[ Übersicht der Themen des Monats ] [ Rezensionen zum Single-Dasein ] [ Homepage ]

 
       
   

Thema des Monats

 
       
   

Die Neuerfindung des Sozialen

 
       
   

Oder: Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus

 
       
     
       
   
     
 

Einführung

Im April 2001 wurde auf dieser Website das erste Thema des Monats veröffentlicht . Es befasste sich mit dem Pflege-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem eine neue Politik des Sozialen zum Ausdruck kam. Damals ist eine neue Konfliktlinie bzw. Spaltung der Gesellschaft entstanden. Seitdem befasste sich die überwiegende Anzahl von Themen des Monats auf die eine oder andere Weise mit der neuen Sozialpolitik in Deutschland, die untrennbar mit der Debatte um den demografischen Wandel verbunden ist. Der Soziologe Stephan LESSENICH hat mit dem Buch Die Neuerfindung des Sozialen nun einen ersten Entwurf einer politischen Soziologie des Sozialstaats vorgelegt. Im Mittelpunkt steht der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus wie der Untertitel bereits verrät. Hier soll im Folgenden gefragt werden, inwiefern dieser Blick auf den Sozialstaat nützlich ist, um die Sozialreformen der letzten Jahre oder gar Jahrzehnte besser zu verstehen. Können damit die neu entstandenen Spaltungen erklärt werden? Bevor diesen Fragen nachgegangen wird, soll aber erst einmal der Ansatz von Stephan LESSENICH grob skizziert werden.

Der Sozialstaat im Wandel

LESSENICH begreift Sozialpolitik im Anschluss an Hans ACHINGER als Gesellschaftspolitik. Dabei muss beachtet werden, dass der Sozialstaat heute eine soziale Tatsache ist.

Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik

"Ist die Sozialpolitik (...) inzwischen zu einem konstituierenden Bestandteil geworden, einem Bestandteil der Wirtschafts- und der Lebensordnung wie auch der Anschauungswelt, so (...) ist (sie) durchzogen und durchsetzt von sozialen Einrichtungen und Grundsätzen, die an die Stelle früherer Formen der Kohäsion und Kooperation getreten sind."
(1958, S.70)

Die Aufgabe einer historischen Soziologie der Sozialpolitik in kritischer Absicht formuliert LESSENICH folgendermaßen:

Die Neuerfindung des Sozialen

"Die gesellschaftliche Bedeutung der Sozialpolitik liegt (...) in ihrer funktionalen und legitimatorischen Verbindung mit den historisch sich wandelnden »Gesellschaftsidealen« - und die Aufgabe soziologischer Analyse ist es, den über diese Verbindung vermittelten Wandel der Sozialpolitik zu beschreiben, zu deuten und zu verstehen."
(2008, S.11)

LESSENICH unterscheidet 3 Phasen der Sozialstaatlichkeit in Deutschland. Die Entstehung des Sozialstaats, d.h. die Erfindung des Sozialen, beginnt im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Industrialisierung. Nach dem 2. Weltkrieg beginnt in den 1950er Jahren das goldene Zeitalter der Sozialpolitik, das bereits Mitte der 1970er Jahre in die Krise gerät, die bis heute andauert. Angesichts dieser Entwicklung verwundert es kaum, dass LESSENICH im Sozialstaat einen "gesellschaftlichen Krisenmanager" sieht. Eine Soziologie des Sozialstaats ist in diesem Sinne zu allererst eine Krisentheorie.

Die Entstehung des Sozialstaats beschreibt LESSENICH entlang von 4 wissenschaftlichen Erklärungsansätze, die jeweils die Funktionen, Interessen bzw. Konflikte (politics), die Institutionen (polity) und die Ideen (policy) in den Vordergrund rücken. Hinsichtlich der Effekte des Sozialstaats unterscheidet LESSENICH 5 Aspekte: die Modernisierung (speziell die Individualisierung), die Normalisierung (Herausbildung eines Normallebenslaufs), die Umverteilung, die (Ver-) Sicherung und die Integration im Sinne einer Befriedung des Klassenkonflikts.

