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Zitate: Die Gesellschaft
der Langlebigen in der Debatte
Der
Zukunftsschock
"Eine Alternative zur Kinderlosigkeit könnte in der
aufgeschobenen Elternschaft liegen. Männer und Frauen von
heute geraten oft in eine Konfliktsituation - sollen sie
sich den Kindern widmen oder ihrer Karriere? Zukünftig wird
man dieses Problem umgehen, indem man die gesamte Aufgabe
des Kinderaufziehens in die Zeit nach der Pensionierung
verlegt. Das mag heute noch reichlich seltsam klingen. Wenn
die Frage der Geburt aber erst einmal von ihrer biologischen
Basis gelöst ist, kann höchstens noch die Tradition
vorschreiben, daß man möglichst frühzeitig Kinder bekommen
soll. Warum also nicht warten und die Embryos erst dann
kaufen, wenn die berufliche Laufbahn abgeschlossen ist?
Demnach wird sich die Kinderlosigkeit unter jungen Ehepaaren
und auch unter Ehepaaren in den besten Jahren immer mehr
verbreiten, während Kinder immer häufiger von
Sechzigjährigen aufgezogen werden. Die »Ruhestandsfamilie«
kann durchaus zu einer allgemein akzeptierten sozialen
Institution werden."
(Alvin Toffler
1970, S.195)
A
grand old age
"Trends
show that it is not just the old who are getting younger -
even the younger are getting younger and simply refusing to
grow up into responsible adults. Harper said: »There is lots
of evidence that people are delaying adult transitions in
their lives. They are staying in education longer and
putting off kids, marrying or cohabiting until later in
their lives. They know they are not going to die in their
forties, so they can delay settling down.«"
(Anthony Browne & Adam Blenford im
Observer vom 12.05.2002)
Lasst die Alten ran
"Die Sozialversicherungssysteme in
Deutschland, so weiß man, sind unbezahlbar und
beschäftigungsfeindlich. Bismarck, auf dessen
zwangsgenossenschaftliches System alles zurückgeht, begann
mit einer ganz anderen Bevölkerungsstatistik. Da grenzte es
an ein Wunder, wenn Philemon und Baucis im Abendsonnenschein
Enkeln und Urenkeln zuschauen konnten. Die meisten machten
sich früh davon, die Beiträge waren niedrig, das Leben kurz.
Das ist lange vorbei, die Lebensmitte liegt für die meisten,
dem Wohlstand, der Hygiene und dem guten Essen sei Dank,
über vierzig Jahren."
(Michael Stürmer in der Welt vom
21.10.2002)
Was
heißt hier Vergreisung?
"Eine
älter werdende Gesellschaft ist eine reifere,
selbstbewusstere, vielleicht auch risikoärmere, aber
sicherlich weniger gewalttätige und kriegerische
Gesellschaft. Für Konflikte sorgen die Gesellschaften mit
kräftigem Geburtenüberschuss, von dort droht Gefahr. Ein Lob
dem Alter. Man sollte schon mal üben, das Beste draus zu
machen."
(Cora Stephan in der Welt vom 20.06.2003)
"Die
Gerontokratie ist eine Gefahr für die Gesellschaft"
"Die
Welt: In 20 oder 30 Jahren ist die Mehrheit der
Deutschen über 60. Das hat Einfluss auf die politische
Willensbildung. Müssen wir uns dann damit abfinden, dass auf
Kosten der Jüngeren gelebt wird, weil die Älteren die
Mehrheit haben?
Michel: Diese »Gerontokratie« ist
in der Tat eine Gefahr aus unserer heutigen Sicht. Dem muss
man Konzepte entgegensetzen, die »alt« nicht mit »bewahrend«
und »konservativ« in Verbindung bringen, sondern die unsere
überalternde und vor allem schrumpfende Gesellschaft
zukunftsfähig halten. Gerade auch in der Wirtschaft muss ein
Umdenken stattfinden."
(Harald Michel im Interview der Welt vom 18.08.2003)
Ich
will nicht so bleiben wie ich bin
"Nicht mit 30
stabilisiert sich die Persönlichkeit, sondern erst mit 50
verfestigen sich die Charakterzüge. Mit zunehmendem Alter
werden Menschen emotional stabiler, zuverlässiger und
umgänglicher, allerdings nimmt ihre Offenheit für neue
Erfahrungen langsam ab. Nur bei der Extraversion tut sich -
im Durchschnitt - wenig."
[mehr]
(Christian Weber & Jochen Wegner im Focus
Nr.46 v. 10.11.2003)
"Die These ist, dass die meisten
Babyboomer, also meine Generation, viel älter werden als
frühere Generationen. Das bedeutet, dass wir eine andere
Lebensplanung machen müssen. Bisher reichte die
Lebensplanung bis 65. Mit 65 war man müde; es folgten ein
paar Jahre, die man noch geniessen wollte. Wenn man 90 oder
95 wird, braucht man einen anderen Rhythmus. Einer meiner
Vorschläge heisst: Zwischen 50 und 60 nochmals eine neue
Karriere starten. Es hat sich gezeigt, dass die Babyboomer
vom Physiologischen wie vom Psychologischen her im gleichen
Alter zehn Jahre jünger sind als die Generation vorher."
(Roger Schawinski in einem Interview mit
Michael Lütscher in der SonntagsZeitung vom 16.11.2003)
Die
Zerreißprobe
"»Die These von der überforderten
Generation ist derzeit ziemlich in«, sagt Kittlaus, »aber das ist
mir zu defensiv. Die Institutionen sind einfach noch nicht auf
eine langlebige Gesellschaft eingestellt«. Er glaubt nicht an
»sorglose« oder »entscheidungsschwache« Junge, sondern an
natürliche Verzögerungen. Unterstützt wird seine Sicht von
Entwicklungspsychologen und Gerontologen wie der Britin
Sarah Harper, die behaupten, dass sich mit den großen
Lebensspannen der Menschen auch einzelne Lebensphasen verlängern."
