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Frühjahrsthema

 
       
   

Die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland

 
       
   

Teil 2: Mythen und Fakten über die "Altenlast"

 
       
     
   
     
 

"Alterslast" und "Krieg zwischen den Generationen"?

"Der Diskurs über Generationenbeziehungen kann als ein typisches Beispiel für einen »Stellvertreterdiskurs« angesehen werden: Aufgrund der existentiellen und dramatischen Bezüge zur Demographie eignet sich der Diskurs, um von anderen Problemen (z.B. der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt) abzulenken bzw. deren Komplexität auf diesen »Ur-Konflikt« zwischen den Generationen zu reduzieren."
(1998, S.10)

"Wir vermuten, daß die Attraktivität der Demographie als statistischer Wissenschaft darin begründet ist, daß sie in Zeiten von Unsicherheit scheinbar sicheres Wissen in Form von Objektivität signalisierenden Zahlen anbietet."
(Andreas Lange, Bettina Bräuninger, Kurt Lüscher 1998, S.11)

Einführung

Im ersten Teil dieser Serie über die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland haben wir uns mit den Mythen über den Geburtenrückgang in Vergangenheit und Zukunft beschäftigt . Im zweiten Teil wenden wir uns nun der Altenlast zu, denn - so sagen uns die Experten - die Alten sind uns sicher. Aber wie sicher sind uns die Alten überhaupt? Und sind es nicht andere Faktoren als die rein quantitative Zunahme der Alten, die z.B. für die Finanzprobleme der Sozialversicherung verantwortlich sind?

"Alterslast" und "Krieg zwischen den Generationen"?

"In das übergreifende Panorama der Gesellschaftsbeschreibungen reiht sich derzeit die bedrohliche Behauptung ein, es zeichne sich ein »Krieg der Generationen« ab. So lautet der Titel eines Artikels im »Focus«: »Jung gegen Alt. Der neue Krieg ums Geld« (Juni 1996: 192ff.). Zum Artikel gehört ein Photo, das zeigt, wie ein alter Mann und ein junger Mann gegeneinander fechten. »Der Spiegel« behandelt das Thema Rentenversicherung unter der Überschrift »Auf Kosten der Jungen« (6/1997: 25ff.). Im Fernsehen wird gefragt »Rentner - abgezockt?« (ZDF, 01.04.1997). Auch der Sendereihe »Live aus dem Schlachthof« ist der »Krieg der Generationen« (Bayerischer Rundfunk, 20.03.1997) ein Streitgespräch wert."
(Andreas Lange, Bettina Bräuninger, Kurt Lüscher 1998, S.4)

Ende der 1980er und in den 1990er Jahren wurde die Debatte um die zunehmende Altenlast als Krieg der Generationen inszeniert, wie der Artikel "Alterslast" und "Krieg zwischen den Generationen" in der Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, Heft 1, S.3-17 aus dem Jahr 1998 eindrucksvoll belegt. Nach der Jahrtausendwende rückten dagegen die Kinderlosen in den Mittelpunkt.

"Alterslast" und "Krieg zwischen den Generationen"?

"Die jeweilige Akzentuierung der Argumentation mit demographischen Daten folgt eigenen Thematisierungslogiken. Im Verlauf der letzten dreißig Jahre sind sehr heterogene demographische Sachverhalte in das Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit (...) gerückt.
Münz rekonstruiert diese Konjunkturen der demographischen Beobachtungen (1997:50) anhand der Formel »Vom Volk ohne Raum zur kinderlosen Gesellschaft« (...).

          
In den 80er Jahren wurden vor allem die Konsequenzen des Geburtenrückgangs diskutiert, was sich in Buchtitel ausdrückt wie z.B. »Sterben wir aus? Die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland« (Heck 1988) oder »Geburtenrückgang besorgniserregend oder begrüßenswert?« (Olechowski 1980). (...). Beck-Gernsheim macht darauf aufmerksam, daß der Kinderwunsch im Gefolge demographischer Warnsignale zum attraktiven Thema für Wissenschaft und Öffentlichkeit wird, »und zwar setzt das neue Interesse in genau den Jahren ein, wo die Geburtenzahlen drastisch zu fallen beginnen« (1988: 107). Somit wird deutlich, daß es bestimmte Sachverhalte für »Themenkarrieren« gibt (...).
          