Im Hauptteil des Buches steht die Neuerfindung des Sozialen im Mittelpunkt, also jener Wandel, der in den 1970er Jahren seinen Ausgang nahm und um die Jahrtausendwende im Ende des "Versorgungsstaats" und im neuen Leitbild des "aktivierenden Sozialstaats" gipfelte. LESSENICH beschreibt diese neue Programmatik folgendermaßen:

Die Neuerfindung des Sozialen

"Der »aktivierende« Sozialstaat ist eine große institutionelle Bewegung zur Bewegung der Individuen. Fluchtpunkt dieser Bewegung ist nicht - nicht mehr und jedenfalls nicht primär - das Wohlergehen (well-being oder, im Wortsinne, well fare) der Bürgerinnen und Bürger, der Individuen und Haushalte. Der neue Geist des Wohlfahrtskapitalismus zielt vielmehr vorrangig auf (...) die Wohlfahrt der - im Kern immer noch national gedachten - »gesellschaftlichen Gemeinschaft«. »Sozial« ist (bzw. wird) hier, was im Interesse der Allgemeinheit geschieht. »Sozial« ist der bzw. die Einzelne, wenn, soweit und solange er/sie Eigenverantwortlichkeit, Selbstsorge und pro-aktives Verhalten zeigt - im Sinne und Dienste »der Gesellschaft«. Die gesellschaftliche Neuerfindung des Sozialen im flexiblen Kapitalismus lässt die subjektiven Wertbezüge sozialen Handelns - Aktivität und Mobilität, Produktivität und Autonomie - zu politischen Steuerungsformeln des individuellen Selbstzwangs in sozialer Absicht verkommen."
(2008, S.17) 

Der neosoziale Umbau des Sozialstaats

LESSENICH spricht im Zusammenhang mit der Neuerfindung des Sozialen nicht vom "neoliberalen", sondern vom "neosozialen" Umbau des Sozialstaats. Dies ist sowohl einer Abgrenzung gegenüber jenen geschuldet, die den alten Sozialstaat verteidigen, als auch dem Verlust analytischer Schärfe. Im Oktober 2004 wurde auf dieser Website das kleine Wörterbuch des Sozialpopulismus veröffentlicht. Der Begriff  "Neoliberalismus" wurde damals folgendermaßen charakterisiert:

Das kleine Wörterbuch des Sozialpopulismus: Neoliberalismus

Ursprünglich eine liberale Utopie der Freien Marktwirtschaft, mittlerweile vom Gegner übernommen und deshalb für Reformbefürworter unbrauchbar. Kennzeichnet nunmehr nur noch ihre Verwender als rückständige Blockadepolitiker, die sich dem neuen Zeitalter der Ungleichheit verschließen. Im Übergang vom ökonomischen zum politischen Neoliberalismus verliert der Begriff zudem seine analytische Brauchbarkeit. Ein eingängiges Schlagwort für den neuen Autoritarismus Schröderscher Agenda-Gesetze fehlt aber noch. [mehr]

Mit "neosozial" hat LESSENICH ein Attribut gefunden, das die neue Sozialstaatlichkeit besser umschreibt. Bereits 2003 erschien der wegweisende Artikel Soziale Subjektivität in der Zeitschrift Mittelweg 36. Darin beschrieb LESSENICH die neue Regierung des Sozialen in der Tradition von Michel FOUCAULT als neosozialen Umbau:

