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Einführung
Obwohl Flaschensammler
mittlerweile zum Stadtbild dazugehören, gibt es kaum
wissenschaftliche Literatur zu diesem Phänomen. Nun ist ein Buch
erschienen, das sich im Rahmen eines Lehrforschungsprojektes mit
Studierenden der Sozialen Arbeit dem Phänomen des
Flaschensammelns im Raum München gewidmet hat. Die Herausgeber Philipp CATTERFELD &
Alban KNECHT nennen in ihrem Beitrag Pfand,
Konsum und Armut. Warum Flaschensammeln? drei
Voraussetzungen, die das Pfandflaschensammeln für Menschen in
unserer Gesellschaft attraktiv gemacht haben. Da ist zum einen
die Verpackungsordnung zu nennen, die Mitte der Nuller Jahre
reformiert wurde:
Pfand, Konsum und Armut. Warum Flaschensammeln?
"Den Mehrwegpfand
für Glasflaschen gibt es schon seit den 1960er Jahren.
Erst seit dem 1. Januar 2003 gibt es auch eine
Pfandpflicht für Einwegflaschen, die seit dem 1. Mai 2006
auch Mineralwasser-, Bier- und
Erfrischungsgetränkeflaschen umfasst. Hier ist festgelegt,
dass der Pfand der - von den Flaschensammlern so begehrten
- Einwegplastikflaschen 25 Cent beträgt. (...). Für
Flaschensammler ist der Kernpunkt der Regelung wohl, dass
der Einzelhandel verpflichtet ist, alle Pfandflaschen
zurückzunehmen, insofern die Ladenfläche größer ist als
200 Quadratmeter."
(2015, S.169) |
Eine zweite Voraussetzung
sehen die Autoren darin, dass vermehrt Pfandflaschen in der
Öffentlichkeit zurückgelassen werden und sich das Trinkverhalten
der jungen Leute geändert hat.
Und nicht zuletzt ist es
die Armut, die dem Flaschensammeln eine neue Bedeutsamkeit
verliehen hat. CATTERFELD & KNECHT unterscheiden hier zwischen
"Wanderarbeitern", d.h. jungen Migranten aus Südosteuropa und
deutschen "Aufstockern":
Pfand, Konsum und Armut. Warum Flaschensammeln?
"Die Aufstocker
sind älter, mindestens 50 Jahre alt. Sie sind Deutsche
oder wohnen seit zwei oder drei Jahrzehnten in
Deutschland. Aufgrund eines Schicksalsschlags (Krankheit,
Scheidung, Arbeitsverlust) sind sie von Armut betroffen.
Viele von ihnen versuchen, strukturelle Armutsprobleme
(Altersteilzeit, Frührente oder die Bedrohung des eigenen
Vermögens bei der Beantragung von Hartz IV ohne die Hilfe
des Staats zu umgehen: Flaschensammeln als absolut
unbürokratische und legale Lösung bietet sich hier an."
(2015, S.171) |
In den Interviews kommen
in erster Linie diese deutschen Aufstocker zu Wort, da die
Sprachbarriere eine weitreichendere Einbeziehung in die
Untersuchung verhinderte. Der Beitrag "Arbeit ... für Essen,
Kinder". Migrierte Flaschensammler von Tetyana BREUROSH
verdeutlicht die Schwierigkeiten bei Gesprächen mit den
"Wanderarbeitern", die vor allem in der Perspektive der
Aufstocker als unliebsame Konkurrenz erscheinen.
Überleben in der Stadt
Der Soziologe Ulrich
BRÖCKLING hat den Flaschensammler in den Schweizer
Monatsheften als Schreckensbild des Unternehmers
beschrieben:
Der Flaschensammler
"Das unternehmerische
Selbst ist (...) nicht nur Leitbild, sondern auch
Schreckbild. Was alle werden sollen, ist zugleich das, was
allen droht. In den Riesenstädten Afrikas, Südamerikas und
Asiens, aber auch in den Metropolen des Westens existiert
bereits ein Millionenheer virtuoser Alltagsunternehmer,
die all ihre Kräfte darauf verwenden müssen,
unternehmerisch zu handeln, um im strikten Sinne des
Wortes zu überleben. Nicht der Traum eines Aufstiegs vom
Tellerwäscher zum Millionär treibt sie an, sondern der
leere Magen. Will man nach Personen suchen, die dem Bild
des städtischen Unternehmers nahekommen, dann tut man
deshalb gut daran, nicht nur auf die Glücksritter der New
Economy oder auf die digitalen Bohémiens in Berlin-Mitte
zu starren, sondern sich auch den
windschutzscheibenputzenden Jungen auf der Kreuzung in
Mexico City vorzustellen oder die Strassenhändlerin in
Kalkutta, die auf dem Gehsteig hockt und Süssigkeiten
feilbietet. Oder, um in der Nähe zu bleiben, eben den
Flaschensammler am Container um die Ecke."
