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Frühjahrsthema

 
       
   

Die sozialen Aufsteiger und ihr Verhältnis zum Herkunftsmilieu - Die netten Jahre sind vorbei, Teil 4

 
       
   

Was uns die Bücher Rückkehr nach Reims von Didier Eribon und Proleten Pöbel Parasiten von Christian Baron über die Gesellschaft lehren (Teil 1)

 
       
     
       
   
     
 

Einführung

Im Jahr 2016 sind zwei Bücher von sozialen Aufsteigern erschienen, die vom Feuilleton beide im Zusammenhang mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus diskutiert wurden, denen aber ein vollkommen gegenteiliges Echo zuteil wurde. Das Buch Rückkehr nach Reims von Didier ERIBON war in Frankreich bereits 2009 erschienen, aber erst letztes Jahr ins Deutsche übersetzt worden. Es wurde zum Bestseller, weil es scheinbar die Erfolge der EU-Gegner (Stichwort Brexit) in Großbritannien, die hohe Zustimmung zum Front National in Frankreich und den Sieg von Donald TRUMP in den USA erklären konnte. ERIBON wurde von den Mainstreammedien zum Intellektuellen in Sachen Rechtspopulismus erklärt.

Ganz anders dagegen das Buch Proleten, Pöbel, Parasiten von Christian BARON, das zwar ebenfalls mit dem Buch von ERIBON in Verbindung gebracht wurde, aber in den Mainstreammedien entweder ignoriert oder abgelehnt wurde - einzig die Tatsache, dass BARON aus der deutschen Unterschicht aufgestiegen ist, wurde hervorgehoben, weshalb ihm ein authentischer Blick zu eigen sei. Hier soll deshalb zum einen auf die Einseitigkeit dieser Mainstreamrezeption und zum anderen auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Bücher eingegangen werden. Es soll zugleich gefragt werden, was die beiden Bücher über den Zustand unserer Gesellschaft aussagen.

Rückkehr nach Reims - sozialer Aufstieg in Frankreich nach der 68er Revolte

Didier ERIBON ist 1953 in Reims geboren worden. Als das Buch 2009 erschien, war er bereits 56 Jahre alt und ein angesehener Pariser Intellektueller in Frankreich. Das Buch stellt einen Wendepunkt seiner intellektuellen Karriere in den Mittelpunkt, denn davor widmete sich ERIBON dem Minoritätenproblem, insbesondere der Subkultur der französischen Homosexuellen. In Rückkehr nach Reims stellt er nun die Arbeiterklasse, speziell seine Herkunft und die seiner Familie ins Zentrum der Betrachtung. Diese Seite seiner Identität hatte er bislang verleugnet und seiner sozialen Umwelt weitgehend verborgen. Es war für ihn einfacher ein Homosexueller zu sein als ein Arbeiterkind, so jedenfalls der Tenor des Buches.

Bei solchen Autobiographien muss immer mitgedacht werden, dass sie Selbstdarstellungen sind und als solche die Wirklichkeit eines Lebens nur sehr eingeschränkt wiedergeben. Als Selbstrechtfertigungen versuchen Selbstdarstellungen alles auszublenden, das nicht zur aktuellen Identität passt. Hier wird deshalb nicht gefragt, inwiefern die Selbstdarstellung wahr ist, sondern sie ist lediglich Ausgangspunkt zur Analyse typischer biographischer Muster von sozialen Aufsteigern, wobei ihr historischer, gesellschaftlicher und lebensgeschichtlicher Kontext berücksichtigt werden muss.

Proleten Pöbel Parasiten - sozialer Aufstieg im Deutschland des 21. Jahrhunderts

Christian BARON wurde 1985 in Kaiserslautern geboren, ist also um die 30 Jahre alt und steht damit erst am Anfang seiner beruflichen Karriere. Zum Zeitpunkt seiner Arbeit am Buch ist er Theaterredakteur der ostdeutschen Zeitung Neues Deutschland in Berlin. Im Gegensatz zu ERIBON will BARON kein Professor werden, hat jedoch aufgrund eines Stipendiums promoviert, während ERIBON in diesem Alter eine Promotion verwehrt blieb und er deshalb auch beim Journalismus landete, zuerst bei der linken Tageszeitung Libération und danach beim Magazin Nouvel Oberservateur. Die Rolle der beiden Presseorgane sieht ERIBON kritisch, weil sie eine tragende Rolle bei der neokonservativen Wende im Frankreich der 1980er Jahre spielten. Dagegen war das Neue Deutschland für BARON sein Wunscharbeitgeber, wenngleich er nur einen Zeitarbeitsvertrag hat und ihm dies Sorgen bereitet.

Die soziale Herkunft aus der Arbeiterklasse als Gemeinsamkeit

Während bei Didier ERIBON die Familiengeschichte eine tragende Rolle im Buch spielt, bleibt sie bei BARON peripher. Das Buch von ERIBON entstand nach dem Tod des Vaters, der ein Anlass war, das Buch zu schreiben. Auch der Vater von BARON ist gestorben, aber bereits 2003 kurz vor dessen Abitur. Nach dem Tod seiner Mutter, die mit Anfang 30 gestorben ist, wuchs er mit seinem 3 Geschwistern (2 Schwestern und einem Bruder) bei einer Tante auf. ERIBONs Mutter lebte noch und war eine wichtige Auskunftsperson für seine Rekonstruktion der Familiengeschichte. Erst nach dem Tod des Vaters wird es ihm möglich die Flucht aus seiner Familie mit anderen Augen zu sehen: Nicht mehr die Homophobie des Vaters steht im Mittelpunkt seines Interesses, sondern die Frage, inwieweit nicht die soziale Herkunft genauso entscheidend für seine biographische Entwicklung war.

Rückkehr nach Reims

"Meine gesamte theoretische Arbeit, sicher auch motiviert von dem Bestreben, mich selbst, meine Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen, hatte sich auf die allem Anschein nach unabweisbare Annahme gegründet, dass der totale Bruch mit meiner Familie wegen meiner Homosexualität erfolgt sei, wegen der eingefleischten Homophobie meines Vaters und des Milieus, in dem ich groß geworden bin. Aber war es nicht genau diese Annahme, die mich (...) dem Gedanken ausweichen ließ, dass ich ebenso sehr mit meinem Milieu als sozialer Klasse gebrochen hatte?" (2016, S.22)

ERIBON beschreibt deshalb akribisch jene Bedingungen, die dazu geführt haben, dass sein Vater wurde, was er war. Und entscheidender noch: dass er selber und auch sein Vater eingebunden gewesen sind in ein Milieu, das den Spielraum für Entscheidungen prägt:

Rückkehr nach Reims

"Mein Vater war (...) ein Arbeiter der niedrigsten Kategorie. Drei Monate vor seinem vierzehnten Geburtstag, gleich bei Schulende im Juni, hatte er an dem Ort zu arbeiten begonnen, der die Kulisse und den einzigen Möglichkeitshorizont seines Lebens darstellen sollte: die Fabrik. (...). Mein Vater hatte sich dem, was von Geburt an durch die Gesetze und Mechanismen der »sozialen Reproduktion« für ihn vorgesehen war, nicht entziehen können. (...). In seinem Milieu ging man bis vierzehn zur Schule, weil es Pflicht war, und dann nicht mehr, weil es keine Pflicht war. (...). Die schulische Selektion basiert oft auf Selbstexklusion und Selbsteliminierung, die Betroffenen reklamieren ihren Ausschluss als Resultat ihrer eigenen Wahlfreiheit. (...). Die Position innerhalb des Klassengefüges hat sehr großen Einfluss darauf, welche Wege als erstrebenswert wahrgenommen werden, von der Einschätzung ihrer Realisierbarkeit ganz zu schweigen. Als ob es zwischen den sozialen Welten gläserne Wände gäbe, die bestimmen, was man im Inneren einer jeden Welt für wünschenswert oder machbar hält, was man werden wollen soll und wollen kann und was nicht. (...). Um der Logik der Selbstverständlichkeiten zu entkommen und die ungerechte Chancenverteilung zu erkennen, muss man, wie ich es getan habe, die Demarkationslinie überschreiten und von einem Lager ins andere wechseln. Daran hat sich seit meiner Jugend wenig geändert. Die schulische Selektion mag sich heute zeitlich verschoben haben, in ihrer sozialen Struktur ist sie konstant." (2016, S.43ff.)

Eine solche Sicht widerspricht der in den 1980er Jahren populär gewordenen neoliberalen Vorstellung, dass jeder seines Glückes Schmieds sei und die in Deutschland ihren soziologischen Ausdruck in der Individualisierungstheorie à la Ulrich BECK fand. Die starren Regeln des französischen Schulsystems zur Schulzeit seiner Eltern beschreibt ERIBBON folgendermaßen:

Rückkehr nach Reims

"Von Geburt an tragen wir die Geschichte unserer Familie und unseres Milieus in uns, sind festgelegt durch den Platz, den sie uns zuweisen. Mein Vater konnte den Volksschulabschluss - das höchste der Gefühle für Arbeiterkinder - noch nicht einmal versuchen. Bauern- und Arbeiterkinder schickte man damals bis zum Alter von vierzehn Jahren, nie länger, in die Volksschule, ganz im Gegensatz zu Bürgerkindern, die mit elf aufs Gymnasium kamen. (...). Obwohl es nur nützliche Grundfertigkeiten bescheinigte (...), war das certificat d'études primaires, der Volksschulabschluss, alles andere als selbstverständlich. Sein Erreichen machte die Schüler stolz. Nur die Hälfte aller Prüflinge kam durch, viele versuchten es aber erst gar nicht". (2016, S.46)

ERIBONs Vater wurde 1929 geboren und verließ mit 14 Jahren - also während des Zweiten Weltkriegs - die Schule, um in der Fabrik zu arbeiten. Von Demokratisierung der Bildung oder Bildungsexpansion konnte damals noch keine Rede sein, dennoch sieht ERIBON keinen qualitativen Unterschied zu heutzutage. Die gesellschaftliche Position des Vaters als Hilfsarbeiter, ist dem Sohn als sozialem Aufsteiger peinlich und auch den betrieblichen Aufstieg des Vaters zum Vorarbeiter kann er damals nicht angemessen würdigen:

Rückkehr nach Reims

"Erst viele Jahre später konnte mein Vater einen gewissen sozialen Aufstieg erreichen. Wenn nicht in der gesellschaftlichen, so doch in der betrieblichen Hierarchie: Er war zum Vorarbeiter geworden, nachdem er es schon Jahre zuvor vom Hilfsarbeiter zum »Angelernten« gebracht hatte." (2016, S.48)

"Ich, der ich noch lange danach vor Scham erröten sollte, wenn ich für irgendeinen offiziellen Vorgang meine Geburtsurkunde vorlegen musste, auf der die Berufe meiner Eltern vermerkt waren (Hilfsarbeiter und Putzfrau), verstand die kolossale Bedeutung nicht, die schon der geringste Statuszugewinn für meine Eltern hatte." (2016, S.49)  