Heute hingegen wird der Geburtenrückgang hauptsächlich in Zusammenhang mit dem Anwachsen der älteren Bevölkerung problematisiert. Es kursieren Schlagworte wie »Alterslast« oder »Rentnerschwemme« (das 1996 zum Unwort des Jahres gekürt wurde) (...)."
(Andreas Lange, Bettina Bräuninger, Kurt Lüscher 1998, S.10f.)

Es gibt gewisse Themenkonjunkturen, die nicht erst seit den 1970er Jahren in gewisser Regelmäßigkeit wiederkehren. Und jedes Mal vermarkten sich die Anheizer der Kampagnen als Tabubrecher. 

Deutschland-Thriller

Am 07. März 2005 präsentierte uns Frank SCHIRRMACHER einen Deutschland-Thriller. Bislang lebten wir Deutschen im Tal der Ahnungslosen, dann kam der Weckruf. Der FAZ-Feuilletonchef ließ uns in einem 10teiligen Grundkurs Demographie von dem nationalkonservativen Bevölkerungswissenschaftler Herwig BIRG über den Geburtenrückgang aufklären. 30 Jahre nach zwölf wäre es nun.

Deutschland-Thriller

"Wenn für die Mehrheit einer Demokratie etwas »zu spät« oder verloren ist und diese Mehrheit das Unausweichliche der Verspätung auch begreift, dann wird, wie es nach Kriegen oder großen Katastrophen zu geschehen pflegt, die individuelle Biographie von unzähligen Menschen dramatisch politisiert.

In dieser Lage befinden wir uns bereits. Daß im Augenblick über Kinder plötzlich wieder biographisch geredet wird, liegt daran, daß der typische Deutsche heute älter als vierzig ist. Die Frauen des Geburtsjahrgangs 1964 - des letzten der Baby-Boomer -, die bisher keine Kinder bekamen, werden aller Wahrscheinlichkeit nach auch keine mehr bekommen. Was einst als privatester aller privaten Entschlüsse galt, entwickelt sich jetzt vor den fassungslosen Augen der Beteiligten zu einem Politikum.

Welche Anklagen, welche Sanktionen warten auf die Kinderlosen? Eine Generation, die sich mit Friedfertigkeit, Mülltrennung und Dosenpfand zu den besten Ahnen aller Zeiten machen wollte, spürt bereits daß sie in den nächsten Jahren aus ganz anderen Gründen verdammt und im Alter zur Rechenschaft gezogen werden könnte. Dem biologischen und demographischen Zu-Spät entspricht der finanzielle Bankrott: Wer unter den heuten lebenden Deutschen mit vierzig Jahren noch nichts für seine Rente getan hat - vulgo: wer in den letzten zwanzig Jahren den Versprechungen des Staates glaubte -, holt nicht mehr auf."

Die 1960 - 1980 Geborenen stilisiert Frank SCHIRRMACHER (selber Jahrgang 1959) zur betrogenen Generation. Die Kinderlosen sollen schuld sein am Niedergang Deutschlands.  Wie beliebig diese Anschuldigung ist, zeigt die Tatsache, dass Theodor SCHMIDT-KALER, ein Verfechter der bevölkerungsdynamischen Rente, im Jahr 1979 noch die 1934 - 1959 Geborenen als Schuldige identifizierte. Fast 25 Jahre später wird dagegen Susanne GASCHKE die vor 1943 Geborenen freisprechen

Wie sicher sind unsere Renten?

"Sind die Kinderzahlen bestandserhaltend - das wurde stets stillschweigend beim Rentenkonzept angenommen! - und werden die Kinder so ausgebildet, daß sie eine Wirtschaft hoher Produktivität betreiben können, so ist (...) nur die Ansammlung eines ausreichenden Kapitals während des Erwerbslebens nötig, um die Rente zu gewährleisten. Fehlen jedoch Kinder, so werden im gleiche Maße Erwerbspersonen fehlen, wenn - 40 Jahre später! - die Renten beansprucht werden. Diese zusätzliche Last wird nach dem jetzigen System einfach auf die folgende Generation abgeladen. Die Generation der heute 20- bis 45jährigen zehrt an der Substanz des Humankapitals, sie konsumiert ohne ausreichende Vorleistung für die eigene Alterssicherung."
(Theodor Kaler-Schmidt, Aus Politik und Zeitgeschichte 1979, S.11f.)

