|
Einführung
Im Jahr 2016 sind zwei
Bücher von sozialen Aufsteigern erschienen, die vom Feuilleton
beide im Zusammenhang mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus
diskutiert wurden, denen aber ein vollkommen gegenteiliges Echo
zuteil wurde. Das Buch Rückkehr nach Reims von Didier
ERIBON war in Frankreich bereits 2009 erschienen, aber erst
letztes Jahr ins Deutsche übersetzt worden. Es wurde zum
Bestseller, weil es scheinbar die Erfolge der EU-Gegner
(Stichwort Brexit) in Großbritannien, die hohe Zustimmung zum
Front National in Frankreich und den Sieg von Donald TRUMP in
den USA erklären konnte. ERIBON wurde von den Mainstreammedien
zum Intellektuellen in Sachen Rechtspopulismus erklärt.
Ganz
anders dagegen das Buch Proleten, Pöbel, Parasiten von
Christian BARON, das zwar ebenfalls mit dem Buch von ERIBON in
Verbindung gebracht wurde, aber in den Mainstreammedien entweder
ignoriert oder abgelehnt wurde - einzig die Tatsache, dass BARON
aus der deutschen Unterschicht aufgestiegen ist, wurde
hervorgehoben, weshalb ihm ein authentischer Blick zu eigen sei.
Hier soll deshalb zum einen auf die Einseitigkeit dieser Mainstreamrezeption und zum anderen auf die Gemeinsamkeiten und
Unterschiede der beiden Bücher eingegangen werden. Es soll
zugleich gefragt werden, was die beiden Bücher über den Zustand
unserer Gesellschaft aussagen.
Rückkehr
nach Reims - sozialer Aufstieg in Frankreich nach der 68er
Revolte
Didier ERIBON ist 1953 in
Reims geboren worden. Als das Buch 2009 erschien, war er bereits
56 Jahre alt und ein angesehener Pariser Intellektueller in
Frankreich. Das Buch stellt einen Wendepunkt seiner
intellektuellen Karriere in den Mittelpunkt, denn davor widmete sich ERIBON dem
Minoritätenproblem, insbesondere der Subkultur der französischen
Homosexuellen. In Rückkehr nach Reims stellt er nun die
Arbeiterklasse, speziell seine Herkunft und die seiner Familie
ins Zentrum der Betrachtung. Diese Seite seiner Identität hatte er
bislang verleugnet und seiner sozialen Umwelt weitgehend
verborgen. Es war für ihn einfacher ein Homosexueller zu sein
als ein Arbeiterkind, so jedenfalls der Tenor des Buches.
Bei solchen
Autobiographien muss immer mitgedacht werden, dass sie
Selbstdarstellungen sind und als solche die Wirklichkeit eines
Lebens nur sehr eingeschränkt wiedergeben. Als
Selbstrechtfertigungen versuchen Selbstdarstellungen alles
auszublenden, das nicht zur aktuellen Identität passt. Hier wird
deshalb nicht gefragt, inwiefern die Selbstdarstellung wahr ist,
sondern sie ist lediglich Ausgangspunkt zur Analyse typischer
biographischer Muster von sozialen Aufsteigern, wobei ihr
historischer, gesellschaftlicher und lebensgeschichtlicher
Kontext berücksichtigt werden muss.
Proleten
Pöbel Parasiten - sozialer Aufstieg im Deutschland des 21.
Jahrhunderts
Christian BARON wurde 1985
in Kaiserslautern geboren, ist also um die 30 Jahre alt und
steht damit erst am Anfang seiner beruflichen Karriere. Zum
Zeitpunkt seiner Arbeit am Buch ist er Theaterredakteur der
ostdeutschen Zeitung Neues Deutschland in Berlin. Im
Gegensatz zu ERIBON will BARON kein Professor werden, hat jedoch
aufgrund eines Stipendiums promoviert, während ERIBON in diesem
Alter eine Promotion verwehrt blieb und er deshalb auch beim
Journalismus landete, zuerst bei der linken Tageszeitung
Libération und danach beim Magazin Nouvel Oberservateur.
