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Zitate zur
Hippie-Punk-Kontroverse
Luhmann mit langem U
"Bevor der
jugendliche Außenminister mit seinem
kleidsamen Helm die aktuelle Version der
68er-Diskussion auslöste, kursierten zwei
große Vorwurfskomplexe gegenüber der
Generation, die sich immer selbst davor
gewarnt hatte, wie unsere Eltern zu werden.
Der eine prangerte ihr Gutmenschentum an, vor
dem sich Leute, die sich viel auf ihre
Lockerheit einbilden, seit etwa dem dritten
Jahrgang der Titanic dauerhaft ekeln.
Auf der anderen Seite werden die Stimmen
nicht leise, die denselben 68ern ihren
Hedonismus, ihre Missachtung der
bürgerlichen Familie zugunsten egoistischer
Ausschweifungen vorwerfen. Diese Linie führt
von der legendären Rechtsaußen-Psychologin
Christa Mewes über Sid Vicious, der als
erstes prominentes 68er Kind seine eigene
Kaputtheit auf die Exzesse seiner Mutter
zurückführte, zu Michel Houellebecq.
Die beiden Vorwürfe widersprechen sich
jedoch. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich
um ein 68er-Selbstgespräch handelt, den
Streit zweier Fraktionen. Wenn es so ist, ist
dieser Streit allerdings entpolitisiert
worden - verglichen mit den Zeiten, als die
einen noch Spontis, Anarchos oder
umherschweifende Haschrebellen hießen und
die anderen Mitglieder kommunistischer Bünde
und Parteien waren. In beiden Debatten ist
man bemüht, nicht zur Diskussion zu stellen,
welche Moral die Moralisten so unerträglich
macht oder in Namen welcher Konzeption von
Familie, egoistisch-promiskes Sexualleben
gegeißelt wird."
(Diedrich Diederichsen in
der Frankfurter Rundschau vom 17.01.2001)
Der Reisebürosonderzug
"»Junger Mann
oder ist das gar kein junger Mann,
sondern ein Mädchen, kann man bei den langen
Haaren gar nicht so genau sagen, höhö.«
Dieses Problem löste bald darauf die
Punk-Bewegung, nicht aber das der einsamen
oder unverstandenen Männer."
(Diedrich Diederichsen in
der Süddeutschen Zeitung vom 25.01.2001)
Die Gegengegenkultur
"77: das Jahr von
Punk und Stammheim. Dies war die Korrektur
von 68 (...). Überall und auf allen Niveaus
entstanden kleine Zellen schwarzer Romantiker
und Nihilisten, auch rechte Positionen wurden
erstmals wieder versucht. Und so steht 77
für alles, was 68 vergessen hatte
kurz für alles, was eine bürgerliche
Revolution nicht leisten kann. Nur hat 77
leider 68 nicht politisch und historisch
verstanden und zum politischen Gegenschlag
ausgeholt 77 hat die politischen
Defizite von 68 vor allem kulturell und
lebensweltlich erfahren, verstanden und in
eine Gegenkultur übersetzt. In eine
Gegengegenkultur, wenn man denn 68 selber
eine Gegenkultur nennen will.
Aber im Unterschied zu 68 wurde 77 nie
hegemonial. Man löste die 68er nie ab: 68
ging weiter bis heute, 77 auch, aber
darunter, daneben. Man kann sich seitdem
eines von beiden aussuchen. Entweder (...)
einen Kapitalismus, der Spaß macht, eine
Produktivität, die die Seele nicht
beleidigt. Eine hedonistische Hausse (...).
77 war dagegen dunkel und verbiestert (...).
Wenn man noch politische Ideen hatte, dann
ohne genaue Zielvorstellung und ohne Utopien.
Die Parole lautete: Mikropolitik und kleine
Fluchten. Oder man gab einer Verweigerung der
Vorzug, die in keiner Richtigkeit mehr
aufging, welche sich aus dem falschen
Gegenüber ergeben hätte. Man konnte sich
nicht verständlich machen, konnte sich auch
untereinander kaum verständigen. Und deshalb
wurde 77 auch nie zu einem Mythos wie 68
(...). Und selbst wenn es heute mittlerweile
keine glühenden Vertreter von 68 mehr gibt,
weil eigentlich alle, die nicht noch bei
Luhmann nach Licht suchen, sich zwischen 77er
Nicht-Positionen und Ironie eingerichtet
haben das ändert nichts daran, dass
wir alle immer noch ziemlich beruhigt
darüber sind, dass irgendwo und irgendwie
Bürgerlichkeit und Aufklärung und 68 weiter
voranschreiten. Dabei sollte es immerhin ein
kleiner Trost sein, dass auf dem Weg in die
totale Diktatur der Ware wenigstens die 68er
noch da sind, Puste haben und sich durch die
Welt wurschteln.