Wer die Schuldigen sind, ist also sogar unter den Anklägern umstritten. Neue Erkenntnisse können von heute auf morgen die Schuldfrage in anderer Form aufwerfen. Ankläger können sich auf einmal selber auf der Anklagebank wieder finden. Das letzte Wort ist noch lange nicht gesprochen. Ein weiteres beliebtes Vorurteil lautet, dass wegen der NS-Zeit in Deutschland keine aktive Bevölkerungspolitik betrieben werden konnte. Diese hätte uns vor dem Geburtenrückgang und seinen schlimmen Folgen bewahrt. Tatsächlich?

Die Alterspyramide stand Kopf - und keiner hat es bemerkt?

Der Geburtenrückgang ist kein Phänomen des Nachkriegsdeutschlands, sondern bereits im Kaiserreich und der Weimarer Republik wurde den Deutschen ihr Aussterben prophezeit . Der Volkswirtschaftler Ernst KAHN rechnete in seinem Bestseller Der internationale Geburtenstreik (1930) vor, dass die Alterspyramide in Deutschland im Jahr 1975 Kopf stehen wird. Betrachtet man das nachfolgende Schaubild, so verblüfft die scheinbare Treffergenauigkeit der Berechnungen von KAHN hinsichtlich des Altenquotienten, der heutzutage gerne als Indikator für die Vergreisung angesehen wird und insbesondere die Debatten um die Finanzierungsprobleme der Renten-, Pflege- und Krankenversicherung bestimmt.  

 
 

In der Literatur gibt es abweichende Definitionen des Altenquotienten. Lediglich, dass er in irgendeiner Form das Verhältnis der Alten zu den Erwerbsfähigen widerspiegelt, ist diesen Definitionen gemeinsam. In der Debatte der letzten Jahre dominierte eine Betrachtung, wonach sich die Gesamtbelastung der Beitragszahler (gleichgesetzt mit den 20 - 59jährigen Erwerbsfähigen) zum einen aus dem Verhältnis zu den unter 20Jährigen (Jugendquotient) und zum anderen aus dem Verhältnis zu den 60Jährigen und älteren (Altenquotient) ergibt. Als KAHN seine Berechnungen erstellte, sprach man von Greisen und meinte damit die 65Jährigen und älteren. Wie hoch die Altenlast also ist, hängt immer auch davon ab, welche Altersgruppen als nichterwerbsfähig gelten.

Bevölkerungsentwicklung und soziale Sicherung

"Als Indikatoren zur Kennzeichnung der Altersstrukturentwicklung - vor allem auch in ihrer wirtschafts- und sozialpolitischen Bedeutung - werden häufig sogenannte »Belastungsquotienten« herangezogen. Im Hintergrund steht dabei die Frage, in welchem Umfang diejenigen, die im erwerbsfähigen Alter stehen, für solche Personen »aufzukommen« haben, die noch nicht oder nicht mehr am Erwerbsleben teilnehmen. (...).
          
Für die Berechnung der Quotienten  ist von herausragender Bedeutung, wie das erwerbsfähige Alter abgegrenzt wird, also welches die untere und die obere Altersbegrenzung für die Erwerbsfähigkeitsphase ist."
(Winfried Schmähl, 1986, S.176f.)

Den obigen Altenquotienten hat KAHN nicht selber berechnet, sondern er ist eine Rekonstruktion aus seinen Angaben zur Entwicklung der Altersgruppen, die KAHN - im Gegensatz zur heutigen gängigen Praxis - übersichtlich in einer Tabelle aufgelistet hat.

