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Buchrezension

 
       
   

Karin Jäckel

 
       
   

Deutschland frisst seine Kinder.
Familie heute: Ausgebeutet - ausgebrannt

erschienen 2000 im Rowohlt Verlag

 
       
   
     
  Das liebste Kind der 68er war der Klassenkampf. Nachdem das Subjekt - die Arbeiterbewegung - abhanden gekommen ist, suchten sie Ersatz und erfanden den Kampf der Lebensstile.

Karin JÄCKEL hat ihr Buch der Lebensstil-Gemeinschaft Hausfrauenfamilie gewidmet. Das Muster von Kampfschriften ist simpel: Schwarzweissmalerei entlang der In-Group-Out-Group-Frontlinie. JÄCKELs Argumentation schließt sich nahtlos an die sozialpolitische Debatte der 1990er Jahre an, in der die Frontlinie Singles contra Familie lautete. JÄCKEL modifiziert den Frontverlauf ein wenig, denn die Ressourcen des Sozialstaats scheinen inzwischen noch beschränkter.

Die Autorin ist eine Fundamentalistin in Sachen Normalfamilie. Ihr Familienleitbild entstammt den Kindheitsvorstellungen von heiler Familie in den 1950er Jahren. Der normative Bezugspunkt ist die traditionelle Kernfamilie im Sinne des US-amerikanischen Soziologen Talcott PARSONS. Zu diesem Thema hat Arlene SKOLNICK bereits Anfang der 1990er Jahre ihr wegweisendes Buch Embattled Paradise geschrieben. Die Familie ist ein umkämpftes Paradies und der Schlüssel dazu ist der wahre Familienbegriff.

Für JÄCKEL ist die Hausfrauenfamilie das einzige Paradies auf Erden. Alle anderen Familien- und Lebensformen sind eine Ausgeburt des Teufels, der in unseren aufgeklärten Zeiten Feminismus heißt.

Ein besonderes Ärgernis sind JÄCKEL alleinerziehende Mütter. Man könnte dieses Buch deshalb auch als Gegenposition zu Petra MIKUTTAs Buch Die bessere Hälfte schenk ich mir lesen. Alleinerziehende sind in der Terminologie von JÄCKEL "Teilfamilien", in Anlehnung an frühere Bezeichnungen wie "unvollständige Familien". Alleinerziehen ist jedoch keine feministische Erfindung, wie man nach der Lektüre des Buches glauben könnte, sondern war vor allem nach den beiden Weltkriegen ein gängiges Schicksal. Heutzutage wird der Tod gerne verdrängt, aber Verkehrsunfälle und Krankheiten können aus "Vollfamilien" schnell "Teilfamilien" werden lassen. Solche Schicksale passen jedoch nicht in JÄCKELs Konzept und bleiben deshalb ausgeblendet.

Ein gravierendes Problem des Buches ist jedoch, dass JÄCKEL gerne auf Zahlen und Statistiken zurückgreift, die dahinter steckenden Begriffe jedoch nicht erläutert, sondern stattdessen mit empathischen Familien- und Singlebegriffen argumentiert. Der Singlebegriff wird von JÄCKEL weder definiert, noch einheitlich verwendet, höchstens in dem Sinne, dass er negativ besetzt ist. So ist die Paarbeziehung meist nur eine "Laune zweier Singles, die sich für einen mehr oder minder langen Lebensabschnitt zur gemeinsamen Luststeigerung verbinden" (S.39). Eine wachsende Zahl der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, werden "als Singles im Hamsterrad des beruflichen Burn-outs (...), der Fähigkeit zur Zweisamkeit beraubt" (S.101) und auch das Familien-Dasein wird durch die Single-Erfahrung gefährdet, da es eines der "folgenschwersten Übel der Ich-zuerst-Mentalität (ist), dass immer mehr Frauen und Männer ein Kind als Krönung ihrer eigenen Leistungsfähigkeit ansehen" nachdem sie "als Singles mit relativ viel frei verfügbarem Einkommen alles ausgekostet" (S.299) haben.