77 war die Romantik zur Aufklärung von 68.
Und Sid Vicious war der Novalis. Er fand
heraus: My Way das bürgerliche
Evangelium endet bei Tod und
Selbstmord. Zuende gedacht. Punk ist die
Chiffre für dieses Sammelsurium, das von
verbessertem Linksradikalismus bis zu
heroischem Nihilismus reicht (...). Als
Romantiker hatten sie ein anderes Verhältnis
zu ihren Einstellungen als ein Rationalist
der das für falsch befundene leichten
Herzens und erfreut über neue Einsichten
abstreifen konnte."
(Diedrich Diederichsen in
der Süddeutschen Zeitung vom 24.02.2001)
Go future!
"Es war die Zeit, als Pink
Floyd, Fleetwood Mac und die Eagles die
Hippiebegeisterung der 68er ins
Unerträgliche gesteigert hatten. Stadionrock
und ein festgelegter Geschmack regierten wie
Könige. Dann knallte es, zuerst in New York,
dann in London: Punkrock war da. Die alten
Könige waren tot. Mit den 68ern ging eine
junge Generation gnadenlos ins Gericht.
Es war gegen dieses Alles-ist-ok-Gefühl der
Hippies (...). Obwohl der Schlachtruf des
Punk 'No Future' hieß, erwies sich die
kulturelle und ästhetische Abrechnung mit
allen bisher praktizierten Vorstellungen von
Schönheit, Glück und Kunst als Jungbrunnen
für Kultur, Medien und Gesellschaft (...).
Die Geschichte des Punk ist kulturell von
ebenso grundlegender Bedeutung wie das Werk
von Duchamp, Godard oder Stockhausen (...).
Zum Geschichtsstudium empfohlen ist Julian
Temples Dokumentarfilm 'The Filth and The
Fury' (gerade auf Video erschienen), zu
Deutsch: Der Schmutz und die Wut, in dessen
Mittelpunkt das heroische Scheitern aller
Anliegen der Sex Pistols gezeigt wird und
gleichzeitig - als negative Dialektik -
verdeutlicht wird, dass dieses Scheitern
selbst den Sieg von Punk möglich machte: die
Legendenbildung, die Verehrung, das Pathos,
die Erinnerung und das Weitertragen des
bedeutendsten Aufbegehrens nach 68 - ohne
Utopien."
(Anne Philippi in der Welt
am Sonntag vom 18.02.2001)
Bist du wütend genug?
"Jeden Tag sickert ein
Tröpfchen Johnny Rotten in unser Gewebe. Wir
können es nicht vermeiden. Es sickert.
Und dieser Rotten, der eigentlich John Lydon
hieß, ein Verklemmter, Katholik und Poseur,
leitete die Debutsingle der Sex Pistols, Anarchy
In The UK, mit dem Satz ein: "I'm an
antichrist"; wobei er jedes einzelne
Wort ausspuckte, als könne er sie nicht bei
sich behalten, weil sie so bitter schmeckten
(...). Im zweiten Satz, mit der gleichen
Arroganz wie der erste heraus gepresst,
präzisierte er sein Profil: I'm an
anarchist. So. Ab sofort galt keine Norm
mehr. Ziviliation, Bewusstsein, Erkenntnis,
Vernunft, Pink Floyd? Alles löste sich im
Nichts auf, die Stunde Null brach an; die
Stunde des neuen Messias.
Denn mit Religion musste es schon etwas zu
tun haben. Zu viele Menschen versichern, ein
Konzert der Sex Pistols hätte ihr Leben
verändert (..)
Es war nämlich so, dass sich die Popmusik
jener Tage von der Gegenwart abgekoppelt hat,
Punk aber die Gegenwart in der Musik
einfangen wollte. Die Haltung war wichtiger
als das Können: Bist Du wütend genug? Ja?
