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Arbeitswelten -
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Die New
Economy-Philosophie forderte von uns, dass wir Spaß an unserer
Arbeit haben sollten. Job-Nomaden, Yetties und sonstige flexible
Menschen bevölkerten den Kosmos. Bis zum Crash dieser Neuen
Schönen Arbeitswelt schien eine neue Leichtigkeit des Seins ins
eherne Gehäuse der Unternehmenswelt eingekehrt zu sein. Aber
spätestens 2002 hieß es Schluss mit lustig!
Ein halbes Jahrzehnt
dauerte es, bis dieser New-Economy-Schock überwunden war, und
nun die nächste Generation von Propheten der Arbeitswelt
angetreten ist, um uns mit wünschenswerten Arbeitswelten zu
versorgen. Die digitale Bohème und die Kreativwirtschaft sind
zurzeit der letzte Schrei.
Nicht
immer war die Arbeitswelt so positiv besetzt wie in den
neubürgerlichen Texten. "Arbeit gab es nicht von Anfang an,
sondern erst seit der Ausquartierung der Menschen aus dem
Paradies" heißt es im Klappentext des Buches
Schicht!
Arbeitsreportagen für die Endzeit verheißt der Untertitel
des Suhrkamp-Buches, das von Johannes ULLMAIER
herausgegeben wurde und in dem 17 Schriftsteller die
Arbeitswelten der Gegenwart ausloten.
Es ist eine Bestandsaufnahme, die nicht nostalgisch dem
untergehenden Industriezeitalter nachweint, sondern die Vielfalt
der neuen postindustriellen Gesellschaft zeigt. Wer sich
einlässt auf diese Reportagen, der muss einen Arbeitsbegriff,
der Arbeit mit Erwerbsarbeit gleich setzt, aufgeben. Aber er
wird dafür mit einer spannenden Lektüre belohnt.
Die neue Bescheidenheit naturnaher Arbeit
Die Schriftstellerin Juli
ZEH wurde 2002 durch ihren Spiegel-Essay über die neue
Bescheidenheit junger Leute bekannt. Mit dem Beitrag Joe
Happy knüpft sie nahtlos daran an.
Aussteiger
waren Anfang bis Mitte der 1980er ein weit verbreitetes
Phänomen. Es erstaunt kaum, dass viele der in dem Band
Schicht! vorgestellten Arbeitsbiographien nicht geradlinig
verlaufen sind und die 1980er Jahre darin eine zentrale Rolle
spielen. Wer sein Arbeitsleben im letzten Viertel des 20.
Jahrhunderts begann, für den ist die Krisenhaftigkeit des
Industriezeitalters konstitutives Element beruflicher
Lebensentwürfe geworden. Die Nutzlosigkeit des
Erwachsenwerdens, so ein damaliger Buchtitel, brachte
die Entwertung der traditionellen Berufsorientierung auf den
Punkt. Juli
ZEH spannt in ihrer Reportage einen Bogen von dem damaligen
Aussteigertum zum neuen Aussteigertum.
Joe Happy
"Joe
Happy kommt aus einem kleinen Kaff bei Münster. Nach der
mittleren Reife wußte sie wenig mit sich anzufangen und
folgte ihrem älteren Bruder, der keine Lust auf Wehrdienst
hatte, nach Westberlin. Drei Jahre hielt sie es in der
Hausbesetzer- und Totalverweigererszene aus. Bis das Gefühl,
mit dem Leben noch gar nicht richtig begonnen zu haben,
übermächtig wurde."
(2007, S.7) |
Joe Happy wird nach dem
Ende ihrer Auszeit Reitlehrerin und baut sich ein eigenes
Unternehmen auf. Als in den 90er Jahren der Reitboom einsetzt
und Reiten zum Statussymbol verkommt, wird sie der Arbeit
überdrüssig und steigt wieder aus. Sie verkauft ihren gut
gehenden Reithof 1995 und kauft Land im Nirgendwo von
Brandenburg. Die
Tauschgesellschaft erscheint aus dieser alternativen Sicht als
Ausweg aus der kapitalistischen Freizeit- und Konsumgesellschaft
mit ihrer Vereinzelung.
