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Thema des Monats

 
       
   

Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert

 
       
   

Der Historiker Thomas Etzemüller arbeitet in seinem aufschlussreichen Buch "Ein ewigwährender Untergang" die Grundstruktur der Bevölkerungsdebatte heraus, um ein neues Denken über die Bevölkerung möglich zu machen (Teil 2)

 
       
     
       
     
       
   
     
 

Die Schule des Sehens - Wie und warum das Bevölkerungsbewusstsein im Volk verankert wird

Die demographische Zeitenwende

"Für das Nichts-Tun und für das Nicht-Wissen-Wollen gibt es viele Gründe, so daß ich als Autor eine Beweislast spüre, darlegen zu müssen, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Der wichtigste Beweggrund ist die Aussicht, daß der demographische Niedergang Deutschlands (und Europa) rückblickend einmal als ein Vorzeichen für den Abschied unseres Landes aus seiner tausendjährigen Geschichte gedeutet werden könnte, ohne daß diese Gefahr den heutigen Zeitgenossen überhaupt bewußt war."
(2001, S.14)

"So wie das Umweltbewußtsein nicht von selbst entstand, sondern seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit viel Aufklärungsarbeit geschaffen wurde, so sollte sich die Politik die Schaffung eines »Bevölkerungsbewußtseins« zum Ziel setzen. Das demographische Wissen sollte im Schulunterricht und außerhalb der Schulen auf breiter Basis vermittelt werden"
(2001, S.200)

Die Notwendigkeit einer Verankerung der Bevölkerungsfrage im Volk ergibt sich aus dem Problem, dass Bevölkerungsprozesse unsichtbar sind. Wie einem ahnungslosen Publikum die Gefahren des Bevölkerungsrückgangs nahe gebracht werden sollte, dem widmete die Süddeutsche Zeitung im August/September 2002 die sechsteilige Serie In der demographischen Zeitenwende . Lothar MÜLLER beklagte z.B. die mangelnde Anschaulichkeit des Themas:

Der Fluch des Ibsenweibs

"Ihren Zugewinn an Wissenschaftlichkeit erkaufte die moderne Demographie mit einem Verlust an Anschaulichkeit. Ihren Statistiken über Alterung und Bevölkerungsschwund fehlt die allgemein zugängliche Hintergrundsprache. Bisher sind die Experten damit gescheitert, ihren dramatischen Kurven und Zahlen im Publikum mehr als episodische Aufmerksamkeit zu verschaffen. Mit den fahrigen Gesten einer eher vagen Irritation haben die Deutschen die Botschaft sogleich an die Ausschüsse der Rentenreformkommissionen verwiesen. Beharrlich unterwerfen sie die sich abzeichnenden lebensweltlich-kulturellen Konsequenzen von Alterung und Bevölkerungsschwund einem Bilderverbot." (SZ 16.08.2002)

Die Serie der SZ war Teil einer breit angelegten Medienkampagne, die seit der Jahrtausendwende die Bevölkerungsfrage mit Vehemenz in der Öffentlichkeit auf die Agenda setzte. Damit wurde der Wechsel von der Familien- zur Bevölkerungspolitik vorbereitet, der im Jahr 2002 mit Hilfe der sozialdemokratischen Familienministerin Renate SCHMIDT eingeleitet wurde. Diana AUTH & Barbara HOLLAND-CUNZ sehen in dem Sammelband Grenzen der Bevölkerungspolitik die öffentliche Bevölkerungsdebatte als Voraussetzung dafür, dass bevölkerungspolitische Maßnahmen überhaupt greifen können.   

Grenzen der Bevölkerungspolitik

"Diskurse (scheinen) erfolgreichere Steuerungsmöglichkeiten darzustellen als Strategien und/oder sind deren unverzichtbare Begleiter. Ohne die Unterstützung durch demographische Diskurse - wer glaubt schon noch daran, dass die Rente sicher ist? - wären die bevölkerungspolitischen Strategien wirkungslos. Erst wenn die Diskurse den Boden bereitet haben, können pro- oder antinatalistische Maßnahmen überhaupt zeigen, ob sie ihr Steuerungspotenzial entfalten können. Um beim Rentenbeispiel zu bleiben: Ohne die Bilder kinderloser Großstädte und überfüllter Pflegeheime mit vor sich hin vegetierenden Alten würde die staatlich geförderte private Altersvorsorge vermutlich überhaupt nicht funktionieren."
(2007, S.14f.)