Heutige Vorausberechnungen zeichnen sich meist durch Intransparenz aus. Nicht selten werden grundlegende Annahmen in unübersichtlichen Texten versteckt oder gar nicht erwähnt. Wenn Wissenschaftlichkeit Überprüfbarkeit bedeutet, dann ist es um die Wissenschaftlichkeit von Bevölkerungsvorausberechnungen schlecht bestellt.

Was sagt uns das obige Schaubild? Zum einen hat sich gemäß KAHN der Altenquotient in der heutigen Bedeutung zwischen 1930 und 1965 verdoppelt und würde dann rasant zunehmen. Würde das Schaubild nur bis 1970 reichen, dann hätte man KAHN sozusagen als Propheten bezeichnen müssen. Solche und ähnliche Kurven wurden uns in den letzten Jahrzehnten immer wieder für die fernere Zukunft bis zum Jahr 2000, nach der Jahrtausendwende, nach 2010, nach 2020, nach 2030 usw. usf. vorausberechnet.

Was manchen verblüffen mag. An der Vorausberechnung von KAHN bis zum Jahr 1970 ist - außer dem Altenquotienten - so gut wie nichts eingetroffen. Die Realität eines Weltkrieges und eines "Babybooms" haben alle Annahmen KAHNs widerlegt. Und wie gesagt - mit einem solchen Altenquotienten hätte KAHN selber nie gerechnet, weil er der damaligen Gesellschaft nicht angemessen war. So ist also auch die Treffsicherheit hinsichtlich des Altenquotienten nur ein Märchen. Ein Märchen, das uns - wie jene obige Geschichte von SCHIRRMACHER - auf den ersten Blick plausibel erscheint. Bei näherer Betrachtung löst sich dann der Spuk im Nichts auf. Es wäre jedoch zu einfach, die Debatte der vergangenen Jahrzehnte als reine Hirngespinste abzutun. Deshalb soll in dieser Serie näher hingeschaut werden. Was ist wirklich dran?

"Die Alten sind uns sicher"

Zum Problem der langfristigen Alterssicherung

"Aussagen der 5. Koordinierten Bevölkerungsvorausschätzung aus dem Jahre 1975
- über die Entwicklungen der Bevölkerung im Alter von 60 und mehr Jahren bis über das Jahr 2030 hinaus - soweit es die Sterblichkeitsannahmen betrifft -  (können und müssen) als der »sicherste« Teil der einschlägigen Prognosen angesehen werden".
(Bert Rürup, Aus Politik und Zeitgeschichte, 1979, S.26)

Bevölkerungsentwicklung und soziale Sicherung

"Im Vergleich zum Jugendquotienten dürfte die Vorausberechnung des Altenquotienten weitaus verläßlicher sein. Wenn sich die Sterblichkeitsverhältnisse nicht erheblich verändern, so ist (läßt man exogene Ereignisse, wie Kriege, außer Betracht) mit großer Verläßlichkeit vorauszusagen, wie hoch die Zahl der älteren Bevölkerungsmitglieder sein wird, da diejenigen, die im Jahr 2030 60 Jahre und älter sein werden, ja z.B. 1980 bereits geboren waren".
(Winfried Schmähl, 1986, S.177)

Die Anzahl der Alten ist nach Meinung der Befürworter von Bevölkerungsvorausberechnungen unter allen Aspekten der demografischen Entwicklung am sichersten vorauszusagen. Da es sich hier um das zentrale Argument handelt, wird sich der nächste Teil dieser Serie nur diesem einen Aspekt widmen. Wir werden fragen, inwieweit die Bevölkerungsvorausberechnungen die Anzahl der Alten richtig vorausgeschätzt hat.

"Altenlast" ist nicht gleich "Rentnerlast"

Winfried SCHMÄHL hat in einer Übersicht die Unterschiede zwischen dem Alten-Quotienten ("Altenlast") und der Rentenlast dargestellt, die sich durch einen Rentner-Quotienten erfassen lässt.

