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Zitate aus
150 Jahren Individualisierungsdebatte
Land und Leute
"Die ländliche
Bevölkerung lebt größtentheils
familienweise zusammen, die städtische
dagegen zu einem starken Theile vereinzelt.
Diese Vereinzelung nimmt zu, je mehr die
größeren Städte Großstädte werden."
(Wilhelm Heinrich Riehl, 3.Auflage, 1856.
S.92)
Die Großstadtfamilie
"Schon Mitte des 19.
Jahrhunderts machte man sich ernsthafte
Sorgen um die Massen von unverheirateten
jungen Leuten, welche die Großstädte
füllten. Wilhelm Heinrich Riehl bezeichnete
diese Zu- und Abwandernden als die
»flutende« oder die »schwebende«
Bevölkerung; nicht durch die seßhafte
Bevölkerung, sondern durch eben diese
durchströmende wüchsen unsere Großstädte
so ungeheuerlich. In der Tat mußten in Paris
Junggesellenwohnhäuser für unverheiratete
Commis gebaut werden (...). Er überschätzte
aber den Umfang dieser Bevölkerungsgruppe,
wenn er fortfuhr, die ländliche Bevölkerung
lebe »größtenteils familienweise«, die
städtische dagegen »stark
vereinzelt«(...). Vereinzelung aber war das
schlechthin Gesellschaftswidrige (...). Da es
zu seiner Zeit noch keine Wanderungsstatistik
gab, konnter er nicht sehen, daß der
größte Teil der Wandernden schließlich zur
Ruhe kommen würde und daß die
Familiengründung zwar verzögert, nicht aber
verhindert würde. Die Erscheinung der
Spätheirat beschränkte sich überdies auf
bestimmte soziale Schichten."
(Elisabeth Pfeil, 1973,
S.148f.)
Der Konflikt der zwei Modernen
"Da gibt es schockierende
Entwicklungen: Wilde Ehen, Ehen ohne
Trauschein, Zunahme der Einpersonenhaushalte
im Quadrat, alleinerziehende,
alleinnachziehende, alleinherumirrende
Elternteile.
(...).
Was muß denn noch geschehen, damit die
empirische Soziologie überhaupt die
Möglichkeit einer Begriffsreform ihres
Forschungsfeldes auch nur in Erwägung zieht?
Ich bin sicher, daß auch dann, wenn 70 % der
Haushalte in Großstädten
Einpersonenhaushalte sind (und das ist nicht
mehr lange hin), unsere tapfere
Familiensoziologie mit Millionen Daten
beweisen wird, daß diese 70 % nur deshalb
allein leben, weil sie vorher und nachher in
Kleinfamilien leben."
[mehr]
(aus: Ulrich Beck "Der
Konflikt der zwei Modernen", 1991)
Krisenattribuierungen in der Familiensoziologie
"Die Rede von der
"Familie in der Krise" zählt zum
immer wiederkehrenden Topos in der
sozialwissenschaftlichen Diskussion.
Insbesondere in der Soziologie war und ist
die Neigung zum Entwurf von Krisenszenarien
extrem ausgeprägt (...). Liebe (...)
verkürzte sich dabei rasch auf die Rolle des
Krisenerzeugers wie -beschleunigers und
erlaubte über die Suggestivdefinition
Individualisierung ein Leuchtfeuer zu
entfachen, das zwar das Haus mit Rauch
füllte, aber kaum Helligkeit
verbreitete."
[mehr]
(aus: Claus Mühlfeld
"Krisenattribuierungen in der
Familiensoziologie", 1995)
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Am Anfang
steht die Familienidylle
Jürgen BORCHERT schreibt in seinem
Essay die Familiengeschichte im
Anschluss an den konservativen Volkskundler
Wilhelm Heinrich RIEHL fort. Gleichzeitig
schreibt er die Individualisierungsthese des
Soziologen Ulrich BECK zeitgeistgerecht um. Ausgangspunkt seiner
Argumentation ist der Mythos vom
"ganzen Haus", der Mitte des
19. Jahrhunderts von dem Konservativen W. H.
RIEHL erfunden wurde. BORCHERTs Erzählung gerät
dadurch zur oft wiederholten Verfallsgeschichte
der Familie.
Leider bleibt bei BORCHERT
der Begriffswandel, den er
argumentativ vornimmt, unsichtbar. Das sog.
"ganze Haus" war keine Familie im Sinne
der "blutsverwandten Kleinfamilie",
sondern integrierte auch die nicht-verwandten
kinderlosen Mitglieder der Hausgemeinschaft, d.h.
Singles. Der Historiker Peter BORSCHEID schreibt in dem Aufsatz
Von Jungfern, Hagestolzen und Singles in dem Sammelband
Lebensform Einpersonenhaushalt, herausgegeben von Sylvia
GRÄBE:
Von Jungfern, Hagestolzen und Singles
"Bis ins 18. Jahrhundert
hinein (...) kam den lebenslang
Unverheirateten kaum größere Bedeutung zu.