Joe Happy
"Die
Tauschgesellschaft hält jeden auf Achse, verlangt
Erfindungsreichtum, Fleiß und vor allem hohe soziale
Kommunikationsfähigkeit. Sie ist kein Garant für ein
sicheres Leben in Ruhe und Wohlstand, aber sie ist, jenseits
des sogenannten Arbeitsmarktes, eine Lebensversicherung
gegen die Einsamkeit."
(2007, S.22) |
Auch die Geschichte Das
ewige Lamm von Gabrielle GOETTLE, die durch ihre Reportagen
für die taz bekannt geworden ist, spielt in den neuen
Bundesländern. Sie erzählt von einem Öko-Landwirt, dessen
Aufbruch ebenfalls durch Erfahrungen mit der Alternativszene
beeinflusst wurde. Das
naturnahe Leben scheint immer noch seine Attraktivität durch
seinen Gegensatz zur Intellektualität der Urbaniten zu gewinnen,
wie die Philosophie des Ziegenhirten zeigt.
Das ewige Lamm
"Daß
die Ziegen uns eigentlich zeigen, was sie für Wesen sind,
was wir für Wesen sind und wie das zusammenhängt. Ich bin ja
direkt an der Quelle, ich muß den Umweg über die Abstraktion
gar nicht gehen. Ich spür's direkt, da brauche ich keinen
intellektuellen Diskurs. Der ist eigentlich - das ist mir
klar geworden - nur dafür da, den Mangel zu überspielen. Und
dieser Mangel entsteht, weil man mit den wesentlichen Dingen
nicht mehr in Berührung ist."
(2007, S.210f.) |
Die neue Ökonomie - New Economy revisited
Bernd CAILLOUX gilt seit
dem Erscheinen seines Romans
Das Geschäftsjahr 1968/69
als einer der Stammväter der Start-Up-Philosophie. Wer
könnte also geeigneter sein, die Zukunftswerkstatt des
Volkswagenwerks in Wolfsburg zu inspizieren.
Die
Zukunftsforschung beschäftigt sich - gemäß ihrem Selbstbild -
weniger mit der Entwicklung von Produkten, sondern mit dem
Entwerfen erwünschter Gesellschaften. Am Anfang steht die
zukünftige Gesellschaft und am Ende das dazu passende Produkt.
Wir sind hier mitten drin in der Kreativwirtschaft, die als
expandierender Kern der Wissensgesellschaft gilt.
Der Wendekreis des Käfers
"Zur
gleichen Zeit, zu der unser Gespräch beginnt, beschäftigen
sich achttausend Arbeiter mit der Autoherstellung, die
Hälfte der Wolfsburger Belegschaft von knapp fünfzigtausend
arbeitet in der Produktion, rund um die Uhr in drei
Schichten. Der Trend, daß ihre Zahl sinkt, bleibt stabil,
beschäftigt das Trendlabor jedoch weniger, denn in dieser
Abteilung ist Trend, daß immer mehr Leute in ihr arbeiten.
Die »Klasse der Kreativen«, die aus neuen, konsumfördernden
Dienstleistern besteht, würde ohnehin Gewinner künftiger
Ökonomie-Entwicklung sein, stellt dazu auch ein im Verlag
Zukunftsinstitut GmbH erschienener »Trend-Report 2006« fest
und ernennt diesen Befund sogar zum »Schlüsseltrend« der
nächsten Jahrzehnte. Ganz abgesehen von diesem aus der
eigenen Mitte kommenden Ermunterungen, liegen die Zukunfts-
und Trendforscher ohnehin seit längerem selbst im Trend."
(2007, S.27) |
Als Außenstehender
beschreibt CAILLOUX das Milieu dieser Technokraten der neuen
Gesellschaft, die kritische Einwände mit Redewendungen wie "das
ist nur bedingt richtig" elegant beiseite schieben.
