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Die politische Konstruktion der Geburtenkrise
Vergleicht man die Bücher
von Karl Otto HONDRICH und Franz-Xaver KAUFMANN, so fällt auf
den ersten Blick der unterschiedliche Umgang mit den demografischen
Fakten auf.
Während
sich KAUFMANN auf die Deutungen der nationalkonservativen
Bevölkerungswissenschaftler um Herwig BIRG stützt, und diese
Deutungen als unumstößliche Fakten zu immunisieren versucht,
weist HONDRICH immer wieder auf die Unsicherheiten der Datenlage
und den interpretatorischen Missbrauch hin. HONDRICH
kritisiert z. B. dass das Phänomen der Spätgebärenden dazu
missbraucht wird, den Anteil der dauerhaft Kinderlosen zu
dramatisieren. Dieser Vorwurf wurde bereits um die
Jahrtausendwende von single-dasein.de und
single-generation.de erhoben, und dringt erst in jüngster
Zeit auch langsam in den medialen Mainstream ein. Im Februar
2004 hat single-generation.de das Thema des Monats dieser
politischen Konstruktion der Geburtenkrise gewidmet
. Im
Zusammenhang mit der Dramatisierung der Kinderlosigkeit von
Akademikerinnen geht HONDRICH auch auf
single-generation.de ein:
Weniger sind mehr
"Kinderlosen
gilt zurzeit die gesammelte Aufmerksamkeit (...). Auch
diese Debatte kreist um eine magische Zahl. 40 Prozent. 40
Prozent der Akademikerinnen, so heißt es, bleiben
kinderlos, und diese Zahl werde noch steigen, da ja der
Anteil der akademisch Gebildeten an allen Frauen steige.
(...).
Zunächst
verbreitete sich die Zahl von 40 Prozent wie ein
Lauffeuer: »Die Deutschen, zumal die gebildeten, sterben
aus!« Dann allerdings stellten einschlägige Forscher fest,
dass die Zahl auf gravierenden Mängeln der amtlichen
Geburtenstatistik beruht. (...).
Genüsslich
breitet single-generation.de, die forsche
Interessenvertretung der jungen Alleinlebenden, die
Differenzen zwischen diesen Daten aus. In der Hoffnung,
dass sich das »Deutungsmonopol der deutschen Demografen
endlich zerschlägt«, kontert die junge
Internet-Zeitschrift die klammheimliche Politisierung mit
einer erfrischend-offenen Gegenpolitisierung: Es sollen
nicht die Singles für alle Übel und Belastungen der neuen
Zeit herhalten."
(2007, S 19f.)
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Mit Hinweis auf den
Demografen Tomáš
SOBOTKA belegt HONDRICH, dass selbst die Geburtenrate
keinesfalls ein so sicherer Indikator für den Geburtenrückgang
ist, wie dies von nationalkonservativen Anhängern der
Polarisierungsthese behauptet wird
.
Single-generation.de
hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die politische
Konstruktion der Geburtenkrise vor allem mit zwei Phänomenen
zusammenhängt: zum einen mit der Durchsetzung sozialpolitischer
Reformen und zum anderen mit dem Kampf der Lebensstile. Deshalb
kommt der Frage danach, ob das System sozialer Sicherung durch
den Geburtenrückgang in Deutschland gefährdet ist, hohe
Priorität zu.
Ist das System sozialer Sicherung durch
den Geburtenrückgang gefährdet?
Nationalkonservative wie
der Sozialrichter Jürgen BORCHERT oder der Soziologe Franz-Xaver
KAUFMANN würden diese Frage ohne Umschweife bejahen. Seit April
2001 können sie sich sogar auf ein Urteil des
Bundesverfassungsgerichts zur Pflegeversicherung berufen
.
HONDRICH argumentiert dagegen, dass unsere Sozialsysteme
keineswegs nur durch einen neuen Babyboom zu retten sind:
Weniger sind mehr
"Im
europäischen Denken gehören Produktivitätssteigerung,
Sicherheitsdenken und gesetzliche Sicherungssysteme
zusammen. (...).
Nicht die große Zahl der Arbeitenden und des
Arbeitsnachwuchses, sondern ihre Produktivität und
Solidarität mit der nichtarbeitenden Bevölkerung sind die
beiden Pfeiler, auf denen der Sozialstaat ruht.