[mehr]
(Marc Deckert im Magazin Neon vom
Dezember/Januar 2004)
"Bis
25 bist du nur ein Embryo"
"Wenn ich daran denke, wie naiv ich selbst mit 25 Jahren
war, habe ich das Gefühl: Bis zu diesem Alter ist man
eigentlich noch ein Embryo. Das darf man natürlich auf
keinen Fall sagen, denn sonst denken die 20-Jährigen, man
ist ein Arschloch (...). Ich glaube, dass mit 28, 29
irgendwas in deinem Gehirn passiert. Deine Schaltungen
verändern sich und du bekommst eine Art Distanz, die es dir
vielleicht ermöglicht, die Welt auf eine interessante Art zu
betrachten. Dann zählt es erst."
(Douglas Coupland im Interview von
Marc Deckert
im
Magazin Neon vom Dezember/Januar 2004)
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Warum das Thema Langlebigkeit (noch) nicht
den richtigen Stellenwert in der öffentlichen Debatte hat
Die Gesellschaft der
Langlebigen ist in Deutschland kein Thema, stattdessen wird
unter dem Schlagwort "demografischer Wandel" in erster
Linie der Geburtenrückgang debattiert. Die
sozialpopulistische Debatte benötigt Sündenböcke und Kinderlose
eignen sich dazu bestens. Das
Kinderkriegen einzufordern, das entspricht der
traditionellen Moral ("Seid fruchtbar und mehret Euch"), dagegen
jedoch z. B. aktive Sterbehilfe oder Einschränkungen der
Gesundheitsleistungen für Hochbetagte zu fordern, das ruft -
ganz zu Recht - moralische Entrüstung hervor.
Das Thema Langlebigkeit eignet sich also nicht besonders für
populistische Strategien. Dies hat zuletzt der Fall Philipp MIßFELDER gezeigt.
Was jedoch das Schlimmste daran ist, dem
Problem Langlebigkeit wird man dadurch nicht einmal annähernd gerecht.
Die Erhöhung der Lebenserwartung als
Katastrophenszenario
Typisch für den deutschen
Umgang mit der Langlebigkeit war die Berichterstattung von Axel
VEIEL in der Frankfurter Rundschau anlässlich der zweiten
UNO-Weltversammlung zur Frage des Alterns vom 8. bis 12. April
2002 in Madrid:
Die Betagten von Madrid
"Dass die Überalterung der
Gesellschaft gewöhnlich als Katastrophenszenario gehandelt wird,
hier lässt es sich vergessen. Positives Denken ist angesagt"
(FR 11.04.2002) |
kritisiert VEIEL, der
lieber das Bild vom selbstgefälligen deutschen Rentner auf
Mallorca verbreitet.
1) Problemdefinition: Vergreisung
Überalterung ist noch eine
gemäßigte Umschreibung für die Erhöhung des Durchschnittsalter.
Andere werden deutlicher und schreiben über die Vergreisung.
Die Erhöhung der Lebenserwartung wird damit in den
komplexen Zusammenhang der Bevölkerungsentwicklung
gestellt. Exemplarisch schreibt Jan Boris WINTZENBERG in der
Stern-Titelgeschichte über die vergreiste Republik:
Die vergreiste Republik
"Deutschland vergreist!
(...).
Jede Frau bringt weiterhin im Durchschnitt 1,4 Kinder zur Welt -
wie in den vergangenen 25 Jahren. Die Lebenserwartung steigt
weiter gleichmäßig um zwei bis drei Monate pro Jahr. Die Zahl
der Zuwanderer bleibt bei knapp 200 000 pro Jahr - wie im
Durchschnitt der vergangenen 50 Jahre. Nur wenn wir an einem
oder mehreren dieser Faktoren etwas verändern, wird auch die
Zusammensetzung oder Zahl der Einwohner unseres Landes in der
Zukunft anders aussehen. Ändert sich an den Zahlen nichts, ist
Deutschland, so wie wir es heute kennen, schlicht nicht
überlebensfähig."
(Stern 04.09.2003) |
In diesem
Vergreisungs-Szenario sind Geburtenrückgang, Lebenserwartung
und Zuwanderung die zentralen Faktoren unseres Wohlstandes.
Da die Erhöhung der
Lebenserwartung erwünscht, Zuwanderung aber unerwünscht ist,
wird in diesem Szenario den Kinderlosen der Schwarze Peter
zugeschoben. Die Erhöhung der Lebenserwartung ist in dieser Perspektive zwar
grundsätzlich erwünscht, gilt jedoch im Zusammenhang mit dem
Gesundheitssystem und dem Arbeitsmarkt als Kosten
steigernd und als volkswirtschaftliches Wachstumshemmnis.
Vor Sonnenuntergang
"Heute liegen
bereits die Gesundheitskosten für einen über 60-jährigen
rund achtmal höher als die für jüngere Altersgruppen"
[mehr]
(SZ 22.08.2002) |
war dazu von
Eberhard MOTHS zu lesen. Joachim SCHÖPS hat bereits
im Jahr 1989 für den
Spiegel ein
Vergreisungs-Szenario mit Alterskriegen vorgestellt:
"Es wird erbarmungslose Kämpfe geben"
"Im Jahr 2010 wird die
Alterspyramide, die so gar nicht mehr heißen dürfte, endgültig
auf dem Kopf stehen. Auf 27 Prozent über 60jährige kommen dann
nur noch 18 Prozent unter 20jährige, und es geht so weiter: Zwei
Jahrzehnte später wird jeder dritte ein Alter sein.