Wenn
die Robotik ins Spiel kommt, dann schon längst nicht nur im
Bereich Automation von Industriebetrieben, sondern als Partner
des Menschen in allen Lebensbereichen. Die Japaner haben die
Visionen vom Zusammenleben von Mensch und Roboter bereits weit
getrieben.
Der
Österreicher Peter GLASER, der bereits in den
1980er Jahren die
Entwicklungen der Computerkultur begleitete, stellt
drei Lebensläufe vor, die ohne die Entwicklungen der digitalen
Kultur nicht denkbar gewesen wären.
Als
Mitte der 1980er Jahre die Alternativkultur implodierte, boomte
gleichzeitig die Computerbranche. Bevor Matthias HORX 1985
das Ende der Alternativen ausrief, schrieb der
spätere Trendforscher 1984 einen Trip durch die Computerszene
("Chip Generation").
Wer gestern noch vom No Future-Virus infiziert war, der war
plötzlich Computer-Freak - oder wer weniger technisch versiert
war, der schrieb wenigstens darüber. Wie
vielfältig solche Karrieren verlaufen können, zeigt GLASER
eindrucksvoll anhand dreier exemplarischer Lebensverläufe zwischen
Absturz und Ekstase.
Natürlich ist auch Holm FRIEBE mit von der
Partie. Als Mitbegründer der Zentralen Intelligenzagentur
(ZIA) und Mitverfasser der New Work-Bibel
Wir nennen es
Arbeit ist. FRIEBE
ist eine der Zentralfiguren der digitalen Bohème,
die GLASER als unmöglichen dritten Weg zwischen Festanstellung
und Einzelkämpfertum beschreibt.
Arbyte
"Unternehmerisch
ist jedes ZIA-Mitglied für sich und auf eigene Rechnung
selbständig und muß zusehen, wie es klarkommt und dann
eventuell den einen oder anderen Job annehmen, der nichts
mit der Firma zu tun hat, aber die Miete bezahlt. Der
Festangestellte gibt für ein gewisses Maß an Sicherheit
seine Unabhängigkeit auf. Der digitale Bohemien nimmt die
Sicherungsmaßnahmen selbst in die Hand. Seine Freundschaften
und frei gewählten Bindungen müssen dazu möglichst
zuverlässig sein. Sie werden dadurch auch »verbindlicher.«"
(2007, S.236) |
Der aktivierende Sozialstaat und die
Institutionalisierung der Arbeitsfähigkeit
Mit dem Ende des Aufstiegs
der Aufsteiger wurden die Verlierer zu Verlierern
. Die
Implementierung des aktivierenden Sozialstaats durch Rot-Grün
markiert den Wendepunkt, der zusammenfällt mit dem Beginn der
neubürgerlichen Unterschichten-Debatte. In
dem Essay Die Verlierer. Eine Umfrage unter Freunden
beschreibt Michael RUTSCHKY im Merkur 5/2000 die neu
entstandene Scheidelinie.
Die Verlierer
"Unsere Freundin Bärbel wohnt, wie gesagt, seit
längerem in dem Verliererviertel der Stadt. Hier wird die
Geschichte aber kompliziert. Früher war dies Viertel zwar
auch schon eines der Verlierer, aber Verlierer zu sein, war
damals angesagt. »(...). Früher war es irgendwie erwünscht,
Verlierer zu sein, da war man nicht Verlierer, sondern
entrechtet oder unterdrückt. Inzwischen hat sich das aber
dahingehend geändert, daß es nicht mehr in ist, und
deshalb ist das jetzt langsam ein bißchen traurig (...).
Jetzt stellt sich raus, wie es wirklich ist, wenn man
Verlierer ist.«
Früher beherbergte das Viertel neben den einfachen
Verlierern auch revolutionäre Studenten und die
intellektuelle Boheme. (...). Aber dann machte ein Teil der
revolutionären Studenten Examen und zog weg. Wer übrigblieb,
das waren wirklich Verlierer."