Übersicht: Alten- und Rentnerquotient im Vergleich

  Alten-Quotient Rentner-Quotient Unterschied u.a. bedingt durch
Zähler Zahl alter Menschen (Personen im Alter von (z.B.) 60 Jahren und mehr Zahl der Rentenempfänger (in der gesetzlichen Rentenversicherung) "Rentnerdichte" der Altersjahrgänge (d.h. relative Häufigkeit der Rentner pro Altersjahrgang; abhängig u.a. von veränderter Erwerbsbeteiligung und Ausweitung des versicherten Personenkreises
Nenner Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter (z.B. zwischen dem 18. und dem 60. Lebensjahr) Zahl der (Pflicht-) Versicherten (in der gesetzlichen Rentenversicherung Erwerbsquote
Arbeitslosenquote
Beschäftigungsstruktur
(Abgrenzung des Kreises der Versicherten; Anteil der Beamten und Selbständigen an allen Beschäftigten)
Erwerbsleben
Durchschnittsalter bei Ausscheiden aus dem Erwerbsleben
(Altersgrenzen; Invaliditätshäufigkeit)
Quelle: Winfried Schmähl "Bevölkerungsentwicklung und soziale Sicherung"1986, S.194

Im Gegensatz zum Altenquotienten (Verhältnis der Alten zu den Erwerbsfähigen) bezieht sich der Rentnerquotient auf das Verhältnis der Rentenempfänger zu den Beitragszahlern. Der Rentnerquotient kann aufgrund von Massenarbeitslosigkeit, Frühverrentungspraxis, Abnahme oder Zunahme der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung vom Altenquotient abweichen. Das Verhältnis kann sowohl günstiger als auch schlechter sein. Der Rentnerquotient berücksichtigt somit nicht nur den demografischen Wandel, sondern auch nicht-demografische Faktoren. Wenn wir etwas über die zukünftige Finanzierbarkeit unserer Renten erfahren wollen, dann reicht es nicht aus, die Altenlast zu bestimmen (siehe hierzu auch Christian MARSCHALLEKs Artikel Die "schlichte Notwendigkeit" privater Altersvorsorge. Zur Wissenssoziologie der deutschen Rentenpolitik in der Zeitschrift für Soziologie, Heft 4, August, S.285-302). Dieser Aspekt soll hier nur erwähnt, aber erst in einem späteren Teil der Serie wieder aufgegriffen werden.

Männer und Frauen tragen in unterschiedlichem Maße zur Altenlast bei 

Winfried SCHMÄHL hat darauf hingewiesen, dass der geschlechtsunspezifische Altenquotient verschleiert, dass der "geschlechtsspezifische" Altenquotient der Frauen, also das Verhältnis der älteren Frauen zu den Frauen im erwerbsfähigen Alter, beträchtlich über dem der Männer liegt. Hier existiert eine Konfliktlinie, die bislang meist nur unterschwellig die Debatten bestimmt. Selbst hart gesottene Anti-Feministen haben dieses Thema noch nicht explizit auf die politische Agenda gesetzt. Dies ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die Altenlast ist immer nur im Verhältnis zu den Erwerbsfähigen aussagekräftig. Dies bedeutet, dass eine falsche Einschätzung des Erwerbsfähigenpotential auch Auswirkungen auf die Altenlast hat.

In seinem Beitrag Demographie, Arbeitsangebot und die Systeme der sozialen Sicherung aus dem Jahr 1996 hat Axel H. BÖRSCH-SUPAN die Vorausschätzungen zur Entwicklung der Erwerbsfähigen unter die Lupe genommen. Er hat eine deutliche Unterschätzung des Arbeitskräftepotentials in den älteren Vorausschätzungen ausfindig gemacht. Zwei Gründe nennt BÖRSCH-SUPAN: zum einen die kontinuierliche Unterschätzung der Einwanderung und zum anderen die Unterschätzung der Frauenerwerbsquote.

