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Der Kampf der Lebensstile aus Sicht der
soziokulturellen Evolution
Der kürzlich verstorbene
Soziologe Karl Otto HONDRICH hat mit seinem Buch Weniger sind
mehr einen wichtigen Theoriebeitrag zur aktuellen Debatte
um den demografischen Wandel verfasst.
Bereits
in den 1980er Jahren hatte HONDRICH in einem Spiegel-Essay
mit dem Titel
Die Verwandlung
Stellung zum westdeutschen Geburtenrückgang genommen. 1998 hat der Soziologe
dann in seinem
Aufsatz Zur Dialektik von Individualisierung und Rückbindung
am Beispiel der Paarbeziehung einen wichtigen Beitrag zur
Relativierung der populären Individualisierungsthese verfasst.
Mit Rückbindungen hat er in dem Aufsatz einen "Gegen- oder
Ergänzungsbegriff zu Individualisierung" geprägt, der die
Gegenbewegungen in der Gegenwartsgesellschaft erforschbar machen sollten. Wenn
Individualisierung z.B. als Erweiterung von Wahlmöglichkeiten
begriffen wird, dann sollte damit die Verengung der
Wahlmöglichkeiten erfassbar werden. Für HONDRICH sind auch
wissenschaftliche Thesen Ausdruck eines Zeitgeistes und der
stand in den 1990er Jahren noch ziemlich eindeutig auf Seiten der
Individualisierungstheoretiker:
Zur Dialektik von Individualisierung und Rückbindung am
Beispiel der Paarbeziehung
"Wissenschaftliche Thesen
werden nicht verworfen, weil sie empirisch widerlegt oder
methodologisch anfechtbar sind. Sie gelten, solange sie einem
kollektiven Lebensgefühl entsprechen. Und keine These paßt so
gut zu unserem aktuellen Selbstgefühl - zum Zeitgeist - wie die
Individualisierungsthese."
(1998, S.3) |
Inzwischen hat sich der
Zeitgeist gedreht und die Individualisierungsverheißungen sind
am Verblassen. HONDRICH hatte dies früher erkannt als viele
andere. Auch
mit seinem aktuellen Buch hat sich HONDRICH dem Zeitgeist verwehrt und damit Wegweisendes zur Debatte um den
demografischen Wandel geschrieben. Mit seiner Theorie der
soziokulturellen Evolution wirft HONDRICH einen Blick aus
der Vogelperspektive auf den tobenden Kampf der Lebensstile, bei
dem es um die politische Implementierung eines neuen
Familienmodells in Deutschland geht
. Im
Gegensatz zur herrschenden Meinung plädiert HONDRICH dafür, die
Selbstlenkungskräfte der Gesellschaft, auch in der
Geburtenfrage anzuerkennen, statt ihnen durch politische
Zielvorgaben und Maßnahmen zuvorkommen zu wollen.
Der bevölkerungspolitische Imperativ und die
Folgen
In der öffentlichen
Debatte und auch in den Sozialwissenschaften ist mittlerweile
die Debatte um die Demographisierung gesellschaftlicher
Probleme und damit die Kritik an der
Bevölkerungswissenschaft als gesellschaftspolitischer
Leitwissenschaft in Gang gekommen. So fragen z.B. die
Herausgeber des Buches Der demographische Wandel danach,
wer von einer solchen Verschiebung der Problemwahrnehmung
profitiert:
Die Demographisierung sozialer Probleme
"Mit
großer Selbstverständlichkeit wird (...) sowohl in der
politischen und massenmedialen Öffentlichkeit als auch in
einschlägigen fachwissenschaftlichen Diskussionen davon
ausgegangen, dass der demographische Wandel ein »Problem«
darstellt, das nicht nur der intensiven
sozialwissenschaftlichen Erforschung und medialen
Aufbereitung, sondern auch der politischen Behandlung und
- wenn möglich - Steuerung bedarf.