(2000, S.429f.) |
Wilhelm GENAZINO, der ein
seismografisches Gespür für die Wandlungen der Gesellschaft in
den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, befasst
sich mit dem Betteln. Er beschreibt den "Arbeitsplatz" eines
Bettlers, wobei zwischen verschiedenen Bettlertypen
unterschieden werden kann. Was
kennzeichnet aber einen erfolgreichen Bettler? GENAZINO zufolge
muss er Anschluss an die herrschende Stimmung finden. Der
Bettler muss sich in der Erlebnisgesellschaft als Entertainer
präsentieren.
Momentweise betäubt
"Bettler,
die nur ihr Elend ausstellen, rühren die Spenderlaune kaum
an. Andere hingegen (es sind wenige, und sie fallen durch
ihre andere Technik sofort auf), die Anschluß an die
herrschende Stimmung finden, kommen sehr gut weg. Und wenn
es nur die kärglichen Künste sind, die ein Jongleur mit drei
Bällchen vorführt. Man dankt es ihm mit einer großzügigen
Spende, die nicht ihm und seiner Not gilt, sondern die gute
Laune des Spenders ausdrückt."
(2007, S.133) |
GENAZINO sieht in der
Institutionalisierung von Bettlerschulen, die Bettler für
kurzweilige Publikumsunterhaltungen fit machen, eine Marktlücke. Die
Konsequenzen dieser Verschulung des Bettlerwesens mag man sich
dann doch lieber nicht vorstellen. Der Beitrag von GENAZINO
zeigt jedoch, dass der Trend hin zum Arbeiterdarsteller geht.
Auch diejenigen, die keiner "regulären" Arbeit - im Sinne
unserer immer noch von der Industriegesellschaft geprägten
Denkweise - nachgehen, sollen uns wenigstens die Illusion geben,
dass sie grundsätzlich arbeitswillig sind.
Einem
anderen Aspekt widmet sich Kathrin RÖGGLA, die ihre Tätigkeit
als "Wiedergängerin" bezeichnet. Entschuldung ist zum
notwendigen Bestandteil unserer Kreditkartengesellschaft
geworden. Nicht nur Firmen, sondern auch Privatleute können
mittlerweile pleite gehen. RÖGGLA
hat vier Tage lang Eindrücke aus der Schuldnerberatung
gesammelt. Sie sieht in der Entschuldung eine Antwort auf die
gesellschaftliche Risikoüberproduktion. Auch hier ist jedoch
eine Hierarchie entstanden, die zwischen würdigen und unwürdigen
Schuldnern differenziert:
die wiedergänger
"soviel
ist klar, niemand will hier zu den schmuddelschuldnern
gehören, von denen man gehört hat, ja, von denen nahezu
andauernd zu hören ist. die schmuddelschuldner, die
permanent um einen sein sollen, das hartz4-personal, das uns
sozusagen zu den ohren rausstinkt. und auch nicht zu denen,
von denen bekannt ist, sie verdienen nicht das geld, das sie
verdienen: sie verdienen es einfach nicht, da können sie
machen, was sie wollen."
(2007, S.311) |
Thomas KAPIELSKI hat die
Interviewform gewählt. Anhand seines eigenen Lebens entwickelt
er die Scheidelinien zwischen würdigen und unwürdigen
Sozialhilfeempfängern. Seine Zurückweisung einer Beamtenlaufbahn
qualifiziert ihn zu diesem Richteramt.
Man
lernt daraus, dass es wichtig ist, immer auf der Höhe seiner
Zeit zu sein. Bis zur Einführung der Künstlersozialkasse war es
übliche Praxis, dass (Lebens-)Künstler weiterhin als Studenten
eingeschrieben blieben. Mittlerweile wird sogar überlegt, den
Zugang zur Künstlersozialkasse einzuschränken, d.h. hier
entwickeln sich erneut Scheidelinien. Bevor die Masse kommt,
gilt es, sich neuen Ufern zuzuwenden. Ein Prinzip, das Thomas
KAPIELSKI in seinem Interview beherzt vorführt.
Sozialhilfelähmung, die haben immer nur die anderen.
