chancen in Deutschland - wie
kaum in einem anderen Land - bestimmt. Mit der viel gepriesenen
Wahlfreiheit scheint es weit weniger her zu sein, als es die
vollmundige Individualisierungsthese behauptet. Ist
die Familie tatsächlich in der Krise? Oder verdeckt das
Krisengerede nur, dass es ganz bestimmten sozialen Gruppen sind,
die von der gesellschaftlichen Entwicklung abgekoppelt werden?
Die
Generationenforschung könnte die Debatte um die
Modernisierungsgewinner und -verlierer bereichern. Diesem Aspekt
wird deshalb ein eigener Teil dieser Serie gewidmet.
Die Entwicklung der Altenlast in
Vorausberechnungen und der tatsächliche Verlauf
Es gibt inzwischen 12
koordinierte Bevölkerungsvorausberechnungen, die sich danach
unterscheiden lassen, in welchem Basisjahr und damit mit welchen
Annahmen aufgrund der damals vorherrschenden
Geburtenentwicklung, Lebenserwartung und Wanderungen gerechnet
wurde.
Tabelle: Vergleich der tatsächlichen
Bevölkerungsentwicklung mit gesamtdeutschen
Bevölkerungsvorausberechnungen |
|
Tatsächliche Bevölkerungsentwicklung gemäß Zensus 2011 |
Altenquotient
(60Jährige und ältere je 100 20 bis unter 60 Jährige |
Jahr |
Bevölkerungs-zahl |
unter 20 Jahre (in
%) |
20 - 60 Jahre (in
%) |
über 60 Jahre (in
%) |
über 80 Jahre (in
%) |
tat-säch-lich |
7.
BV |
8.
BV |
9.
BV |
10.
BV |
1990 |
79
753 227 |
21,7 |
57,9 |
20,4 |
3,8 |
35,2 |
35,2 |
|
|
|
1995 |
81
817 499 |
21,5 |
57,5 |
21,0 |
4,0 |
36,6 |
|
|
|
|
2000 |
82
259 540 |
21,1 |
55,3 |
23,6 |
3,8 |
42,7 |
42,8 |
41,4 |
|
|
2005 |
82
437 995 |
20,0 |
55,0 |
25,0 |
4,5 |
45,2 |
|
|
|
|
2010 |
81
751 602 |
18,4 |
55,3 |
26,3 |
5,3 |
47,6 |
46,6 |
44,1 |
46,1 |
46,0 |
2015 |
82
175 684 |
18,3 |
54,4 |
27,4 |
5,8 |
50,4 |
|
|
|
|
2020 |
|
|
|
|
|
|
55,1 |
51,7 |
54,1 |
54,8 |
2030 |
|
|
|
|
|
|
72,7 |
67,8 |
70,7 |
70,9 |
|
Anmerkungen:
Tatsächliche Bevölkerungsentwicklung (Quelle:
Statistisches Bundesamt Bevölkerung nach Altersgruppen
Deutschland unter:
https://www.destatis.de
abgerufen am 16.02.2014 für die Jahre 1990 bis 2014; 2015
abgerufen am 11.12.2016; eigene Berechnungen)
7. BV = 7.
koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung aus dem Jahr
1992, Basisjahr 1989; Quelle: Wirtschaft und Statistik,
Heft 4, 1992, S.220;
8. BV = 8. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung aus
dem Jahr 1992, Basisjahr 1992, mittlere Variante 2;
Quelle: Wirtschaft und Statistik, Heft 7, 1994, S.501;
9. BV = 9. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung aus
dem Jahr 2001, Basisjahr 1997, mittlere Variante 2;
Quelle: Wirtschaft und Statistik, Heft 1, 2001, S.25;
10. BV = 10. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung aus
dem Jahr 2003, Basisjahr 2001, mittlere Variante 5;
Quelle: Wirtschaft und Statistik, Heft 8, 2003, S.697; |
Der Altenquotient wurde
für die über 60Jährigen berechnet, weil das in der Vergangenheit
der übliche Altenquotient war. Angesichts der Tatsache, dass
inzwischen die Rente mit 67 Standard ist, müsste der
Altenquotient also für die über 67Jährigen berechnet werden.
Dazu liegen jedoch noch keine Daten auf Grundlage des Zensus
2011 vor. Der Vergleich dient vor allem dazu die Horrorszenarien
der Vergangenheit mit der tatsächlichen Entwicklung einerseits
der Erwerbstätigen und andererseits der Beitragszahler und
Rentner in der Rentenversicherung zu vergleichen. Dies wird in
einer späteren Abhandlung erfolgen.
Fazit: Die Debatte um die Altenlast ist zu
oberflächlich, wenn es um die Finanzierbarkeit des
Sozialversicherungssystems geht
Die Debatte um die
Altenlast ist durch spezifische Kurzsichtigkeiten geprägt.
Bestimmte Themenkonjunkturen lenken die Aufmerksamkeit auf eng
umgrenzte Probleme, während die Gesamtheit des
Gesellschaftssystems aus dem Blick gerät. Im
zweiten Teil dieser Serie wurden die Leerstellen der Debatte
aufgezeigt. Im historischen Vergleich zeigt sich, dass es
keineswegs so ist, dass einzig die in den 1960er Jahren
Geborenen an der Misere der Sozialsysteme schuld sind. Im
internationalen Vergleich zeigt sich, dass steigende
Altenlasten kein spezifisch deutsches Phänomen sind. Es
stellt sich auch die Frage, ob die Debatte um die Altenlast
nicht andere Konflikte verdecken soll, nämlich die
auseinanderklaffende Schere der Einkommen. Ist nicht die
Rückkehr der Klassengesellschaft das dringendere Problem?
Ist es nicht erst die Ausdehnung des Niedriglohnsektors und die
Zunahme der Working Poor, die Altersarmut für die jüngere
Generation wahrscheinlich werden lässt? Dann hätten wir es bei
der Debatte um die steigende Altenlast zum großen Teil mit
einer Demografisierung sozialer Probleme zu tun. Im Buch Die
Single-Lüge wird dieser Aspekt ausführlich behandelt.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Dies
ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem
nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend
die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt.
Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard
Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die
Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank
Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster
Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der
Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
Es wird aufgezeigt, dass sich die
nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles
im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die
nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen." |
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