In Hamburg zum Beispiel wird es dann um die 300 000 Rentner und
Pensionäre geben, eine Großstadt von Greisen (...). »Wohl
erstmals in der Geschichte der Menschheit«, schreibt die »Stuttgarter
Zeitung«, »könnte das nächste Jahrtausend von einer ganz neuen
Generationen- und damit Gesellschaftsstruktur gekennzeichnet
sein.«
(...).
»Es wird erbarmungslose Verteilungskämpfe geben«, sagt der
Augsburger Altersforscher Konrad Hummel und die Amerikaner haben
dafür schon ein paar deutliche Worte gefunden: Age wars, die
Alterskriege."
(Spiegel Nr.31 v. 31.07.1989) |
2) Problemdefinition: Gerontokratie
Während im
Vergreisungs-Szenario die Kosten und Wachstumshemmnisse im
Mittelpunkt stehen, geht es beim Thema Gerontokratie um die Machtverhältnisse in der
Republik.
Die Machtübernahme der Senioren-Singles wird als Gefahr für die
Gesellschaft beschworen, um sie z.B. mit dem Gegengift eines
Familienwahlrechts oder durch ein schnellstmögliche Rentenreform
zu Lasten der Kinderlosen zu verhindern
.
3) Problemdefinition: negative Altersbilder
Im Feuilleton der
Süddeutschen Zeitung gab es im Jahr 2002 eine Serie über die
Schrecken der Gerontokratie
. Gustav SEIBT schreibt in seinem
Beitrag:
Auf Wiedersehen Schönheit
"Vielleicht ist es
klug, sich von der Schönheit allmählich zu verabschieden.
Wir werden die Welt hässlich machen, wenn wir
lebensgierige alte Säcke geworden sind."
[mehr]
(SZ 10.08.2002) |
Bernd W. KLÖCKNER hat über
die gierigen Alten ein ganzes Buch verfasst.
"Alte Menschen
neigen bekanntlich zum Autismus," weis dagegen Eberhard MOTHS
(SZ, 22.08.2002) und sieht unter der Alterslast sogar das
gesamte Moral- und Rechtssystem implodieren. "Abermillionen
verwirrter Menschen (...) für die es zuhause keine Bleibe gibt"
werden nach MOTHS die Tabuschwellen absenken.
Für Jens BISKY ist
die Gesellschaft der Langlebigen eine stagnierende Gesellschaft,
eine "Gesellschaft in der Duldungsstarre".
Das Bild vom
konservativen und innovationsfeindlichen Alten sowie vom
pflegebedürftigen Alten durchzieht die Horrorszenarien der
alternden Gesellschaft.
Die Erhöhung der Lebenserwartung und die schöne
neue Seniorenwelt
Während die einen uns die
Schrecken der Altenherrschaft aufzeigen, basteln andere am Bild
einer schönen neuen - klassenlosen - Seniorenwelt.
Die Alten als neue Konsumenten
Die Werbeindustrie hat die
"neuen Alten" als kaufkräftige Zielgruppe entdeckt und
wohlklingende Namen für diese Zielgruppen geprägt:
Die Alten: umworben, aber nicht ernst genommen
"Begriffe wie »Master
Consumer«, »Best Ager«, »Golden Consumer« oder »Generation
55plus« - das sind noch die harmloseren Einfälle. Grenzwertig
geschmackssicher sind Varianten wie »Happy Enders«.
(jsc, FAS 03.03.2002) |
Bettina BONDE weis, wofür
die neuen Alten ihr Geld ausgeben werden:
Die Alten sind ein Segen
"Die künftigen Alten
werden ihr Geld anders ausgeben als die heutigen Senioren. Für
die heutigen Berufstätigen ist Freizeitkonsum
selbstverständlich. Das werden sie sich auch im Alter nicht
abgewöhnen. Tourismus, Fitneß- und Bildungsangebote profitieren
davon".
[mehr]
(FAS 24.11.2002)
|
Hannelore SCHLAFFER sieht
die Alten gar als Glücksfall für die Kulturindustrie:
Im
Alter wird der Spleen zur Pflicht
"Der technische und
soziale Wandel rechnet insgeheim mit dem Senior: Der
Glücksmoment des Seniorendaseins ist heute mehr denn je ein
kultureller Glücksfall für alle – Theater, Universitäten,
Hotels, Bäder, Wanderwege, Zeitungen – wir hätten weniger ohne
die Alten; ihr geballter Auftritt verhindert, dass sie
untergehen."
(Die ZEIT 03.07.2003) |
Die Alten als Träger neuer Lebensstile
Trau' keinem unter Sechzig
"Unterstützt durch
die Interessen des Kommerzes, werden sich differenzierte
Altenkulturen herausbilden, vergleichbar mit den heutigen
Jugendkulturen"
[mehr]
(SZ 17.12.2002) |
hofft Tobias TIMM in der
Süddeutschen Zeitung. Hendrik KAFSACK
berichtet in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung
vom US-amerikanischen "Altenparadies" Sun City, wo die
Generation 55+ unter sich ist:
"Das Paradies heißt Sun
City, Sun City West oder Sun City Grand. Der Arbeitswelt und den
ersten Anzeichen des Alters entflohen, wollen sie genießen, 24
Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr: 100 000
Alte, niemand unter 55. Bis daß der Tod sie scheidet, ein Leben
im Freizeitclub. Den Apfel der Erkenntnis weit von sich
geschoben."