(Ulrich Bröckling, Schweizer Monatshefte, Februar 2009, S.9) |
Gegenüber der digitalen
Bohème, die mit dem Manifest
Wir nennen es Arbeit in der
gesellschaftlichen Mitte das positive Selbstbild des
selbständigen Arbeitskraftunternehmers im Gegensatz zum
bemitleidenswerten Festangestellten etabliert hat, erscheinen
Flaschensammler als die Kehrseite einer Gesellschaft, die sich
der Abkehr von der Arbeitnehmergesellschaft verschrieben hat. In
der Soziologie hat Heinz BUDE die Gegenüberstellung von alter
Bonner Republik und neuer Berliner Republik mit dem
Leitbildwandel vom Arbeitnehmer zum Unternehmer verknüpft
. Der
Soziologe Stephan LESSENICH hat darauf aufmerksam gemacht, dass
dieser Leitbildwandel nicht auf den Arbeitsmarkt beschränkt
bleibt, sondern auch den Sozialstaat erfasst. Im Leitbild
des aktivierenden Sozialstaats sieht der Soziologe eine neue
Moralordnung
aufscheinen
:
Die
Neuerfindung des Sozialen
"In
der Gesellschaft des aktivierenden Sozialstaats wird der
Dualismus von Mobilität und Immobilität zur gesellschaftlichen
Metadifferenz, wird die Unterscheidung zwischen Beweglichen und
Unbeweglichen zu einer zentralen Linie der Spaltung des Sozialen
(...). Die Aktivgesellschaft und ihr Sozialstaat orten das
Soziale - die Fähigkeit und Bereitschaft zur Bewegung im
Interesse der Allgemeinheit - im Einzelnen selbst bzw. im
einzelnen Selbst. Doch nicht jede und jeder findet dieses
individuelle Soziale, den Antrieb und die Kraft zum
gesellschaftlich gefragten aktiven und proaktiven Verhalten,
auch in sich. (...). Wenn dem so ist, dann wird die
aktivierungspolitische Anrufung für die Unvermögenden
unversehens zum aktivgesellschaftlichen Anwurf, dann zeigt die
freundliche Bewegungsprogrammatik unvermittelt ihr hässliches
Gesicht. Es ist die permanente Überhöhung des Aktivischen, die
penetrante Feier der Jungen, Mobilen und Schlanken, die
gesellschaftlich spaltend wirkt."
(2008, S.126) |
In den Interviews des
Buchs Flaschensammeln zeichnet sich diese neue Moralordnung ab, z.B.
wenn sich die Flaschensammler gegenüber Bettlern abgrenzen und
das Aktivische des Flaschensammelns betont wird. Flaschensammler
mögen zwar einerseits für die Mittelschicht das Schreckensbild
eines Unternehmers verkörpern, andererseits spiegeln sie aber
auch die neue Werteordnung des aktivierenden Sozialstaats
wieder. Sie mögen zur neuen Randgruppe der Berliner Republik
gehören, aber gleichzeitig stellen sie eine moderne, urbane
Sozialfigur dar, die gegenüber anderen Randgruppen der
Gesellschaft die neue Moralordnung verkörpern. Diese Ambivalenz
des Flaschensammelns wird in den Interviews des Buchs
Flaschensammelns immer wieder sichtbar.
Routen- und
Veranstaltungssammler - Strategien des Flaschensammelns
Der Soziologe Sebastian J.