Es sind genau diese beiden Pfeiler, die das System soziale
Sicherung von Kindern unabhängig machen, ja die den Fall
der Geburtenrate sogar beschleunigen. Seit es die Systeme
sozialer Sicherheit gibt, muss man keine eigene Familie
und Kinder haben, um im Notfall und im Alter versorgt zu
sein. Das erledigt die breitere Solidargemeinschaft der
Versicherten.
(...).
Die Sicherungssysteme haben zumindest drei Möglichkeiten,
sich auch ohne eigene Kinder zu stabilisieren: durch
Frauen, durch Fremde und durch eine Art künstliche Kinder
in Form der Produktivitätssteigerung.
(...).
Die Systeme sozialer Sicherung finden (...) ihren Weg:
zwischen Verringerung der Kinderzahl einerseits, die durch
Produktivitätssteigerungen sowohl verursacht wie auch
unschädlich gemacht wird, und wachsendem Einbezug von
Frauen und Zuwandern hoher Qualifikation andererseits.
Eine Lücke in den Systemen sozialer Sicherung aufgrund
fallender Geburtenraten entsteht nicht."
(2007, S.93ff.) |
Im Gegensatz zu KAUFMANN,
der im Altersquotienten, d.h. dem steigenden Anteil der Rentner,
nur im Zusammenhang mit dem Geburtenrückgang ein Problem sehen
will, weist HONDRICH darauf hin, dass selbst in Gesellschaften
mit Geburten auf Bestandserhaltungsniveau, die
Rentenversicherung keineswegs gesichert ist:
Weniger sind mehr
"Für
die Rentenversicherung in den USA wird eine dramatische
Verschlechterung des Verhältnisses von Beitragszahlern zu
Leistungsempfängern konstatiert (...). Und das in einem
Land, dessen Fertilitätsrate von 2,1 Kindern pro Frau sich
auf einer von hiesigen Demografen idealisierten Höhe
bewegt!
Nicht
die Fertilitätsrate, sondern, unter anderem, die längere
Lebensdauer ist also schuld an der »Verschlechterung« des
Altersquotienten. Und wenn die Rede und Denkweise von der
jetzigen und zukünftigen Verschlechterung richtig ist,
dann muss es ja früher besser gewesen sein. 16 Arbeiter
hatten nur einen Rentner zu versorgen! Paradiesische
Zeiten! Wie viel leichter müssen es die Arbeitenden damals
also gehabt haben, wie viel besser muss es ihnen und den
Rentnern gegangen sein! War es wirklich so? Die Frage
stellen heißt, sie verneinen. Die Realeinkommen aus Arbeit
und Renten waren viel niedriger als heute. Obwohl der
Altersquotient damals so viel günstiger war!
Die
Wohlstandssteigerung für alle ist also mit einer
Verschlechterung des Altersquotienten einhergegangen. Mit
anderen Worten: Die Verschlechterung des Altersquotienten
kann so schlecht nicht sein. Sie dient sogar der
Wohlstandssteigerung."
(2007, S.97.) |
Es bestehen also
berechtigte Zweifel daran, dass das System sozialer Sicherung in
erster Linie von der demografischen Entwicklung abhängig ist. Manche
Autoren behaupten gar, dass es zu einem Krieg der
Generationen kommen werde. Auch diese Vorstellung verweist
HONDRICH ins Reich der Mythen.
Der Fall der Geburtenrate wird weiter
voranschreiten - Eine Kontroverse
Eines scheint sowohl die
"Weniger sind mehr"-Fraktion als auch die "Es gibt zu wenig
Kinder"-Fraktion zu vereinen, nämlich die Vorstellung, dass die
Geburtenrate in Deutschland auch in den nächsten Jahren weiter
sinken wird. Dieses
Denkmuster wird in beiden Fällen vom Kampf der Lebensstile
befördert. In Deutschland ist seit den 1980er Jahren ein
leidenschaftlicher Kampf um das einzig richtige Familienideal
entbrannt. Die Grabenkämpfe zweier Eliten haben dazu geführt,
dass Kinderlose, also potenzielle Eltern, vor der Elternschaft
zurückschrecken. Bei
HONDRICH resultiert dieser Pessimismus aus der Tatsache, dass
die Doppelverdienerfamilie sich durchsetzen wird. Sein Lob der
Hausfrauenehe ist der Schwachpunkt des Buches. Man kann ja
durchaus der Meinung sein, dass die Ökonomisierung des
Sozialen wie sie im Zusammenhang mit der Debatte um die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie angestrebt wird, auch seine
Kehrseite hat. Im Buch Die Single-Lüge werden deshalb auch
die negativen Folgen des Familienmodells der neuen Mitte herausgearbeitet. Im
Gegensatz zu HONDRICH wird auf single-generation.de
jedoch nicht davon ausgegangen, dass sich das Modell der
Doppelkarrierefamilie, das HONDRICH mit der
Doppelverdienerfamilie in einen Topf wirft, tatsächlich
milieuübergreifend und damit gesellschaftsweit durchsetzen wird
. HONDRICHs Analyse
ist in dieser Hinsicht nicht differenziert genug:
Weniger sind mehr
"Was
für Skandinavien und Frankreich lobend-vorbildhaft und
hoffnungsvoll hervorgehoben wird - die gleichzeitige
Steigerung von Frauenerwerbstätigkeit und Fertilitätsrate
-, ist jedenfalls in Deutschland bislang nicht zu
beobachten. (...).