(FAS 31.03.2002) |
Bei uns wird dagegen das
Mehr-Generationen-Wohnen propagiert.
Positive Altersbilder
Trau' keinem unter Sechzig
"Man wird sich in der
idealen Altengesellschaft von dem Vorurteil verabschieden
müssen, dass die Alten immer nur konservativ und
innovationsfeindlich sind. Die Gesellschaft darf das Outfit der
Jugendlichkeit getrost ablegen, denn die Jugend garantiert schon
lange nicht mehr automatisch, was sie verspricht: das Neue. So
mancher Rentner ist im Denken frecher und im Handeln
unkonventioneller als der angepasste Twen, der sich
stromlinienförmig auf dem langen Marsch in die Karriere
befindet"
(SZ 17.12.2002)
|
meint Tobias TIMM in der
Süddeutschen Zeitung. Hannelore SCHLAFFER beklagt
dagegen in der Frankfurter Rundschau, dass
es zwar ein Lebensglück für Männer gibt, aber nicht für
Frauen:
Die unwürdige Greisin
"Den Inbegriff von
Lebensglück stellt für den gereiften Menschen das Paar
»alternder Mann mit junger Frau« dar. Es zeigt das Alter, das
kein Alter spürt, weil ihm die Jugend zur Seite geht. Die
Übertragung des Modells auf Frauen, die Konstellation »alte Frau
- Jüngling« wirkt immer noch fragwürdig. Die Medien zeigen ein
paar alternde Filmstars mit jungen Liebhabern, um die Gleichheit
der Chancen vorzutäuschen. Doch haben diese Paare, anders als
der berühmte Mann mit seiner jungen Frau, im bürgerlichen Leben
kaum Entsprechungen. Vor allem sind die Verbindungen, die zu
Stande kommen, so gut wie nie dauerhaft."
(FR 19.08.2003) |
Der Entwicklungspsychologe
Paul B. BALTES verweist auf die Altersweisheit als
Alleinstellungsmerkmal der heutzutage noch von weiten Teilen der
Wirtschaft ignorierten Alten:
Altern hat Zukunft
"Je mehr Lebenserfahrung
und Geisteskraft beim Produzieren einer Leistung oder beim Lösen
eines schwierigen menschlichen Problems gefordert sind, desto
eher können ältere Menschen glänzen. Die jungendliche
Schnelligkeit des Denkens und des Körpers können dann von
Nachteil sein."
(Die ZEIT 27.03.2002) |
Die Gerontologin Ursula
LEHR fordert im Rheinischen Merkur (24.04.2003) ein neues
positives Altersbild:
Vom Verlust keine Spur
"Wirtschaft und Industrie
(...) müssen den Blick stärker auf die kompetenten Älteren
richten und fragen: Wie kann man deren Fähigkeiten erhalten, ja
sogar steigern? Wie kann man deren Lebensraum erweitern, deren
weitgehende Unabhängigkeit weiter sichern?
Dabei sollten Slogans wie »kompetent älter werden«, »alt und
fit« im Vordergrund stehen, nicht aber »For ever young«- und »Anti-aging«
-Strategien rund um Cremes aller Art. Wer etwas gegen das Alter
tun will, sagt damit, dass Alter etwas Negatives ist. Genau von
dieser Vorstellung sollten wir loskommen. Sagen wir doch Ja zum
Älterwerden, zeigen wir, dass man auch als alter Mensch
kompetent bleiben kann!"
[mehr]
(Rheinischer Merkur v. 24.04.2003)
|
Der Langlebigkeitsschock und die Rasanz der
Erhöhung der Lebenserwartung
Laura CARSTENSEN hat im
Tagesspiegel die dramatische Veränderung der Lebenserwartung
im 20. Jahrhundert beschrieben:
Ein Triumph der Kultur
"Für einen Großteil der
menschlichen Geschichte betrug die Lebenserwartung höchstens 27
Jahre, gerade genug, um das Überleben der Spezies zu sichern.
Doch verlängerte sich die Lebenserwartung allmählich und zu
Beginn des 18. Jahrhunderts erreichte sie bereits 37 Jahre. Zu
Beginn des 20. Jahrhunderts lag die durchschnittliche
Lebenserwartung bereits bei 47 Jahren. Und dann geschah etwas
Dramatisches: Innerhalb eines einzigen Jahrhunderts steigerte
sich die Lebenserwartung in den Industrienationen auf sage und
schreibe 77 Jahre."
(Tagesspiegel 27.09.2002) |
Der Futurologe Alvin
TOFFLER hat Ende der 1960er Jahre für die beschleunigte
Gesellschaft den Begriff "Zukunftsschock" (Future Shock)
geprägt:
Der Zukunftsschock
"Stellen wir uns einmal vor, daß nicht nur ein
Individuum, sondern eine ganze Gesellschaft, eine ganze
Generation - mitsamt ihren schwächsten, am wenigsten
intelligenten, unvernünftigsten Mitgliedern - plötzlich in
eine neue Welt versetzt wird. In diesem Fall tritt eine
Massendesorientierung ein, und der gesamte soziale
Organismus wird vom Zukunftsschock bedroht."
(1970,
S.14) |
Analog könnte man vom
"Langlebigkeitsschock" sprechen, um das Problem der
Anpassung unserer Erwartungen an die veränderte Lebensspanne
zu bezeichnen.
Der
Sozialstaatskritiker und Singlefeind Konrad ADAM hat die
emotionalen Vorbehalte gegen eine Gesellschaft der Langlebigen
in der Welt folgendermaßen ausgedrückt:
Die neue Utopie der Altersforschung
"Nicht die Natur
schafft die Probleme, sondern eine Wissenschaft, die (...)
nicht wahrhaben (will), dass die meisten Menschen das
ständige Anwachsen der Lebenserwartung durchaus nicht als
Geschenk, sondern als veritable Drohung empfinden.