Die Rolle der beiden Presseorgane sieht ERIBON kritisch, weil
sie eine tragende Rolle bei der neokonservativen Wende im
Frankreich der 1980er Jahre spielten. Dagegen war das Neue
Deutschland für BARON sein Wunscharbeitgeber, wenngleich er
nur einen Zeitarbeitsvertrag hat und ihm dies Sorgen bereitet.
Die
soziale Herkunft aus der Arbeiterklasse als Gemeinsamkeit
Während bei Didier ERIBON
die Familiengeschichte eine tragende Rolle im Buch spielt,
bleibt sie bei BARON peripher. Das Buch von ERIBON entstand nach
dem Tod des Vaters, der ein Anlass war, das Buch zu schreiben.
Auch der Vater von BARON ist gestorben, aber bereits 2003 kurz
vor dessen Abitur. Nach dem Tod seiner Mutter, die mit Anfang 30
gestorben ist, wuchs er mit seinem 3 Geschwistern (2 Schwestern
und einem Bruder) bei einer Tante auf. ERIBONs Mutter lebte noch
und war eine wichtige Auskunftsperson für seine Rekonstruktion
der Familiengeschichte. Erst nach dem Tod des Vaters wird es ihm
möglich die Flucht aus seiner Familie mit anderen Augen zu
sehen: Nicht mehr die Homophobie des Vaters steht im Mittelpunkt
seines Interesses, sondern die Frage, inwieweit nicht die
soziale Herkunft genauso entscheidend für seine biographische
Entwicklung war.
Rückkehr nach Reims
"Meine
gesamte theoretische Arbeit, sicher auch
motiviert von dem Bestreben, mich selbst, meine
Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen, hatte
sich auf die allem Anschein nach unabweisbare
Annahme gegründet, dass der totale Bruch mit
meiner Familie wegen meiner Homosexualität
erfolgt sei, wegen der eingefleischten
Homophobie meines Vaters und des Milieus, in dem
ich groß geworden bin. Aber war es nicht genau
diese Annahme, die mich (...) dem Gedanken
ausweichen ließ, dass ich ebenso sehr mit meinem
Milieu als sozialer Klasse gebrochen hatte?"
(2016, S.22) |
ERIBON beschreibt deshalb
akribisch jene Bedingungen, die dazu geführt haben, dass sein
Vater wurde, was er war. Und entscheidender noch: dass er selber
und auch sein Vater eingebunden gewesen sind in ein Milieu, das
den Spielraum für Entscheidungen prägt:
Rückkehr nach Reims
"Mein Vater
war (...) ein Arbeiter der niedrigsten
Kategorie. Drei Monate vor seinem vierzehnten
Geburtstag, gleich bei Schulende im Juni, hatte
er an dem Ort zu arbeiten begonnen, der die
Kulisse und den einzigen Möglichkeitshorizont
seines Lebens darstellen sollte: die Fabrik.
(...). Mein Vater hatte sich dem, was von Geburt
an durch die Gesetze und Mechanismen der
»sozialen Reproduktion« für ihn vorgesehen war, nicht
entziehen können. (...). In seinem Milieu ging
man bis vierzehn zur Schule, weil es Pflicht
war, und dann nicht mehr, weil es keine Pflicht
war. (...). Die schulische Selektion basiert oft
auf Selbstexklusion und Selbsteliminierung, die
Betroffenen reklamieren ihren Ausschluss als
Resultat ihrer eigenen Wahlfreiheit. (...). Die
Position innerhalb des Klassengefüges hat sehr
großen Einfluss darauf, welche Wege als
erstrebenswert wahrgenommen werden, von der
Einschätzung ihrer Realisierbarkeit ganz zu
schweigen. Als ob es zwischen den sozialen
Welten gläserne Wände gäbe, die bestimmen, was
man im Inneren einer jeden Welt für
wünschenswert oder machbar hält, was man werden
wollen soll und wollen kann und was nicht.