Deshalb ist zu vermuten, dass tatsächlich noch weniger
Kinder geboren werden als bisher. (...). Denn im
deutschsprachigen Raum ziehen sich Frauen, die Mütter
werden, auf halbe Stellen oder ganz aus dem Beruf zurück,
wenn sie ein Kind und erst recht, wenn sie mehrere Kinder
bekommen. Der Leitwert der Mutterliebe gebietet es. (...).
Dies hat sich über Jahrzehnte nicht geändert. Es ist
offenbar kulturell tief verwurzelt - mächtiger als
politische Ideologien und Interessen der 'Wirtschaft."
(2007, S.56f.)
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Im Herbst 2006 erschien das Buch Die Kinderfrage heute
von Elisabeth BECK-GERNSHEIM, das bereits ausführlich besprochen
wurde
und in dem genau
das Gegenteil behauptet wird:
Die Kinderfrage heute
"Nicht
nur die Geburtenzahlen, sondern auch die Kinderwünsche
gehen zurück. Während noch vor einigen Jahren das Resultat
von Befragungen war, daß sich Frauen deutlich mehr Kinder
wünschten, als die dann später bekamen, haben die Frauen
inzwischen ihre Wünsche offenbar »realistischer«
gestaltet, sprich nach unten angepaßt. (...). Also
nirgendwo Anzeichen, daß die Geburtenzahlen sich wieder
nach oben bewegen. Eher könnte der Geburtenrückgang im
Lauf der Jahre noch zunehmen." (2006, S.141)
"Was den radikalen
Vorstreiterinnen der Frauenbewegung nicht gelang, deren
Aufruf zum Gebärstreik praktisch wirkungslos blieb, das
haben nun die vielen ganz normalen, ganz revolutionsfernen
Frauen der jüngeren Generation erreicht. Indem sie den
Kinderwunsch aufschoben, nach unten anpaßten oder ganz
aufgaben - jede für sich und jede doch Teil einer schnell
wachsenden Gruppe -, indem sie sich derart widerspenstig
erwiesen und von den Erwartungen an ein Stück eigenes
Leben nicht abbringen ließen, haben sie den Anstoß zu
einer neuen Entwicklung gegeben (...).
Je
näher zur Gleichberechtigung, desto mehr Kinder ".
(2006,
S.148f.) |
Je nachdem, ob sich jemand
als Schutzpatron der Hausfrauenehe oder der
Doppelkarrierefamilie versteht, sieht die Ursachenanalyse der
zukünftigen Geburtenentwicklung also anders aus. Der
Soziologe Günter BURKART, der das Modell der
Doppelkarrierefamilie hinsichtlich der Kinderfrage genauso
skeptisch beurteilt wie HONDRICH, sieht dieses Problem jedoch
eher auf eine Aufsteigergeneration bzw. auf ein eng
umgrenztes individualisiertes Akademikermilieu
beschränkt, das insbesondere in der Medienbranche, dem Kultur-
und Universitätsbereich beheimatet ist. In einem Aufsatz des
Buchs
Der demographische Wandel aus dem Jahr 2006 schreibt er:
Kinderlosigkeit, Kinderwunsch und politische Steuerung.
Zaudernde Männer, zweifelnde Frauen, zögernde Paare: Wer
ist Schuld an der Kinderlosigkeit?
"Ein
Milieu entstand, in dem individualistische Ideen
von Autonomie und Authentizität, von partnerschaftlicher
Gleichheit und Kreativität besonders leicht verbreitet
wurden. Hier hat der durch den Feminismus in Gang
gebrachte Geschlechtsrollenwandel über die Idee der
Gleichheit der Geschlechter auch zur Förderung eines neuen
Typs von Paarbeziehung, der individualisierten
Partnerschaft, beigetragen. Dieses Milieu ist es auch,
in dem die Kinderlosigkeit nicht nur besonders verbreitet
ist, sondern auch ideologisch bis zu einem gewissen Grad
verteidigt wird."