MOSER hat in seiner Dissertation Pfandsammler. Erkundungen
einer urbanen Sozialfigur (2014) zwischen
Routen- und Veranstaltungssammlern unterschieden. In dem Buch
Flaschensammeln wird diese Unterscheidung zwar nicht
explizit benutzt, aber die Gesprächspartner lassen sich unschwer
der einen oder anderen Strategie zuordnen, wobei einige die
beiden Strategien auch kombinieren, z.B. indem sie an einem Tag
einer Route folgen, während sie am anderen Tag auf einem Event
sammeln. Außerdem hinterfragt das Buch auch Mythen der
Flaschensammler:
"Wir sind Rentner, wir zählen eh schon nimmer"
"Die Münchner
Flaschensammler pflegen sogar eine Art Mythos: Wer an der
Allianz-Arena vor einem Fußballspiel sammelt, der muss ein
professioneller Flaschensammler sein, denn dort könne er
in kürzester Zeit sehr viel mehr Geld machen als die
jeweils befragten Flaschensammler. Doch was macht einen
professionellen Flaschensammler wirklich aus? Ist es
wirklich so, dass man nur dann professionell ist, wenn man
an einem dieser »Hot-Spots« tätig ist?"
(Daniel Fogel 2015, S.41) |
Flaschensammeln als Arbeit, Hobby oder Sucht?
Der Soziologe Ulrich
BRÖCKLING sieht im Flaschensammler eine Art Ich-AG bzw.
Selbstunternehmer. In diesem Sinne wäre Flaschensammeln eine Art
Erwerbsarbeit. In einem Porträt des Dosenpfandsammlers Eduard
LÜNING in der ZEIT wird gar von einem Beruf gesprochen:
Die Tour wird eine Gaudi
"Lüning
ist (...) nicht nur hauptberuflicher Dosenpfandsammler,
sondern auch leidenschaftlicher Musikliebhaber. Beides
verbindet er, indem er von Ende Mai bis Oktober fast jedes
Wochenende zu den größten Musikfestivals des Landes fährt
und dort den Dosenschrott trinkfreudiger Besucher
einsammelt und bei Pfandannahmestellen in Supermärkten zu
Geld macht. Dabei legt er insgesamt rund 7.000 Kilometer
zurück, mit seinem »Schätzchen«: einem kleinen weißen
Wohnmobil, das er für 7.900 Euro gebraucht gekauft hat –
bezahlt mit Dosenpfand und der Wegwerfmoral anderer.
(...). Alles ist bereit für die große Tour. »Die meisten
Tickets habe ich schon gekauft«, sagt Eduard Lüning (...).
»Da muss man zum Teil ein halbes Jahr im Voraus aktiv
werden, sonst gibt es keine Karten mehr.« Für das »Rock am
Ring«-Festival habe er gerade noch im Internet eine Karte
ergattern können, 170 Euro hat ihn das gekostet. (...).
Der Einsatz lohnt sich: In 30 Tagen bringt Lüning es mit
zehn Festivals auf 13.000 Euro Dosenpfand. 1.000 Euro
zahlte er dem Finanzamt Münster im Jahr 2010 an Steuern.
Wer ganz fleißig sei, könne es in zehn Etappen auch locker
auf 20.000 Euro bringen. Die Erinnerungen an seine erste
Festivaltour 2010 hat er in einem Buch festgehalten: Mit
Dosenpfand zum Wohnmobil, die erste Auflage ist
vergriffen."
(Simone Fischer in der Zeit Nr.20, 2012) |
Würde man Professionalität
am Beispiel von Eduard LÜNING messen, dann würde keiner der im
Buch Flaschensammeln Befragten zu diesem Kreis zählen. Der
typische Flaschensammler würde bereits am Aufwand für die
Vorbereitungen scheitern: Ticketkauf und Fahrzeugbesitz.
Nichtsdestotrotz lassen sich eher amateurhafte von
professionelleren Flaschensammlern unterscheiden. Daniel FOGEL
macht das nicht entlang der Unterscheidung Routen- vs.
Veranstaltungssammler fest, sondern am Wissen über ihre
Tätigkeit, am Zeitaufwand und am Verdienst. An anderer Stelle
wird die Ausrüstung als Ausdruck von Professionalität gewertet.