Unbeeindruckt von solchen Gefühlen sprechen die
Gerontologen von »gewonnenen Jahren«"
(Welt 03.06.2003) |
Hinter seiner
Kritik verbirgt sich jedoch ein Altersbild, das sich dem
Jugendwahn verdankt:
Die neue Utopie der Altersforschung
"Ein längeres Leben wäre
nur dann ein Gewinn, wenn es mit ewiger Jugend verbunden wäre.
Die Geschichte von Eos, der griechischen Göttin der Morgenröte,
die für ihren Geliebten Tithonos vom Göttervater Zeus die
Unsterblichkeit erwirkt, aber vergessen hatte, die ewige Jugend,
das eigentliche Privileg der Götter, mit zu erbitten, erinnert
daran. Tithonos durfte oder musste ewig leben, nahm allerdings
mit der Zeit die Gestalt einer hässlichen und ewig nörgelnden
Zikade an. Die Altersforschung nennt das Fortschritt."
(Welt 03.06.2003) |
Die mangelnde Anpassung der
Institutionen an die Verlängerung der Lebensspanne
Die Psychologin Laura
CARSTENSEN plädiert im Gegensatz zu Konrad ADAM für eine
neue Sichtweise auf das Alter:
Ein Triumph der Kultur
"Der Blick ist einseitig
auf die negativen Seiten des Alters fixiert, auf Krankheiten und
Verluste. Doch dadurch kommen wir gar nicht zu der Frage »Wie
können wir das ändern?« »Wo liegen die Potenziale des
Älterwerdens?« Bevor wir diese Sicht der Dinge akzeptieren,
sollten wir deshalb die Frage anders stellen: Statt »Wo versagen
alte Menschen?« sollten wir fragen »Wo versagt die Kultur? Wieso
schafft sie es nicht, unser verlängertes Leben zu unterstützen
und davon zu profitieren?«"
(Tagesspiegel v. 27.09.2002) |
Unsere
gesellschaftlichen Institutionen sind in dieser
Perspektive also an die Veränderungen der Lebensspanne noch
nicht angepasst. So reden die
Sozialpolitiker zwar sehr viel vom Drei-Generationen-Vertrag,
der den Zwei-Generationen-Vertrag ablösen muss. Ursula LEHR
schreibt dagegen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:
Warum nicht länger im Beruf bleiben?
"Der
Drei-Generationen-Vertrag ist zu einem Vier-, manchmal sogar
Fünf-Generationen-Vertrag geworden: zwei Generationen im
Rentenalter, manchmal sogar zwei Generationen in der
Ausbildung."
(FAZ 14.11.2002)
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Offenbar werden die
Sozialpolitiker von der rasanten Entwicklung der Lebensspannen
vollkommen überfordert.
Es wäre jedoch
völlig falsch, dies nur als technokratisches oder
machtpolitisches Problem abzutun, vielmehr handelt es sich hier
in erster Linie um ein kulturelles Problem der Anpassung. Der Historiker
Arthur E. IMHOF hat sich Mitte der 1980er Jahre mit dem
Altersbeben in Japan befasst. Dort hat sich die Verlängerung
der Lebenserwartung in der Nachkriegszeit noch dramatischer
entwickelt als hierzulande. Anhand des
japanischen Bestsellers The Twilight Years von Ariyoshi
SAWAKO behandelt IMHOF das Dilemma der berufstätigen
Frau angesichts der traditionellen Verpflichtungen zur
häuslichen Pflege, die mit der modernen Arbeitswelt in Konflikt
geraten (vgl. "Individualismus und Lebenserwartung in Japan.
Japans Interesse an uns" in der Zeitschrift Leviathan,
1986). Alleinlebende
berufstätige Frauen werden heutzutage in Japan als "parasitäre
Singles" beschimpft, weil sie ihren traditionellen Pflichten
nicht nachkommen.
Späte Mädchen
"Achtung,
Veränderungsgefahr! Quer durch die USA
brausen die Schwestern (leicht über
dreißig, endlich von der Pflege der Eltern
erlöst) los, um sich verspätet ein neues -
oder doch lieber das altbewährte? - Leben zu
erobern: die eine keß und abenteuerlustig,
ängstlich-ordentlich die andere, zwei
automobil zwangsvereinte Rivalinnen. Die eine
holt Versäumtes nach, die andere japst
entrüstet mit: Das gehört sich nicht!
Wo soll das enden? Beginnt da was?
Eine urkomische Charakterstudie, ein
Frauen-Roadmovie. Ein starker Roman, gespickt
mit Selbsterkenntnis-Fallen."
(aus: Klappentext 1997) |
Die
US-amerikanische Schriftstellerin Pagan KENNEDY hat in ihrem
Roman Spinsters (1995, deutsch: Späte Mädchen,
1967) die Neudefinition
der Rolle der allein stehenden Frau in den 60er Jahren
beschrieben.
Die
alte Jungfer
war traditionell mit der
Pflege der Eltern betraut. Was
aber, wenn die Eltern gestorben sind? Muss eine allein stehende
Frau dann weiterhin die traditionelle Rolle spielen, oder darf
sie sich auch noch einmal verlieben? Dies sind nur zwei
Beispiele für Probleme, die sich aus veränderten Lebensspannen
und nicht nur aus einem gesellschaftlichen Wandel ergeben.