Gut"
(Adam Olschewski in der
Frankfurter Rundschau vom 26.05.2001)
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PUPPIES -
Halb Punks, halb Hippies oder die Popdialektik in
der Nachfolge der 68er-Popmoderne
Am
Beispiel von Michel HOUELLEBECQ und Maxim BILLER
sollen die PUPPIES und die Mechanismen
des gegenwärtigen Kulturkampfes, der
teils als Generationenkonflikt und teils als
Kampf der Lebensstile ausgetragen wird,
dargestellt werden. Beide Aspekte sind jedoch nur
zwei Seiten einer Medaille.
Der Selbsthass der Kultureliten - eine
psychoanalytische Deutung
Man könnte es sich einfach machen und das
psychoanalytische Persönlichkeitsmodell aus der
Mottenkiste herauskramen. Dann könnte man die
Persönlichkeitsstruktur
der PUPPIES folgendermaßen beschreiben:
Das Über-ICH
der PUPPIES ist durch einen moralischen
Rigorismus geprägt, der den
"Vor-Hippie-Zeiten" entstammt, denn die
PUPPIES sind das Produkt einer vorsätzlichen
Erziehung, die der alten Moral entsprungen ist.
In der gegenwärtigen Generationen-Debatte wird
selten die Unterscheidung zwischen
"Prägung" und
"Geprägtwerden"
berücksichtigt. Die Väter und Mütter der
PUPPIES waren ja selbst keine 68er. Des Weiteren
müssen Land-Stadt-Ungleichzeitigkeiten
berücksichtigt werden.
Das Hippie-ES
der PUPPIES ist dagegen das Produkt einer
Sozialisation, die aus den neuen Verhältnissen
der "sexuellen Revolution" resultiert.
Nicht erst heutzutage sind Jugendliche den
enormen Gruppenzwängen der Cliquen
unterworfen, denen sie angehören möchten.
Das Punk-ICH
ist dann das Ergebnis der widersprechenden
Anforderungen von Vor-Hippie-Über-ICH und
Hippie-Triebstruktur oder von sozialen
Ausschlussprozessen. Das Punk-ICH wäre in beiden
Fällen das Produkt eines Selbsthasses.
Michel
HOUELLEBECQ stände dann für den ersteren Fall
und Maxim BILLER für letzteren.
Elementarteilchen
"Ein literarisches
Zeitbild der letzten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts: Die
einsamen und verstörten Halbbrüder Michel und Bruno teilen
ein glückloses Leben mit einer lieblosen Mutter. Bruno
wird Opfer seiner verzweifelten sexuellen Besessenheit.
Michel lebt ein autistisches Forscherleben als
Molekularbiologe, bis er das unsterbliche und
geschlechtslose menschliche Wesen klont - die Vision
jenseits des Egoismus und sexuellen Elends."
(aus: Klappentext 1999) |
Der Roman
Elementarteilchen ist auch so
gedeutet worden, als ob die Protagonisten Bruno
und Michel zwei Seiten von Michel HOUELLEBECQs
Persönlichkeit darstellen würden. Bruno steht
dann für das Hippie-Prinzip und
Michel für das Punk-Prinzip.
Michels Vision vom Klon als dem besseren Menschen
ist die radikalisierte, technizistische Version
der Punk-Attitude "No Future".
Nicht mehr nur der Einzelne hat keine Zukunft
mehr, nein, die ganze Menschheit hat keine
Zukunft mehr.
Fehlfarben - Gottseidank nicht in England
"Wo ist die
Grenze, wie weit kann ich gehen?
Verschweige die Wahrheit, ich will sie nicht sehen
Schneid dir die Haare bevor du verpennst
Wechsle die Freunde, wie andere das Hemd
Richtig ist nur was man erzählt
benutze einzig was Dir gefällt
Bau dir ein Bild so wie es dir paßt
sonst ist an der Spitze für Dich kein Platz
Und wenn die Wirklichkeit dich überholt
hast du keine Freunde, nicht mal Alkohol
Du stehst in der Fremde, deine Welt stürzt ein
das ist das Ende, du bleibst allein
Bild dir ein du bist Lotse und hältst das Steuer
mitten im Ozean spielst du mit dem Feuer
Sprich fremde Sprachen im eigenen Land
Zerstreu alle Zweifel an deinem Verstand
Und wenn die Wirklichkeit dich überholt
hast du keine Freunde, nicht mal Alkohol
Du stehst in der Fremde, deine Welt stürzt ein
das ist das Ende, du bleibst allein."