Ist jemand mit Plastiktüten, Rucksack, Trolley, Einkaufswagen
oder gar mit einem Fahrzeug unterwegs? Hat jemand Handschuhe
fürs Mülleimerwühlen oder eine Taschenlampe dabei? Oder ist
jemand nur Gelegenheitssammler wie jene Hausfrau, die einem
Flaschensammler als unliebsame Konkurrenz gilt:
Eine Stunde aus dem Leben eines Flaschensammlers
"»Das Schlimmste,
was uns passieren konnte, ist diese doofe Idee, leere
Flaschen und Dosen auf oder neben den Müllbehälter zu
stellen! So kann jede Hausfrau, die auf dem Weg zum
Einkommen ist, eine beim Vorbeigehen mitgehen lassen. Sie
würde nie im Leben im Müll rumwühlen, das hat sie nicht
nötig, und so kann sie unbemerkt bleiben. Seit diese
Methode praktiziert wird, verdiene ich am Tag fast um die
Hälfte weniger«"
(Inna Baklanova 2015, S.18) |
Die Beiträge
Nicht-Haben oder Sein von Sabrina PIETSCH und Flaschensucht
von Nadina ALAJBEGOVIC beleuchten die Frage, ob Falschensammeln
nicht nur des Geldes wegen, sondern auch als
Freizeitbeschäftigung bzw. Hobby gesehen werden kann und
inwiefern das Pfandsammeln Suchtcharakter annehmen kann. Wobei
sich hier die Frage stellt, inwiefern hier von Sucht gesprochen
werden kann oder ob es sich nicht eher lediglich um Gewohnheiten
handelt, die den Tag strukturieren.
Motive der Flaschensammler
Flaschensammlern wird
gerne unterstellt, es gehe ihnen nur ums Geld. Das
Flaschensammeln gilt aber gleichzeitig als unlukrativ, auch wenn
einige Wenige wie Eduard LÜNING behaupten, man könne innerhalb
kurzer Zeit viel Geld machen. Liegt das Geld also auf den
Straßen der Großstädte?
Die "armen" Flaschensammler. Motive und Glaubwürdigkeit
"Warum sammeln
sie gerade Flaschen und gehen keiner lukrativeren Tätigkeit nach?
Das Klischee, Flaschensammler wären die armen Leute, die das Geld
benötigen, um überhaupt leben zu können, um einigermaßen über die
Runden zu kommen, ist in vielen unserer Köpfe verankert. Doch ist
dies der einzige Grund, warum Flaschensammler ihre Tätigkeit
ausführen, oder gibt es noch andere Motive? Kann es sein, dass das
geringe Flaschenpfand Menschen dazu motiviert, tagtäglich nach
Flaschen Ausschau zu halten und diese dann mühsam und mit viel
Anstrengung zu Supermärkten zu schleppen, um dann im Endeffekt mit
vielleicht drei Euro aus der Ladentür zu kommen?"
(Carolin Baderschneider 2015, S.85) |
Das Geld mag für viele ein
Hauptmotiv sein, aber es ist nicht das einzige Motiv wie die
Gespräche der Studierenden zeigen. Flaschensammeln dient den
einen zur Gesunderhaltung, andere finden über die Tätigkeit
Kontakte zu anderen Menschen. Das Flaschensammeln ermöglicht
also eine Teilhabe an der Gesellschaft und es strukturiert einen
Tag. Immer wieder kreisen die Beiträge des Buchs Flaschensammeln
aber auch um die Frage, ob die Motive, die von den Flaschensammlern
angeführt werden nicht nur Rechtfertigungsmuster gegenüber
anderen sind. Wie steht
es mit der Glaubwürdigkeit der Interviewaussagen? Den
Interviewenden ist durchaus bewusst, dass die Selbstdarstellung
nicht identisch ist mit dem Verhalten, weswegen neben Gesprächen
auch Beobachtungen und die Analyse von Widersprüchlichkeiten in
den Aussagen die Interviewmethode ergänzen.
Etliche Beiträge nähern
sich dem Phänomen Flaschensammeln aber auch durch Selbstversuche
der Studierenden. Wer selber schon einmal vor einem
Pfandflaschenautomat im Supermarkt gestanden hat und seine
Flaschen wieder unverrichteter Dinge mitnehmen musste, der weiß, dass es durchaus
nicht für jede Flasche Pfand gibt. Und sammelt man überhaupt die
schweren Bierflaschen, die nur 8 Cent abwerfen oder nur z.B. die
lukrativen Red Bull-Dosen für 25 Cent?
Inwieweit verändert die
Lebenssituation des Flaschensammlers die Art und Weise des
Pfandsammelns? Die Beiträge gehen von einem engen Zusammenhang
zwischen Geldnot und Sammeltätigkeit aus. So wird Ausländern
generell eine größere finanzielle Notlage zugeschrieben als
Deutschen und Gelassenheit beim Sammeln kann sich eher jener
leisten, der auf das Geld nicht unbedingt angewiesen ist:
Nicht-Haben oder
Sein
"Geld ist (...) der
wichtigste Gesichtspunkt, es ist die treibende Kraft,
Flaschen zu sammeln. Ausländische Flaschensammler, die
keine Papiere haben oder die deutsche Sprache schlecht
beherrschen, sichern so ihre Existenz, während Rentner
»nur« ihre Rente aufstocken. Beide haben zu geringe oder
gar keine Einnahmen und sammeln daher mehrer Stunden am
Tag Flaschen."