Soziale Subjektivität

Foucaults Ansatz (ist) gerade mit Blick auf jene Transformation der wohlfahrtsstaatlichen Nachkriegsformation, die durch die »neokonservative Revolution« der 1970er und 1980er Jahre angestoßen wurde und die sich im vergangenen Jahrzehnt, nach dem Ende des Systemwettbewerbs, beschleunigt fortgesetzt hat, von erheblichem analytischem Wert. Die Verschiebung der sozialregulativen Programmatik des Wohlfahrtsstaates von der versicherungsförmigen Vergesellschaft individueller Risiken zur sozialpolitischen Konstruktion eigenverantwortlicher Subjekte (...), läßt sich (...) als Wandel in den Techniken der Regierung, als Übergang zu einer Logik der sozialverpflichteten Selbstführung interpretieren. Zweifelhaft erscheint dabei allerdings, ob diese neue Gestalt wohlfahrtsstaatlicher Politik (...) mit dem Begriff des »Neoliberalismus« angemessen bezeichnet ist. (...). Ihrem regulativen Gehalt angemessener wäre es (...) von einer »neosozialen« Form der Regierung zu sprechen: von einer - im Doppelsinn - neuen Regierung der Gesellschaft."
(2003, S.81)

Der Wandel der Regierungstechnik gehört zum Herzstück der neuen Sozialstaatlichkeit in Deutschland, wie sie insbesondere in der Agenda-Politik bzw. den Hartz-Gesetzen zum Ausdruck kommt. Im Hauptteil des Buches Die Neuerfindung des Sozialen wird diese Politik von LESSENICH anhand verschiedener Politikfelder einer Politik des Sozialen ausführlich dargestellt.

Die neue Regierung des Sozialen

Die neue Regierung des Sozialen ersetzt den alten Versorgungsstaat. Die Umstellung von einer nachfrageorientierten zur angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, der Wandel von der Industriegesellschaft mit ihrem fordistischen Regime zur postindustriellen Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft ging mit einem neuen Geist des Kapitalismus einher (vgl. Luc BOLTANSKI & Eve CHIAPELLO "Der neue Geist des Kapitalismus", 2003). Es sind insbesondere französische Theoretiker, die bei der Beschreibung der neuen Sozialstaatlichkeit hilfreich sind (siehe hierzu das Buch Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, herausgegeben zusammen mit Thomasl LEMBKE, Ulrich BRÖCKLING & Susanne KRASMANN, 2000). Der flexible Kapitalismus wird dabei mit einer Lebensführung in Verbindung gebracht, die im Kern ein unternehmerisches Selbst erfordert.

LESSENICH verbindet in seinem krisentheoretischen Ansatz u. a. die These von Ulrich BECK zur Sozialstaatsabhängigkeit der individualisierten Lebensweise, die Sicht von François EWALD auf die Versicherungs-Gesellschaft, die Gouvernementalitäts-Studien in der Tradition von Michel FOUCAULT mit der Überlastungsthese im Anschluss an Claus OFFE. Es sind zwei Effekte des Sozialstaats, die hier näher betrachtet werden sollen, weil sie im gegenwärtigen Demografiediskurs eine zentrale Rolle spielen: zum einen die Normalisierung und zum anderen die Sicherung.

Normalisierung

Normalisierung wird von LESSENICH im Rückgriff auf Ulrich BECK folgendermaßen beschrieben:

Die Neuerfindung des Sozialen

Der Sozialstaat ist "eine Quelle der Normierung und Standardisierung sozialer Beziehungen und gesellschaftlicher Verhältnisse. Ulrich Becks Individualisierungstheorem birgt genau diese ambivalente Pointe: Mit der tendenziell gesellschaftsweiten Verbreitung des Zugangs zu Bildungseinrichtungen, Arbeitsmärkten und sozialen Sicherungssystemen entwickeln sich für tendenziell alle Individuen und Bevölkerungsgruppen nicht nur neue Freiheiten, sondern eben auch neuartige Zwänge.
(2008, S.26) 

Während der historisch eher kurzen Epoche des "goldenen Nachkriegszeitalters des Versorgungsstaates" entwickelte sich eine Normierung, die auch als "Normalbiographie" beschrieben werden kann und in deren Zentrum die Normalfamilie steht. Diese Sichtweise ist sowohl mittelschichtorientiert als auch erwerbarbeitszentriert.