Die Veränderung der Lebensspanne als
eigenständiges Phänomen ist unterbelichtet
Viel wird über
Globalisierung, Individualisierung, Modernisierung, sozialer
Wandel oder neuerdings über den demografischen Wandel
geschrieben. Die Veränderung der
Lebenserwartung wird in allen diesen Debatten nicht als
eigenständiges Phänomen behandelt, sondern entweder als
abhängige Variable (Vergreisung, Gerontokratie) oder als
Problem, das Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme und
die volkswirtschaftliche Entwicklung hat.
Ausgeblendet
bleiben die Auswirkungen der verlängerten Lebensspannen auf das
individuelle Verhalten.
Eine kopernikanische Wende ist notwendig!
Menschen, die sich den
traditionellen Lebensweisen nicht mehr unterwerfen wollen,
werden oftmals als Hedonisten, Narzissten, Egoisten,
Sozialschmarotzer oder schlicht als verantwortungslos und
bindungsunwillig diffamiert.
Liberale
lassen allenfalls ökonomisch geforderte Mobilität, hohe
Kaufkraft und Flexibilität als Argumente für neue Lebensstile
gelten, während Kommunitaristen Uneinsichtige notfalls
zum Gemeinsinn zwingen möchten. Bevölkerungspolitiker und Wertkonservative möchten
Kinderlose am liebsten zum lebenslangen Gebären, Zeugen und
Erziehen verpflichten, aber zumindest für ihre Uneinsichtigkeit
bestrafen. Keine politische
Argumentation berücksichtigt dagegen die Verlängerung der
Lebensspanne als Phänomen, das eine neuartige Lebensplanung
erfordert, die mit traditionellen Lebensweisen nicht mehr in
Deckung zu bringen ist. Ein einfaches
Zurück zur Familie wie es eine Titelgeschichte im Spiegel
aus dem Jahr 2001
nahe gelegt hat, kann es deshalb nicht geben. Im nachfolgenden
soll nun die übliche Perspektive umgekehrt werden. Es soll
gefragt werden, welche Auswirkungen die verlängerte
Lebenserwartung auf das individuelle Fühlen, Denken und
Verhalten hat.
Der Zusammenhang zwischen dem
Geburtenrückgang und der Verlängerung der Lebensspanne
Der Fluch des Ibsenweibs
"Weltweit und
langfristig gilt: je höher die Lebenserwartung, desto niedriger
die Kinderzahl pro Frau"
[mehr]
(SZ 16.08.2002) |
behauptet Lothar MÜLLER.
Wer bei dieser
Aussage im Kopf hat, dass die lebenslange Kinderlosigkeit
in den modernen Industriestaaten zunimmt, der hat zwar politisch
korrekt gedacht, ist aber gleichzeitig der Debatte um den
demografischen Wandel auf den Leim gegangen.
Nicht die
individuelle Gebärunwilligkeit der Frauen oder die
Zeugungsunwilligkeit der Männer, sondern die veränderte
Struktur des Lebenslaufs beeinflusst das demografische Maß
"Kinderzahl pro Frau".
Im Jahr 2001 habe
ich zu diesem Thema bereits ein Gedankenexperiment
verfasst, das - bei gleich bleibender Kinderzahl - die
Lebensdauer variiert und die Folgen aufzeigt
.
Die britische
Psychologin Sarah HARPER hat sich im Buch The Family in
Ageing Societies (2003) mit den Auswirkungen der
Langlebigkeit auf die Familie beschäftigt.
Walter BRAUN
referiert in der Zeitschrift Psychologie Heute jene Kräfte, die nach Sarah HARPER einen Umbruch in den
Familienstrukturen bewirken:
Die Bohnenstangenfamilie
"Auch das
Fortpflanzungsverhalten scheint durch die steigende
Langlebigkeit (und nicht alleine durch den wachsenden Wohlstand)
beeinflusst zu sein: Seit 1960 haben sich die Geburtsraten in
Westeuropa schlicht halbiert - weit unter das Niveau von 2,1
Kindern pro Familie, das eine stabile Bevölkerungszahl anzeigt.
Die niedrigsten Geburtenziffern Europas sind in Norditalien und
Spanien zu finden".
(Psychologie Heute, Juli 2003)
|
Unklar bleibt hier jedoch,
wie die Langlebigkeit mit dem Geburtenrückgang zusammenhängt. Neben den oben
genannten strukturellen Faktoren könnten auch veränderte
Bedürfnisse und Erwartungshaltungen mit der verlängerten
Lebensspanne zusammenwirken.
Bei HARPER wird
dies unter der Rubrik "Tendenz, wesentliche Lebensentscheidungen
hinauszuschieben" behandelt. Im britischen Observer
erklärt sie dazu:
A
grand old age
"They know they are not
going to die in their forties, so they can delay settling down.«"
(Anthony Browne & Adam Blenford im Observer
vom 12.05.2002).
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Langlebigkeit und die Verlängerung der
Lebensphasen
Die Bohnenstangenfamilie
"Langlebigkeit führt zu
einer Verlängerung der einzelnen Lebensphasen: Paare, die sich
nicht trennen, können zu Beginn des neuen Jahrtausends damit
rechnen, weit über 40 Jahre zusammenzuleben. Eltern und Kinder
ist mehr Zeit miteinander gegönnt (rund 60 Jahre, von denen nur
ein Drittel in der Klassischen Eltern-Kind-Abhängigkeit
verbracht wird, während der Rest der Beziehung eher jener unter
Erwachsenen gleicht)"
(Walter Braun in der Psychologie Heute, Juli
2003)
|
Diese Aussage mag manchen
irritieren, behaupten doch nicht wenige, dass wir in einer
Single-Gesellschaft leben.