(aus: Fehlfarben 1980, Album Monarchie und Alltag) |
Maxim BILLER beschreibt
dagegen in der SZ vom 31.05.2001 die
Entstehung des Punk-Intellektuellen aus einem
Gefühl
des Ausgeschlossenseins. Wer nicht
dazugehören kann, der wendet seinen Selbsthass
entweder gegen sich selbst, oder gegen jene, die
ihn ausschließen. Aus den gewünschten Freunden
werden so die gehassten Hippies:
Der Joint
"Meistens waren
es die Älteren, die mit uns nach der Schule
in den »Kaffeestuben« am Grindelberg
herumsaßen, wo es damals, Mitte der 70er,
schon genauso roch, wie es inzwischen in
jedem Biomarkt riecht, und weil die 70er für
mich keine guten Jahre waren, hasse ich
diesen Geruch bis heute (...). Es war eine
dunkle, fanatische Zeit, in der die meisten
Jugendlichen genauso hässlich dachten, wie
sie aussahen, sie waren verklemmte,
unaufrichtige Nazikinder, die mit ihren
verklemmten, unaufrichtigen Nazieltern mehr
gemeinsam hatten, als sie sich je hätten
träumen lassen.
Vermutlich waren sie cool. Mitte der
Siebziger gab es dieses Wort eigentlich nicht
die Beatniks, die es einst den
Schwarzen gestohlen hatten, waren längst
vergessen, und die neuen Kinder des Pop, die
es zwei Jahrzehnte später den Beatniks
stehlen sollten, beschmierten gerade erst mit
Fingerfarben die Wände ihrer
antiautoritären Kindergärten (...)
Ich war gerade erst aus Prag nach Hamburg
herübergekommen, und ich ging davon aus,
dass alle Leute gleich sind (...). Ich bin
mir sicher, meine deutschen Freunde und
Bekannten haben viel früher als ich gemerkt,
dass sie und ich anders sind, aber sie haben
es mir leider nicht gesagt. So versuchte ich
meine halbe Jugend lang zu entschlüsseln,
warum die anderen das taten, was sie taten,
und erst nachdem ich mit Hilfe von
jemandem, von dem ich gleich erzählen will
begriffen hatte, dass dieser ganze
langweilige deutsche Coolness-Mist einfach
nur langweiliger deutscher Coolness-Mist war,
konnte ich mich Dingen zuwenden, die ich
verstand (...).
Wenn ich heute an die dunklen Hamburger Jahre
zurückdenke, kann ich mich an kaum ein
Gesicht erinnern, geschweige denn an einen
Namen. Der einzige Mensch aus der Zeit, den
ich nicht vergessen habe, ist Mischa Grinberg
aus Leningrad. Er (...) durchschaute den
Westen viel schneller als ich, es verging
kein halbes Jahr, und schon wusste er, welche
Musik man gerade hörte und in welche Lokale
man ging, er sprach ein absolut klares,
akzentfreies Deutsch, und dass er Hamburgs
zweite Punkband gründete, war ebenfalls eine
absolut grandiose Assimilationsleistung von
ihm gewesen.
Mischa und ich gingen natürlich manchmal
auch in die »Kaffeestuben«, wir saßen mit
den verklemmten Nazikindern an einem Tisch
(...). Plötzlich aber passierte etwas. Ich
weiß nicht, wer von uns beiden damit anfing,
aber ziemlich sicher war er es gewesen, der
große Durchblicker, der sagte, es sei genug.
Jedenfalls war klar, dass wir mit diesem
deutschen Jugendelend nichts mehr zu tun
haben wollten. Ab sofort verachteten wir
(...) sie dafür, dass sie selten das sagten,
was sie gerade dachten (...) und wenn wir in
die »Kaffeestuben« gingen, dann nur noch,
um die lahme, kalte Bande dort als Hippiepack
zu beschimpfen."