BfA
"ON:
Das sind famose Ausreden!
TK: Na klar! Der Staat war schuld. Und dann kam ja immer
automatisch und kostenlos die Bescheinigung für das nächste
Semester, weil die Hochschulen früher ihre Haushalte mit
verfälschter Volkszahl haben aufpumpen können. Als die
Künstlersozialkasse kam, bin ich sofort raus da. Du mußt
hier sofort raus! Gutes Gefühl dann, da bin ich nochmal so
über den Campus geschritten (...) und dachte: Ihr armen
Arschlöcher, macht was ihr wollt! (...) Man konnte nicht
ahnen, daß die dann später auch abhauten und alle anfingen,
Bücher zu schreiben. Es gibt ja jetzt mehr, die schreiben,
als welche. die einfach nur noch lesen."
(2007, S.267) |
Die Wiedervereinigung hat
vor allem im Osten neue Formen der Verarbeitung der
Transformationsfolgen hervorgebracht.
Barbara
KALENDER & Jörg SCHRÖDER schildern das Leben eines Dresdner
Zöllners, der bis zur Wiedervereinigung an der Tschechischen
Grenze ein ruhiges und beschauliches Zöllnerdasein führte.
Aufgrund seiner Unwissenheit kündigte er im Zuge der
Wiedervereinigung und muss sich seitdem in einer
Verzollungsspedition bewähren. Seine alten Verbindungen kommen
ihm dabei jedoch zugute. Die neue Härte seines Lebens prägt auch
seinen gnadenlosen Blick auf Hartz-IV-Empfänger.
Der Bericht des braven Zöllners Sascha
"Es
gibt doch massenhaft Akademiker, die putzen, Taxi fahren
oder kellnern, manchen arbeiten gar nicht und fristen ihr
Leben als Hartzisten. Ich wundere mich immer, warum sich die
Medien so aufregen wegen des Begriffs »Unterschicht«. Wozu
sollen Hartz-IV-Empfänger sonst gehören? Egal, ob sie nun
studiert haben oder nicht."
(2007, S.123) |
Der Schriftsteller André KUBICZEK beschreibt die Arbeit seines Vaters, der
Geschäftsführer der Landesarbeitsagentur für Struktur und
Arbeit Brandenburg GmbH, kurz LASA, war. Die
Arbeitslosenstatistik sähe ohne diese Organisation noch trister
aus.
Ende eines Arbeitslebens
"Mittlerweile
(...) ist es über die Parteigrenzen hinweg Konsens, daß ein
Land wie Brandenburg eine Gesellschaft wie die LASA braucht.
Und sei es nur, um die Arbeitsmarkt-Statistiken ein wenig
freundlicher aussehen zu lassen. Um sie legal zu frisieren.
Denn das Problem, so Prof. K., sei doch ein strukturelles,
und das ließe sich nicht in den Griff bekommen. Nicht mit
diesem Wirtschaftssystem. Arbeitslosigkeit sei keine
Frage der Arbeitsmarktpolitik, sondern der
Wirtschaftspolitik. Dann reicht er noch die Fakten nach: von
1994 bis 2006 wurden 2 Mrd. Euro an Fördermitteln
ausgeteilt, von denen mehr als 900 000 Brandenburger auf die
eine oder andere Weise profitierten."
(2007, S.331) |
Der demografische Wandel und die
Veränderung der Arbeitswelt
Die Demografiedebatte ist
seit längerer Zeit ein zentrales Thema der Politik. Felix
ENSSLIN beschreibt in seinem Beitrag die Arbeit eines
politischen Mitarbeiters und die Gesetze der Mediengesellschaft. ENSSLIN
sieht im Autorisieren von Interviews die wichtigste Tätigkeit,
die ein politischer Mitarbeiter erledigen darf. Der
demografische Wandel ist selbst für die Bundesrepublik wahrlich
kein neues Thema, wie die Regierungserklärung von Konrad
ADENAUER zeigt:
Regierungserklärung von Konrad Adenauer am 20.