Neben ausgiebig diskutierten Finanzierungsschwierigkeiten
bei der Kranken- und Rentenversicherung wird dabei auch
immer mal wieder das Gespenst vom »Aussterben der
Deutschen« beschworen (...).
Aus
soziologischer Sicht stellen sich dann aber Fragen danach,
warum der demographische Wandel und verwandte Themen
derzeit eine so hohe Aufmerksamkeit erfahren: Kann dies
als Anzeichen einer »Demographisierung
gesellschaftliche Probleme« gewertet werden, bei der
demographische Entwicklungen als »Sachzwänge« behandelt
und zur Legitimierung (sozial)politischer Reformvorschläge
- meist neoliberaler Art - herangezogen werden können? Wer
würde dann aber vom demographischen Wandel beziehungsweise
von den dadurch angestoßenen und damit begründeten
Maßnahmen (...) »profitieren«, wer würde benachteiligt
(werden)?"
(Peter A. Berger & Heike Kahlert, 2006,
S.9f.)
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HONDRICH geht in seinem
Buch noch weiter und fragt danach, ob der demografische Wandel
überhaupt ein Problem ist. Er stellt damit die zunehmende
Orientierung der Politik an der demografischen
Bestandserhaltungszahl 2,1 grundlegend in Frage. Nicht
die Stabilität von Bevölkerungen, sondern das Überleben von
Gesellschaften, d.h. die Steigerung der
Problemlösungsfähigkeit von Systemen, ist für ihn das Maß
der Dinge:
Weniger sind mehr
"Wer
(...) sagt uns, dass die hierzulande angenommene
Normalität der Zwei-Kinder-Familie sozusagen der Höhepunkt
der Evolution sei, weil sie die begehrte Stabilität fürs
Ganze gewährleistet? Es sind die Demografen. Doch ihr
Stabilitätsbegriff ist auf naive Weise unreflektiert und
verengt. Denn es gibt so viele Stabilitäten, wie es Ziele,
Werte oder andere Größen gibt, die überdauern können. Und
die Stabilität der Bevölkerung sagt nichts über die
Stabilität der Gesellschaft aus. Erst recht sagt sie
nichts über die Güte dieser Stabilität. Gegenüber der
Vorstellung, die Stabilität einer Gesellschaft ließe sich
an der gleichbleibenden Bevölkerungszahl messen, muss in
aller Schlichtheit betont werden: Stabil bedeutet nicht,
dass die gleiche oder wachsende Zahl von Menschen
aufgewiesen wird, sondern dass sich immer neu stellende
Probleme so gelöst werden, dass die Gesellschaft im
Zeitablauf überdauert."
(2007, S.18f) |
Den entscheidenden
Unterschied dieser beiden Sichtweisen legt HONDRICH in den 8
Kapiteln seines Buches dar, die darauf hinauslaufen, dass
moderne Gesellschaften mit weniger Menschen auskommen, d.h. die
Problemlösefähigkeit ist weniger eng mit der schieren Menge
verknüpft als dies noch für vormoderne Gesellschaften galt:
Weniger sind mehr
"Die
demografische Stabilisierung ist gebunden an die Zahl der
Menschen; doch abgesehen von wenigen Sonderfällen - einen
Baumstamm aus dem Weg zu räumen, (...) einem zahlenmäßig
überlegenen Gegner die Stirn zu bieten - ist die Menge
aber in keiner Weise problemlösend.
Die
soziokulturelle Entwicklung hat sie allerdings inzwischen
für die genannten Bereiche überflüssig gemacht: Ein Baum
lässt sich leichter mit einem Kran aus dem Weg räumen;
(...) dem in großer Zahl anrückenden Gegner kann man mit
Ortungsgeräten und modernen Vernichtungswaffen
entgegentreten.
Und
außerdem: Was demografische Stabilität heißen soll, ist
nicht geklärt. Demografische Stabilität als Normalität
gibt es nicht, Bewegungen in der Bevölkerungsstruktur sind
(...) normal".