Nie zuvor in der
Menschheitsgeschichte lebten jedoch massenhaft so viele
Familienmitglieder gleichzeitig.
Changing Families as Societies Age
"In a recent British
survey, three-quarters of respondents were part of a three, four
or even five-generation family group".
|
schreibt Sarah HARPER in
dem Forschungsbericht Changing Families as Societies Age. Die überwiegende
Mehrheit lebt heute also in Drei-, Vier- oder sogar
Fünf-Generationen-Familien. In einer kürzlich gehaltenen Rede beschreibt die Gerontologin
Ursula LEHR den Wandel der Familienstruktur, der sich in
Deutschland im letzten Jahrhundert vollzogen hat:
Älterwerden in unserer Zeit - eine Herausforderung für den
Einzelnen und die Gesellschaft
"Das quantitative
Verhältnis der Altersgruppen in unserem Land hat sich verändert,
aber auch unter qualitativen Aspekten ist der demografische
Wandel und das Verhältnis zwischen den Generationen zu
diskutieren. Hier ist zunächst einmal der Rückgang der 3- und
2-Generationen-Haushalte und der Anstieg der Ein-Generationen
bzw. Ein-Personen-Haushalte zu erwähnen. Nur 1,1% von allen rund
36 Millionen Haushalten in der Bundesrepublik sind
3-Generationen-Haushalte. Etwa 37% aller Haushalte in
Deutschland sind heute 1-Personen-Haushalte (im Jahr 1900 waren
es nicht einmal 7%!). Von den über75jährigen Frauen leben 68 %
in Ein-Personen-Haushalten! Um 1900 waren 45 % aller Haushalte
5- und mehr -Personen- Haushalte; heute sind es noch 4,4%! –
Diese zunehmende Singularisierung und Individualisierung sollte
keineswegs mit Einsamkeit gleichgesetzt werden. Sie hat aber
Konsequenzen sowohl in bezug auf die Kinderbetreuung als auch
auf etwaige notwendig werdende Hilfs- und Pflegeleistungen im
Alter. Zum anderen aber haben wir gleichzeitig einen Trend zur 4
(bzw.5)-Generationen-Familie. In der ersten Hälfte unseres
Jahrhunderts kannte ein Kind bestenfalls 2 seiner Großeltern.
Heute leben im allgemeinen noch alle 4 Großeltern, oft sogar
noch 2 Urgroßeltern. – Heute kann ein 50jähriger gleichzeitig 5
familiäre Rollen innehaben: er ist der Vater seines Sohnes und
der Großvater seines Enkeln; gleichzeitig der Sohn seiner Mutter
und der Enkel seiner noch lebenden Großmutter. - Rund 20% der
über 60jährigen haben Urenkel; aber ebenso viele haben noch
einen lebenden Elternteil."
(Rede auf dem Deutschen Psychologentag 2003, 22.
Kongress für Angewandte Psychologie vom 2. - 5. 10. in Bonn)
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Hier wird deutlich, dass
die Haushaltsperspektive keinen umfassenden Überblick
über den Wandel vermittelt.
Es muss zwischen
der modernen haushaltsübergreifenden multilokalen
Mehrgenerationen-Familie (Hans BERTRAM) und den
Mehrgenerationen-Haushalten unterschieden werden.
Letztere werden von
Sozialpolitikern idealisiert. Sie waren jedoch nie so weit
verbreitet wie das die Fraktion der Sozialromantiker im
Anschluss an Wilhelm Heinrich RIEHL behaupten. Dagegen sprach u. a.
die Kurzlebigkeit der damaligen Bevölkerung
.
Vom Familienzyklus über den Lebenszyklus zur
Lebensspirale - Die Wissenschaft reagiert auf die Langlebigkeit
Was sich dagegen geändert
hat, das ist die Verlängerung der einzelnen Lebensphasen und die
damit verbundene Auflösung des traditionellen Familienzyklus.
Im Lebensverlauf
wechselt das Individuum nicht mehr von einem Familienhaushalt in
den nächsten, sondern die Mehrzahl der Menschen lebt zumindest
einmal in einem Single-Haushalt oder einem
Paarhaushalt. Mobile Menschen wechseln die Haushaltsform
noch öfters.
Der
Psychoanalytiker Erik H. ERIKSON hat ein einflussreiches
entwicklungspsychologisches Konzept des Lebenszyklus
entworfen. In dem Buch
Der vollständige Lebenszyklus
(1988) beschreibt er die historische Gewordenheit des
Ansatzes der lebenslangen Identitätsbildung:
Der vollständige Lebenszyklus
"Wo immer wir (...)
beginnen, führt uns die zentrale Rolle, die die Lebensphasen in
unserer psychosozialen Theorie spielen, immer näher an die
Problematik der historischen Relativität. So verdeutlicht
ein Rückblick auf die letzten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts,
daß das Alter - sowohl aus theoretischen wie historischen
Gründen - erst in den vergangenen Jahren »entdeckt« wurde, denn
die Erkenntnis, daß es weniger eine Elite von erfahrenen und
weisen Alten ist, die das Bild der Älteren prägt, sondern eine
ständig wachsende Zahl von »Senioren«, machte eine Neubestimmung
unumgänglich. Davor aber war das Erwachsenenalter als
eigenständige entwicklungs- und konflikthafte Phase und nicht
nur als reifer Entwicklungsabschluß erkannt worden (Benedek
1959). Noch früher (in den sechziger Jahren, der Zeit
einer nationalen Identitätskrise, die sich in dramatischer Weise
im öffentlichen Verhalten eines Teils unserer Jugend
reflektierte) galt unsere ganze Aufmerksamkeit der adoleszenten
Identitätskrise, die im Zentrum der Entwicklungsdynamik
des Lebenszyklus steht (Erikson 1959). Und wie schon erwähnt,
gerieten erst um die Mitte dieses Jahrhunderts die »gesunde
Persönlichkeit« des Kindes und die infantilen Phasen, die ja
alle erste in diesem Jahrhundert entdeckt wurden, in den
Mittelpunkt des öffentlichen Interesses."