(aus: Der demographische Wandel 2006, S.118) |
Auf
single-generation.de wurde dieser Aspekt am Beispiel zweier
Journalistinnen der Generation Golf erörtert, die mit Die
Emanzipationsfalle und Generation Ally viel beachtete
Bücher geschrieben haben
. Sowohl
die Lebensstil-Analysen von HONDRICH als auch von BECK-GERNSHEIM beziehen
sich hauptsächlich auf die gesellschaftlichen
Eliten und damit auf privilegierte Schichten der
Modernisierungsgewinner, deren Problem sich als Optionsvielfalt
darstellt. Der Soziologe Günter
BURKART macht auf die Leerstellen dieses Credo der
Multioptionsgesellschaft aufmerksam:
Kinderlosigkeit, Kinderwunsch und politische Steuerung.
Zaudernde Männer, zweifelnde Frauen, zögernde Paare: Wer
ist Schuld an der Kinderlosigkeit?
"Einmal
abgesehen von jenen Personen, die kinderlos bleiben, weil
sei keinen Partner finden, sind es in der Regel nicht
Männer oder Frauen (...), die kinderlos bleiben, sondern
Paare. Wir müssen dann Paare aus verschiedenen sozialen
Klassen betrachten (in diesem Denkmodell wird also
Gleichheit zwischen Mann und Frau als möglich, der Abbau
sozialer Ungleichheit aber als nicht möglich angesehen).
Abgesehen von verschiedenen Zwischenstufen haben wir es
dann mit Akademikerpaaren und Paaren mit einfachen
Bildungsabschlüssen zu tun."
(aus: Der demographische Wandel 2006, S.128) |
Die Frage der
Geburtenentwicklung entscheidet sich in einer Gesellschaft, die
durch zunehmende soziale Ungleichheit geprägt ist, also
keineswegs allein im gesellschaftlichen Segment der
erfolgreichen Akademiker. Angesichts
der Verengung der Debatte auf diese Zielgruppe, bleiben in der
gegenwärtige Debatte zu viele Aspekte unberücksichtigt. Weder
kommt der Paarbildung als Teil der Familiengründung
genügend Aufmerksamkeit zu, noch werden die Zwänge der
Hartz-Gesellschaft und des sich ausdehnenden
Niedriglohnsektors in der Debatte reflektiert.
Alles
deutet nach den gängigen Analysen darauf hin, dass die
Geburtenrate auch in den nächsten Jahren in Deutschland weiter
sinken wird.
Tatsächlich ist die Sachlage viel weniger
eindeutig. Die vorsintflutliche Bevölkerungsstatistik in Deutschland hat
zu einem Datendesaster geführt, das erst vor kurzem auch von den
Bevölkerungswissenschaftlern zugegeben wird. Der Anteil der
Kinderlosen in den jüngeren Geburtsjahrgängen könnte demnach
viel niedriger sein als dies bislang ausgewiesen wird
.
Der Rückgang des Kinderwunsches ist keinesfalls so sicher,
wie es die gängigen Analysen behaupten. Darauf hat u. a. die
Frauenforscherin
Waltraud CORNELISSEN hingewiesen:
Kinderwunsch und Kinderlosigkeit im Modernisierungsprozess
"Der
Anteil der jungen Erwachsenen, die im DJI-Jugendsurvey die
Frage »Möchten Sie einmal Kinder haben?« bejahrten, ist
zwischen 1997 und 2003 gestiegen, während der Anteil
derjenigen, die ihren Kinderwunsch schon realisiert
hatten, in der betrachteten Altersgruppe sank (...).
Entgegen
manch anders lautender Vermutungen (z. B. Dorbritz u.a.
2005: 10), wird hier die These vertreten, dass es bei den
heute unter 30-Jährigen wieder ein größeres
Elternpotenzial gibt, das nach geeigneten
Rahmenbedingungen für eine Familiengründung sucht"
(aus: Der demographische Wandel 2006,
S.143) |
In den nächsten Jahren
könnte es - selbst wenn die GeburtenZAHLEN weiter zurückgehen
sollten - zu einem Anstieg der GeburtenRATE kommen
.