(2007, S.28f.) |
Gesundschrumpfen statt zu Tode schrumpfen!
Aus nationalkonservativer
Sicht erscheinen Schrumpfungsprozesse nationaler Bevölkerungen
als lebensbedrohlich. Bevölkerungswissenschaftler wie
Herwig BIRG und Soziologen wie Franz-Xaver KAUFMANN haben in
ihren Büchern die Apokalypse ausgemalt, die am Ende von
Schrumpfungsprozessen steht. Das
Buch Schrumpfende Gesellschaft von KAUFMANN, das im Jahr
2005 erschienen ist, wurde in allen bedeutenden überregionalen
Zeitungen positiv besprochen. KAUFMANN breitet darin seine
Theorie der demografischen Abwärtsspirale aus und macht
damit Positionen in der Mitte der Gesellschaft salonfähig, die
bislang nur am rechten Rand goutiert wurden.
Schrumpfende Gesellschaft
"Angesichts
der seit einigen Jahren in Gang gekommenen öffentlichen
Diskussion zum »Demographischen Wandel« vertritt diese
Schrift eine bisher minderheitliche Position: Nicht das
Altern, sondern der absehbare und sich voraussichtlich
beschleunigende Rückgang unserer Bevölkerung ist das
zentrale demographische Problem. Er wirkt sich in den
verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen aus und
tendiert dazu, sich selbst verstärkende Wechselwirkungen
zu veranlassen. (...).
Vom
Bevölkerungsrückgang ist nicht nur ein Rückgang der
inländischen Nachfrage und eine entsprechende Dämpfung der
Investitionsneigung zu erwarten, (...) sondern auch die
hiergegen in Stellung gebrachte Argumentation einer
fortgesetzten Produktivitätssteigerung und einer
überproportionalen Zunahme innovatorischer Investitionen
steht auf tönernen Füßen. (...).
Die
Dramatik des Geburtenrückgangs wird nicht nur durch die
Zuwanderung, sondern auch durch den Sterblichkeitsrückgang
verschleiert. (...).
Mit
einer weiteren Verschlechterung der Standortbedingungen
und mit verschärften und im wörtlichen Sinne
»unfruchtbaren« Verteilungskonflikten ist zu rechnen."
(2005, S.15ff.)
"Die hier vertretene
Gegenthese hebt (...) auf die gleichsinnige
Wirkungsrichtung des demographischen Wandels mit Bezug auf
nahezu alle Gesellschaftsbereiche ab. Alle (...)
Folgen des demographischen Wandels erscheinen als
tendenziell problemerzeugend, und es muß damit gerechnet
werden, daß sich mehrere dieser Veränderungen
gegenseitig verstärken."
(2005, S.113)
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In den WSI-Mitteilungen
(H.3/2007) der Gewerkschaften spitzt KAUFMANN sein Theorem der
Abwärtsspirale in dem Beitrag Bevölkerungsrückgang als
Problemgenerator für alternde Gesellschaften sogar noch zu:
Bevölkerungsrückgang als Problemgenerator für alternde
Gesellschaften
"Deutschland
(erscheint) heute als demografisches »Pionierland«, und
zwar hinsichtlich der Lowest Fertility, wie
Demografen das Absinken der Fertilität unter einen Wert
von 1,5 bezeichnen. Ab dieser Größenordnung wird es
aufgrund eines demografischen Verstärkereffektes zunehmend
schwieriger, den regressiven Trend umzukehren. (...). In
dieselbe Richtung wirken auch (...) in Deutschland bereits
empirisch beobachtbare Einstellungsänderungen (...). Und
überdies scheint Kinderlosigkeit mit ihrer faktischen
Verbreitung zunehmend auch normativ »salonfähig« zu
werden. Dorbritz (2005) spricht sogar von einer
entstehenden »Kultur der
Kinderlosigkeit«. Etwa ab dem Geburtsjahrgang 1950
polarisiert sich die Bevölkerung in Deutschland in
Familien und Kinderlose."