Auch der Historiker ETZEMÜLLER sieht in der kulturellen Steuerung den eigentlichen Zweck des Bevölkerungsdiskurses:

Ein ewigwährender Untergang

"Wie soll man nun die Geschichte des Bevölkerungsdiskurses schreiben? Als Geschichte einer hundertjährigen Mahnung, die nie erhört wurde, wofür wir bald die Quittung erhalten? So würden das gerne einige Demographen lesen. Oder als Geschichte einer hundertjährigen Hysterie, die jetzt vorbei ist? Das scheint nicht der Fall zu sein, wenigstens nicht in Deutschland. Eher ist es wohl die Erfolgsgeschichte einer Matrix, die es seit nunmehr 100 Jahren erlaubt, durch den Zugriff auf Bevölkerung Gesellschaft zu regulieren, nicht normierend, nicht disziplinierend, sondern normalisierend. Das macht die verborgene Kraft eines Diskurses aus, der nur scheinbar ständig gescheitert ist." (2007, S.163)

Der Historiker Matthias WEIPERT hat in seinem Buch "Mehrung der Volkskraft" die bürgerliche Debatte zwischen 1890 und 1933 anhand von Konversationslexika wie Brockhaus und Meyer sowie anhand kultureller Rundschauzeitungen (Die neue Rundschau, Freie Bühne, das Hochland und Die Tat) untersucht, die ein breites Spektrum bürgerlicher Meinungen abdeckten. Die Struktur der bevölkerungspolitischen Argumentation beschreibt er folgendermaßen:

"Mehrung der Volkskraft"

"Die Bevölkerungsdiskurse schufen durch ihr Krisennarrativ einerseits das Bedürfnis nach Überwindung, das sie andererseits zugleich auch befriedigten, indem sie in als chaotisch, zerrissen und apokalyptisch wahrgenommen Zeiten nicht nur einen Hoffnungsschimmer lieferten, sondern auch umfassende Lösungen versprachen, nämlich die aus dem Gleis gesprungene Moderne durch bevölkerungspolitische Maßnahmen wieder in die richtigen Bahnen lenken zu können."
(2006, S.235f.)

Über die Wirksamkeit des katastrophischen Gestus (ETZEMÜLLER) kann man jedoch unterschiedlicher Meinung sein. Der Erfolg könnte nämlich ins Gegenteil umschlagen. Der Alarmismus könnte dazu führen, dass die positive Botschaft, die als alternativlos daherkommt, langfristig die Glaubwürdigkeit untergräbt. Der Erfolg des Buches Anleitung zum Zukunftsoptimismus von Matthias HORX zeigt jedenfalls, dass neben einer "Angstindustrie" auch eine "Hoffnungsindustrie" entstanden ist.

Anleitung zum Zukunftsoptimismus

"Unter Alarmismus verstehen wir ein soziokulturelles Phänomen, bei dem Zukunftsängste epidemieartig in weiten Bevölkerungskreisen grassieren. Diese Ängste entstehen aus einer bestimmten Interpretation von Gefahrenmomenten, die durchaus reale Ursprünge (oder Teilaspekte) aufweisen kann. Diese Gefahren werden jedoch symbolisch überhöht und auf ein vereinfachtes, eben katastrophisches Modell reduziert"
(2007, S.24)

Alarmismus ist, wie ich in diesem Buch zeigen möchte, nicht nur ein kulturgebundener Reflex auf Bedrohungen, sondern verselbständigt sich zu einer gewaltigen Industrie. Mit Alarmismus kann man Politik machen; Machtpolitik, Geldpolitik, Mentalpolitik. Hier geht es um die »große Knappheit« der Informationsgesellschaft: Aufmerksamkeit. Wodurch kann man Aufmerksamkeit besser organisieren als durch Ängste?"
(2007, S.25f.)

Weder hysterischer Alarmismus à la Herwig BIRG, noch überzogener Zukunftsoptimismus à la HORX ist jedoch in Sachen Demografie weiterführend. Es geht vielmehr um einen Perspektivenwechsel, der nicht nur - wie HORX - die Modernisierungsgewinner, sondern auch die Modernisierungsverlierer berücksichtigt. Neuere Untersuchungen zu sozialen Milieus in Deutschland gehen von einer zunehmenden Segmentierung (Gero NEUGEBAUER "Politische Milieus in Deutschland", 2007) oder gar Spaltung  der Gesellschaft aus (z.B. "Deutschland - eine gespaltene Gesellschaft", 2006). Deshalb ist die Frage wichtig, worauf sich der "Erfolg" der kulturellen Steuerung durch Bevölkerungsdiskurse gründet. Hierzu bietet das Buch von Thomas ETZEMÜLLER reichlich Anschauungsmaterial. Wer die Schule des Sehens durchschaut, der macht den Weg frei für ein neues Denken über Bevölkerung, wie im folgenden aufgezeigt werden soll.