Seit Mitte der 1970er Jahre ist dieses so genannte "fordistische Regime" in den westlichen Industriestaaten in die Krise gekommen und seit Mitte der 1980er Jahren wird die Auflösung der Normalfamilie in Deutschland in zunehmenden Maße beklagt. An die Stelle der Normalfamilie sei die "vollmobile Single-Gesellschaft" getreten, hieß die Zuspitzung von Ulrich BECK, die nach dem Mauerfall in Deutschland und dem Zusammenbruch des Kommunismus zu breiter Popularität gelangte . Singles galten als die Musterknaben des neuen Geistes des Kapitalismus. Dass diese Einschätzung der 1990er Jahren durchaus kritisch zu sehen ist, wurde auf dieser Website des Öfteren deutlich gemacht .

Der Wandel zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft kann auch als Entstehung eines "postfordistischen Regimes" bzw. als "flexibler Kapitalismus" gedeutet werden. Damit entsteht jedoch auch eine neue Normalität, die LESSENICH als "Neuerfindung des Sozialen" bezeichnet. Was es damit auf sich hat, soll weiter unten ausgeführt werden.

Sicherung

Der Leitwert Sicherheit verweist auf den Zusammenhang zwischen Sozialstaat und Demografie. Der französische Soziologe François EWALD hat diesen Aspekt in den Mittelpunkt seiner Arbeiten zum "Vorsorgestaat" gestellt.

Die Versicherungs-Gesellschaft

"Versicherung bezeichnet nicht nur eine Anzahl von Institutionen, durch die in unseren Gesellschaften bestimmte Sicherheitsbedürfnisse abgedeckt werden; sie bezeichnet vielmehr das Wesen des Gesellschaftsvertrages. Der Gesellschaftsvertrag in modernen Gesellschaften verwirklicht sich vermittels der Strukturen und Mechanismen der Versicherung. Oder besser gesagt, die Gesellschaften treten in die Moderne ein, sobald die Versicherung gesellschaftlich wird, sobald der Gesellschaftsvertrag die Form eines Versicherungsvertrags annimmt. Die Versicherung konstituiert den realen Kern der modernen Gesellschaften."
(aus: Politik in der Risikogesellschaft 1991, S.288)

Die Heftigkeit der Debatte um den demografischen Wandel in Deutschland wird verständlich, wenn man berücksichtigt, dass die Sozialversicherung zum Kernbestand der deutschen Sozialstaatlichkeit gehört. Alle sozialpolitischen Modelle, die zur Zeit diskutiert werden, sehen eine veränderte Lastenverteilung zwischen sozialen Gruppen vor oder/und die Abschmelzung auf eine Grundsicherung. Die von LESSENICH konstatierte Verschiebung von der "versicherungsförmigen Vergesellschaftung individueller Risiken" zur eigenverantwortlichen Vorsorge ist also in vollem Gange .

Frauen und Kinder zuerst

Die Aktivgesellschaft, die LESSENICH eindrucksvoll beschreibt, kann man am neuen Umgang mit Armen und Alten, aber auch am Umgang mit Frauen und Kindern festmachen. Fördern und Fordern lautet das Credo der Aktivgesellschaft, die mit der Neuerfindung des Sozialen gemeint ist. Hier soll der "Ökonomismus zum Wohlfühlen" herausgegriffen werden, weil mit Frauen und Kindern die wichtigsten Adressaten des neuen "sozialinvestiven Sozialstaat" benannt sind. Im Jahr 2004 erschien in der Zeitschrift Prokla der Artikel Ökonomismus zum Wohlfühlen, in dem der Däne Gösta ESPING-ANDERSEN von LESSENICH als Architekt des neuen Sozialstaats vorgestellt wurde.

