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Die Schule des Sehens - Wie und warum das
Bevölkerungsbewusstsein im Volk verankert wird
Die demographische Zeitenwende
"Für
das Nichts-Tun und für das Nicht-Wissen-Wollen gibt es
viele Gründe, so daß ich als Autor eine Beweislast spüre,
darlegen zu müssen, warum ich dieses Buch geschrieben
habe. Der wichtigste Beweggrund ist die Aussicht, daß der
demographische Niedergang Deutschlands (und Europa)
rückblickend einmal als ein Vorzeichen für den Abschied
unseres Landes aus seiner tausendjährigen Geschichte
gedeutet werden könnte, ohne daß diese Gefahr den heutigen
Zeitgenossen überhaupt bewußt war."
(2001, S.14)
"So wie das
Umweltbewußtsein nicht von selbst entstand, sondern seit
den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit viel
Aufklärungsarbeit geschaffen wurde, so sollte sich die
Politik die Schaffung eines »Bevölkerungsbewußtseins« zum
Ziel setzen. Das demographische Wissen sollte im
Schulunterricht und außerhalb der Schulen auf breiter
Basis vermittelt werden"
(2001, S.200) |
Die Notwendigkeit einer Verankerung der
Bevölkerungsfrage im Volk ergibt sich aus dem Problem, dass
Bevölkerungsprozesse unsichtbar sind. Wie einem ahnungslosen
Publikum die Gefahren des Bevölkerungsrückgangs nahe gebracht
werden sollte, dem widmete die Süddeutsche Zeitung im
August/September 2002 die sechsteilige Serie In der
demographischen Zeitenwende
. Lothar
MÜLLER beklagte z.B. die mangelnde Anschaulichkeit des Themas:
Der Fluch des
Ibsenweibs
"Ihren
Zugewinn an Wissenschaftlichkeit erkaufte die moderne
Demographie mit einem Verlust an Anschaulichkeit. Ihren
Statistiken über Alterung und Bevölkerungsschwund fehlt
die allgemein zugängliche Hintergrundsprache. Bisher sind
die Experten damit gescheitert, ihren dramatischen Kurven
und Zahlen im Publikum mehr als episodische Aufmerksamkeit
zu verschaffen. Mit den fahrigen Gesten einer eher vagen
Irritation haben die Deutschen die Botschaft sogleich an
die Ausschüsse der Rentenreformkommissionen verwiesen.
Beharrlich unterwerfen sie die sich abzeichnenden
lebensweltlich-kulturellen Konsequenzen von Alterung und
Bevölkerungsschwund einem Bilderverbot." (SZ
16.08.2002)
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Die Serie der SZ
war Teil einer breit angelegten Medienkampagne, die seit der
Jahrtausendwende die Bevölkerungsfrage mit Vehemenz in der Öffentlichkeit auf die Agenda
setzte. Damit wurde der Wechsel von der Familien- zur
Bevölkerungspolitik vorbereitet, der im Jahr 2002 mit Hilfe der
sozialdemokratischen Familienministerin Renate SCHMIDT
eingeleitet wurde. Diana AUTH & Barbara HOLLAND-CUNZ sehen
in dem Sammelband
Grenzen der Bevölkerungspolitik die
öffentliche Bevölkerungsdebatte als Voraussetzung dafür, dass
bevölkerungspolitische Maßnahmen überhaupt greifen können.
Grenzen der Bevölkerungspolitik
"Diskurse
(scheinen) erfolgreichere Steuerungsmöglichkeiten
darzustellen als Strategien und/oder sind deren
unverzichtbare Begleiter. Ohne die Unterstützung durch
demographische Diskurse - wer glaubt schon noch daran,
dass die Rente sicher ist? - wären die
bevölkerungspolitischen Strategien wirkungslos. Erst wenn
die Diskurse den Boden bereitet haben, können pro- oder
antinatalistische Maßnahmen überhaupt zeigen, ob sie ihr
Steuerungspotenzial entfalten können. Um beim
Rentenbeispiel zu bleiben: Ohne die Bilder kinderloser
Großstädte und überfüllter Pflegeheime mit vor sich hin
vegetierenden Alten würde die staatlich geförderte private
Altersvorsorge vermutlich überhaupt nicht funktionieren."
(2007, S.14f.) |
Auch der Historiker
ETZEMÜLLER sieht in der kulturellen Steuerung den eigentlichen
Zweck des Bevölkerungsdiskurses:
Ein ewigwährender Untergang
"Wie
soll man nun die Geschichte des Bevölkerungsdiskurses
schreiben? Als Geschichte einer hundertjährigen Mahnung,
die nie erhört wurde, wofür wir bald die Quittung
erhalten? So würden das gerne einige Demographen lesen.