Die demografische Entwicklung in Deutschland beschreibt JÄCKEL folgendermaßen:

Deutschland frisst seine Kinder. Familie heute: Ausgebeutet - ausgebrannt

"einem kleiner werdenden Block der Familien mit Kindern (steht) ein größer werdender Block der Singles und Kinderlosen gegenüber"
(2000, S.44)

Sie bezieht sich mit ihrer Aussage auf den Sammelband Demographische Trends, Bevölkerungswissenschaft und Politikberatung, herausgegeben von Charlotte HÖHN (1998). In diesem Buch wird Familie als Familienhaushalt definiert. Bereits 1995 haben HÖHN & DORBRITZ die sogenannte Polarisierungsthese vorgestellt, wonach die demographische Entwicklung durch eine Polarisierung in einen Familien- und einen Nichtfamiliensektor gekennzeichnet sei. Den Familiensektor definieren sie folgendermaßen:

Zwischen Individualisierung und Institutionalisierung - Familiendemographische Trends im vereinten Deutschland

"Dem Familiensektor werden danach alle diejenigen Lebensformen zugeordnet, in denen Eltern mit ihren Kindern zusammenleben. Das heißt beispielsweise, daß Alleinerziehende dem Familiensektor und Ehepaare ohne Kinder dem Nichtfamiliensektor auch dann zugerechnet werden, wenn nicht mehr im Haushalt lebende Kinder zu dem Ehepaar gehören."
(aus: Familie im Brennpunkt von Wissenschaft und Forschung 1995)

Deutlicher formuliert: Frau JÄCKEL ist Mutter von drei Kindern. Nach der Definition von HÖHN & DORBRITZ sind Familien nur dann Familien, wenn noch mindestens ein Kind im Haushalt lebt. Angenommen, das letzte Kind von JÄCKEL zieht aus der elterlichen Wohnung aus, dann ist Frau JÄCKEL statistisch gesehen kinderlos und wird dem Nicht-Familiensektor zugeordnet. Auch wenn sich JÄCKELs Ehemann scheiden lässt und die Kinder danach in seinem Haushalt leben (kein Fall, den ich Frau JÄCKEL wünsche), würde JÄCKEL statistisch zur Kinderlosen. Das Kind muss nicht einmal aus dem Elternhaus ausziehen, denn sobald es eine eigene Wohnung im gleichen Haus bezieht, sind seine Eltern kinderlos. Zu welchen gravierenden Fehleinschätzungen dies geführt hat wird man erst ein Jahrzehnt später ermessen können .

Es ließen sich noch viele Beispiele finden, in denen jemand, der sich durchaus als Mutter fühlt, als kinderlos eingestuft wird. Der Gegensatz zwischen Familien und Singles löst sich auf, wenn man den Familienbegriff aus der Enge des Haushaltsbegriffs befreit und Familie als soziales Netzwerk betrachtet. Mit dem Begriff der multilokalen Mehrgenerationen-Familie können dann Eltern und Kinderlose auch in der "Empty-Nest"-Familienphase unterschieden werden.

Die Kritik am Begriff des Familienhaushalts ist historisch älter als die Debatte um die Single-Gesellschaft. Bereits 1973 hat der Stadtsoziologe Hans Paul BAHRDT seine Zweifel an der adäquaten Erfassung von Familien durch die amtliche Statistik geäußert:

Wandlungen der Familie

"Wenn wir Soziologen vom Familienhaushalt sprechen, dann meinen wir die familiäre Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft. Auch die Statistik meint, wenn sie von Familienhaushalten spricht, eigentlich die Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft. Aber was hat sie gezählt? Der Statistiker muß sich an ein ganz klar feststellbares Kriterium halten. Und nach langem Hin und Her hat man sich darauf geeinigt, als Haushalt in der Statistik die Wohnpartei anzusehen, d.h. die Gruppe oder die Einzelperson, die aus einem Portemonnaie die Kosten für das Wohnen bestreitet. Das ist im Mietsektor die Mietpartei. In Eigenheimen und Eigentumswohnungen ist es der Eigentümer einschließlich derjenigen Angehörigen, die, ohne besonders Miete an ihn zu zahlen, mit ihm zusammenwohnen. Untermieter bzw. zusätzliche Mieter in Eigenheimen gelten danach als gesonderte Haushalte; sehr oft geraten sie nach dieser Definition unter die 1-Personen-Haushalte.
      Was sind nun die Untermieter für Menschen? Zum Teil sind sie familienfremde Personen, z.B. möblierte Herren und Damen, die tatsächlich, soweit es die Raumverhältnisse zulassen, für sich leben und für sich wirtschaften. Sehr oft sind es aber auch erwachsene Verwandte des Hauptmieters, die ein eigenes Erwerbs- oder Renteneinkommen haben. (...) In der Zeit der strengen Wohnraumbewirtschaftung war es sogar vorteilhaft, die in der Familie mitlebende Oma als Untermieterin auszugeben, denn ein 1-Personen- und ein 3-Personen-Haushalt zusammen durften mehr Wohnraum beanspruchen als ein 4-Personen-Haushalt. Tatsächlich wohnen und wirtschaften aber solche gesondert gezählten Untermieter, wenn sie mit dem Hauptmieter verwandt sind, sehr oft im größeren Familienverband. Es ergibt sich häufig von selbst, zum Teil ist es gar nicht anders möglich, weil angesichts der geringen Renteneinkommen vieler alter Leute ein Alleinwirtschaften höchst unrentabel wäre und weil die Arbeitskraft der Großmutter oder des Großvaters im Haus gebraucht wird.
(...)
Dieser Sachverhalt wird durch die Zählweise der öffentlichen Statistik verhüllt."
(aus: Familiensoziologie - Ein Reader als Einführung 1973)

Die Kritik von H.P. BAHRDT wurde jedoch erst Mitte der 1990er Jahre von Soziologen des Deutschen Jugendinstituts aufgegriffen und empirisch belegt. Eigentlich müssten diese Erkenntnisse zu einer umfassenderen Reinterpretation der amtlichen Statistik der Nachkriegsgesellschaft im Lichte der neuen Erkenntnisse führen. Die Erhebungsmodalitäten von Haushalten wurden in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mehrfach geändert. Jedes Mal war dies mit einem deutlichen Anstieg der Einpersonenhaushalte verbunden. Eine umfangreiche Untersuchung der Folgen von statistischen Konzeptänderungen und der Folgen von Gesetzesänderungen im Bereich von Ehe und Familie auf die Entwicklung der Einpersonenhaushalte steht noch aus.

Zum Abschluss noch eine Bemerkung zum Stil von JÄCKELs Buch. Da es sich um eine Kampfschrift handelt, liest sich das Buch nur für jene angenehm, die sich der Lebensstil-Gruppe von JÄCKEL zugehörig fühlen. Sie werden emotional befriedigt und in ihrer Wut unterstützt. Jene, die eine sachliche Auseinandersetzung erwarten, werden dagegen enttäuscht.

Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte

"Dieses Buch sollte als Beitrag zur Versachlichung der Debatte verstanden werden und liefert deshalb Argumente für eine neue Sichtweise auf das Single-Dasein im Zeitalter der Demografiepolitik. In einer funktional-differenzierten Gesellschaft sollten Kinderlose genauso selbstverständlich sein wie Kinderreiche. Warum sollten sich unterschiedliche Lebensformen, mit ihren jeweils spezifischen Potenzialen nicht sinnvoll ergänzen können? Solange jedoch in Singles nur eine Bedrohung und nicht auch eine Chance gesehen wird, leben wir in einer blockierten Gesellschaft, in der wichtige Energien gebunden sind, die bei den anstehenden Herausforderungen fehlen werden."
(2006, S.254)

 
     
 
       
   
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Update: 03. Februar 2019