Ökonomismus zum Wohlfühlen

"Die europäischen Wohlfahrtsstaaten durchleben eine Phase weitreichender Veränderungen und Umbrüche. Innerhalb kürzester Zeit ist praktisch überall in Europa das Konzept der »Sozialinvestition« zum neuen Leitbild sozialpolitischer Intervention erhoben worden. »Investing in people«, Kernstück der gesellschaftspolitischen Programmatik der europäischen Sozialdemokratie, steht nunmehr auch in Deutschland ganz oben auf der sozialpolitischen Agenda."
(2004, S.469)

Der sozialinvestive Sozialstaat verspricht die Quadratur des Kreises. Er wird sowohl als Lösung des demografischen Problems als auch als Erfüllung der emanzipativen Hoffnungen der Frauen gesehen (Befreiung von falscher Arbeit) und nicht zuletzt dient er dem Kindeswohl. Den Plot der neuen Sozialpolitik im Sinne von Gösta ESPING-ANDERSEN beschreibt LESSENICH ausführlich:

Die Neuerfindung des Sozialen

"Der demographische und familiale Wandel, der Übergang zu einem wissensbasierten Produktionssystem, schließlich auch die »unsichtbare Klassengesellschaft« der Dienstleistungsökonomie lassen (...) ein neues, nämlich investives Verständnis von Sozialpolitik nötig werden. Die Interventionen des Sozialstaates sind, im Sinne von Investitionen in die Produktivität seiner Bürgerinnen und Bürger, neu auszurichten - Investitionen, deren Erträge die individuelle und gesellschaftliche Wohlfahrt gleichermaßen zu steigern vermögen. Dieses doppelte Ziel ist zu erreichen, wenn insbesondere in Kinder und Frauen investiert wird. Beide Investitionsstrategien erscheinen dabei als unmittelbar verbunden: Frauen stellen in den allermeisten Marktgesellschaften ein noch zu erheblichen Teilen unausgeschöpftes Produktivitätsreservoir (sprich: Erwerbspersonenpotenzial) dar, dessen Nutzbarmachung eine forcierte Politik der »Vereinbarkeit von Familie und Beruf«, insbesondere einen Ausbau unterschiedlichster Kinderbetreuungsangebote, erforderlich macht. Der verstärkte Rückgriff auf außerfamiliale Formen der Erziehung von Kindern im Schul- und Vorschulalter wiederum sorgt - indem die entwicklungspsychologisch bedeutsamen Defizite (früh-)kindlicher Qualifikationsvermittlung insbesondere bildungsarmer Haushalte auf breiter Basis kompensiert werden - für eine vergleichbare bzw. vergleichbar hohe Humankapitalausstattung der nachwachsenden Generationen. Auf diese Weise schlägt der Sozialinvestitionsstaat gleich mehrere gesellschaftspolitische Fliegen mit einer Klappe."
(2008, S.100f.)

Die Kapitelüberschrift Produktivismus zum Wohlfühlen verweist auf den Tatbestand, dass die rot-grünen Reformen bei der SPD  auf Legitimationsprobleme in den alten Kernmilieus traf. Der Wechsel vom Politikberater Anthony GIDDENS zu Gösta ESPING-ANDERSEN vollzog sich bei der SPD Ende 2003 , also rechtzeitig vor den Bundestagswahlen, bei denen bekanntlich Rot-Grün durch Rot-Schwarz abgelöst wurde. Es sind die städtischen Eliten aller Couleur, die eine solche sozialinvestive Politik tragen, weil sie am meisten davon profitieren.

Wie breit dieses Einverständnis ist, lässt sich u.a. auch am Erfolg dreier Bücher ablesen. Bereits 1999 erschien Generation Golf von Florian ILLIES. In dem Buch wird die schöne neue Dienstleistungswelt bereits vorweggenommen.  