(1988)
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Es wird hier deutlich,
dass die wissenschaftliche Theoriebildung im 20. Jahrhunderts
gezwungen war auf die massenhafte Verlängerung der Lebensspannen
und die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu
reagieren.
Das Konzept von
ERIKSON ist jedoch ganz am traditionellen Familienzyklus
orientiert, d.h. das Single-Dasein wird als
abweichendes Verhalten betrachtet.
Vor kurzem hat
Matthias HORX im Tagesspiegel auf ein Buch von Maddy
DYCHTWALD hingewiesen:
"Aufbruch aus der Welt von Bossen und Befehlsempfängern"
"In ihrem
Buch »Cycles – How We Will Live, Work and Buy« schildert die
amerikanische Sozioökonomin Maddy Dychtwald eine Kultur der
neuen Lebenszyklen. In einer mittleren Lebenserwartung von 80,
90 Jahren, so Dychtwald, entwickeln sich zwangsläufig völlig
neue Phasen und »Schleifenphänomene«. Menschen steigen mit 60
wieder in neue Berufe ein, sie beginnen vielleicht mit 70 ein
Studium. Und sie verjüngen sich. Wer heute 60 ist, kann aussehen
wie ein 50-Jähriger und denken wie mit 30. Mehrmals im Leben
erleben wir nun Familienphasen mit verschiedenen Partnern. Auch
»remarriages« sind möglich – Neuorientierungen mit demselben
Partner."
(Tagesspiegel v. 26.10.2003)
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Bereits 1978 hat der Pionier der Singleforschung
Peter J. STEIN mit Henry ETZKOWITZ das
Modell der Lebensspirale (Life Spiral)
in der US-amerikanischen
Zeitschrift Alternative Lifestyles vorgestellt. Es hat
bereits damals die nun wieder entdeckten "Schleifenphänomene"
berücksichtigt.
Das
Modell kritisiert die Annahme einer fest gefügten Abfolge von
Rollen, wie sie im Lebenszyklusmodell von Erik H. ERIKSON
vorgesehen sind, stattdessen geht das Lebensspiralen-Modell von
Schleifenphänomen aus.
Nicht
die längere Lebenszeit, sondern der Wandel der Arbeitswelt und
die Bedürfnisvielfalt sind nach STEIN & ETZKOWITZ verantwortlich
für die Auflösung der starren Altersstufen. 1990
merkt Dorothea KRÜGER in ihrem Buch Alleinleben in einer
paarorientierten Gesellschaft zum Lebensspiralen-Modell an:
Alleinleben in einer paarorientieren Gesellschaft
"Das Lebensspiralmodell (...) ermöglicht das
Nebeneinander verschiedener Entwicklungsstufen, die sich
unabhängig vom Lebensalter wiederholen können. Es trägt somit
dem sozialen Wandel Rechnung, indem Unterschiede der
menschlichen Bedürfnisse (z.B. Heirat, Nichtheirat) Anerkennung
finden."
(1990) |
Der Soziologe Günter BURKART
sieht diese Auflösung des Lebenszyklus speziell auf das
Alternativmilieu beschränkt.
Es
wird in Zukunft also gefragt werden müssen, inwieweit die
längere Lebenszeit oder die veränderten gesellschaftlichen
Bedingungen für die veränderten Lebensformen verantwortlich
sind.
Fazit: Langlebigkeit erhöht die Zahl der Singles
Die
Erforschung der Auswirkungen der Langlebigkeit steht erst am
Anfang, dies dürfte nach den Ausführungen klar geworden sein.
Nur
Sozialpopulisten wissen heute schon ganz genau, wie der
demografische Wandel zu bewerten ist und wodurch er im einzelnen
hervorgerufen wird. Die
Kinderlosen sind hierfür die idealen Sündenböcke. Eine Politik,
die Kinderlose bestraft, muss jedoch scheitern, da sie
strukturelle Phänomene wie die Langlebigkeit,
Arbeitsmarktbedingungen, Vorhandensein von Ressourcen und die
Gesetze des Heiratsmarkts außer Acht lässt und stattdessen die
individuellen Handlungsmöglichkeiten überschätzt. Sinnvoller
ist dagegen die Unterstützung von potenziellen Eltern.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Dies ist die
erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem
nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend
die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt.
Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard
Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die
Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank
Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster
Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der
Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
Es wird
aufgezeigt, dass sich die nationalkonservative Kritik
keineswegs nur gegen Singles im engeren Sinne richtet,
sondern auch gegen Eltern, die nicht dem klassischen
Familienverständnis entsprechen.
Die Rede
von der "Single-Gesellschaft" rechtfertigt gegenwärtig
eine Demografiepolitik, die zukünftig weite Teile der
Bevölkerung wesentlich schlechter stellen wird. In
zahlreichen Beiträgen, die zumeist erstmals im Internet
veröffentlicht wurden, entlarvt der Soziologe Bernd
Kittlaus gängige Vorstellungen über Singles als dreiste
Lügen. Das Buch leistet damit wichtige
Argumentationshilfen im neuen Verteilungskampf Alt gegen
Jung, Kinderreiche gegen Kinderarme und
Modernisierungsgewinner gegen Modernisierungsverlierer." |
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