Oktober 1953
"Die wachsende Überalterung
des deutschen Volkes steigt andauernd (...). Heute stehen 67
Prozent der Bevölkerung im produktiven Alter (...). Diese
Zusammensetzung der Bevölkerung ändert sich stetig
zuungunsten des Prozentsatzes der im produktiven Alter
Stehenden, weil die Langlebigkeit wächst und die
Geburtenzahl abnimmt."
(zitiert
nach Spiegel vom 15.09.1954, S.10) |
Der Historiker Thomas
ETZEMÜLLER hat in seinem Buch
Ein ewigwährender Untergang
die Dauerhaftigkeit dieses Themas nachgewiesen. Dass
dieses Thema auch im neuen Jahrtausend noch ein enormes
Erregungspotential entfalten kann, das liegt auch am
eingespielten Zusammenspiel von Politik und Medien.
UdL 50
"Bei
Politikern, die im Umgang mit Journalisten zu Kumpanei und
laissez faire neigen, obliegt es dem Mitarbeiter,
dafür zu sorgen, daß er keine Zusagen für Interviews macht,
die inopportun sind (...). Dabei gilt es - einerseits - zu
verhindern, daß durch Originalität oder einen gewissen
Überschuß in der Diktion oder gar im Gedanken Schaden
entsteht, etwa dadurch, daß aus den Formulierungen eine
Forderung abgelesen werden könnte, die den momentanen
Vorstellungen zulässigen Wissens, wie sie hauptsächlich von
Journalisten definiert werden, nicht entspricht.
Andererseits muß das Gesagte den Anschein einer Neuigkeit
haben, denn warum sollte es wohl sonst gedruckt werden?"
(2007, S.154) |
Die demografischen
Verhältnisse sind ständig im Wandel und sie sind deshalb ein
dankbares Thema. Die Richtung der Veränderung weist - bis auf
kurze Ausnahmezeiten - seit über 100 Jahren immer in die gleiche
Richtung: Die Menschen werden älter und die Geburtenzahl nimmt
ab.
Im
vorliegenden Band gibt es keinen einzigen Beitrag, der sich mit
dem Fortschritt der Reproduktionsmedizin beschäftigt, obwohl
dies doch gewiss ein expandierender Geschäftszweig ist. Alle
Beiträge kreisen stattdessen um Kinderlosigkeit, Altern und
Tod. Einzig
die Reportage von Feridun ZAIMOGLU, einem seit längerer Zeit in
Deutschland lebenden und in der Türkei geborenen Schriftsteller, über SexarbeiterInnen könnte
man im weitesten Sinne dem Bereich gesellschaftlicher
Reproduktion zuordnen. Aber da Sex und Fortpflanzung heutzutage
weitgehend entkoppelt sind, wäre dieser Versuch höchstens der
Tatsache geschuldet, dass ZAIMOGLUs Reportage irgendwie nicht so
Recht ins Schema passt. Man
könnte sie - wie auch den Beitrag von Harriet KÖHLER über einen
Küchenjungen in einem Sterne-Restaurant unter der Rubrik
Erlebnisgesellschaft abhandeln. Dass
aber ausgerechnet ZAIMOGLU der Part über die SexarbeiterInnen
zufällt, passt dann doch wieder irgendwie ins Schema der
demografischen Debatte
. Der
Kunde bekommt, was er will - entscheidend ist dafür jedoch nicht
die reale Ausgestaltung, sondern die Erzeugung der passenden
Vorstellungswelt. Das Internet sei das Paradies der
Schüchternen, heißt eine beliebte These.