(aus: WSI-Mitteilungen, Heft 3, 2007, S.109) |
Für KAUFMANN ist die
Bestandserhaltungszahl das Maß, mit dem sich die deutsche
"Geburtenlücke", also das schädliche Geburtendefizit
bemisst. Er kommt deshalb zu dem Schluss, dass uns in den
kommenden Jahren 9,6 Millionen nicht geborene und nicht
qualifizierte Menschen als Arbeitskräfte und als potentielle
Eltern fehlen werden. Dagegen
kommt HONDRICH zu ganz anderen Schlüssen:
Weniger sind mehr
"Wo
keine Kinder geboren werden, wachsen keine Arbeitskräfte
nach; wo keine Arbeitskraft ist, erlahmt die
Wirtschaftskraft. Von diesem Pessimismus nährt sich ein
Gutteil der Demografiedebatte. Er ist ebenso schlicht wie
abwegig. Die Arbeitskraft einer Volkswirtschaft ist ganz
und gar nicht auf die im Volk geborenen Kinder angewiesen.
Im Gegenteil: Prosperierende Wirtschaften wie die der
Schweiz, Luxemburgs, der Arabischen Emirate bauten zum
großen Teil auf importierte Arbeit. Unabhängig davon hat
sich die Wirtschaft die Arbeitskräfte, die sie braucht,
noch immer zu beschaffen gewusst und wird es auch
weiterhin tun: durch Abbau der Arbeitslosigkeit,
gesteigerte Erwerbstätigkeit der Frauen, verlängerte
Tages- und Wochenarbeitszeiten, verlängerte
Lebensarbeitszeit (Rente mit 67), früheren Eintritt der
Jungen ins Berufsleben und gesteigerte Produktivität der
Arbeit."
(2007, S.53f.) |
Wieso kommen KAUFMANN und
HONDRICH zu gegensätzlichen Ergebnissen? Während KAUFMANN den
Erfolg einer Gesellschaft an einer demografischen Maßzahl und
damit an einer einzigen nationalen Kennzahl misst, ist für
HONDRICH die Frage nach der Produktivität von Kulturen
ausschlaggebend. Nicht
die Bevölkerungsstärke an sich ist relevant, sondern die
Produktivität einer Gesellschaft. HONDRICH
unterscheidet - im Gegensatz zu KAUFMANN - zwischen produktiven
und weniger produktiven Kulturen. Während
Apokalyptiker wie KAUFMANN einen positiven Zusammenhang zwischen
Wirtschaftswachstum und Bevölkerungswachstum sehen, legt
HONDRICH einen umgekehrten Zusammenhang nahe:
Weniger sind mehr
"Dass
Bevölkerungswachstum die Wirtschaft antreibe, ist für uns
zu einer Art common sense geworden. Deshalb richtet
sich alles Denken auf die Erhöhung der Geburtenrate -
obwohl eine weltweite Untersuchung von 134 Ländern zu dem
Ergebnis kommt, dass sozioökonomisches Wachstum
zurückgeht, wenn die Geburtenraten steigen."