(Maxim Biller in der
Süddeutschen Zeitung vom 31.05.2001)
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Die Mediengesellschaft liebt es
punkig
Eine
psychologische Betrachtungsweise wird den PUPPIES
jedoch nicht gerecht. Autoren sind keine
autonomen Künstler, sondern sind auf einen
Medienbetrieb und seine Gesetze verwiesen. HOUELLEBECQ
hat den mediengerechten Kulturkampf auf die
Spitze getrieben, indem er das Punk-Prinzip
modernisiert hat. Er ist die politische
Unkorrektheit in Person, ein Plastiktüten-Punk
mit Zigarette. Ein Rebell gegen das linke Gutmenschentum und das sterile Fit-for-Fun-Ethos
des gesunden, ökologischen Lebensstils. Gegen
jede Vernunft setzt er auf eine
Synthese
aus Katholizismus, technischer
Fortschrittsgläubigkeit und wiederverzauberter
Sexualität. HOUELLEBECQ versöhnt damit
Hippies und Punks auf eine Weise, die sowohl die
eine als auch die andere Seite vor den Kopf
stößt - damit aber genau in die Mitte jener
Kultur zielt, die er für das Leiden an der Welt
verantwortlich macht: den Hedonismus der
Popmoderne.
Für diesen Hedonismus
steht in Elementarteilchen
z.B. der Jet-Set Ende der 1950er Jahre in St.Tropez mit den Stars Brigitte BARDOT
und François SAGAN. In den 1960er und 1970er Jahren
sind es dann der Mini-Rock und die Popmusik als
Symbole der "Swinging Sixties".
Der Hedonismus der
Popmoderne ist für HOUELLEBECQ
untrennbar mit jenen Phänomenen verbunden, die
im Mittelpunkt seiner Kritik stehen:
Rabenmütter,
Scheidungen, Abtreibungen und nicht
zuletzt die Serienkiller der 1990er Jahre.
HOUELLEBECQ hat damit die Munition für
den Kulturkampf der Lebensstile
geliefert, wie er in der Kontroverse
Familien contra Single auch hierzulande
seit Anfang der 1990er Jahre in zunehmenden Masse
entbrannt ist.
Was der deutsche Soziologe
Ulrich BECK mit dem Schlagwort
"Individualisierung"
für die Wissenschaft geschafft hat, das hat der
Popliterat HOUELLEBECQ literarisch für die
Kulturwelt nachgeholt.
Die Schlagwörter
"Individualisierung" und
"Elementarteilchen" sind weitgehend
synonym und stehen für einen Problemkomplex, der
zur unhinterfragbaren Gewissheit einer
Gesellschaft geworden ist, die eine
Synthese
aus lebensweltlichem Wertkonservatismus und
ökonomisch-technischer Liberalisierung
im Zeichen der Globalisierung anstrebt. Oder
anders ausgedrückt: die Rückkehr zur
traditionellen Kleinfamilie soll die Folgen der
Fahrstuhl-nach-unten-Gesellschaft
des globalen, digitalen Kapitalismus abfedern.
Michel Houellebecq als Pionier der
Abstiegsgesellschaft
Ulrich BECK hat in den
1980er Jahren die Metapher vom
Fahrstuhl-Effekt geprägt.
Risikogesellschaft
"Der
»Fahrstuhleffekt«, der für die sozialstrukturelle
Entwicklung der Bundesrepublik charakteristisch ist,
konkretisiert sich in den drei Dimensionen: Lebenszeit,
Arbeitszeit, Arbeitseinkommen (...). Mit einem kräftigen
Ruck wurde so das Leben der Menschen in der
Erwerbsarbeitsgesellschaft ein gutes Stück aus dem Joch
der Lohnarbeitszeit herausgelöst (...). Mehr Lebenszeit
insgesamt, weniger Erwerbsarbeitszeit und mehr
finanzieller Spielraum - dies sind die Eckpfeiler, in
denen sich der »Fahrstuhl-Effekt« im biographischen
Lebenszuschnitt der Menschen ausdrückt. Es hat - bei
konstanten Ungleichheitsrelationen - ein Umbruch im
Verhältnis von Arbeit und Leben stattgefunden. (...).
Die neuen materiellen und zeitlichen
Entfaltungsmöglichkeiten treffen zusammen mit den
Verlockungen des Massenkonsums und lassen die Konturen
traditionaler Lebensformen und Sozialmilieus
verschwinden."