Die politische Konstruktion der Geburtenkrise

Im Februar 2004 hat single-generation.de die Unzulänglichkeiten der Datenlage in der gegenwärtigen bevölkerungspolitischen Debatte aufgezeigt . In der öffentlichen Debatte galt die Datenlage dagegen als unumstritten. Die Herstellung von Zweifelsfreiheit war ein wichtiges Prinzip der Medienkampagne. Matthias WEIPERT hat nachgewiesen, dass dies bereits für die öffentliche Debatte des Bürgertums zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt. Selbst Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung waren bereits gängige Praxis, um Ängste zu schüren:

"Mehrung der Volkskraft"

"Während innerhalb des fachlichen Diskurses heftig über die richtige Erklärung für den Geburtenrückgang gestritten wurde, kümmerten diese Auseinandersetzungen in den außerfachlichen Debatten. Das »national-demografische« Krisennarrativ bildete hier augenscheinlich den Schwerpunkt der publizistischen Anstrengungen und verstärkte die auch von Nationalökonomen, Sozialwissenschaftlern und Medizinern geäußerten Besorgnisse. Es waren jedoch nicht - das soll hier noch einmal festgehalten werden - die gegenwärtigen demografischen Entwicklungen, die Anlass zur Sorge gaben, sondern die für die Zukunft erwarteten. Nur der Zusammenhang von prognostizierter Bevölkerungsentwicklung und den apokalyptischen Deutungen der wirtschaftlichen, ökonomischen und politischen Folgeentwicklungen kann die panikartigen Reaktionen auf den Geburtenrückgang erklären."
(2006, S.70)

WEIPERT beschreibt wie die Debatte um den Geburtenrückgang, die erst um 1900 einsetzte, obgleich der Fruchtbarkeitsrückgang bereits weit früher begann, durch den Ersten Weltkrieg beschleunigt wurde. Hier gibt es also Parallelen zur Gegenwart. Denn auch nach der Jahrhundertwende wurde der 11. September 2001 und die Behauptung eines "Kampfes der Kulturen" dazu benutzt, um die bevölkerungspolitische Dringlichkeit auch außenpolitisch zu rechtfertigen . WEIPERT zeigt zudem, dass die Debatte um den Geburtenrückgang zuerst hauptsächlich im Zusammenhang mit den Kriegsfolgen und dem Wille zum nationalen Wiederaufstieg zur Großmacht diskutiert wurde. Im Hinblick auf die heutige Debatte ist aufschlussreich, dass die Auswirkungen des Geburtenrückgangs auf den Sozialstaat erst Ende der 1920er Jahre in den Mittelpunkt rückte. Entscheidend waren hierfür die Arbeiten des Bevölkerungsstatistikers Friedrich BURGDÖRFER:

"Mehrung der Volkskraft"

"Laut Burgdörfer stand den Deutschen beim derzeitigen Reproduktionsverhalten eine gewaltige Altersverschiebung bevor; die Zahl der Erwerbstätigen werde drastisch abnehmen, die Gruppe der über 65-jährigen jedoch stark wachsen. Das habe massive Auswirkungen auf das Sozialversicherungssystem und die Wirtschaft, weshalb die Jugend vor der »Vergreisung« durch die Erhöhung der Geburtenziffern bewahrt werden müsse."
(2006, S.69f.)

Volk ohne Jugend

"Wer die Jugend hat, hat die Zukunft! Wenn das Wort wahr ist, dann gilt es nicht nur für Vereine und Parteien, sondern auch im Leben der Völker, und es gilt dann auch die Umkehrung: Ein Volk, das keine Jugend hat, hat keine Zukunft. Eine Volk ohne Jugend ist ein Volk ohne Hoffnung, ein Volk ohne Zukunft! Nicht Niederlage und politische Unterdrückung entscheiden letztlich über die Zukunft eines Volkes, sondern die Stärke seines biologischen Lebenswillens.
(...).
Ausgelöscht und ausgetilgt kann ein Volk nur durch sich selber, durch seine eigene Unfruchtbarkeit werden. Das ist der gefährlichste Feind jeden Volkes. Kein Volk stirbt eigentlich aus, es wird »ausgeboren«.
In dieser Gefahr steht unser deutsches Volk.
(...).
Der zweite Teil der Schrift befaßt sich mit den durch den Geburtenschwund heraufbeschworenen Problemen der Überalterung und der kommenden Vergreisung des deutschen Volkskörpers und ihren weittragenden volkswirtschaftlichen, sozialpolitischen, kulturpolitischen und volkspolitischen Auswirkungen und Gefahren."
(Aus dem Vorwort von Friedrich Burgdörfer, 1932) 