(2007, S.42) |
Auch Volkswirtschaftler
wie Detlef GÜRTLER ("Vorbild Deutschland") oder der Historiker
Josef EHMER ("Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie
1800 - 2000")
sehen den Zusammenhang zwischen Bevölkerungs- und
Wirtschaftsentwicklung weniger eng, als es die Propheten der
Bevölkerungsimplosion behaupten. Für HONDRICH bedingen sich
Produktivität und Geburtenrate gegenseitig:
Weniger sind mehr
"Die
weniger produktiven Gesellschaften wie USA und Frankreich
weisen relativ mehr Jugend auf als diejenigen mit höchster
Produktivität, zu denen die Bundesrepublik und Japan
gehören. Je höher die Höhen der Produktivität, zu denen
sich eine Gesellschaft aufschwingt, desto tiefer sinkt
ihre biologische Reproduktionsrate. Die beiden so
unterschiedlichen Dinge wie wirtschaftliche Produktivität
und familiale Reproduktivität scheinen also nicht nur an
sich negativ zusammenzuhängen, sondern variieren auch mit
dem kulturellen Kontext." (2007, S.66) |
HONDRICH sieht in den
produktiven Kulturen sogar eine Avantgarde. Während Pessimisten
Deutschlands Rolle als Pionier der "lowest Fertility" - also der
Niedrigstfertilität - negativ beurteilen, sieht HONDRICH dagegen
hier eine positive Entwicklung wirken, die sich als
Umstellung der Reproduktion auf einen neuen Modus deuten
lässt. Ausgangspunkt
seiner Überlegungen ist die Tatsache, dass in der biologischen
Evolution zwei unterschiedliche Reproduktionsstrategien
vorkommen:
Weniger sind mehr
"Für
Biologen, auf der Suche nach den Mechanismen reproduktiven
Erfolgs (...) gibt es immer zwei Strategien des
Überlebens. Die »r-Strategie« durch viele Nachkommen, die
riskant und kurz leben, oder die »K-Strategie« durch wenig
Nachkommen, die lange leben. Die erste sichert
Reproduktion durch Quantität, die zweite durch Qualität.
In der Stammesgeschichte des Menschen hat sich die
Qualitätssicherung durchgesetzt. (...). Die Verlängerung der individuellen Leben und die
Verminderung der Geburten, die seit mehr als 200 Jahren
anhält, setzt Lebensqualität voraus, die es früher so
nicht gegeben hat. Sie sind das Ergebnis von Wissenschaft,
Medizin, Hygiene, Technik, ökonomischer und politischer
Organisation, moralischer Reflexion - kurz von
soziokulturellen Errungenschaften, nicht von natürlichen
Gegebenheiten."
(2007, S.38) |
HONDRICH deutet die
Umstellung des Reproduktionsmodus jedoch nicht als biologische,
sondern als soziokulturelle Evolution, die sich weltweit
durchsetzen wird. Deutschland und andere hochproduktive Kulturen
wie Japan sind Pioniere in diesem Prozess.
Weniger sind mehr
"Insbesondere
im Hinblick auf die Reproduktion denken wir uns den
eigenen Nationalstaat als autark. Das zeigt sich daran,
dass die Fertilitätsraten, die die gegenwärtige Diskussion
beflügeln, immer als deutsche, französische, schwedische,
japanische angezeigt werden und Unruhe stiften.
Aber
so wenig wir in Bezug auf (...) Energie oder militärischen
Schutz autark sind, so wenig sind wir es in Bezug auf den
eigenen Nachwuchs. (...).
Die
neue Arbeitsteilung zwischen produktiven und
reproduktiven, kinderarmen und kinderreichen
Gesellschaften gilt womöglich nur für eine Übergangsphase
von weniger als 100 Jahren. So lange wird es dauern, bis
alle Gesellschaften nicht nur ähnlich niedrige
Geburtenraten erreichen, sondern auch die
»Kinderberge« der vorherigen, umfangreicheren Generationen
abgebaut haben. Nach und nach werden alle Kulturen sich
umstellen: von einer breiten Reproduktionsbasis mit hoher
Sterblichkeit auf eine schmale Basis lange lebender
Individuen; von einem risikoreichen auf ein
verhältnismäßig sicheres Leben; von einer biologischen
Entwicklungsstufe, in der die schiere Zahl der
reproduzierten Organismen über den Fortbestand der Spezies
entschied, zu einer soziokulturellen Stufe der Evolution,
in der die Teilung der sozialen Aufgaben die Fähigkeit der
menschlichen Spezies, Probleme zu lösen, ins Unermessliche
steigert."