Im Gegensatz zum Vater schreibt ERIBON der Mutter einen Aufstiegswillen zu, der jedoch durch die historischen Umstände immer wieder gebrochen wird:

Rückkehr nach Reims

"»Ich wäre gerne Grundschullehrerin geworden«, sagt sie heute, »als Mädchen konnte man das damals nach der Schule machen.« Ihre Ziele waren bescheiden gewählt und griffen doch zu hoch. Als sie, ziemlich unerhört für ihr Milieu, aufs Gymnasium kommen sollte - sie war eine ausgezeichnete Schülerin und durfte sogar das letzte Grundschuljahr überspringen -, musste ihre Familie schlagartig die Stadt verlassen. Die Bevölkerung wurde zur Flucht vor den Deutschen aufgerufen. (...). Nach dem Waffenstillstand im Juni 1940 kehrten alle evakuierten Familien wieder nach Hause zurück. (...). Ans Gymnasium war für meine Mutter nicht mehr zu denken. Sie bestand den Volksschulabschluss, worauf sie bis heute sehr stolz ist, und kam gleich darauf als Hausmädchen »in Anstellung«." (2016, S.59)

ERIBON tritt in gewisser Weise in die Fußstapfen seiner Mutter, wobei ihm die Zeitumstände gewogener sind. Die Mutter fördert ihn, ist jedoch auch enttäuscht darüber, dass er andere Vorstellungen von seinem Berufsleben hat:

Rückkehr nach Reims

"Meiner Mutter habe ich es (...) zu verdanken, dass ich aufs Gymnasium gehen und dann studieren konnte. (...). Ihre enttäuschten Träume konnten sich durch mich verwirklichen. Diese Art der Kompensation rührte aber auch an kaum verheilte Wunden und brachte in ihr eine alte, aufgestaute Bitterkeit hervor." (2016, S.75)

"Meiner Mutter lag viel zu viel daran, dass ich Abitur machte. Als Student widersprach ich ihren Vorstellungen noch viel mehr. Philosophie als Studienfach muss ihr wie eine Spinnerei vorgekommen sein. (...). Englisch oder Spanisch hätte sie sich vorstellen können. (Medizin oder Jura lagen jenseits ihres und allerdings auch meines Horizonts.) Fremdsprachen schienen der vielleicht direkteste Weg zu einer sicheren Zukunft, etwa als Gymnasiallehrer." (2016, S.83)

Die Schullaufbahn bestimmt jedoch nicht nur den beruflichen Werdegang, sondern auch die Partnerwahl. Gescheiterte Bildungsanstrengungen führen dadurch auch zu einer Einschränkung der Heiratskandidatenauswahl:

Rückkehr nach Reims

"Meine Mutter hat (...) weder studiert noch eine Ausbildung gemacht. Sie leidet bis heute darunter. (...). Sie hat immer gewusst, dass sie intelligent genug gewesen wäre. Auch deshalb gelang es ihr nicht, mit dieser Ungerechtigkeit ihren Frieden zu machen. Eine der unmittelbarsten Folgen ihres Schicksals bestand darin, dass sie erst gar nicht darauf hoffen konnte, jemand »Besseren« als meinen Vater abzubekommen. Die Gesetze der sozialen Endogamie sind so starr wie die der schulischen Reproduktion. Und beide, das wusste meine Mutter sehr gut, hängen eng miteinander zusammen. Bis heute glaubt sie, dass sie eine »gebildete Frau« hätte werden und »einen klügeren Mann« hätte finden können. Aber so war sie nun mal eine Putzfrau, die einen Arbeiter kennenlernte, der selbst keine guten Bildungschancen hatte und außerdem nicht gerade aufgeschlossen war."
(2016, S.73)

Eine solche Sicht widerspricht der Vorstellung romantischer Liebe wie sie im Lichte der Individualisierungstheorie als vorherrschendes Leitbild der modernen Partnerschaft gezeichnet wurde. Erst neuerdings wird in Deutschland wieder die Vernunftehe als Ideal beschworen. Im Zeichen der Demografisierung gesellschaftlicher Probleme und der neuen Bürgerlichkeit werden die alten Werte der Klassengesellschaft wieder offensiv propagiert, während sie in der alten BRD scheinbar immer weniger gegolten hatten.

Bei BARON haben die eigenen Eltern durch ihren frühen Tod eine geringere Bedeutung für seine schulische und berufliche Entwicklung. Bei ihm spielt die Tante, bei der er aufwuchs, und das institutionelle Umfeld von Schule und Jugendamt eine entscheidende Rolle.

Proleten Pöbel Parasiten

"Nach dem Tod meiner Mutter wandte sich mein Vater von uns ab. Er versank im Drogensumpf und starb kurz vor meinem Abitur. (...). Weil er sich acht Jahre zuvor nicht für uns interessiert hatte, kamen meine drei Geschwister und ich bei unserer Lieblingstante Karin unter. Wir konnten aus der verschimmelten und viel zu kleinen Wohnung ausziehen und hatten mehr Platz. Zwar sind wir auch bei meiner Tante in bescheidenen und »bildungsfernen« Verhältnissen erwachsen geworden, aber immerhin ohne häusliche Gewalt und ohne Alkoholmissbrauch. (...).
Wäre mir durch den frühen Tod meiner Mutter nicht eine besondere Aufmerksamkeit durch das Jugendamt und durch sehr gute Grundschullehrerinnen zuteil geworden, ich hätte es wahrscheinlich nur zum Hilfsarbeiter gebracht wie mein Vater." (2016, S.13f.)

"Je mehr ich mich mit meinem Bildungsaufstieg auseinandersetze, umso klarer erscheint mir: Wären mir nicht derart einfühlsame und ihr Handwerk beherrschende Grundschullehrerinnen vergönnt gewesen, mir wäre keine Eignung für das Gymnasium attestiert worden. Für meinen Bruder hatten sie eine Realschule als angemessen betrachtet, mich wollten sie unbedingt in der höchsten Schulform sehen. Aufgrund meiner sozialen Herkunft aber wollte mich kein Gymnasium. An dieser Stelle schritten wieder meine Grundschullehrerinnen ein: Sie setzten sich dafür ein, dass mein Bruder und ich eine Integrierte Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe besuchen konnten. Der Weg zum Bildungserfolg war geebnet - zumindest für mich." (2016, S.44)

Man kann also zusammenfassen, dass ein sozialer Aufstieg ohne eine Förderung durch das soziale Umfeld in bildungsfernen Milieus unmöglich ist. Das ist jedoch nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung, denn weder die Geschwister von ERIBON noch die Geschwister von BARON schafften einen gesellschaftlichen Aufstieg.

Wer als Bildungsaufsteiger zur Elite gehören will, der muss seine soziale Herkunft verraten

Während ERIBON als erfolgreicher Buchautor und Professor zur Pariser Intellektuellenszene gehört und damit Teil des französischen Establishments ist, gehört BARON als Redakteur einer ostdeutschen Zeitung (noch?) nicht zu den meinungsbildenden Eliten in Deutschland. ERIBON würde sagen, dass er seine Möglichkeiten nicht ausgeschöpft hat und sich mit weniger zufrieden gibt als ihm zustände. Statt nach der Promotion eine wissenschaftliche Karriere anzustreben, gibt er sich mit seiner Journalistentätigkeit zufrieden - zumindest klingt das im Buch so an (vgl. 2016, S.65; S.218ff.; auf seiner Homepage gibt er jedoch an, dass seine Promotion noch nicht beendet ist. Möglicherweise strebt er also doch noch eine Universitätskarriere an.). Der entscheidende Unterschied: Während  ERIBON sein eigenes Milieu verrät, bleibt ihm BARON immer noch stärker verhaftet. ERIBON beschreibt sich als Klassenflüchtling, der sich seiner sozialen Herkunft schämt, während er seine Homosexualität auslebt. Im damals herrschenden Zeitgeist war es für ERIBON einfacher eine berufliche Karriere als Schwuler zu machen als eine Herkunft aus der Arbeiterschicht offensiv zu vertreten:

Rückkehr nach Reims

"»Warum bin ich, der ich so große soziale Scham empfunden habe, Herkunftsscham, wenn ich in Paris Leute aus ganz anderen sozialen Milieus kennenlernte und sie über meine Klassenherkunft entweder belog oder mich zu dieser nur in größter Verlegenheit bekannte, warum also bin ich nie auf die Idee gekommen, dieses Problem in einem Buch oder Aufsatz anzugehen?« Sagen wir es so: Es war mir leichter gefallen, über sexuelle Scham zu schreiben als über soziale." (2016, S.19)

"Neben der typischen Entwicklung eines jungen Schwulen (...) verfolgte ich auch eine andere, soziale Entwicklung, den Weg eines »Aufsteigers«, den man auch als »sozialen Überläufer« bezeichnen kann. Denn ich war gewissermaßen klassenflüchtig, auf mehr oder weniger bewusste Weise mehr oder weniger permanent darauf bedacht, meine soziale Herkunft abzustreifen, sie von mir fernzuhalten und dem Milieu meiner Kindheit zu entfliehen." (2016, S.23)

Je höher ein Arbeiterkind in der Gesellschaft aufsteigen will, desto mehr muss es die Werte der besseren Kreise übernehmen und seine soziale Herkunft hinter sich lassen. ERIBON beschreibt diese Abgrenzung ausführlicher als BARON. Der Spagat beide Welten miteinander zu verbinden, scheitert irgendwann und dann gilt es sich definitiv zu entscheiden.

Bildungsaufsteiger sind in ihrem Herkunftsmilieu Außenseiter bevor ihre aktive Abgrenzung beginnt

Was in beiden Büchern zu kurz kommt: In gewisser Weise sind soziale Aufsteiger schon vor ihrer aktiven Abgrenzung gegenüber ihrem eigenen Milieu, Außenseiter in ihrem Herkunftsmilieu. Sie sind anders als ihr soziales Umfeld und statt ihr Anderssein zu verbergen, kultivieren sie es. Diesen Aspekt verleugnen oder verdrängen sowohl ERIBON als auch BARON. ERIBON spricht sogar von einem Wunder, dass ausgerechnet er es geschafft hat. Nur in Andeutungen wird das anfängliche Anderssein sichtbar:

Rückkehr nach Reims

"Mein Vater war ein Heimwerker (...). Er blühte dabei auf und steckte fast seine gesamte Freizeit hinein. (...). Ich wusste mit meinen zehn Fingern nichts anzufangen. In diese gewollte Unfähigkeit (natürlich hätte ich etwas von ihm lernen können) investierte ich mein ganzes Verlangen, anders als er zu sein, das gesellschaftliche Gegenteil von ihm zu werden." (2016, S.50)

Proleten Pöbel Parasiten

"Auf die Lebensleistung meines Opas, meiner Mutter und meiner Tante bin ich stolz; mein Wandeln zwischen den Welten aber ist eben oft genug frustrierend. In meiner Familie hat nie jemand einen Beruf oder Job jenseits des Handwerks ausgeübt. Da ich mich schon als Grundschüler mehr fürs Schreiben als fürs Schrauben interessiert habe, wurden mir elternlicherseits niemals dezidiert handwerkliche Tätigkeiten aufgetragen.
Stets durfte mein Bruder Stefan beim Aufbauen von Regalen oder Betten tatkräftig helfen, derweil mir
»zwei linke Hände« attestiert wurden und ich, zum Handlanger degradiert, vor mich hin schmollte." (2016, S.108f.)