(1986) |
Während
Deutschland bis Mitte der 1970er Jahre eine
Fahrstuhl-nach-oben-Gesellschaft
war, gilt seitdem in zunehmenden Maße der umgekehrte Fall. Beide
Gesellschaftstypen sind durch unterschiedliche
Strategien gekennzeichnet. Ist es in der Fahrstuhl-nach-oben-Gesellschaft von Vorteil als
erster den Fahrstuhl zu betreten, so profitieren
in der Fahrstuhl-nach-unten-Gesellschaft jene,
die bis zuletzt vor dem Fahrstuhl stehen
bleiben.
Der Umbau des Sozialstaats und der
Generationenkonflikt
In der gegenwärtigen
deutschen Debatte steht die Modernisierung
des Sozialstaats im Vordergrund. In Frankreich
hat unlängst der L'Express eine
Titelstory gebracht, in der genau der BECKsche
Fahrstuhleffekt den argumentativen Kern bildete:
Mai
68: La génération
gâtée
"pour la première fois
dans l'Histoire, une génération aura mieux
vécu que les suivantes. En 1975, l'écart
moyen entre le salaire des quinquagénaires
et celui des trentenaires était de 15%; en
1995, il est passé à 40%: le pouvoir
d'achat des quinquagénaires a progressé de
35%, tandis qu'a baissé celui des
trentenaires, qui, même diplômés, mettent
plus de temps à trouver un emploi fixe et
dont la promotion est bloquée par des
quinquagénaires dont ils devront payer les
belles retraites... Durant les Trente
Glorieuses, les vieux ont été sacrifiés au
profit de la génération du baby-boom et,
depuis les années de crise, c'est au tour
des jeunes de souffrir pour que ses
privilèges de génération gâtée ne soient
pas touchés."
(Eric Conan im L'Express vom
24.05.2001) |
Die
französischen Baby Boomer - in Deutschland
würde man in Anlehnung an Florian ILLIES von der
Generation Golf
sprechen - werfen quasi den 68ern ihr Privileg
der frühen Geburt vor. Auch in Deutschland ist
es üblich, dass Berufseinsteiger schlechtere
Konditionen als jene in Kauf nehmen müssen, die
erst einmal auf ihre gewerkschaftlich
durchgesetzte Besitzstandswahrung hoffen dürfen.
Das neueste Beispiel dafür ist das Wolfsburger
Volkswagen-Arbeitszeitmodell.
Hinter dem Generationenkonflikt verbirgt
sich die Kontroverse Familien contra Singles
Bei der Modernisierung
des deutschen Sozialstaats ist der
Generationenkonflikt voll im Gange.
Er wird jedoch nicht offen ausgetragen, sondern
versteckt sich hinter der Kampagne gegen
Kinderlose. Mittels Single-Rhetorik
werden Eltern im Rentenalter in Kinderlose
umdefiniert. Man möchte damit eine
Umverteilung zwischen den kinderreichen, alten
und den kinderarmen, jungen Generationen
erreichen, gegen die sich die Rentner nur
schwerlich wehren können. Viele sind sich der
Tatsache gar nicht bewusst, dass sie in der
Debatte nicht als Eltern, sondern als Kinderlose
gelten.
Michel Houellebecq, die Spaltung der
Linken und der Kampf der Lebensstile
Der Erfolg des
französischen Romanciers darf deshalb nicht nur
im Kontext der Kulturwelt gesehen werden, sondern
muss auch im Rahmen der sozio-ökonomisch
motivierten Kämpfe um den richtigen Lebensstil
analysiert werden.
Die halbierte Gerechtigkeit
"Nancy
Fraser, eine der führenden Theoretikerinnen
des amerikanischen Feminismus, setzt sich in
ihrer neuen Studie mit der derzeitigen
Situation der Linken nach dem Zusammenbruch
des Sozialismus auseinander. Fraser zufolge
befinden wir uns im Zeitalter des
»Postsozialismus«, für den Mangel an
zukunftsorientierten Perspektive, ein
wiedererstarkender Wirtschaftsliberalismus
und insbesondere die Entkopplung der
Identitätspolitik von der Sozialpolitik
konstitutiv sind. Dieser Wechsel von einer
Politik der sozioökonomischen Umverteilung
zugunsten einer Politik der Anerkennung von
ethnischer und religiöser Differenz droht
die Linke in den USA in eine »soziale« und
eine »kulturelle« Linke zu spalten und wird
daher in »Die halbierte Gerechtigkeit«
einer kritischen Überprüfung
unterzogen."