(...).
Erst die Zugehörigkeit zu einem Haus
öffnete den Zugang zur Gesellschaft, machte
den Menschen zum Mitglied dieser
Gesellschaft. Ansonsten war er rechtlich und
politisch unbehaust, er hatte keine
gesellschaftliche Vertretung, obwohl ein
vollwertiges Mitglied der ständischen
Gesellschaft nur der verheiratete Hausherr
selbst war.
In den um nichtsblutsverwandte Personen
erweiterten Haushalten fand der allergrößte
Teil derjenigen ein Zuhause, die heute die
Einpersonenhaushalte stellen: jüngere Ledige
sowie Witwen und Witwer.
(...).
Die Ledigen wurden in der bäuerlichen
Erwerbsgemeinschaft »Familie« vorwiegend
als Arbeitskraft gesehen und entsprechend
eingesetzt."
(aus: Lebensform Einpersonenhaushalt
1994, S.30)
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Singles gehörten also im
"ganzen Haus" zur "Familie".
Man
kann sogar so weit gehen, und behaupten, dass
ohne die Arbeitsleistung der Singles die
Erwerbsgemeinschaft "Familie" nicht
funktioniert hätte, denn je nach
"Größe und Struktur des elterlichen
Besitzes und dem Alter der Kinder veränderte
sich permanent die Höhe des Bedarfs an fremden
Arbeitskräften" (BORSCHEID, 1994, S.30). Singles waren also
bereits damals die "Melkkühe der
Nation" und von der "Enteignung der
Familie" durch den Sozialstaat kann deshalb
auch heute keinerlei Rede sein.
Die These
vom deutschen Sonderweg ist nicht plausibel
BORCHERT konstruiert zwar einen
deutschen
Sonderweg, wenn er den Verfall der
Familie an das deutsche Recht und den deutschen
Sozialstaat knüpft, aber er käme in Beweisnot,
wenn er erklären müsste, warum Länder wie
Italien
und Spanien eine noch niedrigere
Geburtenrate aufweisen als Deutschland oder die
Überalterung in Japan noch
gravierender ausfällt als hierzulande. Das deutsche
Familien- oder Steuerrecht kann den Rückgang der
Reproduktionsrate nicht erklären, sondern das
Familiensystem ist in komplexere Strukturen
eingebunden, die nationale Grenzen
überschreiten.
Sozialismus
innerhalb einer Familie
Forderte Oska LaFONTAINE noch die
Solidarität eines "Sozialismus innerhalb
einer Klasse", so formuliert BORCHERT in
seinem Essay einen "Sozialismus innerhalb
einer Familie". Wer jedoch
einerseits den Generationenzusammenhang
Familie idyllisiert, um ihn andererseits
zu spalten, der hat nicht die Modernisierung der
Familie im Sinn, sondern verspricht ein nicht
realisierbares Paradies auf Erden. Diese Janusköpfigkeit
der Argumentation von BORCHERT wird nur auf den
zweiten Blick sichtbar. Wenn er von
kinderlosen
Rentnern spricht, dann meint er damit in
erster Linie Rentner, deren Kinder aus dem
Elternhaus ausgezogen sind. Rentner, die nie in
ihrem Leben einen Familienhaushalt geführt
haben, sind und bleiben auch zukünftig eine
vernachlässigbare Minderheit. Es dominiert dagegen die
multilokale
Mehrgenerationenfamilie, die mit der
amtlichen Haushaltsstatistik nicht erfasst wird. BORCHERT spielt die
Generation, die gerade ihre Familienphase lebt,
gegen jene Generationen aus, die sich in der Vor-
bzw. der Nach-Familienphase befinden. Er macht
sich damit zur Zeit zum Anwalt der
Generation Golf.
Borcherts
Reform als Aufgabenverlust der Familie
Im Gegensatz zur vordergründigen
Logik seiner Argumentation möchte er die
"Enteignung der Familie" gar nicht
zurücknehmen, sondern nur die Umverteilung
innerhalb des Generationenzusammenhangs Familie
von der einzelnen Familie auf den Staat
verlagern. Der Soziologe Martin
KOHLI verweist z.B. darauf, dass die
Transfereinkommen
der Rentner nicht in Mallorca verprasst werden
,
sondern zur Unterstützung der eigenen Kinder, Enkel oder
sonstigen Verwandten beitragen. Als Tanten und Onkel sind auch
Singles in dieses System des privaten Generationenvertrags
eingebunden. Dieser bereits
praktizierte "Sozialismus innerhalb einer
Familie" soll nun nicht mehr in Eigenregie
der Familien durchgeführt werden, sondern
staatlich genormt werden. Den damit
verbundenen Funktionsverlust der Familie
vermarktet BORCHERT geschickt als
familienpolitischen Fortschritt. Die erhoffte
Verteilungswirkung wird jedoch durch den
notwendigen Verwaltungsaufwand aufgefressen und
am Ende bleibt ein Nullsummenspiel.