Allein schon diese beiden Beschreibungen der unzulänglichen handwerklichen Fähigkeiten zeigt, dass ERIBONs Abgrenzung viel entschiedener ist als diejenige von BARON. Während BARON noch den Ärger darüber ausdrückt, dass seine handwerklichen Fähigkeiten für sein Milieu nicht ausreichen, um Anerkennung zu erlangen, stellt ERIBON heraus, dass er auf die Anerkennung im eigenen Milieu keinerlei Wert legt. ERIBON ist stolz auf seine "gewollte Unfähigkeit", während BARON sich als schmollendes Kind darstellt. Im Anerkennungswettbewerb mit seinem Bruder um die Gunst des Vaters ist er der Unterlegene. ERIBON geht auf diesen Aspekt gar nicht ein. Vergleiche mit seinem Bruder beziehen sich bei ihm allein auf dessen Einbindung ins Herkunftsmilieu. Der Bruder dient ERIBON nur zur Verdeutlichung seiner eigenen Herauslösung:

Rückkehr nach Reims

"Mit fünfzehn oder sechzehn wollte er nur mit seinen Kumpels um die Häuser ziehen, Fußball spielen, Mädels aufreißen und Johnny Hallyday hören, während ich lieber zu Hause blieb, um zu lesen, die Rolling Stones oder Françoise Hardy zu hören (...). Mein Bruder pflegte weiterhin das Ethos der Arbeiter, seine Umgangsformen und seine Körperhaltung unterstrichen die Zugehörigkeit zu der sozialen Welt, aus der wir stammten. Ich hingegen machte mir ein Gymnasiasten-Ethos zu eigen, das genauso klischeemäßig war und mit dem ich mich von meiner Familie abgrenzen wollte (...). Auch unsere Einstellung zur Politik trennte uns". (2016, S.100)

"Wir wohnten noch immer unter einem Dach, jetzt in einer Sozialbausiedlung am Stadtrand, in die wir 1967 gezogen waren. Unsere Zimmer waren nur durch einen schmalen Gang getrennt (weil ich Gymnasiast war und immerzu »lernen« musste, durfte ich mein eigenes haben, während er seines mit einem unserer jüngeren Brüder teilte und der Kleinste bei den Eltern schlief) (...). Mein Bruder machte seinen Wehrdienst, heiratete unmittelbar danach (...) und sie bekamen sofort zwei Kinder. Ich schrieb mich mit achtzehn an der Universität ein, zog mit zwanzig (also kurz nach ihm) von zu Hause aus, um alleine und selbstbestimmt zu leben, und hoffte nichts sehnlicher, als der Armee zu entgehen. (Was mir schließlich einige Jahre später auch endgültig gelang"). (2016, S.101)

ERIBON hatte 3 Brüder, einen zwei Jahre Älteren, und zwei wesentlich Jüngere. Die Abgrenzung erfolgt gegenüber dem älteren Bruder. BARON ist mit zwei Brüdern aufgewachsen, über deren Alter der Leser nichts erfährt. Auch sonst erfahren wir bei ihm kaum etwas über deren Lebensweg.

Die frühe Bekanntschaft mit Gleichaltrigen aus den besseren Kreisen und Alltagserfahrungen mit Klassenunterschieden können die Aufstiegsmotivation fördern

In seinem Habitus ist BARON sehr viel stärker dem Herkunftsmilieu verhaftet, weil er in seiner Jugendzeit im Gegensatz zu ERIBON keine gleichaltrigen Vorbilder aus den besseren Kreisen hatte: 

Proleten Pöbel Parasiten

"Weil ich in meiner Jugend kaum Kontakt zu Gymnasiasten und Akademikerkindern hatte, blieb ich bei Classic Rock, Pop und Hip-Hop stehen, ohne alternative Musikrichtungen kennengelernt zu haben.
Das rächt sich jetzt: Ich habe keine Ahnung von den Bands über die meine Kollegen häufig sprechen und versuche dann, die Unterhaltung unbeholfen auf Fußball umzulenken." (2016, S.223)

Rückkehr nach Reims

"Er hatte einen klangvollen Vornamen, ich einen banalen. Schon darin symbolisierte sich unser gesellschaftlicher Abstand. Er wohnte mit seiner Familie in einem großen Haus in einem wohlhabenden Viertel im Zentrum. Besuche bei ihm waren eine beeindruckende, einschüchternde Erfahrung für mich. Um jeden Preis wollte ich vermeiden, dass er herausbekam, in welcher »Siedlung« am Stadtrand ich wohnte. (...). Eines Tages stand er aber unangemeldet vor unserer Haustür. Er hatte einfach wissen wollen, wie und wo ich wohnte. Trotz der Freundlichkeit, die in seiner Geste lag, und obwohl er mir zu bedeuten schien, dass ich mich für gar nichts schämen brauchte, fühlte ich mich gedemütigt. (...).
Er war natürlich ein ausgezeichneter Schüler und ließ keine Gelegenheit aus, um sich während des Unterrichts mit seinem Spezialwissen zu profilieren. Ohne seine Mittel zu besitzen, begann ich, dasselbe Spiel zu spielen. Ich lernte, die anderen zu täuschen. Ich simulierte ein Wissen, das ich gar nicht hatte. Wahrheit, was war das schon? Was zählte, war allein die Erscheinung, das für mich selbst und die anderen konstruierte Bild. Ich ging sogar so weit, seine Schreibweise (die Art, wie er die Buchstaben formte) zu imitieren."
(2016, S.164f.)

ERIBON beschreibt seine frühen Erfahrungen mit Klassenunterschieden folgendermaßen: 

Rückkehr nach Reims

"Ich habe die Zugehörigkeit zu einer Klasse immer gespürt. Was nicht dasselbe ist, wie einer selbstbewussten Klasse anzugehören. Man kann sich über seine Zugehörigkeit zu einer Klasse bewusst sein, ohne dass sich diese Klasse ihrer selbst als Klasse oder als »klar definierte Gruppe« bewusst ist. Im Alltagsleben macht sich die Gruppenzugehörigkeit trotzdem bemerkbar. Etwa wenn meine Mutter meinen Bruder und mich an schulfreien Tagen zum Putzen mitnahm (...). Welche Abscheu ich noch heute vor diesem Tonfall und dieser Welt habe, in der die Herablassung aus jedem Atemzug spricht. Wie sehr sie mich gelehrt haben, Macht und Hierarchien zu hassen." (2016, S.93)

"Als ich aufs städtische Gymnasium wechselte, brachte mich dies in unmittelbaren Kontakt mit Bürgerkindern (Bürgersöhnen vor allem, gemischte Klassen waren damals noch die Ausnahme). Ihre Art zu sprechen, ihr Wissen, ihre Kleidung, vor allem aber der Umstand, dass die anderen Jungen mit der legitimen Kultur vertraut waren, erinnerte mich permanent daran, dass ich hier eine Art »Eindringling« war, jemand, der sich nicht an dem für ihn vorgesehen Platz befand." (2016, S.160)

Die frühe Erfahrung mit Demütigungen und dem Selbstbewusstsein der besseren Kreise kann Ansporn sein, das eigene Milieu hinter sich zu lassen. Es kann jedoch auch demotivieren oder zu Unsicherheiten führen. Während letzteres in beiden Büchern zumindest anklingt, wird der Aspekt der Demotivation ausgespart. Mehr darüber könnte man von jenen erfahren, die bei ihrem sozialen Aufstieg gescheitert sind.  

Klassenflucht und Engagement für die einfachen Leute als zwei mögliche Wege sozialer Aufsteiger

Bei BARON finden sich keine prägenden Erlebnisse mit den besseren Kreisen wie bei ERIBON, stattdessen wird der Versuch beschrieben die verschiedenen Welten miteinander zu vereinbaren:

Proleten Pöbel Parasiten

"Ich erinnere mich, dass eine Schwester meiner Tante Karin, zu der ich nur sporadisch Kontakt hatte, mich und meinen Bruder hochkulturell fördern wollte. Sie hat einen Akademiker geheiratet und ist dadurch zu Wohlstand gelangt. Nach dem Tod meiner Mutter nahm sie mich und meinen Bruder zu Lesungen, Kindertheaterinszenierungen, Kunstausstellungen und philharmonischen Konzerten mit.
Keiner dieser Abende verging, ohne dass ich mich vor dem Einschlafen mit meinem Bruder über das Gehabe der Leute lustig machte. In dem Habitus der Bescheidwisser (...) erkannten wir schon damals intuitiv die Zurschaustellung eines Überlegenheitsgefühls. Offenbar suchte ich in meiner Jugend nach Wegen, den sozialen Aufstieg ohne einen Verrat an meinem Herkunftsmilieu zu schaffen. Im Sportjournalismus sah ich wohl den passenden Kompromiss. Sämtliche Männer in meiner Verwandtschaft interessierten sich brennend für Fußball, Handball und Olympia. Würde ich es schaffen, Sportreporter zu werden, so schwante mir, dann wären mir Respekt und Verständnis durch meine Familie ebenso sicher wie Anerkennung und Akzeptanz in Akademikermilieus.
" (2016, S.263f.)