Durch
die jahrelange Debatte um das Elterngeld, das inzwischen
beschlossen wurde, könnte es in den letzten Jahren sogar zum
vermehrten Aufschub von Geburten gekommen sein, die nun
nachgeholt werden. Ein kurzzeitiger Anstieg der GeburtenZAHLEN
liegt aufgrund dieser politischen Eingriffe im Bereich des
Möglichen. Für den zurückliegenden Zeitraum konnte der negative
Einfluss von politischen Debatten auf das generative Verhalten
nachgewiesen werden
. Über
einen Babyboom in speziellen Bevölkerungsgruppen schweigen sich
die Statistiker bislang beharrlich aus, ausgeschlossen werden
kann selbst dies nicht. Der Fall der GeburtenRATE könnte
inzwischen in Deutschland also bereits gestoppt sein. Dies
werden wir jedoch erst in einigen Jahren sicher wissen. Bis
dahin können die nationalkonservativen Familienfundamentalisten jedenfalls ihre Deutung weiterhin
ungehindert in Umlauf bringen.
Frankreich als Idealbild einer nachhaltigen
Gesellschaft?
Spätestens seit Frankreich
in diesem Jahr offiziell die magische Zahl von 2,1 Kinder pro
Frau erreicht hat, gilt die Grande Nation als
bevölkerungspolitisches Musterland. Sowohl Nationalkonservative
als auch Verfechter der Vereinbarkeit von Beruf und Familie
preisen die Geburtenpolitik in Frankreich. Der
Soziologe Karl Otto HONDRICH schließt sich dieser euphorischen
Bewertung jedoch nicht an. Anhand eines Vergleichs Deutschlands
und Frankreichs im 19. und 20. Jahrhundert zeigt HONDRICH auf,
dass die Geburtenentwicklung, Geburtenpolitik und darauf
bezogene Debatten Bestandteil komplexer gesellschaftlicher
Entwicklungen sind. Frankreich gilt HONDRICH als Pionierland des
Übergangs zur Qualitätsproduktion:
Weniger sind mehr
"1789
war Frankreich mit 27,5 Millionen Einwohnern (neben dem
europäischen Russland) das volkreichste Land Europas,
seine Bevölkerung deutlich zahlreicher als diejenige
Deutschlands. 1871/72 hatte Deutschland mit 41 Millionen
das nur langsam wachsende Frankreich mit 36 Millionen
Einwohnern schon überflügelt. (...). Gegenwärtig, fast 100 Jahre später, behauptet
Deutschland seinen Vorsprung mit 82,5 gegenüber 62
Millionen Einwohnern.
Aus diesen Zahlen ist zu erkennen, erstens, dass die
deutsche Bevölkerung über 200 Jahre hinweg, wenn auch in
unterschiedlichen Schüben, deutlich stärker gewachsen ist
als die französische; zweitens, dass Frankreich in der
Verringerung der Geburtenzahl im 19. Jahrhundert deutlich
zum Vorreiter Europas geworden ist; drittens, dass der
Vorrang Frankreichs nicht nur auf ausgefeilte und
ausgedehnte Verhütungspraktiken - und damit bereits auf
eine besondere Stellung der Frau-, sondern auf einen
Modernisierungsvorsprung schlechthin zurückzuführen ist;
viertens, dass der Rückgang der Geburten in Frankreich
unabhängig von der Propaganda für Geburtenkontrolle
verlief, denn er setzte wesentlich früher ein; fünftens,
dass die gegenwärtige geburtenfördernde Politik, für die
Frankreich gerade auch vielen deutschen Politikern als
Vorbild dient, weniger eine Trendumkehr bedeutet, als
vielmehr den schon lange im europäischen Vergleich
vorauseilenden Fall der französischen Geburtenrate
aufhalten soll."
(2007, S.233f.) |
Single-generation.de
hat bereits bei der Besprechung des Buches Die Tyrannei der
Lust von Jean-Claude GILLEBAUD darauf hingewiesen, dass die
bevölkerungspolitischen Debatten keineswegs auf objektive Fakten
reagieren, sondern Ausdruck nationalstaatlicher Kulturen sind
.
Während
Frankreich sich seiner "Entvölkerung" erst nach dem Krieg
1870/71 bewusst wurde, wurde in Deutschland der
"Geburtenrückgang" ab 1905 erst zu Beginn des 1. Weltkrieges
entdeckt, wie HONDRICH aufzeigt. Die gegenwärtige
französische Bevölkerungspolitik beschreibt der Soziologe
nicht als Lösung, sondern als Problem:
Weniger sind mehr
"Wenn
Kultur und Politik (...) nahtlos ineinandergreifen, können
sie allem Anschein nach den Fall der Geburtenrate
aufhalten. Ein Erfolg für das politische System. Aber mit
welchen Folgen? Die Jugendarbeitslosigkeit ist in
Frankreich durchgehend doppelt so hoch wie in Deutschland.