Eine Debatte, die einseitig nur die Altenlast in Verbindung mit den Problemen der Sozialversicherung bringt, übersieht, dass auch die Entwicklung der Erwerbsfähigen keineswegs nur durch die Quantität bestimmt wird, sondern auch hier können sich unabhängig von der Altersstruktur Verschiebungen im Erwerbspersonenpotential ergeben. Rentenreformen können nicht unabhängig vom Arbeitsmarkt betrachtet werden. Sie haben Rückwirkungen, die nicht vernachlässigt werden können. Die Erhöhung des Erwerbsfähigenpotential kann auf unterschiedliche Weise erreicht werden. Denkbar ist eine Steigerung der Erwerbsquote von Müttern. Hierauf zielt die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ab. Denkbar ist aber auch eine Erhöhung der Zuwanderung und eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit. Die Abnahme der Erwerbsfähigen ist also weit weniger von der Bevölkerungsentwicklung an sich abhängig, sondern vor allem von der Erschließung bislang ungenutzter Reserven. 

Die Gesellschaft der Langlebigen im Vergleich

Auf dieser Website wird der Begriff Gesellschaft der Langlebigen bevorzugt, weil er im Gegensatz zu Begriffen wie "alternde", "überaltete" oder gar "vergreisende" Gesellschaft wertneutral ist . Langlebigkeit kann damit als eigenständiges Phänomen behandelt werden, statt wie in der bevölkerungspolitischen Debatte als relationales Phänomen, das quasireligiös in eine natürliche Bevölkerungsbewegung eingebettet ist, als ob alle anderen Zusammenhänge künstlich wären. Hat man sich das vor Augen geführt, dann müsste klar sein, dass der Vergleich der Altenlast verschiedener Länder nur ein Aspekt unter vielen ist. Da das Ranking jedoch - wie sinnvoll auch immer - äußerst beliebt ist, kann es hier auch nicht ausgeklammert werden, zumal der Vergleich zeigt, dass andere Länder vergleichbare Altenquotienten aufweisen.

Bevölkerungsentwicklung und soziale Sicherung

"Der Vergleich z.B. zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Japan zeigt interessante Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Während gegenwärtig AQ (Anm.d.Verf.: Altersquotient) in Japan noch deutlich unter dem Wert für die Bundesrepublik liegt, werden in etwa 30 Jahren beide Länder etwa gleich hohe Relationen aufweisen. Folglich ist die Steigerungsrate für Japan deutlich höher. Von den industrialisierten Ländern weist Japan die weitaus stärkste Veränderung des Altenquotienten auf.
          
(...).
Die Bundesrepublik Deutschland liegt hinsichtlich der Zunahme von AQ im europäischen Durchschnitt, während die absoluten Werte allerdings überdurchschnittlich hoch sind. Sowohl ein stärkerer Anstieg als in der Bundesrepublik als auch im Endjahr der Vorausberechnung ein höheres Niveau des Altenquotienten weisen in Europa lediglich Finnland, Luxemburg und die Schweiz auf."
(Winfried Schmähl, 1986, S.181f.)

Hier soll dies exemplarisch am Fall Japan aufgezeigt werden. Japan galt in Deutschland einst als Musterknabe. Die Entwicklung des Altenquotienten in Japan wurde hierzulande jedoch lange unterschätzt. Das nachfolgende Schaubild zeigt, dass z.B. Winfried SCHMÄHL im Jahr 1986 die Entwicklung des Altenquotienten noch deutlich unterschätzt hat.

 
 

Im Jahr 2005 betrug der Altenquotient in Japan bereits 30,0. Dieser Wert liegt kaum niedriger als der von SCHMÄHL für das Jahr 2025 geschätzte AQ von 31,7. Florian COULMAS gibt in seinem Buch Die Gesellschaft Japans (2007) für das Jahr 2040 eine Schätzung von 59,6 an. Das wäre fast eine Verdopplung innerhalb der nächsten 35 Jahre und dies vor dem Hintergrund, dass sich der Altenquotient bereits von 1985 bis 2005 verdoppelt hat. Deutschland steht mit seinem Anstieg des Altersquotienten also keineswegs allein.     

Was hat die Generationenforschung zum Thema zu sagen?

"Alterslast" und "Krieg zwischen den Generationen"?