Hier leistet nun wieder das Buch von ETZEMÜLLER hervorragende Dienste. Im Kapitel Pyramide - Glocke - Urne: Die Gefahr sehen lernen beschreibt der Historiker die Bildersprache der Bevölkerungsstatistik. Dazu werden zahlreiche Stilmittel anschaulich dargestellt, mit denen die Apologeten der Bevölkerungspolitik die volkspädagogische Erziehung bewerkstelligten. Die gegenwärtige Debatte greift immer noch auf die gleichen Mittel zurück, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts populär wurden. Es konnte also im Jahr 2002 gar keine Rede davon sein, dass die Bebilderung des demografischen Wandels ein Problem sei, wie Lothar MÜLLER in der SZ-Serie klagte. Die Argumentationsfiguren und ihre Methoden der unterschwelligen Vermittlung waren längst erfunden und erprobt.

Ein ewigwährender Untergang

"Seit Beginn des 20. Jahrhunderts tauchen immer raffiniertere Techniken des Sichtbarmachens in den Texten zur Bevölkerungsfrage auf. Karten, Graphiken, kurze Statistiken; normierte Symbole, die quantitative Unterschiede, Kurven, die zeitliche Entwicklungen, Karten, die Vergleiche visualisieren. Immer weniger Blicke wurden notwendig, um diesen Darstellungen Zustände und Entwicklungslinien entnehmen zu können.
(...).
Es wird nicht neutral abgebildet, sondern ihm wird eine spezifische Form verliehen. So ist auch die Bevölkerungsfrage in unzähligen Graphiken, Karten und Beschreibungen und durch unzählige Wiederholungen derselben Schemata überhaupt erst als Problem konstituiert worden. Erst das hat die Bevölkerungsfrage immer populärer gemacht, daß sie immer begreiflicher wurde: reduziert auf zwei grundlegende graphische Zahlen."
(2007, S.84f.)

Dass heutzutage immer noch von der "Bevölkerungspyramide" gesprochen wird und damit alle Formen der Altersstruktur einer Bevölkerung gemeint sein können, auch wenn sie gar keine Pyramidenform mehr besitzen, das deutet bereits auf eine lange Verankerung im "kollektiven Gedächtnis" der Deutschen hin. Die Pyramidenform des Altersaufbaus gilt auch heute noch den meisten Menschen - zu Unrecht - als die Idealform der Altersstruktur einer Bevölkerung. Die Abweichungen davon gelten als bedrohend. Bereits der Begriff "Urne" für die Altersstruktur einer "vergreisenden" Gesellschaft deutet die Gefahr des "Volkstodes" an. Die Katastrophe ist bereits in unseren Köpfen, bevor wir überhaupt danach fragen können, ob unsere Situation wirklich katastrophal ist. Die Popularität dieser Assoziationen haben wir Friedrich BURGDÖFER zu verdanken:

Ein ewigwährender Untergang

"Eine Graphik vor allem erlangte eine einmalige Durchschlagskraft - bis heute: Es ist die Abfolge Pyramide, Glocke, Urne. sie soll auf Friedrich Burgdörfer zurückgehen, ist aber auch bei früheren Autoren zu finden. Burgdörfer hat den Dreischritt allerdings in seiner graphisch reinsten Form popularisiert und zum Paradigma der Bevölkerungsentwicklung erhoben (...). Die Pyramide steht für einen idealen Bevölkerungszustand, eine machtvolle Basis junger Menschen, die sich nach oben zu wenigen Alten kontinuierlich verjüngt, solide wie ein ägyptisches Bauwerk. Doch dann schlägt die Glocke und indiziert Geburtenabnahme und Überalterung der Gesellschaft. (...). Die Urne schließlich steht am Ende der Geschichte (...). In einem genialen Übersprung von Metapher zu Evidenz symbolisiert dieses Triptychon aus Form und Begriff den Ablauf einer Bevölkerungsentwicklung von einem Ideal- zu einem Kastrophalzustand, die angeblich der Moderne geschuldet und kaum je umkehrbar ist."
(2007, S.85)

 
     
 
       
   

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Bernd Kittlaus
webmaster@single-generation.de Erstellt: 20. August 2007
Update: 21. November 2018