Dieses stärkere Verhaftetsein von BARON in seinem Herkunftsmilieu führt dazu, dass er sich für die Kultur der "einfachen Leute" einsetzt, während ERIBON eine gewisse Aversion gegen sein Herkunftsmilieu entwickelt, was insbesondere durch seine Homosexualität bedingt ist:

Rückkehr nach Reims

"Die Arbeiterkultur und »Armutskultur«, die mich belastete und von der ich fürchtete, sie könne auch nach meiner überstürzten Flucht an mir haften. Ich musste den Teufel austreiben, der sich in mir eingenistet hatte, dafür sorgen, dass er meinen Körper verließ. Oder ihn unsichtbar machen, damit niemand seine Gegenwart spürte. Dies sollte sich für Jahre als eine Aufgaben erweisen, mit der ich in jedem einzelnen Moment meines Lebens beschäftigt war." (2016, S.105)

"Meine sexuelle Identität nahm ich trotz aller Beschimpfungen an und bekannte mich zu ihr, von meiner sozialen Herkunft und der durch diese bedingten Identität riss ich mich los. Man könnte sagen, dass ich in dem einen Bereich zu dem wurde, der ich bin, im anderen jedoch denjenigen zurückwies, der ich hätte sein sollen.
Ich wurde von zwei sozialen Verdikten gebrandmarkt, einem sozialen und einem sexuellen. Solchen Urteilen entkommt man nicht. Diese beiden Einschreibungen trage ich in mir. Als sie in einem bestimmten Moment meines Lebens miteinander in Konflikt traten, musste ich, um mich selbst zu formen, die eine gegen die andere ausspielen." (2016, S.219) 

Während BARON, der im Verein Fußball spielte und für ein Lokalblatt in seiner Jugend als Sportreporter tätig war, der Meinung ist, dass der Fußball ein klassenübergreifendes Phänomen ist, entdeckt ERIBON, dass seine Abgrenzungsbemühungen überzogen waren:

Rückkehr nach Reims

"Was ich so lange als fundamentale, klassenbedingte Opposition wahrgenommen hatte (Bücher vs. manuelle Arbeit), war bestenfalls für mich selbst und meine eigene Geschichte konstitutiv gewesen. Ähnlich erging es mir beim Sport. Ich konnte kaum glauben, dass manche meiner Freunde sich leidenschaftlich Sport im Fernsehen ansahen. Es widersprach Überzeugungen, die sich mir mit aller Gewalt eingeprägt hatten. Die Abscheu vor genau solchen Fernsehabenden war für mich ein Meilenstein auf dem Weg zum Intellektuellen gewesen." (2016, S.50)

BARON musste dagegen feststellen, dass Fußball zwar sowohl im Arbeiter- als auch in der Akademikermilieu kulturell etabliert ist. Inzwischen schreiben hierzulande selbst altgediente Linksintellektuelle wie Klaus THEWELEIT Fußballbücher. Doch die Kluft ist dadurch eher größer geworden zwischen den beiden Kulturen. BARON bemüht sich in seinem Buch um die Anerkennung der Fußballkultur der einfachen Leute. Die Rezension von Frédéric VALIN und das Kapital 8 von BARONs Buch zeigen jedoch, dass sich Fußball hierzulande zum linken Kulturkampfthema eignet.

"Unterwerfung war meine Rettung"

ERIBON beschreibt ausführlich wie sein Klassenhabitus ein Hindernis für seinen Bildungsaufstieg war, was er pointiert zum Ausdruck bringt: "Widerstand hätte meine Niederlage bedeutet, Unterwerfung war meine Rettung." (2016, S.161). Auch BARON - von ERIBONs Buch inspiriert -, spricht in diesem Zusammenhang von Unterwerfung:

Rückkehr nach Reims

"Wie schwer mir meine ersten Jahre auf dem Gymnasium gefallen sind. Ich war zwar ein ausgezeichneter Schüler, stand aber stets kurz davor, mich der schulischen Situation komplett zu verweigern. Wären meine Klassenkameraden nicht aus dem Bürger- und Kleinbürgertum gekommen, sondern aus meinem eigenen sozialen Milieu, ich hätte mich wahrscheinlich von der Dynamik der Selbstexklusion mitreißen lassen." (2016, S.151)

Proleten Pöbel Parasiten

"Warum bin ich (...) »durchgekommen», meine Geschwister aber nicht? Neben der Unterstützung durch wichtige Mentoren, so vermute ich, war es mein sportlicher Ehrgeiz: Hätte ich mich nicht immer wieder schnell habituell der neuen Situation angepasst, ich hätte Niederlagen erlitten. Und mit Niederlagen konnte ich schon als jähzorniges Kleinkind nicht gut umgehen. Unterwerfung war meine Rettung: In der Akzeptanz bürgerlicher Regeln und in einem starken Interesse für Hochkultur sah ich Erfolgsstrategien, ja veritable Pfade zum sozialen Sieg. Es ist keine schöne Wahrheit: Nur, weil ich meine soziale Herkunft zu einem großen Teil verleugnet habe, konnte ich zu dem werden, der ich heute bin." (2016, S.264)   

ERIBON und BARON beschreiben eindringlich die Facetten ihrer Wandlung bzw. Selbst- bzw. Umerziehung. Die folgenden Passagen zeigen ungeschminkt, welcher Preis zu zahlen ist:

Rückkehr nach Reims

"Interesse an Kunst ist eine Frage der Bildung. Ich musste es erst erlernen. Das war ein Teil der nahezu vollständigen Umerziehung, die ich absolvieren musste, um in eine andere Welt, in eine andere soziale Klasse eintreten zu können und meine alte, angestammte hinter mir zu lassen. Interesse für Kunst oder Literatur hat stets (...) auch damit zu tun, dass man das Selbst aufwertet, indem man sich von jenen abgrenzt, die keinen Zugang zu solchen Dingen haben; es handelt sich um eine »Distinktion«, einen Unterschied (...) und zwar immer im Vergleich zu den anderen - den »bildungsfernen« oder »unteren« Schichten etwa. (...). Dieses Überlegenheitsgefühl (...) hat mich seit je eingeschüchtert, und doch tat ich alles dafür, so zu werden wie diese Leute, in kulturellen Kontexten dieselbe Lockerheit an den Tag zu legen und den Eindruck zu vermitteln, ich sei ebenfalls so geboren worden.
Auch das Sprechen musste ich von Grund auf neu lernen: fehlerhafte Aussprachen oder Wendungen korrigieren, Regionalismen verlernen (...), den Zungenschlag sowohl des Nordostens als auch der Arbeiterschicht ablegen, mir ein feineres Vokabular und präzisere grammatikalische Konstruktionen angewöhnen - kurz: Ich musste meine Sprache und meine Ausdrucksweise permanent überwachen. (...). Es handelt sich nicht um Zweisprachigkeit im engeren Sinn, aber doch um ein Spiel mit den sprachlichen Ebenen, um milieu- und situationsspezifische Register." (2016, S.98f.)

"Ich entscheid mich (...) für Bildung und »Kultur« und gegen den Männlichkeitskult der unteren Schichten. (...). Es war eine regelrechte Askese für mich, eine Selbst- oder besser gesagt, Umerziehung, die sich auch dadurch vollzog, dass ich das verlernte, was ich ursprünglich gewesen war. Dinge, die für andere selbstverständlich waren, musste ich mir im Kontakt mit einem bestimmten Umgang mit Sprache, Zeit und auch mit anderen Menschen Tag für Tag, Monat für Monat erarbeiten. All das veränderte meine gesamte Persönlichkeit und meinen Habitus von Grund auf, und ich entfernte mich immer weiter von jenem familiären Milieu, in das ich doch jeden Abend zurückkehrte. Der Selbstbezug, den die Lernkultur erfordert, erwies sich als unvereinbar mit dem, was bei uns zu Hause üblich war. Meine erfolgreiche Integration in den Schulbetrieb hatte zur Bedingung, dass ich in eine Art Exil ging, dass ein immer deutlich werdender Bruch entstand, der mich nach und nach immer weiter von der Welt entfernte, aus der ich kam und in der ich nach wie vor lebte.(...). Wenn ich mich nicht selbst vom Schulsystem ausgrenzen wollte - beziehungsweise wenn ich nicht ausgegrenzt werden wollte -, musste ich mich aus meiner eigenen Familie, aus meinem eigenen Universum ausgrenzen. Diese beiden Sphären zusammenzuhalten, zu beiden Welten gleichzeitig zu gehören, war praktisch unmöglich. Über mehrere Jahre hinweg musste ich immer wieder vom einen Register ins andere wechseln, vom einen Universum ins andere. Und diese Zerrissenheit zwischen meinen beiden Persönlichkeiten, zwischen diesen beiden Rollen und sozialen Identitäten, die immer weniger miteinander gemein hatten und die mir immer unvereinbarer erschienen, brachte in mir eine Spannung hervor, die mir immer unerträglicher wurde und die mich, so viel ist sicher, extrem verunsicherte." (2016, S.158f.)

Proleten Pöbel Parasiten

Das größte Rätsel meines jungen Lebens besteht wohl darin, dass ich mich trotz meiner lange kultivierten Abneigung gegen Elitenbewusstsein und Hochkultur zum Promotionskandidaten an der Hochschule und zum Feuilletonredakteur einer Tageszeitung entwickeln konnte. Ich habe mich den bürgerlichen Konventionen nahezu vollständig angepasst, obwohl ich mich unablässig dagegen zu wehren glaubte. In meinem eisernen Widerwillen, dauerhaft als Wissenschaftler zu arbeiten, oder in dem bis heute in den Pausen bei Theaterpremieren in mir aufsteigenden Ekel auf das hochkulturell-selbstgefällige Gebaren mancher Zuschauer, scheint ein Antiintellektualismus durch, für den ich mich im nächsten Moment schäme. Denn bin nicht ich es, der die Stelle als Theaterredakteur einer Zeitung als Traumjob angestrebt hat und jetzt gerade ein Buch schreibt, das zum Nachweis einer gewissenhaften intellektuellen Arbeit fast 200 Endnoten enthält?
Je mehr ich über diesen Widerspruch nachdenke, umso mehr fällt mir auf, dass ich schon zu Schulzeiten eine Gefallsucht empfunden haben muss, die ich durch das Kultivieren meiner Unterschichtsherkunft permanent zu negieren versuchte. Als ich in die erste Klasse kam, sprach ich kein Hochdeutsch. (...) Während sich meine Freunde nachmittags auf dem Spielplatz vergnügten, saß ich allein mit einer Logopädin in einem miefigen Schulraum, feilte an meiner hochdeutschen Aussprache und versuchte außerdem, mein notorisches Lispeln abzustellen (...). Was war ich stolz auf das Lob meiner Lehrerin ob meiner sich schnell einstellenden sprachlichen Fortschritte! Es war wohl jene Zeit, in der ich unbewusst lernte: Anpassung führt zu Anerkennung." (2016, S.264)

Die Idealisierung der Arbeiterklasse fördert die Herauslösung aus dem eigenen Milieu

Die Unterwerfung kann so weit führen, dass das Bild von der Arbeiterklasse, das in den besseren Kreisen kursiert, zum Maßstab für die Bewertung der eigenen Familie wird. So gerät ERIBON mit den marxistischen Theorien über das "revolutionäre Subjekt" Arbeiter in Berührung, vor denen der Alltag in seiner eigenen Familie nicht bestehen kann:

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"Damals kümmerte mich die gnadenlose Härte der Fabrikarbeit kaum (...). Im Gegenteil nahm ich meinen Eltern übel, dass sie waren, was und wie sie waren, und nicht die erträumten idealen Gesprächspartner, ja noch nicht einmal die, die meine Kommilitonen in ihren Eltern hatten. Während ich mich anschickte, der erste soziale Aufsteiger meiner Familie zu werden, hatte ich für meine Eltern und ihr Leben kaum Interesse (...). Marxist war ich wohl, aber der Marxismus meiner Studienjahre und mein gesamtes politisches Engagement liefen auf eine Idealisierung der Arbeiterklasse hinaus, auf ihre Verwandlung in eine mythische Entität, neben der sich das Leben meiner Eltern besonders erbärmlich ausnahm. Mit all ihrer Kraft strebten sie danach, auch die üblichen Konsumgüter zu besitzen, und ich sah in der tristen Realität ihres Alltags, in ihrem Wunsch, an einem Lebensstandard teilzuhaben, der ihnen so lange verwehrt geblieben war, ein Zeichen, dass ihre »Verbürgerlichung« zugleich eine soziale »Entfremdung« war. Sie waren Arbeiter, hatten das Elend gekannt und wollten jetzt (...) endlich nachholen, was schon ihre Eltern vor ihnen nicht hatten haben können." (2016, S.79)