Peepshow 2
"Anonymität
spielt eine entscheidende Rolle? »Sicherlich. Mag sein, daß
viele, vielleicht die meisten unserer Kunden viel zu weit
weg wohnen von großstädtischen Rotlichtbezirken. Da ist das
Internet bequemen. Aber finanzielle Gründe würde ich
ausschließen. Wir haben Kunden, die schauen sich ein Modell
live im Chat an und telefonieren gleichzeitig mit ihr über
die 0190-Nummer. (...). In dem meisten deutschen Großstädten
kommt man bei einem Besuch in einem Laufhaus kostengünstiger
weg und hat den vollen Service. Die meisten Kunden zahlen
gerade dafür, dass sie es nicht mit einer echten Frau zu tun
haben (...). Sie scheuen den Körperkontakt. Dafür bezahlen
sie«"
(2007, S.62) |
Das scheint jedoch nicht
gleichermaßen für alle Schüchterne zu gelten. Vor allem
Menschen
ohne Beziehungserfahrung scheinen sich nicht unbedingt mit
solchen Scheinwelten abspeisen zu lassen.
In
der Gesellschaft der Langlebigen - ein Begriff, der auf
dieser Website der üblichen Redeweise von der "alternden
Gesellschaft" vorgezogen wird, gewinnt
das Ehrenamt an Bedeutung. Jenseits von Markt und Staat, beginnt
die Zivilgesellschaft. Oliver
Maria SCHMITT widmet sich diesem Aspekt. Die
Lebensphase Alter differenziert sich aus. Man spricht deshalb
von "jungen Alten" und "alten Alten". Die Frage stellt sich, ob
die Alten unter sich bleiben oder ob sie weiterhin in die
Gesellschaft integriert werden. Bei
SCHMITT wird nur der erste Aspekt berücksichtigt. Das Ehrenamt
ist Sache der "jungen Alten", die sich um die "alten Alten", das
heißt die Pflegefälle, kümmern.
Letzte Gänge, kurze Wege
"Schon
heute erhielten über zehn Prozent aller Pflegebedürftigen
Hilfe von Bürger zu Bürger, und dabei seien die
Ehrenamtlichen fast immer jenseits der fünfzig, sogenannte
»best agers« oder »junge Alte«, meistens weiblich, selten
aus bildungsfernen Schichten und fast nie Arbeitslose oder
Hartz-IV-Empfänger. (...). Die ständig größer werdende Schar
der fitten Alten, die wolle weder Butterfahrten noch
Kaffeekränzchen, ein, das seien oftmals Singles, Zugezogene
ohne Familienanschluß, gebildet und gerade aus dem
Berufsleben geschieden, die nun nach neuen Aufgaben
verlangten."
(2007, S.353) |
Thomas RAAB berichtet über
neue Geschäftspraktiken im Bestattungsgewerbe. Er hat einen
Billig-Bestatter begleitet, der Feuerbestattungen in Tschechien
organisiert. Die
Konkurrenz sei groß, was umso mehr erstaunt, weil ja die Zahl
der Sterbenden seit Jahren zunimmt. Aber das Geschäft mit dem
Tod ist lukrativ. Immer wieder reflektiert RAAB auch das
Schriftstellerdasein vor dem Hintergrund des Todes. Unsere
Vorstellungen vom gelungenen Leben beeinflussen unsere Sicht auf
den Tod. Der vorzeitige Tod schmerzt besonders in einer
Gesellschaft der Langlebigen
.
Kleines Finale
"Kindersärge!
Was ist es, das uns schauern läßt, selbst als Kinderlose?
Die statistisch gesehen frühe Beendigung eines potentiell
zumindest durchschnittlich langen Lebens? Der Schmerz der
Beteiligten, die in das Kind (auch Gehirn-)Ressourcen
investiert haben? Warum ist dieses Klischee eines
»gelungenen Lebens« so mächtig? Ein solches sollte (in
unseren Breiten) keinesfalls vor dem sechzigsten Jahr enden.
Es sollte einen »stimmigen« Gesamtablauf gehabt haben. Es
sollte vital gewesen sein, mit Dramatik (der im Liebesrausch
eroberte Lebenspartner, beruflicher Aufstieg, etwas wie
Erfolg, Lohnsteigerung, eigene Kinder gar etc.), den
Höhepunkt gesellschaftlicher Aktivität um die Lebensmitte
erreicht haben."