(Sabrina Pietsch 2015, S.38)
"Je weniger Geld der
Flaschensammler zur Verfügung hat, desto professioneller
geht er seiner Tätigkeit nach. Geld ist der springende
Punkt, denn: Je mehr Geld man hat, desto gelassener wird
die Betätigung als Flaschensammler gesehen und desto
weniger professionell wird sie verfolgt."
(Sabrina Pietsch 2015, S.39f.) |
Flaschensammeln zwischen Diskriminierung
und Anerkennung
Werden Flaschensammler in
Deutschland diskriminiert? Im Zusammenhang mit der Debatte um
die neoliberale Stadt wurde die Privatisierung des öffentlichen
Raumes und die damit verbundene Diskriminierung von
gesellschaftlichen Randgruppen beklagt. Der Beitrag
Konfliktherd Marienplatz von Markus BRANDSTETTER & Viviane
JAEKEL zeigt, dass z.B. die Hausordnung der Deutschen Bahn
durchaus Diskriminierungspotenzial in sich birgt. Im Gespräch
mit einem Security-Mitarbeiter zeigt sich jedoch auch, dass die
Ordnungshüter durchaus Unterschiede zwischen Flaschensammlern
machen:
Konfliktherd
Marienplatz
"Für den
Marienplatz existieren zwei Zonen mit unterschiedlichen
Bestimmungen. (...) Im unteren Bereich gilt (...) die
umfangreiche Hausordnung der Deutschen Bahn. Hier steht
explizit drin, dass das Durchsuchen von Abfalleimern
untersagt ist, was bedeutet, dass Flaschensammler am
Marienplatz am U- und S-Bahnsteig unerwünscht sind. Dazu
kommt, so der Security, dass man ein Ticket benötigt, um
sich dort aufzuhalten, was die Flaschensammler oft nicht
besitzen.
Der Security darf nach diesen Bestimmungen den
Flaschensammlern Hausverbot erteilen. »Als Mensch« würde
er jedoch »des Öfteren darüber hinwegschauen, vor allem
wenn alte Menschen sammeln« (...). Bei den jungen habe er
kein Verständnis, seiner Meinung nach könnten diese auch
arbeiten gehen."
(Markus Brandstetter & Viviane Jaekel 2015, S.31) |
In der Perspektive der
anderen heißt ein Beitrag von Franziska GROSS, in dem
Supermarktmitarbeiter, Polizisten, Sicherheitsleuten und
Passanten zu Wort kommen. Supermarktmitarbeiter sehen
Flaschensammler nicht gerne, wenn sie mehr als die
haushaltsüblichen Pfandflaschen abgeben, weswegen
Flaschensammler unterschiedliche Strategien entwickelt haben,
mit denen sie den Unmut zu verringern versuchen.
Sicherheitsleute sehen in Flaschensammlern durchaus auch Helfer
und verschaffen ihnen mitunter sogar Zutritt zu lukrativen
Events.
"Ich hab richtig Spaß am Leben"
"...das ist nicht
nur, dass wir da die Flaschen sammeln, sondern wir machen
auch sauber ringsherum. Sagen wir mal so Sektflaschen und
Weinflaschen, was die Leute so rumschmeißen, das sammeln
wir alles auf, da haben die Ordner was von, weil das ist
ja eigentlich denen ihr Job, ja."
(Hannah Kreie & Cornelius Kammerl 2015, S.69)
"...gestern zum
Beispiel, Eventhalle, da dürfen die nichts mit reinnehmen
und da haben wir dann auch ganz viele volle, geschlossene
Flaschen. Das geht nur mit der Security, da lassen die uns
dann ab und zu rein. Das ist immer so ein Geben und
Nehmen."