"Ich war damals überzeugt, meine Eltern hätten eine bestimmte Lebensweise verraten. In Wahrheit brachte meine Verachtung lediglich meinen unbedingten Willen zum Ausdruck, anders zu sein als sie. (...). Das »Proletariat« war für mich eine Idee aus Büchern, eine abstrakte Vorstellung. Meine Eltern gehörten nicht in diese Kategorie. Und wenn ich mich in selbstgefälligen Klagen über den Unterschied zwischen der »Klasse an sich« und der »Klasse für sich« oder zwischen einer »entfremdeten« und einer »selbstbewussten« Arbeiterschaft erging, dann war mein »revolutionäres« politisches Urteil nur der Deckmantel für das soziale Urteil, das ich über meine Eltern und meine Familie fällte, der Ausdruck meiner Entschlossenheit, aus dieser ihrer Welt zu entfliehen. Mein jugendlicher Marxismus war also ein Instrument meiner eigenen sozialen Desidentifikation. Ich glorifizierte die Arbeiterklasse, um mich leichter von den realen Arbeitern abgrenzen zu können. Wenn ich Marx und Trotzki las, glaubte ich, Teil der Avantgarde zu sein; viel eher markierten meine Lektüren aber den Eintritt in die Welt der Privilegierten". (2016, S.81)

ERIBON und BARON unterscheiden sich auch dadurch, dass ersterer viel früher mit Gleichaltrigen aus dem Bürgertum in Berührung kommt. Während ERIBON schon im Gymnasium Umgang hatte, wurde BARON erst während der Studienzeit damit konfrontiert. Weil er stärker seinem Herkunftsmilieu verhaftet bleibt, ist seine Unterwerfung nicht so umfassend wie jene von ERIBON, sondern er entwickelt eine trotzige Distanz zu den Mittelschichtstudenten, denen er sich durch seine Sozialisation unterlegen fühlt:

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"Der französische Soziologe Pierre Bourdieu schrieb einmal, dass nur derjenige sozial aufsteigen kann, der seine eigene Klasse verrät. Treffender lässt es sich nicht ausdrücken. (...). Was daraus logisch folgt, ist ein Hang zum Konformismus (...). Wenn die wenigen Arbeiterkinder, die irgendwie zur Aneignung bürgerlicher Bildung gelangen konnten, später Gehör finden wollen in Seminardebatten an der Uni oder in Lesekreisen linker Gruppen, dann ist es genau diese anerzogene Zurückhaltung, die es den Linken aus der Mittelschicht leicht macht, sich in den Vordergrund zu drängen und schüchterne Neuankömmlinge der unteren Schicht galant unterzubuttern. Zumal dieser Aspekt der erlernten sozialen Scheu den Linken einfach nicht auffallen will." (2016, S.46f.)

Der Alltag von Arbeiterfamilien als Ausgangspunkt der Politisierung

Die Linken seiner Universitätszeit werden für BARON zum Feindbild, weil sie ihn nicht so nehmen wie er ist. Während ERIBON so sehr Klassenflüchtling ist, dass er für die Belange der Arbeiterkultur keinerlei Engagement aufbringt, geht BARON den umgekehrter Weg: Die besseren Kreise sollen die Arbeiterkultur anerkennen, statt sie zu verachten:

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"Menschen aus behüteten Verhältnissen (...) messen das Leben der Unterschicht an ihren eigenen Maßstäben und sehen deren miserable Lage als Resultat falscher Lebensentscheidungen und mangelnder Leistungsbereitschaft, sie betrachten die Armut der Leute also vor allem als freiwillige Bildungsverweigerung. In Wahrheit besteht der Unterschied darin, dass den Mittelschichtkindern ihre Jugendsünden und Fehlentscheidungen verziehen und sie durch Eltern oder andere Verwandte materiell und seelisch aufgefangen werden, während die Mittellosen einfach ins Bodenlose fallen und gar nicht erst die Chance erhalten, ein Sensorium für diskriminierungsfreie Sprache zu entwickeln." (2016, S.23)

BARON beschreibt sein politisches Engagement als biografisch geprägt. Beim Intellektuellen ERIBON findet sich diese Differenz als Gegensatz zwischen dem Politikverständnis der Linksintellektuellen (genannt wird Gilles DELEUZEs "Abécédaire") und dem Alltagsbewusstsein der Arbeiterklasse wieder:

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"Diesen im Alltag permanent präsenten Widerspruch zwischen einer nicht-akademischen Herkunft und dem Versuch, im akademischen Milieu Fuß zu fassen, habe ich immer als außerordentlich belastend gefunden, was wohl ganz besonders einem Umstand geschuldet ist: Mein Linkssein ist in erster Linie biografisch bedingt und damit interessengeleitet - ganz im Gegensatz zu den meisten anderen Aktivisten, die ihr Opponieren gegen die herrschenden Zustände mit einer ethisch-moralischen Empörung begründen. Während in der gebildeten Mittelschicht sich das Verständnis vom Linkssein vor allem darauf bezieht, die Nöte des »globalen Südens« wichtiger zu finden als die Probleme vor der eigenen Haustür und immer eine weltweite Perspektive einzunehmen, ist es in der Unterschicht üblich, pragmatisch zu denken und sich zu fragen, wie sich das unmittelbar spürbare Leid schnellstmöglich beseitigen lässt. Das mögen zwei diametral entgegengesetzte Horizonte sein, sie treffen sich aber in einer grundlegenden Parteilichkeit im Namen der sozialen Gerechtigkeit." (2016, S.48)

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"Seine (Anm.d.Verf.: Gilles Deleuzes) Definition ist der Art, in der meine Eltern links waren, diametral entgegengesetzt. Für Arbeiter und Leute aus armen Verhältnissen bestand das Linkssein vor allem darin, ganz pragmatisch das abzulehnen, worunter man im Alltag litt. Es ging um Protest, nicht um ein von globalen Perspektiven inspiriertes politisches Projekt. Man schaute auf sich selbst, nicht in die Ferne, und zwar in geschichtlicher wie in geografischer Hinsicht." (2016, S.38)

Zeitgeschichtliche Gelegenheitsstrukturen kanalisieren die Aufstiegswege von Bildungsaufsteigern

ERIBON hat seine soziale Herkunft bis nach dem Tod seines Vaters in den Nuller Jahren verleugnet. Sein ganzes intellektuelle Streben galt der kulturlinken Identitätspolitik, wobei die Auseinandersetzung mit dem Schwulsein ein zentrales Anliegen seines Werks war. Dies war auch der Tatsache geschuldet, dass die homosexuelle Subkultur für ihn zum Eintrittstor in die intellektuelle Pariser Szene wurde:

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"Zwei wechselseitig voneinander abhängende Bahnen, mich selbst neu zu erfinden. Die eine in Rücksicht auf die sexuelle Ordnung, die andere in Rücksicht auf die soziale. Wenn es ums Schreiben ging, habe ich immer die erste, von sexueller Unterdrückung handelnde Entwicklung betrachtet und analysiert und damit vielleicht schon im Ansatz meines theoretischen Schaffens den existenziellen Verrat wiederholt." (2016, S.25f.)

"Ich war mit der doppelten Hoffnung nach Paris gekommen, ein freies schwules Leben zu führen und ein »Intellektueller« zu werden. Meine erste Hoffnung hatte sich bald und ohne größere Schwierigkeiten erfüllt, die zweite war im Sande verlaufen: Nach meinen gescheiterten Versuchen, Lehrer zu werden oder eine Doktorarbeit abzuschließen, stand ich ohne Arbeit und ohne Perspektive da. Meine Rettung lag in den Ressourcen der schwulen Subkultur. Beim schwulen Cruisen vermischen sich bis zu einem gewissen Grad die sozialen Klassen (...). Diese Mischung ermöglicht Solidarität und Formen der Hilfe, die einem als solche gar nicht bewusst sind". (2016, S.223)

"Die neue Position, die ich Mitte der Neunziger erreichte, und das internationale Umfeld, in dem ich mich bewegte, spielten für mich mit gehöriger Verspätung jene Rolle, die der Klassenhabitus und der Königsweg durch das Bildungssystem bei anderen schon viel früher im Leben spielt. (...). Meine Arbeiten zur Ideengeschichte, zur Homosexualität, zur minoritären Subjektivität hatten mich zu etwas gemacht, wovon ich angesichts meiner Klassenherkunft (...) nicht zu träumen gewagt hätte, und das (...) angesichts dieser Herkunft auch nicht sonderlich wahrscheinlich gewesen war." (2016, S.229f.)

BARON wiederum hat sich bereits während seiner Universitätszeit für die Belange der Arbeiterklasse eingesetzt. Er gründete in Trier eine Hochschulgruppe der Linkspartei gegen die Widerstände der dortigen, etablierten linken Hochschulgruppen. Er schreibt außerdem an seiner Dissertation, die ihm ein Stipendium ermöglichte, über den neoliberalen Sozialstaatsdiskurs mit seiner Volte gegen die deutsche Unterschicht:

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"Bald schon trat ich aus der SPD aus, der ich noch zu Schulzeiten in naiv-sozialdemokratischem Eifer zugelaufen war. Die Sozialdemokraten, zumal unter Führung beinharter Neoliberaler wie Gerhard Schröder oder Franz Müntefering, waren mir zum roten Tuch geworden. Ich wurde selbstgefällig und arrogant, weil ich mich unbedingt dem intellektuellen Milieu annähern wollte. Jetzt strebte ich zur Universität und wollte die Revolution machen, wie es mein Held Rudi Dutschke vor mir schon versucht hatte.
Was es aber wirklich bedeutet, im Deutschland des 21. Jahrhunderts als Arbeiterkind zum Linken zu werden, das musste ich erkennen, als ich meine ersten eigenen Schritte als linker Aktivist in Trier wagte. Mit einigen Kommilitonen gründete ich eine lokale Hochschulgruppe von
»Die Linke.SDS«. Das ist die Hochschulorganisation der Linkspartei." (2006, S. 54f)