Generation Golf

"Unternehmensberater oder Juristen, die abends gerne mal um halb zehn aus ihrem Büro kommen, und das eben fünf-, sechsmal die Woche, können einem in der Tat den Eindruck vermitteln, daß sie nicht mehr die Zeit haben, dann noch daheim den Boden zu wischen. Auch haben sie natürlich genug Geld um es sich zu leisten, daß andere für sie wienern. Am angenehmsten sind die Menschen, die eine Putzfrau haben, aber nicht darüber reden. (...). Das (...) in etwa ist die Haltung unserer Generation, beziehungsweise natürlich des Starnberger-See-Düsseldorf-Bonn-Berliner Teils von ihr, aber von ebendem ist ja ohnehin die ganze Zeit die Rede. Bekommt jener Teil unserer Generation dann seine Kinder, dann wird der Personalbestand inzwischen gerne noch um ein Kindermädchen aufgestockt. Da die Familien zu diesem Zeitpunkt oft bereits in jenen Berliner oder Münchner oder Hamburger 7-Zimmer-Altbauwohnungen wohnen, die schon beim Erstbezug vor 120 Jahren auf Personal angelegt waren, kommt es inzwischen zu einer seltsamen Form der Rehabilitation fast vergessener Wohnformen. Matthias Horx spricht bereits von einer neoaristokratischen Lebensform. Sie basiert neben der Delegierung der Hausarbeit und Kinderbetreuung (...) auf einer Teilung der Sphären von Mann und Frau".
(1999, S.159f.)  

Welchen Einfluss Bücher wie Generation Golf und die späte Popliteratur von Christian KRACHT ("Faserland") oder Benjamin von STUCKRAD-BARRE ("Soloalbum") für die Entstehung einer neuen Normalität im flexiblen Kapitalismus hatten, hat Tom KARASEK in seiner aufschlussreichen literatursoziologischen Studie Generation Golf: Die Diagnose als Symptom (2008) herausgearbeitet . Auch das Buch Die neue F-Klasse von Thea DORN steht für einen Postfeminismus, bei dem die Vereinbarkeit von Beruf und Familie eine Grundvoraussetzung der Familiengründung ist . Und nicht zuletzt wurde in den reformorientierten Mittelschicht-Medien das Buch Schrumpfende Gesellschaft von Franz-Xaver KAUFMANN begeistert aufgenommen. Dies lag insbesondere daran, weil er in dem Buch das drohende Horrorszenario einer demografie-getriebenen Abwärtsspirale in Deutschland mit einem Plädoyer für den sozialinvestiven Sozialstaat verbunden hat. Die Glaubwürdigkeit des Szenarios wurde deshalb gar nicht erst in Zweifel gezogen .

Der sozialinvestive Sozialstaat besitzt zweifellos eine starke Lobby. Der Kampf um die genaue Ausgestaltung hat jedoch längst begonnen und hier zeigt sich, dass sich bei genauerer Betrachtung durchaus unterschiedliche Vorstellungen über die Richtung der neuen Sozialstaatlichkeit in Deutschland finden lassen. Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Vorgänge widmet sich diesem Aspekt unter dem Titel Die öffentlichen Familie.

Selber schuld! Die neue Moralordnung der Aktivgesellschaft

Die alte Dreiteilung des Lebenslaufs, die für das goldene Zeitalter des Versorgungsstaates typisch war, befindet sich in der Auflösung. Der Arbeitnehmer wird zum "Arbeitskraftunternehmer" oder noch pointierter bei LESSENICH zum "Alterskraftunternehmer". In der Aktivgesellschaft ist das Leben von der Wiege bis zur Bahre einer Lebenslaufpolitik unterworfen, die LESSENICH folgendermaßen skizziert:

Die Neuerfindung des Sozialen

"Erfolgreiches, produktives -  »gutes« - Altern beginnt von Kindesbeinen an. »Wie wir uns als Kind, als Jugendlicher, als junger Erwachsener verhalten, das beeinflusst unseren Alternsprozess im Seniorenalter. Jeder Einzelne hat alles zu tun, um möglichst gesund und kompetent alt zu werden.« (Lehr 2003: 5) Und der aktivierende Sozialstaat hat alles zu tun, um die erfolgreiche Verfolgung dieses gesellschaftlich relevanten Individualziels - gewissermaßen ab ovo - zu befördern. Deswegen muss Aktivierungspolitik »alterslos«, muss sie Lebenslaufpolitik sein, muss sie auf die Befähigung zu einem Leben in der und für die Aktivität zielen - von Anfang an."
(2008, S.117)