Oder als Geschichte einer hundertjährigen Hysterie, die
jetzt vorbei ist? Das scheint nicht der Fall zu sein,
wenigstens nicht in Deutschland. Eher ist es wohl die
Erfolgsgeschichte einer Matrix, die es seit nunmehr 100
Jahren erlaubt, durch den Zugriff auf Bevölkerung
Gesellschaft zu regulieren, nicht normierend, nicht
disziplinierend, sondern normalisierend. Das macht die
verborgene Kraft eines Diskurses aus, der nur scheinbar
ständig gescheitert ist." (2007, S.163) |
Der Historiker Matthias
WEIPERT hat in seinem Buch "Mehrung der Volkskraft" die
bürgerliche Debatte zwischen 1890 und 1933 anhand von
Konversationslexika wie Brockhaus und Meyer sowie
anhand kultureller Rundschauzeitungen (Die neue Rundschau,
Freie Bühne, das Hochland und Die Tat)
untersucht,
die ein breites Spektrum bürgerlicher Meinungen abdeckten. Die
Struktur der bevölkerungspolitischen Argumentation beschreibt er
folgendermaßen:
"Mehrung der Volkskraft"
"Die
Bevölkerungsdiskurse schufen durch ihr Krisennarrativ
einerseits das Bedürfnis nach Überwindung, das sie
andererseits zugleich auch befriedigten, indem sie in als
chaotisch, zerrissen und apokalyptisch wahrgenommen Zeiten
nicht nur einen Hoffnungsschimmer lieferten, sondern auch
umfassende Lösungen versprachen, nämlich die aus dem Gleis
gesprungene Moderne durch bevölkerungspolitische Maßnahmen
wieder in die richtigen Bahnen lenken zu können."
(2006,
S.235f.) |
Über die Wirksamkeit des
katastrophischen Gestus (ETZEMÜLLER) kann man jedoch
unterschiedlicher Meinung sein. Der Erfolg könnte nämlich ins
Gegenteil umschlagen. Der Alarmismus könnte dazu führen, dass
die positive Botschaft, die als alternativlos daherkommt,
langfristig die Glaubwürdigkeit untergräbt. Der
Erfolg des Buches Anleitung zum Zukunftsoptimismus von
Matthias HORX zeigt jedenfalls, dass neben einer
"Angstindustrie" auch eine "Hoffnungsindustrie" entstanden ist.
Anleitung zum Zukunftsoptimismus
"Unter
Alarmismus verstehen wir ein soziokulturelles Phänomen,
bei dem Zukunftsängste epidemieartig in weiten
Bevölkerungskreisen grassieren. Diese Ängste entstehen aus
einer bestimmten Interpretation von Gefahrenmomenten, die
durchaus reale Ursprünge (oder Teilaspekte) aufweisen
kann. Diese Gefahren werden jedoch symbolisch überhöht und
auf ein vereinfachtes, eben katastrophisches Modell
reduziert"
(2007, S.24)
Alarmismus ist, wie ich in diesem Buch zeigen möchte,
nicht nur ein kulturgebundener Reflex auf Bedrohungen,
sondern verselbständigt sich zu einer gewaltigen
Industrie. Mit Alarmismus kann man Politik machen;
Machtpolitik, Geldpolitik, Mentalpolitik. Hier geht es um
die »große Knappheit« der Informationsgesellschaft:
Aufmerksamkeit. Wodurch kann man Aufmerksamkeit besser
organisieren als durch Ängste?"
(2007, S.25f.) |
Weder hysterischer
Alarmismus à la Herwig BIRG, noch überzogener Zukunftsoptimismus
à la HORX ist jedoch in Sachen Demografie weiterführend. Es
geht vielmehr um einen Perspektivenwechsel, der nicht nur - wie
HORX - die Modernisierungsgewinner, sondern auch die
Modernisierungsverlierer berücksichtigt. Neuere Untersuchungen
zu sozialen Milieus in Deutschland gehen von einer zunehmenden
Segmentierung (Gero NEUGEBAUER "Politische Milieus in
Deutschland", 2007) oder
gar Spaltung der Gesellschaft aus (z.B. "Deutschland -
eine gespaltene Gesellschaft", 2006).
Deshalb
ist die Frage wichtig, worauf sich der "Erfolg" der kulturellen
Steuerung durch Bevölkerungsdiskurse gründet. Hierzu bietet das
Buch von Thomas ETZEMÜLLER reichlich Anschauungsmaterial. Wer
die Schule des Sehens durchschaut, der macht den Weg frei für
ein neues Denken über Bevölkerung, wie im folgenden aufgezeigt werden soll.