"Nach dem Abschluss meines Studiums verließ ich die Trierer Universität mit 13.000 Euro BAföG-Schulden beim Staat, die seither aufgrund des verzinsten KfW-Studienabschlusskredits und meines geringen Einkommens jährlich steigen. Einen beruflichen Masterplan hatte ich auch nicht. Was sollte ich also tun? Nun, wie so oft in meiner Bildungslaufbahn, so war es auch diesmal eine hierarchisch weit oben stehende Person, die mir den Weg wies. Zwei Jahre vor meinem ersehnten Ziel des akademischen Grades eines »Magister Artium« übernahm Ulrich Brinkmann in Trier den Lehrstuhl für Wirtschaftssoziologie (...).
Obwohl ich alles tat, um nicht aufzufallen, erkannte er meine Stärken und ermutigte mich, eine Promotion anzustreben, deren Betreuung er übernehmen wollte. (....). Eine Doktorarbeit? Ich? Das lag weit jenseits meiner Vorstellungskraft. Es dauerte einige Gesprächsrunden, bis er mich dann doch überzeugt hatte: Ich durfte selbst ein Thema wählen und entschied mich für eine Analyse des massenmedialen Sozialstaatsdiskurses mit der Frage, inwiefern sich dort eine Diskriminierung der Unterschicht widerspiegelt. Ich traute mich letztlich sogar, eine Bewerbung um ein Begabtenstipendium einzureichen, die dann auch noch erfolgreich war." (2016, S.62)

Im Gegensatz zu ERIBON gab es für BARON eine Gelegenheitsstruktur, die ihm die Chance bot, seinem Engagement nachzugehen. Auch die Redaktionen der Medien stehen Arbeiterkindern im Zeichen von Diversity aufgeschlossener entgegen - sofern diese erst einmal die hohe Hürde des Bildungsaufstiegs überwunden haben:

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"Wie sollte ich (...) den Einstieg in diesen Beruf schaffen bei all der Konkurrenz aus der Mittelschicht mit all den selbstbewussten jungen Männern und Frauen mit all ihren Prädikatsexamen und der finanziellen Sicherheit durch die Familie in der Hinterhand, die bei beruflichen Talsohlen immer wieder einspringen kann? Ich schob alle Bedenken beiseite und bewarb mich republikweit bei regionalen und überregionalen Tageszeitungen um Volontariate." ( 2016, S.219f.)

"Auf meine gut 20 Bewerbungen erhielt ich zehn Einladungen. Jedesmal zeigte sich, dass die Chefredakteure (es waren ausschließlich Männer) meinen sozialen Aufstieg interessant fanden und sie hofften, ich könne durch diesen in ihrem Berufsfeld völlig ungewöhnlichen Blickwinkel die Qualität der Zeitung steigern. Mir drängte sich der Eindruck auf: Gerne würden viele Redaktionen mehr Arbeiterkinder einstellen, es mangelt einfach an jenen, die dank entsprechender Unterstützung durch frühe Mentoren den erforderlichen langen Marsch bis zur qualifizierten Bewerbung durchstehen." (2016, S.220)

BARON kam sicher zugute, dass er bereits journalistische Vorerfahrungen mitbrachte:

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"Meine journalistische Laufbahn begann ich im Alter von 17 Jahren im Lokalsport, das Feuilleton betrachtete ich damals eher naserümpfend. (...). Damit ich an den Wochenenden durch das Pfälzer Land als rasender Reporter von Sportplatz zu Sportplatz oder von Sporthalle zu Sporthalle tingeln konnte, beendete ich sogar meine aktive Laufbahn im Fußballverein. An der Universität schrieb ich mich nur deshalb in Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik ein, weil mein Notendurchschnitt im Abitur nicht für Publizistik oder Medienwissenschaft reichte und mir diese Fächerkombination ohnehin als ideale inhaltliche Eintrittskarte in die Welt des (Sport-) Journalismus erschien.
Es dauerte mehrere Jahre, bis ich meiner ständig verdrängten und doch stetig wachsenden Leidenschaft für traditionell bürgerliche Formen der Kunst endlich nachgab. (...). So dauerte es bis zum Frühjahr 2009, ehe ich im beschaulichen Trier widerwillig meine erste Theaterkritik schrieb. Meine frühesten journalistischen Förderer von dem lokalen Onlinemagazin 16vor (...) wünschten sich von mir endlich auch feuilletonistische Texte." (2016, S.238f.)

Die geringeren finanziellen Spielräume für Kinder aus bildungsfernen Milieus spielen eine große Rolle angesichts der Konkurrenz von Mittelschichtkindern, die sich ihren Traumberuf finanziell eher leisten können als Kinder der bildungsfernen Milieus.

Wenn der Aufstieg ins Stocken gerät, können Umwege zum Ziel führen, die jedoch ihren Preis haben

ERIBON beschreibt wie seine fehlenden finanziellen und soziokulturellen Ressourcen dazu führen, dass sein Aufstieg ins Stocken gerät. BOURDIEUs Konzept des sozialen und kulturellen Kapitals wird von ihm zugespitzt, wenn er von "negativem sozialen Kapital" spricht:

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"Wären meine Brüder Anwälte, Akademiker, Journalisten, Staatsbeamte, Künstler oder Schriftsteller, hätte ich selbstverständlich Kontakt zu ihnen, und sei es nur sporadisch. Ich hätte sie jedenfalls als meine Brüder angenommen und mich auf sie berufen. (...). Wenn das verfügbare soziale Kapital in erster Linie aus der Menge der gepflegten und mobilisierbaren verwandtschaftlichen Beziehungen besteht, dann könnte ich behaupten, dass mein Werdegang mit all meinen familien- und milieubezogenen Fluchtbewegungen nicht nur kein positives, sondern ein negatives soziales Kapital mit sich brachte. Nicht aufrechterhalten und pflegen musste ich diese Verbindungen, sondern kappen und auslöschen. Anstatt, wie in bürgerlichen Familien, auf meine entfernten Cousins zu bauen, war ich eher darauf bedacht, meine eigenen Brüder aus meinem Leben zu tilgen. Auf dem Weg den ich zu gehen, und bei den Schwierigkeiten, die ich zu überwinden hatte, konnte ich nicht auf andere zählen, nur auf mich." (2016, S.85)

ERIBON muss aufgrund seines mangelnden finanziellen, sozialen und kulturellen Kapitals seine Vorstellungen einer Universitätskarriere aufgeben. Hatte er es durch ein Studiengehalt einer Förderorganisation noch geschafft bis zum Staatsexamen weiter studieren zu können, so führte sein Scheitern an der hohen Hürde des Staatsexamens zum Stocken des sozialen Aufstiegs:    

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"Meine Finanzierung war ausgelaufen, und wegen des verpassten Staatsexamens war auch keine neue in Sicht. Das änderte meine Lebensumstände ganz erheblich. Zuerst wurde ich Nachtportier in einem Hotel in der Rue de Rennes. (...). Schließlich fand ich einen Abendjob in einer nahen Banlieue. (...). Dass ich trotz ansehnlicher schriftlicher Noten ein zweites Mal an der Auswahlprüfung scheiterte, setzte mir ziemlich zu. (...). Die Éducation nationale schien aber keine Verwendung für mich zu haben und da sie mir nicht einmal eine Vertretungsstelle anbieten konnten, war ich von meiner zehnjährigen Lehrverpflichtung freigestellt. Andererseits fehlten mir die Mittel, um mein Studium bis zur Promotion fortzusetzen, die für eine Universitätskarriere unerlässlich war. In welchem Ausmaß solche Karrieren den »Erben« sozialer und ökonomischer Privilegien vorbehalten waren, verstand ich erst jetzt. Ich war aus meinem Herkunftsmilieu geflohen und wurde doch von meiner Herkunft eingeholt: Ich musste meine Promotion, meine intellektuellen Ambitionen und all die Illusionen, die damit zusammenhingen, aufgeben. (...). Der wahre Wert eines Hochschulabschlusses hängt vom sozialen Kapital ab, auf das man zurückgreifen kann, und von dem strategischen Wissen darüber, wie man einen solchen Abschluss auf dem Arbeitsmarkt einsetzt. In solchen Situationen kommt es auf die Hilfe der Familie an, auf Beziehungen, auf ein Netzwerk von Bekannten usw.. Ohne solche Zutaten kann man den Wert eines Abschlusses gar nicht ausschöpfen. Soziales Kapital hatte ich allerdings kaum vorzuweisen. Genauer gesagt: Ich hatte gar keines. Über strategisches Wissen verfügte ich auch nicht. Mein Diplom war also nichts wert, oder jedenfalls sehr wenig." (2016, S.186f.)

Die schwule Pariser Subkultur ermöglichte es ERIBON in dieser Phase über den Umweg des Journalismus doch noch seine Vorstellungen von einer intellektuellen Karriere weiter zu verfolgen. Dabei half ihm auch die Freundschaft mit dem Soziologen Pierre BOURDIEU, ein Aufsteiger wie er, und dem Philosophen Michel FOUCAULT:

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"Mein Liebhaber hatte einen Bekannten und dessen Partnerin zum Abendessen eingeladen. Sie arbeitete bei Libération, einer aus dem Geist von 68 und mit der Unterstützung Sartres und Foucaults gegründeten Zeitung. (...).  So wurde ich nach und nach zu einem Journalisten oder genauer zu jemanden, der in der Presse über philosophische und literarische Themen schrieb. Ich verfasste Kritiken, machte Interviews (an das erste erinnere ich mich, als sei es gestern gewesen: Ich sprach mit Pierre Bourdieu über Die feinen Unterschiede). Auf völlig unerwartete und ungeplante Weise verschaffte mir der Journalismus Zugang zum und Teilhabe am intellektuellen Leben. (...). Mit einigen war ich bald befreundet, mit Michel Foucault und Pierre Bourdieu sogar sehr eng. (...). Ich blieb nicht lange bei dieser Zeitung, die sich schon bald in einen der wichtigsten Vektoren der in diesem Buch mehrfach beschriebenen konservativen Revolution verwandeln sollte." (2016, S.224)

In dieser Phase, so stellt es ERIBON dar, musste er Abstriche an seinen Vorstellungen machen. Das galt vor allem für die Zeit, in der er beim angesehenen Wochenmagazin Nouvel Observateur arbeitete:

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"Der Chefredakteur einer Wochenzeitung, der geradezu besessen war von der Idee, endlich einen Text von oder ein Interview mit Bourdieu für sein Blatt zu bekommen, wollte mich aus genau diesem Grund für seine Redaktion gewinnen. Ich mochte diese Zeitung nicht, hatte sie nie gemocht. Zu allem Überfluss wirkte sie sogar noch stärker an der konservativen Wende mit als mein vorheriger Arbeitgeber. (...). Ich hatte (...). keine Wahl, irgendwie musste ich meinen Lebensunterhalt verdienen.
Vom ersten Tag an fühlte ich mich beim Nouvel Observateur, milde ausgedrückt, nicht wohl.
(...). Eine kleine Clique von Universitätsleuten hatte die Literaturseiten dieses Magazins okkupiert, um dort ihr Ding zu machen und der gesamten politisch-intellektuellen Szene ihre Macht und ihre reaktionäre Wende aufzudrücken. (...): Ich sah in diesem Job jetzt nichts weiter als einen Broterwerb, der es mir ermöglichen sollte, meine Bücher zu schreiben." (2016, S.225f.)