(2007, S.372) |
Nach dem Tod der Eltern
heißt es für die Familienangehörigen die Hinterlassenschaften
der Gestorbenen so zu entsorgen, dass das Andenken der Toten
gewahrt bleibt. Diesem heiklen Thema widmet sich Georg KLEIN. Er
hat einen Schandwerker mit dieser Aufgabe betraut. Und manchmal
entdecken wir dabei neue Seiten der Verstorbenen, wie KLEIN
eindrucksvoll schildert.
Nacht mit dem Schandwerker
"Was
Petra herausbekam, gab auch mir zu denken. Bis dato hatte
ich der spätgeborenen Baumliebe unserer Mutter eher
belustigt gegenübergestanden. Warum sollte sich eine über
siebzigjährige Witwe, die vergeblich auf Enkel gehofft
hatte, nicht um Pflänzchen in der Not kümmern? Die
Baum-Adoption ist, so weit wir es verstanden haben, das
praktischer Herzstück des Arborianismus, sein eigentlicher
Kult."
(2007, S.247) |
Mit Dietmar DATH schließt
sich der Bogen. Am Anfang stand das naturnahe Arbeiten und am
Ende die Beherrschbarkeit der Natur, sei es nun die äußere oder
die innere. Leben
wir nicht gegen die Natur und wird sie uns deshalb eines Tages
dafür bestrafen? Das sind Fragen, die sich nicht nur religiöse
Fanatiker stellen. DATH spielt in seiner Reportage mit unserer
Angstlust.
Contra naturam
"Wovon
redet er, was sind das für Ereignisse, denen er vorgreift?
(...).
Die letzten Jahre, sagt er leise und langsam genug zum
Mitschreiben, die wenigen Jahre, die den Anfang der neuen
Kriege der Völker vom Zeitpunkt trennen, als man
aufgebrochen ist und die zerstörte Biosphäre verlassen hat,
haben viele Namen. Der beste ist der, den wir ihnen gegeben
haben: Die brennende Zeit. Die beiden Feuer, eins im Osten
und eins im Westen, bewegen sich mit quälender
Schmerzhaftigkeit aufeinander zu."
(2007, S.410) |
Fazit: Die Arbeitswelten werden sich in den
nächsten Jahrzehnten weiter verändern - der Reportageband
liefert wertvolle Einblicke in Entwicklungstendenzen
Niemand kann heute schon
voraussehen wie wir im Jahr 2040 tatsächlich arbeiten werden.
Das wird klar, wenn wir zurückblicken. Der Ruhrpott mit seinen
Zechen und Stahlwerken war einmal das bedeutendste
Industriezentrum der alten Bundesrepublik. Die
Automobilindustrie trat dieses Erbe an. Der Erzählband
Am
Tresen gehen die Lichter aus von Max von der GRÜN erzählt
von dem damit verbundenen Generationenbruch.
Inzwischen
bestimmt der Computer die Arbeitswelt. Wie postindustrielle
Arbeitswelten aussehen, das wird in dem Band Schicht!
deutlich. Die klassische Erwerbsarbeit in der Fabrik hat bereits
heute ihre Dominanz verloren. Immer mehr Menschen werden im
Dienstleistungsbereich arbeiten.
Berufliche
Lebensentwürfe können nicht mehr für ein ganzes Leben entworfen
werden. Dies galt bereits für das letzte Viertel des 20.
Jahrhunderts wie der Band zeigt, aber es wird wohl im
verstärkten Maße auch für die nächsten Jahrzehnte gelten. Die
Veränderungen zwingen dazu, uns mit den veränderten Bedingungen
dieser neuen Arbeitswelten auseinanderzusetzen. Schicht!
liefert wichtige Denkanstösse dazu.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
Die
Single-Debatte ist längst in eine Sackgasse geraten. Dies
wird in diesem Buch u.a. der Individualisierungsthese des
Münchner Soziologen Ulrich Beck angelastet.
Das Buch
sollte als Beitrag zur Versachlichung der Debatte
verstanden werden und liefert deshalb Argumente für eine
neue Sichtweise auf das Single-Dasein im Zeitalter der
Demografiepolitik.
(Klappentext, 2006) |
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