"Durch die Verminderung der Zahl der Geborenen und die als reale Möglichkeit sich abzeichnende Polarisierung zwischen Eltern und gewollt Kinderloser (Strohmeier 1991; Höhn/Dobritz 1995) ist die ungebrochene Kontinuität und Selbstverständlichkeit familialer Generationen zu einem Thema geworden. Die verlängerte Lebenszeit (Imhof 1981) stellt überdies die Schaffung familialer Kohärenz vor größere Aufgaben als früher (Lauterbach 1995). Dasselbe gilt sinngemäß für den (...) angestrebten Wandel im gegenseitigen Verhältnis der Geschlechter.
          
Man kann darum die These vertreten, die »Gesellschaftsdynamik« sei faktisch in die Familien eingedrungen und das habe dazu beigetragen, sie zu einem Teil der alltäglichen Erfahrung und des alltäglichen Bewußtseins vieler Menschen zu machen. (...).
          
Doch mit der Familie ist gewissermaßen das letzte Refugium tatsächlicher oder vermeintlicher Stabilität und Solidarität aufgebrochen, gewissermaßen zur Disposition gestellt worden. Das bedeutet, nach außen gewandt, daß der gesellschaftliche Zusammenhalt, damit aber auch die stetige Weitergabe des kulturellen und sozialen Erbes zwischen den Generationen tatsächlich bedroht scheint. Zieht man diese Sachverhalte in die Betrachtung mit ein, dann verweist die Redeweise vom Krieg der Generationen auf radikale Zweifel an der ungebrochen und kontinuierlich fortschreitenden Entwicklung (...).
          
Die Metapher des Krieges schließt die Möglichkeit eines »Endes der Geschichte« ein - eines vollständigen Bruchs mit gesellschaftlicher Weiterentwicklung also.
          
(...).
Die dominanten Strömungen der sozialwissenschaftlichen Generationenforschung stehen demgegenüber nach wie vor auf dem festen Boden der Modernisierungstheorien."
[mehr]
(Andreas Lange, Bettina Bräuninger, Kurt Lüscher 1998, S.13)

Die Generationenforschung hat seit den 1990er Jahren aus verschiedenen Gründen Konjunktur . Im Vordergrund der Mediendebatte standen bislang jedoch die politischen Generationen, während das gewandelte Generationenverhältnis innerhalb der Familie nur langsam an Bedeutung gewinnt.

Erst die Debatte um die Erbengeneration hat ans Licht gebracht, dass es neben dem öffentlichen "Generationenvertrag" der Rentenversicherung auch einen privaten Generationenvertrag gibt. Abseits öffentlicher Transferzahlungen werden Gelder zwischen den Generationen umverteilt, die das Generationenverhältnis entscheidend mitprägen. Wird dieser Aspekt ausgeklammert, so erhalten wir ein schiefes Bild . Es zeigt sich, dass die Herkunft die Chancen in Deutschland - wie kaum in einem anderen Land - bestimmt. Mit der viel gepriesenen Wahlfreiheit scheint es weit weniger her zu sein, als es die vollmundige Individualisierungsthese behauptet. Ist die Familie tatsächlich in der Krise? Oder verdeckt das Krisengerede nur, dass es ganz bestimmten sozialen Gruppen sind, die von der gesellschaftlichen Entwicklung abgekoppelt werden? Die Generationenforschung könnte die Debatte um die Modernisierungsgewinner und -verlierer bereichern. Diesem Aspekt wird deshalb ein eigener Teil dieser Serie gewidmet.

Die Entwicklung der Altenlast in Vorausberechnungen und der tatsächliche Verlauf

Es gibt inzwischen 12 koordinierte Bevölkerungsvorausberechnungen, die sich danach unterscheiden lassen, in welchem Basisjahr und damit mit welchen Annahmen aufgrund der damals vorherrschenden Geburtenentwicklung, Lebenserwartung und Wanderungen gerechnet wurde.