Die politische Konstruktion der
Geburtenkrise
Im Februar 2004 hat
single-generation.de die Unzulänglichkeiten der Datenlage in
der gegenwärtigen bevölkerungspolitischen Debatte aufgezeigt
. In der
öffentlichen Debatte galt die Datenlage dagegen als unumstritten. Die
Herstellung von Zweifelsfreiheit war ein wichtiges Prinzip der
Medienkampagne. Matthias WEIPERT hat nachgewiesen, dass dies
bereits für die öffentliche Debatte des Bürgertums zu Beginn des
20. Jahrhunderts galt. Selbst Prognosen zur
Bevölkerungsentwicklung waren bereits gängige Praxis, um Ängste
zu schüren:
"Mehrung der Volkskraft"
"Während
innerhalb des fachlichen Diskurses heftig über die
richtige Erklärung für den Geburtenrückgang gestritten
wurde, kümmerten diese Auseinandersetzungen in den
außerfachlichen Debatten. Das »national-demografische«
Krisennarrativ bildete hier augenscheinlich den
Schwerpunkt der publizistischen Anstrengungen und
verstärkte die auch von Nationalökonomen,
Sozialwissenschaftlern und Medizinern geäußerten
Besorgnisse. Es waren jedoch nicht - das soll hier noch
einmal festgehalten werden - die gegenwärtigen
demografischen Entwicklungen, die Anlass zur Sorge gaben,
sondern die für die Zukunft erwarteten. Nur der
Zusammenhang von prognostizierter Bevölkerungsentwicklung
und den apokalyptischen Deutungen der wirtschaftlichen,
ökonomischen und politischen Folgeentwicklungen kann die
panikartigen Reaktionen auf den Geburtenrückgang
erklären."
(2006, S.70) |
WEIPERT beschreibt wie die
Debatte um den Geburtenrückgang, die erst um 1900 einsetzte,
obgleich der Fruchtbarkeitsrückgang bereits weit früher begann,
durch den Ersten Weltkrieg beschleunigt wurde. Hier gibt es also
Parallelen zur Gegenwart. Denn auch nach der Jahrhundertwende
wurde der 11. September 2001 und die Behauptung eines "Kampfes
der Kulturen" dazu benutzt, um die bevölkerungspolitische
Dringlichkeit auch außenpolitisch zu rechtfertigen
. WEIPERT
zeigt zudem, dass die Debatte um den Geburtenrückgang zuerst
hauptsächlich im Zusammenhang mit den Kriegsfolgen und dem Wille
zum nationalen Wiederaufstieg zur Großmacht diskutiert wurde. Im
Hinblick auf die heutige Debatte ist aufschlussreich, dass die
Auswirkungen des Geburtenrückgangs auf den Sozialstaat erst Ende
der 1920er Jahre in den Mittelpunkt rückte. Entscheidend waren
hierfür die Arbeiten des Bevölkerungsstatistikers Friedrich
BURGDÖRFER:
"Mehrung der Volkskraft"
"Laut
Burgdörfer stand den Deutschen beim derzeitigen
Reproduktionsverhalten eine gewaltige Altersverschiebung
bevor; die Zahl der Erwerbstätigen werde drastisch
abnehmen, die Gruppe der über 65-jährigen jedoch stark
wachsen. Das habe massive Auswirkungen auf das
Sozialversicherungssystem und die Wirtschaft, weshalb die
Jugend vor der »Vergreisung« durch die Erhöhung der
Geburtenziffern bewahrt werden müsse."
(2006, S.69f.)
Volk ohne Jugend
"Wer
die Jugend hat, hat die Zukunft! Wenn das Wort wahr ist,
dann gilt es nicht nur für Vereine und Parteien, sondern
auch im Leben der Völker, und es gilt dann auch die
Umkehrung: Ein Volk, das keine Jugend hat, hat keine
Zukunft. Eine Volk ohne Jugend ist ein Volk ohne Hoffnung,
ein Volk ohne Zukunft! Nicht Niederlage und politische
Unterdrückung entscheiden letztlich über die Zukunft eines
Volkes, sondern die Stärke seines biologischen
Lebenswillens.
(...).
Ausgelöscht und ausgetilgt kann ein Volk nur durch sich
selber, durch seine eigene Unfruchtbarkeit werden. Das ist
der gefährlichste Feind jeden Volkes. Kein Volk stirbt
eigentlich aus, es wird »ausgeboren«.
In dieser Gefahr steht unser deutsches Volk.
(...).