Die Anstellung bei dem Magazin ermöglichte es ERIBON sein eigentliches Anliegen zu verfolgen. Während er als Romanautor scheiterte, brachte ihm die 1989 erschienene Biografie über den verstorbenen Michel FOUCAULT jenen Ruhm, der ihn auf seiner ersehnten Karriere weiter brachte:

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"Als ich am ersten Buch arbeitete, 1986 mit Georges Dumézil fragte dieser, ob ich nicht eine Biografie des zwei Jahre zuvor verstorbenen Foucault schreiben wolle. (...). Mein ambitioniertes, unzeitgemäßes Buch hatte großen Erfolg und dürfte auch nicht unmaßgeblich zu dem Widerstand beigetragen haben, der sich allmählich in der Öffentlichkeit gegen die fortschreitende Konterrevolution regte. (...). Der Journalismus wurde mir immer fremder (...) und ich verbrachte nahezu meine gesamte Zeit mit dem Bücherschreiben oder an Universitäten im Ausland. Ich hatte den Beruf gewechselt. (...)
Ich hatte Zeit gebraucht, um in meinem eigenen Namen zu denken. Denn um sich legitim zu fühlen, muss man notwendigerweise von seiner gesamten Vergangenheit, von der sozialen Welt, von den Institutionen legitimiert worden sein. Trotz meiner ziemlich überspannten Jugendträume ist es mir nicht leichtgefallen, mich befähigt - das heißt von der Gesellschaft autorisiert - zu fühlen, Bücher zu schreiben, theoretische dazu. Es gibt Träume. Und es gibt die Wirklichkeit. Um beide miteinander zu verbinden, braucht es mehr als nur Hartnäckigkeit. Günstige Umstände gehören ebenfalls dazu." (2016, S.228f.)

Den Unterschied zwischen den Klassen hinsichtlich ihren ungleichen Startvoraussetzungen für Begabte bringt ERIBON folgendermaßen auf den Punkt:

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"Für mich war das Schreiben nicht die Erfüllung einer Verheißung, die sich schon in den Streichen und Spielen des Jungen angekündigt hat (...). Mich erwartete ein ganz anderes Schicksal: Ich musste meine Wünsche so weit herunterschrauben, bis sie zu meinen sozialen Möglichkeiten passten. Ich musste kämpfen, und zwar zuallererst gegen mich selbst, um mir Fähigkeiten zuzusprechen und Rechte zu erschließen, die anderen von vornherein mitgegeben waren." (2016, S.229)

 

Eine gewisse Unlogik in seiner Argumentation ergibt sich, wenn er über die neokonservative Wende der 1980er Jahre in Frankreich schreibt, denn in Grunde profitierte ERIBON vom kritisierten Individualisierungsparadigma:

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"Im Namen einer vermeintlich notwendigen »Individualisierung« (oder Entkollektivierung, Entsozialisierung), die das Arbeitsrecht, die sozialen Sicherungssysteme und allgemeiner die Mechanismen der gesellschaftlichen Solidarität und Umverteilung betraf, wurde im gleichen Zug der Rückbau des Wohlfahrtsstaats legitimiert. Ein Gutteil der Linken schrieb sich nun plötzlich das alte Projekt des Sozialabbaus auf die Fahnen, die zuvor ausschließlich von rechten Parteien vertreten und zwanghaft wiederholt worden war." (2016, S.120)

"Indem man (...) die Vorstellung konfligierender sozialer Gruppen aus dem politischen Vokabular der Linken tilgte, glaubte man, den Wählern damit auch die Möglichkeit einer von gemeinsamen Sorgen, Interessen und politischen Zielen bestimmten Gruppenidentifikation zu nehmen. Man hat die Wähler auf ihre Individualität ihrer jeweiligen Standpunkte verwiesen und diese Standpunkte von ihrem kollektiven Machtpotenzial abgekoppelt. Man hat diese Wähler zur Ohnmacht verurteilt (...). Aber aus dieser Ohnmacht ist Wut geworden. Und das Ergebnis hat nicht lange auf sich warten lassen. Die Gruppe hat sich neu formiert. Um ihren Standpunkt Gehör zu verschaffen, organisierte sich jene soziale Klasse, die der neokonservative Diskurs der Linken dekonstruiert hatte, auf eine andere Weise." (2016, S.125f.)

Im Grunde hat ERIBON an diesem linken Projekt selber mitgewirkt. Erst nach seiner eigenen Hinwendung zum Klassenparadigma gewinnt seine Kritik an Glaubwürdigkeit. Mit Pierre BOURDIEU gab es in Frankreich einen frühen Vertreter des Klassenparadigmas. Mit dem 1979 in Frankreich und 1982 ins Deutsche übersetzte Buch Die feinen Unterschiede verfasste BOURDIEU einen frühen Klassiker zum Thema. ERIBON verfolgte jedoch nicht zusammen mit ihm dieses Projekt, sondern forcierte sein eigenes.

Die innere Zerrissenheit sozialer Aufsteiger: zwischen Scham und Gewissensbissen

Sowohl ERIBON als auch BARON beschreiben die Ambivalenz ihres Aufstiegs, die selbst bei einem Klassenflüchtling wie ERIBON zu Gewissensbissen führte:

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"Jedes Mal, wenn ich mich abschätzigen Urteilen angeschlossen und damit meine Kindheit »verraten« hatte, breitete sich ein dumpfes schlechtes Gewissen in mir aus." (2016, S.24)

"Der Großvater, den ich in den sechziger Jahren kennenlernte, arbeitete als Fensterputzer. (...). Er transportierte seine Leiter und seinen Eimer auf einem Moped. Da er auch die Fenster von Cafés oder Läden außerhalb seines Wohnviertels reinigte, kreuzten sich unsere Wege einmal mitten in Paris. Er freute sich über diese Zufallsbegegnung, mich genierte sie, denn mir grauste davor, dass ich mit ihm und seinem seltsamen Gefährt gesehen werden könnte. (...). In den nächsten Tagen plagte mich ein extrem schlechtes Gewissen. (...). » (...) Warum habe ich all die gesellschaftlichen Hierarchien so sehr verinnerlicht, obwohl ich sie intellektuell und politisch zu bekämpfen vorgebe?« (...). Meine Überzeugungen standen im Widerspruch zu meiner Integration in die bürgerliche Welt. Ich gab vor, gesellschaftskritische Positionen zu vertreten, die nicht zu meinen neuen Wertvorstellungen passten, von denen ich noch nicht einmal sagen konnte, dass sie mir aufgezwungen worden waren, denn die Wahrnehmungen und Urteile der Herrschenden hatte ich mir ja freiwillig zu eigen gemacht." (2016, S.64f.)

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"Im Gegensatz zu den meisten mir bekannten sozialen Aufsteigern, bei denen die Verwandlung zum Bildungsbürger mit einer emotionalen Distanzierung vom Herkunftsmilieu einherging, plagt mich seit meinem Studienabschluss ein schlechtes Gewissen über diesen Klassenverrat.
Konfrontiert mit den Alltagsproblemen meiner Geschwister und Freunde, konnte ich ihnen immer weniger helfen, weil sich meine Lebenswirklichkeit komplett verändert hatte. Standen meine beiden Schwestern und mein Bruder schon mit Anfang/Mitte 20 als Eltern in unermesslicher Verantwortung, wäre mir niemals in den Sinn gekommen, zu diesem Zeitpunkt Vater zu werden. Vor allem meine Schwestern lebten das Leben meiner Mutter weiter - mit diskutablen Partnern, depressiven Schüben und einer lähmenden Perspektivlosigkeit.
Und 100 Kilometer entfernt saß ich in meiner Studentenbude, bewegte mich zwischen Seminarraum und wilden Partys, und die einzige Gemeinsamkeit mit meiner Familie bestand in der chronischen Ebbe auf meinem Bankkonto - die ich mit meinem intellektuell anregenden und optimistischen sozialen Umfeld natürlich bedeutend besser verkraften konnte." (2016, S.63)

Während bei ERIBON die Scham letztlich gegenüber den Gewissensbissen die Überhand gewann, mündeten bei BARON die Gewissensbisse in seinem politischen Engagement für die einfachen Leute. ERIBON verdrängt dagegen lange Zeit die Härte eines Arbeiterschicksals, wobei ihm die damaligen politischen Theorien entgegenkamen, wie bereits weiter oben erwähnt wurde:

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"Erst 1970, als mein Vater eine Weile arbeitslos war, ging sie in eine Fabrik und blieb auch dort, als mein Vater wieder Arbeit hatte. Erst heute begreife ich, dass sie mir mit ihrem Einsatz Abitur und Studium ermöglicht hat. Auf die Idee, dass auch ich zum Familieneinkommen hätte beitragen können, bin ich damals nicht gekommen (Oder genauer: Ich habe sie sorgsam verdrängt, denn Andeutungen meiner Mutter gab es genug.)" (2016, S.47)

"Von finanziellen Sorgen getrieben, nahm sie eine Stelle in einer Fabrik an. Acht Stunden Plackerei am Tag. Nach dem Abitur habe ich einen Monat lang dort gearbeitet und am eigenen Leib erfahren, was für ein Metier das ist. Meine Mutter tat das, um mir die Möglichkeit zu geben, im Gymnasium Montaigne oder Balzac zu lesen und später als Student in meinem Zimmer stundenlang über Kant oder Aristoteles zu brüten." (2016, S.77)

Exkurs: Vom sozialen Aufsteiger zum Besitzstandswahrer als eine normale Entwicklung

Im Jahr 2003 beschrieb der Politikwissenschaftler Franz WALTER, selber ein Aufsteiger, wie die SPD in Deutschland als Partei der Gewinner der Bildungsexpansion zu einer Partei der Besitzstandswahrer zu werden droht. WALTER spricht von einer "FDP der neuen Mitte". Für ihn ist eine solche Entwicklung kein singuläreres Ereignis, sondern eine Episode, die sich in der Geschichte immer wieder wiederholt:

Der Wandel des Wertewandels kommt bestimmt

"Die Sozialdemokratie hat sich seit den siebziger Jahren erheblich verändert (...). Viele von uns sind aufgestiegen. Wenn ich mir einen normalen Parteitag anschauen und frage würde: Wer ist dabei, der in der ersten Generation Akademiker ist, bei dem der Vater noch Arbeiter war? Dann würde die Antwort wahrscheinlich lauten: 80 Prozent. Ich selbst bin ja auch so ein Fall - Vater: Hilfsarbeiter auf dem Schlachthof; Sohn: Hochschullehrer. Dieser Prozess ist natürlich möglich geworden durch eine robuste, entschlossene Form der materiellen Umverteilung in den sechziger und siebziger Jahren. Ohne Umverteilung und den Ausbau des Staates (...) hätte es diesen massenhaften Aufstieg nicht gegeben. Und auch ich wäre wahrscheinlich genau wie mein Vater noch immer auf dem Schlachthof. Wir - oder doch die meisten von uns - sind also gewissermaßen die Gewinner von Umverteilung, reden aber jetzt nicht mehr von Umverteilung, fordern es jedenfalls nicht mehr, weil es uns möglicherweise auch zu teuer kommt, weil es vielleicht auch zu teuer ist. Nur ist das eine ganz merkwürdige Angelegenheit: In dem Moment, in dem wir aufgrund eines spezifischen politischen Instrumentariums sozial gewonnen haben, legen wir das Instrument zur Seite und lassen die anderen ziemlich kaltblütig zurück. Das aber wird moralisch möglicherweise nicht funktionieren, denn es nimmt der Sozialdemokratie ihre besondere Aura, ihren unverwechselbaren Ethos. Und am Ende wäre die SPD dann nichts anderes als - wenn man so will - die FDP der neuen Mitte aus der vorangegangenen Bildungsexpansion."
(H.5, 2003)