Eine
notwendige Unterscheidung beim
Generationenbegriff
In der familienpolitischen
Debatte wird üblicherweise nicht
ausreichend zwischen biologischen und politischen
Generationen unterschieden
. Auch BORCHERTs
Argumentation lebt von diffusen Begrifflichkeit. Während mit Familie
als Generationenzusammenhang der
biologische
Aspekt betont wird, rückt die
Sozialstaatsdebatte die politischen
Generationen in den Mittelpunkt. In der politischen
Arena werden jeweils unterschiedliche
Zusammenhänge zwischen diesen beiden Dimensionen
hergestellt, um die eigenen Interessen zu
positionieren. Deshalb strukturieren nicht
angemessene statistische Daten, sondern Vorurteile
dieses Feld des Verteilungskampfes. Während der
Generationenbegriff einen spezifischen
Mentalitätsstil thematisiert, wirken sich die
Folgen der durchgesetzten gesetzlichen
Änderungen auf genau definierte
Geburtsjahrgänge aus. Man müsste also in der
Politik genau genommen über Kohorten
sprechen. Begriffe wie 68er,
89er, Generation Golf
oder Generation Berlin werden dagegen
eher nach Gutdünken auf spezielle Personen oder
Jahrgangskollektive angewendet. Dennoch ist die Verwendung
dieser Etiketten nicht ganz beliebig, sondern sie stehen für
jeweils unterschiedliche Interessen
.
Die
ausgeblendete Gegenfigur zur Familie
BORCHERT stellt in seinem
Essay dem benachteiligten Haushalt von Eltern und
Kind ("Familie") den Kinderlosen
("Singles") als Nutzniesser gegenüber. Diese einseitige
Sichtweise verschleiert, dass die
Gegenfigur
zur Familie nicht nur der
"familienlose" Kinderlose ist, sondern
auch der Elternlose dazu gehört.
Fällt der Blick auf die
Elternlosen,
dann werden die wahren Benachteiligten sichtbar.
Gerade in Zeiten, in denen die Erbengeneration
als Leitbild des Normalbürgers propagiert wird,
sollte der Blick auf jene gerichtet werden, die
als Elternlose demnächst doppelt benachteiligt
werden. Im Gegensatz zum
kinderlosen Erben ist der Nicht-Erbe
vollkommen dem Sozialstaats- und Leistungsprinzip
unterworfen.
Wer ist das neue Establishment?
"Andreas ist der Prototyp
der neuen deutschen Elite. Jener
Mittdreißiger, die als junge Menschen in den
hedonistischen 80er-Jahren sozialisiert
wurden (...). Die wissen, dass sie sich nicht
allzu viele Gedanken über die Zukunft machen
müssen, denn keine Generation war je
finanziell so gut abgesichert wie sie: In den
nächsten Jahren werden sie mehr als eine
Billion Euro erben, im Jahr 2000 waren es
allein 150 Millionen Euro. Tendenz steigend.
(...).
Im Zweifelsfall ziehen sie auch gleich in die
Stadt, in der ihre ebenso wohlhabenden Eltern
und die Freunde der Familie wohnen. Kaum ein
Vertreter des neuen Establishments kommt aus
nichtbürgerlichen Verhältnissen. Die
Solidarität mit den nicht Begüterten hält
sich in Grenzen."
(Markus Albers in der Welt
am Sonntag vom 06.01.2002)
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Die jungen
Singles in der Vor-Familienphase als die
Verlierer in Borcherts Modell
Der geplante Abbau des Sozialstaats
- euphemistisch als Umbau bezeichnet - wird
diesen Trend verstärken. Die von BORCHERT
ausgeblendete Gruppe der jungen
Elternlosen ohne Aussicht auf ein bevorstehendes
Erbe werden die Hauptverlierer sein. Statt Chancengleichheit
bei der Familiengründung herzustellen, werden
die Hürden für die benachteiligten
jungen
"Singles" in der Vor-Familienphase
noch höher gesetzt als sie jetzt bereits sind. Durch die
Konzentration der Familienförderung innerhalb
des Familienbildungszyklus auf
die Phase des Familienhaushalts kann der Staat
sehr viel Geld einsparen. Niemand kann
garantieren, dass dieses eingesparte Geld im
vollen Umfang für die Familienförderung
verwendet wird. Dann sind wir aber endlich wieder dort
angelangt, wohin BORCHERT offensichtlich
möchte, wenn er beklagt, dass
Wozu noch Familie?
"nicht mehr nur den
erbenden und besitzenden Kindern, meist den
Erstgeborenen erlaubt (war), zu heiraten und
Nachkommen zu zeugen."
(Jürgen Borchert in der Zeit Nr.3 vom 10.1.2002
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