In den Vorstädten der Großstädte erreicht sie 40 bis 50
Prozent. Die Unzufriedenheit der Jungen macht sich in
Unruhen und Brandstiftungen Luft. (...).
Wenn viele
Kinder geboren werden, die mit dem Credo der
Chancengleichheit und der Verheißung beruflicher
Integration heranwachsen, macht sich die Enttäuschung in
offener Gewalt und latenter Aggressivität Luft. Was von
der Politik so lebhaft beklagt wird, ist doch auch von ihr
zu verantworten. Denn eine Bevölkerungspolitik (...) kann
zwar Geburtenraten hoch halten. Mit diesem seinem »Erfolg«
überfordert das politische System sich aber selbst. Denn
seine Macht reicht nicht aus, um für die heranwachsenden
Jugendlichen, auf deren große Zahl es mit nationalem Stolz
blickt, Arbeitsplätze zu schaffen. Die Eigenlogik des
wirtschaftlichen Systems (...) steht dem entgegen."
(2007,
S.246f.) |
Es könnte also durchaus
sein, dass Deutschland mit den anstehenden Problemen des
demografischen Wandels besser zurecht kommt als das
bevölkerungspolitische Musterland Frankreich.
Fazit: Den bevölkerungspolitischen Konsens zu
hinterfragen und den eingeengten Blick auf den aktuellen Geburtenrückgang
zu weiten, ist
die wichtigste Leistung des Buches
Der Vergleich
der soziologischen Theorien von Franz-Xaver KAUFMANN ("Schrumpfende
Gesellschaft") und Karl Otto HONDRICH ("Weniger sind
mehr") zeigt die ganze Spannweite der
sozialwissenschaftlichen Debatte um den aktuellen
Geburtenrückgang. Im
Gegensatz zu KAUFMANN, der in der Ausbreitung kinderloser
Lebensformen das Hauptproblem der demografischen Entwicklung
sieht, weist HONDRICH darauf hin, dass der Fall der Geburtenrate
mehr Vor- als Nachteile hat. Denjenigen,
die wie KAUFMANN eine Geburtenlücke als Problem sehen, entgegnet
HONDRICH, dass ein unverändertes Geburtenverhalten wie es für
die erste Hälfte der 1960er Jahre typisch war, zu gewaltigen
Problemen geführt hätte. Deutschland wäre heute völlig
übervölkert und hätte mit einer unvorstellbaren
Massenarbeitslosigkeit zu kämpfen
.
Die
Theorie der soziokulturellen Evolution weitet den Blick auf das
Zusammenspiel gesellschaftlicher Teilsysteme und deren
Selbstlenkungskräfte. Die Berücksichtigung der Eigenlogik
sozialer Systeme verhindert die Moralisierung individuellen
Verhaltens. Die Entwicklung des demografischen Wandels kann
nicht einfach irgendwelchen Individuen angelastet werden,
sondern ergibt sich aus den Funktionslogiken von Wirtschaft,
Sozialsystem, Politik und Familie. Die Bestrafung von
Kinderlosen, wie sie von Nationalkonservativen befürwortet wird,
ist kein Ausweg, sondern verkennt die gesellschaftlichen Zwänge.
HONDRICHs
Ausführungen geben wichtige Anregungen, weil der Stellenwert
demografischer Kennzahlen zurechtgerückt wird. Nicht die
Stabilität der Bevölkerungszahl, die sich in der
Bestandserhaltungszahl von 2,1 Kindern pro Frau ausdrückt,
sollte Maßstab der Gesellschaftspolitik sein, sondern die
Steigerung der Problemlösefähigkeit von Gesellschaften. Diese
ist jedoch, wie HONDRICH ausführlich zeigt, auch mit weniger
Menschen zu erreichen. Das
Buch Weniger sind mehr ist ein wichtiger Beitrag zur
Brechung des Deutungsmonopols der deutschen
Bevölkerungswissenschaftler, dem sich diese Website verschrieben
hat.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Dies
ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem
nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend
die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt.
Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard
Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die
Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank
Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster
Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der
Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
Es wird aufgezeigt, dass sich die
nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles
im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die
nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen." |
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