Der zweite Teil der Schrift befaßt sich mit den durch den
Geburtenschwund heraufbeschworenen Problemen der
Überalterung und der kommenden Vergreisung des deutschen
Volkskörpers und ihren weittragenden
volkswirtschaftlichen, sozialpolitischen,
kulturpolitischen und volkspolitischen Auswirkungen und
Gefahren."
(Aus dem Vorwort von Friedrich Burgdörfer,
1932) |
Hier leistet nun wieder
das Buch von ETZEMÜLLER hervorragende Dienste. Im Kapitel
Pyramide - Glocke - Urne: Die Gefahr sehen lernen beschreibt
der Historiker die Bildersprache der Bevölkerungsstatistik. Dazu
werden zahlreiche Stilmittel anschaulich dargestellt, mit denen
die Apologeten der Bevölkerungspolitik die volkspädagogische
Erziehung bewerkstelligten.
Die
gegenwärtige Debatte greift immer noch auf die gleichen Mittel
zurück, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts populär
wurden. Es konnte also im Jahr 2002 gar keine Rede davon sein,
dass die Bebilderung des demografischen Wandels ein Problem sei,
wie Lothar MÜLLER in der SZ-Serie klagte. Die
Argumentationsfiguren und ihre Methoden der unterschwelligen
Vermittlung waren längst erfunden und erprobt.
Ein ewigwährender Untergang
"Seit
Beginn des 20. Jahrhunderts tauchen immer raffiniertere
Techniken des Sichtbarmachens in den Texten zur
Bevölkerungsfrage auf. Karten, Graphiken, kurze
Statistiken; normierte Symbole, die quantitative
Unterschiede, Kurven, die zeitliche Entwicklungen, Karten,
die Vergleiche visualisieren. Immer weniger Blicke wurden
notwendig, um diesen Darstellungen Zustände und
Entwicklungslinien entnehmen zu können.
(...).
Es wird nicht neutral abgebildet, sondern ihm wird eine
spezifische Form verliehen. So ist auch die
Bevölkerungsfrage in unzähligen Graphiken, Karten und
Beschreibungen und durch unzählige Wiederholungen
derselben Schemata überhaupt erst als Problem konstituiert
worden. Erst das hat die Bevölkerungsfrage immer populärer
gemacht, daß sie immer begreiflicher wurde: reduziert auf
zwei grundlegende graphische Zahlen."
(2007, S.84f.) |
Dass heutzutage immer noch
von der "Bevölkerungspyramide" gesprochen wird und damit
alle Formen der Altersstruktur einer Bevölkerung gemeint
sein können, auch wenn sie gar keine Pyramidenform mehr besitzen, das
deutet bereits auf eine lange Verankerung im "kollektiven
Gedächtnis" der Deutschen hin. Die Pyramidenform des Altersaufbaus gilt auch heute
noch den meisten Menschen - zu Unrecht - als die Idealform der Altersstruktur
einer Bevölkerung. Die Abweichungen davon gelten als
bedrohend. Bereits der Begriff "Urne" für die Altersstruktur
einer "vergreisenden" Gesellschaft deutet die Gefahr des
"Volkstodes" an. Die Katastrophe ist bereits in unseren Köpfen,
bevor wir überhaupt danach fragen können, ob unsere Situation
wirklich katastrophal ist. Die Popularität dieser Assoziationen haben wir Friedrich BURGDÖFER zu verdanken:
Ein ewigwährender Untergang
"Eine
Graphik vor allem erlangte eine einmalige
Durchschlagskraft - bis heute: Es ist die Abfolge
Pyramide, Glocke, Urne. sie soll auf Friedrich Burgdörfer
zurückgehen, ist aber auch bei früheren Autoren zu finden.
Burgdörfer hat den Dreischritt allerdings in seiner
graphisch reinsten Form popularisiert und zum Paradigma
der Bevölkerungsentwicklung erhoben (...). Die Pyramide
steht für einen idealen Bevölkerungszustand, eine
machtvolle Basis junger Menschen, die sich nach oben zu
wenigen Alten kontinuierlich verjüngt, solide wie ein
ägyptisches Bauwerk. Doch dann schlägt die Glocke und
indiziert Geburtenabnahme und Überalterung der
Gesellschaft. (...). Die Urne schließlich steht am Ende
der Geschichte (...). In einem genialen Übersprung von
Metapher zu Evidenz symbolisiert dieses Triptychon aus
Form und Begriff den Ablauf einer Bevölkerungsentwicklung
von einem Ideal- zu einem Kastrophalzustand, die angeblich
der Moderne geschuldet und kaum je umkehrbar ist."
(2007, S.85) |
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