"In der Geschichte der Menschen und der Politik ist das ja kein neuer Vorgang: Eine Gruppe, die aus der unterlegenen Position zunächst sehr emanzipatorisch agiert, die sehr dezidiert und voller Energien in der Vertretung eigener Ziele auftritt, erreicht schließlich diese Ziele, steigt auf, verlässt die Subalternität, bildet fortan das Establishment. Im Moment des eigenen Erfolges - ein tausendfach erlebter Prozess - wird sie konservativ, verteidigt ihren neuen Status. Sie koppelt sich nicht nur mental und kulturell ab, sondern sie wird auch sozial aggressiv besitzstandswahrend - gegen diejenigen, die es nicht geschafft haben. Aggressiv distanzieren sich die neuen Aufsteiger von denen, die nicht mitgekommen sind. Und sie wollen die Abgehängten auch nicht alimentieren, weil man nichts dabei gewinnen kann. Das ist ein historisch nicht gerade ungewöhnlicher Prozess. Und für mich ist die ausschlaggebende Frage: Ist dieser Prozess eigentlich das, was die Sozialdemokratie gerade mitmacht? Ist es so, dass die Sozialdemokratie soeben dabei ist, zur Vertretung der neuen, avancierten, arrivierten, parvenühaften, aufgestiegenen gesellschaftlichen Mitte zu werden und dadurch überhaupt keine Bindung mehr an ihre Ursprünge zu haben, keine biografischen oder kulturellen Affinitäten, weder vom Ort des Wohnens noch vom sozialen Umfeld der Geselligkeiten her, um sich irgendwann einmal von all dem auch politisch abzukoppeln? Denn Solidarität, das wissen wir, ist etwas, was nur innerhalb einer Gruppe mit ganz ähnlichen oder gleichen Interessen existiert."
(H.5, 2003, S.52)

2003 wurde auf dieser Website in einem Thema des Monats ausführlich über die Rückkehr der Klassengesellschaft geschrieben, die damals von der oberen Mittelschicht medial begleitet und durchgesetzt wurde. Während WALTER und auch andere davon ausgehen, dass es in Deutschland ein kurzes Zeitfenster gab, in dem soziale Aufstiege häufiger vorkamen als vor- und nachher, beschreibt ERIBON die französische Verhältnisse als festgefügt:

Rückkehr nach Reims

"»Aller à la Fac«, an die Uni gehen, das war es doch, was sich jeder Student wünschte. Auch hier führt die Unkenntnis von Bildungshierarchien und Selektionsmechanismen häufig zu schwerwiegenden, kontraproduktiven Entscheidungen. Man wählt vollkommen freiwillig einen Pfad, der zur Selbstentwertung führt, und klopft sich dafür auch noch auf die Schulter, während andere, die es besser wissen, ihn weiträumig umgehen. Wenn die Angehörigen benachteiligter Klassen glauben, sie hätten eine alte Zugangsschranke überwunden, müssen sie häufig feststellen, dass das Erreichte mittlerweile seinen Wert verloren hat. Der Abstieg mag langsamer verlaufen, der Ausschluss später stattfinden, aber der Abstand zwischen Herrschenden und Beherrschten bleibt konstant. Er reproduziert sich, indem er sich verschiebt. Eine »Verlagerung der Struktur« nennt Bourdieu das (translation de la structure). Was man als »Demokratisierung« bezeichnet hat, ist nichts anderes als eine Verschiebung, bei der die Struktur, trotz aller Veränderungen an der Oberfläche, unverändert erhalten bleibt - kaum weniger starr als zuvor." (2016, S.172f.)

ERIBON spricht von "Demokratisierung" statt von Bildungsexpansion, gemeint ist jedoch der gleiche Sachverhalt. Ob es nicht auch in Frankreich eine solche Gewinnergeneration gegeben hat, wäre also eine Frage, die von ERIBON nicht beantwortet wird. Er jedenfalls kam nach seiner Meinung zu spät, um von einer solchen Öffnung zu profitieren.

Unkenntnis aufgrund der sozialen Herkunft führt zu suboptimaler Ausnutzung der Aufstiegsmöglichkeiten

Immer wieder kommt ERIBON im Buch auf Schaltstellen in seiner Bildungskarriere zu sprechen, an denen er mit falschen Entscheidungen oder durch Unkenntnis der Regeln seine Möglichkeiten nicht ausschöpfen kann, weil er der falschen Klasse angehörte. So beschreibt er wie er sich während seiner Gymnasialzeit durch die Wahl einer falschen Sprache (Spanisch statt Deutsch) unter den schlechten, statt unter den besten Schülern wiederfindet:

Rückkehr nach Reims

"An den Entscheidungen auf meinem Bildungsweg kann man (...) auch die Mittellosigkeit ablesen, die ich von zu Hause mitbrachte. (...). Ich entschied mich für die literarische Abschlussklasse, obwohl ich mit der naturwissenschaftlichen - der Klasse der Wahl - viel besser gefahren wäre. Ich gehorchte meinen Neigungen (...). Die Kinder aus bürger- oder bildungsbürgerlichen Schichten entschieden sich für Deutsch, während die Spanischklasse zum Sammelbecken für die schlechtesten Schüler aus den ärmsten Familien wurde, wobei diese beiden Merkmale natürlich statistisch miteinander korrelieren. Diese Wahl, die in Wirklichkeit gar keine war, zeichnete vor, wer auf mittlere Sicht aus dem Bildungssystem eliminiert werden oder in einem jener verrufenen Studiengänge landen würde, die im Zuge der bald einsetzenden »Demokratisierung« eingeführt wurden, diesem Ideal aber von vornherein Hohn sprachen. Von all diesen Zusammenhängen wusste ich damals natürlich nichts." (2016, S.169f.)

"Ich glaube zu wählen, wurde in Wahrheit aber (...) von dem eingeholt, was mir vorgezeichnet war. Das dämmerte mir, als mich ein um mein Fortkommen besorgter Französischlehrer darauf hinwies, meine Sprachwahl stelle einen Rückschritt dar, da ich meine kostbare Zeit nun mit den schlechtesten Schülern des Gymnasiums vertrödeln würde. Jedenfalls begriff ich sehr bald, dass ich es denjenigen gleichgetan hatte, die mir in sozialer Hinsicht ähnelten - nicht den Kameraden mit ähnlichen schulischen Leistungen. Man sieht, dass Kinder aus unterprivilegierten Schichten selbst dann stets in Gefahr sind, falsche Entscheidungen zu treffen, wenn sie sehr gute Leistungen bringen, und dass sie deshalb die besten Chancen haben, die elitären Bildungswege, für die man sich nicht nur schulisch, sondern auch sozial qualifizieren muss, zu verfehlen." (2016, S.170f.)

Im Rückblick und aus seiner heutigen Warte erscheinen ihm sein damaliges Wissen über das Universitätssystem und die Lage auf dem Arbeitsmarkt für Akademiker als unzureichend, wobei er dies seiner sozialen Herkunft zuschreibt:  

Rückkehr nach Reims

"Philosophiestudent zu sein machte mich auf naive Weise glücklich. Vorbereitungsklassen für die Grandes Écoles, hypokhâgnes und khâgnes, die verschiedenen Varianten der École normale supérieure - von all diesen Dingen hatte ich keine Ahnung. Dass es so etwas überhaupt gab, habe ich erst nach dem Abitur erfahren. Nicht nur der Zugang zu diesen Institutionen war den Sprösslingen der bürgerlichen Klassen vorbehalten (und ist es, in vielleicht noch schärferer Form, bis heute), Jugendliche aus der Arbeiterklasse wussten nicht einmal um deren Existenz." (2016, S.172)

"Mir war noch nicht ganz klar, dass ein Studium an einer geisteswissenschaftlichen Provinzfakultät nichts anderes - oder zumindest kaum mehr - als einen Abstiegsplatz bedeutete. Immerhin wusste ich, dass sich aus nur zwei Studienjahren kein beruflicher Nutzen ziehen ließ, denn schon für eine licence brauchte man drei und für eine maîtrise vier Jahre. Die Namen dieser Abschlüsse klangen magisch für mich. Was ich nicht wusste, war, dass der Prozess ihrer beinahe vollständigen Entwertung damals schon begonnen hatte. Wer aber wie ich Gymnasiallehrer werden wollte, musste sie absolvieren, um sich anschließend zum Staatsexamen anmelden zu können." (2016, S.175)

"Was mir wie die autonome Wahl einer bestimmten Form des Denkens vorkam, wurde in Wahrheit von meiner sozialer Position diktiert. Hätte ich in Paris studiert und wären mir die Orte, an denen neue Theorien erarbeitet und das neue Denken zelebriert wurde, nur ein bisschen vertrauter gewesen, ich hätte mich für Althusser, Foucault oder Derrida interessiert und Sartre womöglich nur müde belächelt. Wie ich später herausfand, schickte sich das im Pariser Milieu so." (2016, S.180)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein sozialer Aufstieg aus bildungsfernen Milieus in die obere Mittelschicht - wie sie ERIBON gelungen ist - nicht die Regel, sondern die Ausnahme ist. Wir leben nicht in einer Leistungsgesellschaft, weshalb der Elitenforscher Michael HARTMANN auch vom Mythos der Leistungselite spricht. Und was heute gerne übersehen wird: Ein Bildungsabschluss ist noch kein Garant für einen erfolgreichen sozialen Aufstieg aus bildungsfernen Milieus ins Akademikermilieu, sondern lediglich eine notwendige Voraussetzung. In der heutigen Zeit, in der zwar viele Menschen einen Hochschulabschluss besitzen, hält die Entwicklung der angemessenen Stellen auf dem Arbeitsmarkt nicht Schritt. Was bedeutet es also, wenn sich selbst viele gut qualifizierte Menschen in dieser Gesellschaft mit schlechtbezahlten Jobs begnügen müssen, während andere, schlechter qualifizierte Menschen, erst gar nicht im Arbeitsmarkt unterkommen? Dieser Aspekt steht im zweiten Teil im Mittelpunkt dieses Frühjahrsthema. 

 
     
 
       
   

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Update: 15. November 2018