(Hannah Kreie & Cornelius Kammerl 2015, S.74) |
Fazit: Das Buch bietet vielerlei Anregungen
zum Weiterdenken und selber Forschen
Flaschensammler gelten
zwar als Randgruppe unserer Gesellschaft, aber ein Artikel im
Unispiegel zeigt, dass auch jene, die sich in der Mitte der
Gesellschaft wähnen, in Notlagen geraten können, in denen das
Pfandsammeln als letzter Ausweg erscheint:
Mülleimer als Einnahmequelle
"Kürzlich hatte
Sabrina Terstegge ihren bislang schlimmsten Fall. Die
Mutter eines Studenten rief an und bat um Hilfe. Ihr Sohn,
sagte die Frau, warte bereits seit mehreren Wochen auf die
Bearbeitung seines Bafög-Antrags. Leider könne sie ihm
kein Geld geben, klagte die Mutter, sie habe selbst ja
kaum etwas. Der Junge wühle jetzt schon im Mülleimer und
suche dort nach weggeworfenen Flaschen, um sich vom Pfand
etwas zu essen zu kaufen. Ob Sabrina Terstegge da nichts
tun könne?"
(Unispiegel, Heft 1, Februar 2012, S.25) |
Was sagt das über die
Gesellschaft aus, in der wir leben? Über die Lebenssituation von
Flaschensammlern in Deutschland ist bislang wenig bekannt. Der
Beitrag Von Teams und Einzelkämpfern von Daniela MEINERT
zeigt die Schwierigkeiten, etwas über die Lebenssituation von
Flaschensammlern zu erfahren. Haben sie eine eigene Familie,
einen Partner bzw. eine Partnerin. Leben sie allein oder sind
sie obdachlos? Jene, die nicht einmal einen eigenen Haushalt
führen, fallen meist durch alle Raster der Sozialforschung. Da
unser soziales Netz immer grobmaschiger wird und die soziale
Ungleichheit mehr und mehr zunimmt, scheint das Phänomen der
Pfandsammler symptomatisch für eine neue Armut in Deutschland.
Im Beitrag Flaschen
statt Stütze geht Leonie ELSHOLZ der Frage nach, ob nicht
die spezielle Nachkriegssozialisation dafür verantwortlich ist,
dass die deutschen Flaschensammler im Raum München meist über
50-Jährige sind:
Flaschen statt Stütze
"Viele der von uns
befragten Sammler sind in der Zeit unmittelbar nach dem
Zweiten Weltkrieg aufgewachsen. (...). Es galt als Unding,
nicht selbst für sich sorgen zu können und stattdessen dem
Staat auf der Tasche zu leben. Diese Einstellung mag die
Sammler noch heute beeinflussen: Eine Art erlernter »Nachkriegszeit-Aktionismus«,
der in einem deutlichen Gegensatz zur Einstellung jener
jüngeren Generationen zu stehen scheint, deren Angehörige
die aktive Entscheidung, Hartz IV zu beziehen,
möglicherweise leichter fällt - vielleicht, weil sie ihre
Freizeit besser oder anders strukturieren können,
vielleicht, weil es ihnen nicht so schwer fällt, monetäre
Leistungen vom Staat anzunehmen. In München konnten wir
jedenfalls keine jüngeren deutschen Flaschensammler
beobachten. Ja, es scheint überhaupt schwer vorstellbar,
dass jüngere Deutsche in prekären Lagen Flaschen für acht,
15 oder 25 Cent sammeln."
(Leonie Elsholz 2015, S.48f.) |
Sind Flaschensammler also
lediglich ein Übergangsphänomen? Viel war in der Vergangenheit
von einer
drohenden Rentnerarmut zu lesen. Gibt es also zukünftig eine
neue Rentnergeneration, die aufgrund des Zusammenbruchs der
Sozialsysteme - der vielfach aufgrund des
demografischen Wandels prophezeit wird - auf das
Flaschensammeln angewiesen ist? Neuerdings haben die Medien mit
der Flüchtlingskrise ein neues Thema. Was passiert, wenn die
Flüchtlingsströme nicht abreißen? Können leere Flaschen
Menschleben retten?
Konfliktherd
Marienplatz
"Die Menschen, die
extra nach Deutschland reisen, um hier mit allen Mitteln
an Geld zu gelangen, mögen viel durchgemacht haben;
niemand weiß, wie ihre Vergangenheit ausgesehen hat und
warum diese Menschen sammeln müssen. Was bedeutet es für
unsere Gesellschaft, wenn leere Flaschen Menschenleben
retten?"
(Markus Brandstetter & Viviane Jaekel 2015, S.35) |
Das Phänomen Pfandsammler
könnte also dauerhafter in unserer Gesellschaft verankert
bleiben.
Das Überleben in den Städten wird schwieriger. Das Buch
Flaschensammeln bietet wertvolle Anregungen zum Weiterdenken
und selber Forschen.
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