Diese Programmatik der Aktivgesellschaft bestimmt die neuen Sozialstaatsdebatten. Die zentrale Spaltung verläuft gemäß LESSENICH zwischen den Beweglichen und den Unbeweglichen. Was dies inhaltlich bedeutet, wandelt sich je nach politischer Arena. Die soziale Ungleichheit verfestigt sich entlang dieser gesellschaftlichen Spaltung:

Die Neuerfindung des Sozialen

"In der Gesellschaft des aktivierenden Sozialstaats wird der Dualismus von Mobilität und Immobilität zur gesellschaftlichen Metadifferenz, wird die Unterscheidung zwischen Beweglichen und Unbeweglichen zu einer zentralen Linie der Spaltung des Sozialen (...). Die Aktivgesellschaft und ihr Sozialstaat orten das Soziale - die Fähigkeit und Bereitschaft zur Bewegung im Interesse der Allgemeinheit - im Einzelnen selbst bzw. im einzelnen Selbst. Doch nicht jede und jeder findet dieses individuelle Soziale, den Antrieb und die Kraft zum gesellschaftlich gefragten aktiven und proaktiven Verhalten, auch in sich. (...). Wenn dem so ist, dann wird die aktivierungspolitische Anrufung für die Unvermögenden unversehens zum aktivgesellschaftlichen Anwurf, dann zeigt die freundliche Bewegungsprogrammatik unvermittelt ihr hässliches Gesicht. Es ist die permanente Überhöhung des Aktivischen, die penetrante Feier der Jungen, Mobilen und Schlanken, die gesellschaftlich spaltend wirkt."
(2008, S.126)

Ob man dieser Logik einer Regierung des Sozialen in alle Verästelungen folgen sollte, das bleibt dahin gestellt. Nichtsdestotrotz zeigen die Ausführungen zum neuen Sozialstaat, dass im flexiblen Kapitalismus neue Spaltungen entstanden sind, die einer genaueren Analyse bedürfen. LESSENICHs Buch ist in dieser Hinsicht sehr anregend. Wen dieses Thema weiter interessiert, der findet in dem  Buch Deutschland - eine gespaltene Gesellschaft (2006), das von LESSENICH und NULLMEIER herausgegeben wurde, alternative bzw. ergänzende Perspektiven.      

Fazit: Das Buch von Stephan Lessenich bietet sich als idealer Einstieg in die Thematik der neuen Sozialstaatlichkeit in Deutschland an

Seit dem Jahr 2000 hat der produktive Soziologe Stephan LESSENICH eine Vielzahl von anregenden und wegweisenden Beiträgen zum Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus verfasst, die in das Buch Die Neuerfindung des Sozialen eingeflossen sind, aber auch weitergedacht und neu zugespitzt wurden. Wer sich einen Überblick über dieses Thema verschaffen möchte, dem bietet sich das gut lesbare Buch als idealer Einstieg an. LESSENICH breitet nicht nur seine krisentheoretische Sicht auf den Sozialstaat aus, sondern man gewinnt auch einen Überblick über konkurrierende Ansätze im Bereich der Sozialstaatsforschung.

In diesem Rezensionsessay konnten nur wenige Aspekte genauer beleuchtet werden. Im Vordergrund der Betrachtungen stand der Zusammenhang zwischen Gesellschaftswandel, Demografie und Wandel des Sozialstaats. Besonders die Ausführungen von LESSENICH zum sozialinvestiven Sozialstaat sind in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich. In Deutschland stehen wir erst am Anfang einer Diskussion um die Sozialstaatlichkeit, die in anderen Ländern bereits weiter vorangeschritten ist. Es ist deshalb zu begrüßen, dass LESSENICH in dem Buch Die Neuerfindung des Sozialen auch aufzeigt, welche internationalen Einflüsse die deutsche Sozialstaatsdebatte prägen. 

 
     
 
       
   

weiterführender Link

 
       
     
       
   
 
   

Bitte beachten Sie:
single-generation.de ist nicht verantwortlich für die Inhalte externer Internetseiten

 
   
 
     
   
 
   
© 2002-2018
Bernd Kittlaus
webmaster@single-generation.de Erstellt: 10. November 2008
Update: 21. November 2018