Tabelle: Vergleich der tatsächlichen Bevölkerungsentwicklung mit gesamtdeutschen Bevölkerungsvorausberechnungen
 

Tatsächliche Bevölkerungsentwicklung gemäß Zensus 2011

Altenquotient (60Jährige und ältere je 100 20 bis unter 60 Jährige
Jahr Bevölkerungs-zahl unter 20 Jahre (in %) 20 - 60 Jahre (in %) über 60 Jahre (in %) über 80 Jahre (in %) tat-säch-lich 7.
BV
8.
BV
9.
BV
10.
BV
1990 79 753 227 21,7 57,9 20,4 3,8 35,2 35,2      
1995 81 817 499 21,5 57,5 21,0 4,0 36,6        
2000 82 259 540 21,1 55,3 23,6 3,8 42,7 42,8 41,4    
2005 82 437 995 20,0 55,0 25,0 4,5 45,2        
2010 81 751 602 18,4 55,3 26,3 5,3 47,6 46,6 44,1 46,1 46,0
2015 82 175 684 18,3 54,4 27,4 5,8 50,4        
2020             55,1 51,7 54,1 54,8
2030             72,7 67,8 70,7 70,9
Anmerkungen:
Tatsächliche Bevölkerungsentwicklung (Quelle: Statistisches Bundesamt Bevölkerung nach Altersgruppen Deutschland unter: https://www.destatis.de abgerufen am 16.02.2014 für die Jahre 1990 bis 2014; 2015 abgerufen am 11.12.2016; eigene Berechnungen)

7. BV = 7. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung aus dem Jahr 1992, Basisjahr 1989; Quelle: Wirtschaft und Statistik, Heft 4, 1992, S.220;
8. BV = 8. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung aus dem Jahr 1992, Basisjahr 1992, mittlere Variante 2; Quelle: Wirtschaft und Statistik, Heft 7, 1994, S.501;
9. BV = 9. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung aus dem Jahr 2001, Basisjahr 1997, mittlere Variante 2; Quelle: Wirtschaft und Statistik, Heft 1, 2001, S.25;
10. BV = 10. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung aus dem Jahr 2003, Basisjahr 2001, mittlere Variante 5; Quelle: Wirtschaft und Statistik, Heft 8, 2003, S.697;

Der Altenquotient wurde für die über 60Jährigen berechnet, weil das in der Vergangenheit der übliche Altenquotient war. Angesichts der Tatsache, dass inzwischen die Rente mit 67 Standard ist, müsste der Altenquotient also für die über 67Jährigen berechnet werden. Dazu liegen jedoch noch keine Daten auf Grundlage des Zensus 2011 vor. Der Vergleich dient vor allem dazu die Horrorszenarien der Vergangenheit mit der tatsächlichen Entwicklung einerseits der Erwerbstätigen und andererseits der Beitragszahler und Rentner in der Rentenversicherung zu vergleichen. Dies wird in einer späteren Abhandlung erfolgen.

Fazit: Die Debatte um die Altenlast ist zu oberflächlich, wenn es um die Finanzierbarkeit des Sozialversicherungssystems geht   

Die Debatte um die Altenlast ist durch spezifische Kurzsichtigkeiten geprägt. Bestimmte Themenkonjunkturen lenken die Aufmerksamkeit auf eng umgrenzte Probleme, während die Gesamtheit des Gesellschaftssystems aus dem Blick gerät. Im zweiten Teil dieser Serie wurden die Leerstellen der Debatte aufgezeigt. Im historischen Vergleich zeigt sich, dass es keineswegs so ist, dass einzig die in den 1960er Jahren Geborenen an der Misere der Sozialsysteme schuld sind. Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass steigende Altenlasten kein spezifisch deutsches Phänomen sind. Es stellt sich auch die Frage, ob die Debatte um die Altenlast nicht andere Konflikte verdecken soll, nämlich die auseinanderklaffende Schere der Einkommen. Ist nicht die Rückkehr der Klassengesellschaft das dringendere Problem? Ist es nicht erst die Ausdehnung des Niedriglohnsektors und die Zunahme der Working Poor, die Altersarmut für die jüngere Generation wahrscheinlich werden lässt? Dann hätten wir es bei der Debatte um die steigende Altenlast zum großen Teil mit einer Demografisierung sozialer Probleme zu tun. Im Buch Die Single-Lüge wird dieser Aspekt ausführlich behandelt.

Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte

"Dies ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt. Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
          
 Es wird aufgezeigt, dass sich die nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen."

 
     
 
       
   

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webmaster@single-generation.de Erstellt: 16. Februar 2014
Update: 19. November 2018