(2007, S.264) |
HONDRICH erläutert
ausführlich wie die Produktivitätssteigerungsrate den
langfristigen Fall der Geburtenrate herbeiführte. Dies ist
kein Ergebnis der Wirtschaftsweise allein, sondern resultiert
aus dem Zusammenspiel aller gesellschaftlichen Sphären,
insbesondere des Systems der sozialen Sicherung, der Familie und
der Politik.
Die Gesellschaft der Langlebigen und der
Fall der Geburtenrate
Im Kapitel über das
Individuum ohne Kinder zeigt HONDRICH auf, dass individuelle
Langlebigkeit als Erfolg gesteigerter gesellschaftlicher
Problemlösefähigkeit gleichsam eine Umstellung des
Reproduktionsmodus und damit den Fall der Geburtenrate
erfordert:
Weniger sind mehr
"Es sind drei Aspekte der soziokulturellen Evolution, die
aus der Horde oder Urgruppe das Individuum hervorbringen.
Zunächst die Aufgliederung von Aufgaben. (...).
Ein
sichtbares und messbares Anzeichen der gesteigerten
Problemlösungsfähigkeit sozialer Systeme ist die
Verlängerung des individuellen Lebens. Eine verlängerte
persönliche Lebensspanne ist die zweite Voraussetzung für
Individuation. (...).
Die
dritte soziokulturelle Voraussetzung für die Entwicklung
von Individualität ist der Fall der Fertilitätsrate. Wäre
nämlich die Fertilitätsrate auf dem Stand früherer
Jahrhunderte bei sechs, acht oder zehn Kindern verharrt,
dann würde dies zusammen mit der Langlebigkeit die
späteren Gesellschaften auf begrenzten Territorien
hoffnungslos übervölkern. An die Entfaltung freier
Individualität wäre nicht zu denken.
(...).
Zugespitzt kann man sagen, dass es der Geburtenrückgang
ist, dem wir die »Geburt des Individuums« mit je eigenen
Zugehörigkeiten, Emotionen und rationalen Kalkulationen
verdanken."
(2007, S.203ff.) |
Single-generation.de
hat bereits im Jahr 2003 kritisiert, dass der Langlebigkeit
als eigenständiges Phänomen nicht genügend Aufmerksamkeit
geschenkt wird
. HONDRICH
hat nun die Langlebigkeit in einen positiven Zusammenhang mit
der soziokulturellen Evolution gestellt, die mit einer
Steigerung der gesellschaftlichen Problemlösefähigkeit
einhergeht. Dass der Geburtenrückgang der Preis ist, den wir in
einer Gesellschaft der Langlebigen bezahlen müssen, ist ein
wichtiger Aspekt, der der festgefahrenen Debatte eine Wende
geben könnte. In der bisherigen Debatte um den Geburtenrückgang
wurde dieser Aspekt des kulturellen Fortschritts nicht
gewürdigt, wie single-generation.de im Beitrag über die
Gesellschaft der Langlebigen ausführlich aufgezeigt hat
. Dies
dürfte auch damit zusammenhängen, dass in der Debatte um den
demografischen Wandel ein verkürzter Familienbegriff verwendet
wird.
Familie
ist dort, wo Liebe ist
Familie ist dort, wo
Kinder sind, lautet gewöhnlich der politische Familienbegriff.
Was dabei jedoch verschwiegen wird, ist, dass die Menschen
Familie nicht als gemeinsames Wirtschaften innerhalb eines
Haushaltes begreifen, sondern als Zusammengehörigkeitsgefühl,
das nicht an einen gemeinsamen Ort gebunden ist
.
Während
single-generation.de Familie bislang als multilokale
Mehrgenerationen-Familie beschrieben hat, die über den
verkürzten Familienbegriff der Bevölkerungswissenschaft und der
amtlichen Statistik hinausgeht, beschreibt HONDRICH Familie als
soziales System, das durch den Leitwert Liebe gekennzeichnet
ist. Welches Verständnis sich dahinter verbirgt, hat
single-generation.de bereits im Rahmen der Besprechung des
Buches Der Code des Herzens von Christian SCHULDT
ausführlich erläutert
. Dieser
sehr weite Familienbegriff umfasst bei HONDRICH sowohl
kinderlose Paare, als auch Freunde, zu denen man ein familiäres
Verhältnis besitzt. Ein solch weites Verständnis von Familie
kommt dem Ansatz des Deutschen Jungendinstituts am nächsten, das Familie als ego-zentriertes Netzwerk erforscht hat.