(aus: Klappentext 2001) |
Nancy FRASER beklagt im gerade
erschienen Band Die halbierte
Gerechtigkeit (Suhrkamp-Verlag) das
Auseinandertriften
einer sozialen und einer kulturellen Linken.
An die Stelle der alten Statuskämpfe ist nach
FRASER die Identitätspolitik getreten
. Die stark emotional geführte Kontroverse Familien
contra Singles zeigt jedoch, dass Umverteilungspolitik und
Identitätspolitik nicht zu trennen sind.
Authentizität und Vorbildfunktion der neuen
Werteelite
Mit den
PUPPIES ist eine Kulturelite entstanden, die eine
Speerspitze im Kulturkampf der Lebensstile
darstellt. In einer Konzertkritik der Süddeutschen Zeitung vom
01.02.2001 schreibt Christian SEIDL z.B.:
Intensivstation Sehnsucht
"Es
sind Geschichten, die den Rolling Stone
zu dem Urteil brachten, Eminem sei 'der
einzigartigste, krankeste, komischste,
verstörendste Popkultur-Autor, den wir
haben'. Geschichten einer geschunden Seele.
Die Mutter hat ihn verwahrlosen lassen, die
Mädchen haben ihn verlacht, hintergangen und
ausgenommen warum soll er Frauen nicht
hassen? Seine Schulkameraden haben an seiner
Männlichkeit gezweifelt, ihn fagott
genannt, gequält und verprügelt, weil er
klein, schwach und hübsch war warum
soll er was für Schwule übrig haben? Die
Liberalen und politisch Korrekten haben ihn
zum Staatsfeind erklärt und dafür gesorgt,
dass seine Platten aus vielen Läden
verschwinden, während Waffen und andere
Mordgeräte drin bleiben warum soll er
dieser Gesellschaft keine Ladung in den
Hintern wünschen?
Höhepunkt des Konzerts ist eine überlange Version des Hits
»The Way I Am«,
sein vielleicht bestes, auf alle Fälle sein
traurigstes Lied so genial,
deprimierend und klischeefrei hat keiner
seiner Generation je über eine Welt ohne
Liebe gesungen."
(Christian Seidl in der SZ
vom 01.02.2001) |
Die
Identität von
Künstlerbiografie und Kunstwerk soll
eine Authentizität herstellen, die kulturelle
Gewissheiten schafft. Der Künstler steht für
sein Produkt. So werden "Vorbilder"
erschaffen, die lebendiger Beweis für abstrakte
gesellschaftliche Zusammenhänge sind. Die
soziale
Konstruktion der Wirklichkeit entsteht
in der Mediengesellschaft über die sinnhafte
Verkörperung von Klischees. Die Konstruktion
sozialer Identitäten ist ein wesentlicher
Bestandteil in den Kulturkämpfen. Dies ist kein
neues Prinzip, aber es wurde durch die Popmoderne
modernisiert.
Die neue Kulturelite versöhnt 1968 mit 1977
Die Analyse von Diedrich DIEDERICHSEN
könnte sich als vorschnell herausstellen, wenn
er schreibt:
Die Gegengegenkultur
"Nur hat 77 leider 68 nicht
politisch und historisch verstanden und zum
politischen Gegenschlag ausgeholt 77 hat
die politischen Defizite von 68 vor allem
kulturell und lebensweltlich erfahren, verstanden
und in eine Gegenkultur übersetzt. In eine
Gegengegenkultur, wenn man denn 68 selber eine
Gegenkultur nennen will.
Aber im Unterschied zu 68 wurde 77 nie
hegemonial."
(Diedrich Diederichsen in
der Süddeutschen Zeitung vom 24.02.2001) |
Es könnte aber auch
sein, dass per x-maliger Revision dessen was 68
einmal war oder sein sollte, 68 so immun geworden
ist, dass die Unterschiede zwischen 68 und 77
aufgehoben sind. Die PUPPIES sind solche
Hybriden.
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