Pionierarbeit hat in dieser Hinsicht Walter BIEN und Donald
BENDER geleistet,
indem sie Singles als Teil der Familie beschrieben haben (vgl.
BIEN & BENDER "Singles
- Teil der Familie oder Alternative zur Familie?", 1996).
Weniger sind mehr
"Auf
ihre Verkleinerung antwortet Familie mit Vergrößerung.
(...). Denn wer zur Familie gehört, entscheiden nicht
Biologen, Demografen und Statistiker aufgrund vorgefasster
Kriterien, sondern die Beteiligten selbst, indem sie sich
gegenseitig Liebe, Intimität und Halt schenken, also die
zentralen Familienfunktionen erfüllen.
(...).
Auch Alleinstehende und Menschen ohne Kinder können, sich
an Verwandte und Freunde anschließend, ihre Familie
»machen«."
(2007, S.123f.)
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HONDRICH kann mit seinem
sehr weiten Familienbegriff die Defizite traditioneller
familiensoziologischer und bevölkerungswissenschaftlicher
Ansätze aufzeigen. Traditionelle
Familienforscher würden HONDRICH vorwerfen, dass er damit den
Familienbegriff überdehnt. Eine mittlere Position spricht
deshalb von familialen Lebensformen, wenn es um Singles und
kinderlose Paare und deren Bindungsformen geht. Ob man nun von
Familie oder nur von familialen Lebensformen sprechen möchte,
Fakt bleibt, dass die traditionellen Ansätze den modernen
Lebensformen nicht gerecht werden. Indem
HONDRICH Singles und kinderlosen Paaren den Familien-Status
nicht verweigert, ist es ihm möglich das Gemeinsame zu
unterstreichen, während üblicherweise das Trennende im
Vordergrund steht. Gerade in einer fragmentierten
Gesellschaft, in der allerorts neue Spaltungen betrieben
werden, könnte ein solcher
Ansatz die familienpolitische Debatte weiter bringen.
Im
Kapitel Auslaufmodell Familie? zeigt HONDRICH auf, dass
die Familie keineswegs das schwächste Glied der Gesellschaft
ist
. Die Verringerung der Zahl von Kernfamilien ist für HONDRICH
sogar ein Anzeichen dafür, dass die Qualität moderner Familien
höher ist als in früheren Zeiten. Die Familie besitzt zahlreiche Selbsterhaltungsstrategien, die von der Adoption und
Reproduktionsmedizin über die Rückwendung auf die
Herkunftsfamilie bis zur Neubildung von Patchwork-,
Homosexuellen-, Freundes- und Zweckfamilien reichen.
Eltern sind nicht die besseren Menschen
Die Politik, insbesondere
die Sozial- Familien- und Bevölkerungspolitiker möchten
Kinderlosen einreden, dass sie die schlechteren Menschen seien.
HONDRICH wendet sich gegen diese populäre Sichtweise, die verkennt, dass in modernen funktional-differenzierten
Gesellschaften Eltern und Nicht-Eltern aufeinander angewiesen
sind.
Weniger sind mehr
"Dass
sich in modernen Gesellschaften zwischen Eltern und
Nichteltern Klüfte und Grabenkämpfe auftun, gehört zu den
Ammenmärchen (...). Konflikte
ja - sie sind sozial lebenswichtig. Wem was zusteht, wer
wie viel zahlt, wer welche Vorteile und Nachteile hat: Das
alles ist bestreitbar und verhandelbar. Aber die
Diskussionen bringen die Streithähne eher zusammen als
auseinander. Man argumentiert zwar gegen die andere Seite,
aber man hört auch deren Argumente, zum Beispiel wie viel
Steuern Kinderlose zahlen, wofür sie sich ehrenamtlich
engagieren, was sie für Nichten und Neffen und befreundete
Familien tun. Schon immer waren die ledige Tante und der
eigenwillige Onkel wichtige Bindeglieder zwischen dem
engeren Familienclan und der Welt der Freizügigen und
Einsamen. (...). Genauso wie die Konflikte zwischen
Generationen, werden auch die Konflikte zwischen Eltern
und Kinderlosen überwölbt und aufgehoben von schlichten
Gefühlen des Zusammengehörens, Aufeinanderangewiesenseins
oder, technischer gesprochen, der Arbeitsteilung."
(2007,
S.260) |
Die gesellschaftliche
Arbeitsteilung macht in modernen funktional differenzierten
Gesellschaften auch nicht vor dem Familiensystem halt
. Eine
ethische Pflicht zur Elternschaft, wie sie von dem
nationalkonservativen Bevölkerungswissenschaftler Herwig BIRG
gefordert wird, lehnt HONDRICH ab, weil sie sowohl der
Selbststeuerung der Individuen als auch der Eigenlogik der
sozialen Systeme widerspricht. Nationalkonservative
Bevölkerungspolitiken, wie jene die Franz-Xaver KAUFMANN unter
dem weniger verdächtigen Begriff der Nachwuchssicherung
propagiert, fordern die Bestrafung des Lebensstils von
Kinderlosen, was schönfärberisch als Streichung von Privilegien
umschrieben wird. Letztlich läuft dies auf die von Herwig BIRG
geforderte Pflicht zur Elternschaft hinaus
.
Schrumpfende Gesellschaft
"Während
über die Notwendigkeit öffentlicher Hilfen »für Familien«
heute weithin grundsätzliche Einigkeit besteht, gibt es
erhebliche Vorbehalte gegen eine politische Thematisierung
von Kinderlosigkeit."
(2005, S.194)
"Nur ein weitreichender
kultureller Wandel hinsichtlich des Wertes von Kindern und
Familie ließe - in Verbindung mit einer stärkeren
politischen und wirtschaftlichen Anerkennung von
Familientätigkeiten - eine Trendwende wahrscheinlich
werden. Solange Kinderlosigkeit ökonomisch und sozial so
attraktiv bleibt wie bisher, erscheint es dagegen
wahrscheinlicher, daß sich Kinderlosigkeit in wachsenden
Milieus weiter verfestigt. Es könnte demographisch also
auch durchaus »schlimmer kommen«".
(2005, S.235)
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HONDRICH weist zum einen
die populäre Polarisierungsthese zurück, die behauptet,
dass der Geburtenrückgang in erster Linie durch die Zunahme der
lebenslangen Kinderlosigkeit verursacht wurde, zum anderen
verweist er darauf, dass ein solcher Zwang zur Elternschaft dazu
führt, dass die Qualität von Elternschaft sinken würde. Entgegen
dem feuilletonistischen Gejammer über den Perfektionismus
deutscher Eltern, wird die Norm verantwortungsvoller
Elternschaft nicht wirklich ernsthaft in Frage gestellt.
Weniger sind mehr
"Eltern
(...) sind, im Vergleich zu Nichteltern, zwar nicht die
besseren Menschen, aber die besseren Familienmenschen. Die
Qualität der Familien steigt, wenn nur solche Familien
entstehen beziehungsweise sich fortzeugen, die die
erhöhten Hürden nehmen, durch die die moderne Familie sich
abgrenzt. Das sind weniger Familien als zuvor. Geringere
Quantitäten und höhere Qualität bedingen einander."
(2007,
S 164.)
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Was wäre gewonnen, wenn
auch jene Kinder kriegen würden, die sich ansonsten nicht dafür
entscheiden würden, weil sie sich aus unterschiedlichen Gründen
dazu nicht in der Lage sehen?
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