(...). Um der Logik der Selbstverständlichkeiten
zu entkommen und die ungerechte
Chancenverteilung zu erkennen, muss man, wie ich
es getan habe, die Demarkationslinie
überschreiten und von einem Lager ins andere
wechseln. Daran hat sich seit meiner Jugend
wenig geändert. Die schulische Selektion mag
sich heute zeitlich verschoben haben, in ihrer
sozialen Struktur ist sie konstant." (2016, S.43ff.) |
Eine solche Sicht
widerspricht der in den 1980er Jahren populär gewordenen
neoliberalen Vorstellung, dass jeder seines Glückes Schmieds sei
und die in Deutschland ihren soziologischen Ausdruck in der
Individualisierungstheorie à la Ulrich BECK fand. Die starren
Regeln des französischen Schulsystems zur Schulzeit seiner
Eltern beschreibt ERIBBON folgendermaßen:
Rückkehr nach Reims
"Von Geburt
an tragen wir die Geschichte unserer Familie und
unseres Milieus in uns, sind festgelegt durch
den Platz, den sie uns zuweisen. Mein Vater
konnte den Volksschulabschluss - das höchste der
Gefühle für Arbeiterkinder - noch nicht einmal
versuchen. Bauern- und Arbeiterkinder schickte
man damals bis zum Alter von vierzehn Jahren,
nie länger, in die Volksschule, ganz im
Gegensatz zu Bürgerkindern, die mit elf aufs
Gymnasium kamen. (...). Obwohl es nur nützliche
Grundfertigkeiten bescheinigte (...), war das
certificat d'études primaires, der
Volksschulabschluss, alles andere als
selbstverständlich. Sein Erreichen machte die
Schüler stolz. Nur die Hälfte aller Prüflinge
kam durch, viele versuchten es aber erst gar
nicht". (2016, S.46) |
ERIBONs Vater wurde 1929
geboren und verließ mit 14 Jahren - also während des Zweiten
Weltkriegs - die Schule, um in der Fabrik zu arbeiten. Von
Demokratisierung der Bildung oder Bildungsexpansion konnte
damals noch keine Rede sein, dennoch sieht ERIBON keinen
qualitativen Unterschied zu heutzutage. Die gesellschaftliche
Position des Vaters als Hilfsarbeiter, ist dem Sohn als sozialem
Aufsteiger peinlich und auch den betrieblichen Aufstieg des
Vaters zum Vorarbeiter kann er damals nicht angemessen würdigen:
Rückkehr nach Reims
"Erst viele
Jahre später konnte mein Vater einen gewissen
sozialen Aufstieg erreichen. Wenn nicht in der
gesellschaftlichen, so doch in der betrieblichen
Hierarchie: Er war zum Vorarbeiter geworden,
nachdem er es schon Jahre zuvor vom
Hilfsarbeiter zum
»Angelernten« gebracht hatte." (2016, S.48)
"Ich, der ich
noch lange danach vor Scham erröten sollte, wenn
ich für irgendeinen offiziellen Vorgang meine
Geburtsurkunde vorlegen musste, auf der die
Berufe meiner Eltern vermerkt waren
(Hilfsarbeiter und Putzfrau), verstand die
kolossale Bedeutung nicht, die schon der
geringste Statuszugewinn für meine Eltern
hatte." (2016, S.49)
|
Im Gegensatz zum Vater
schreibt ERIBON der Mutter einen Aufstiegswillen zu, der jedoch
durch die historischen Umstände immer wieder gebrochen wird:
Rückkehr nach Reims
"»Ich wäre
gerne Grundschullehrerin geworden«, sagt sie
heute,
»als Mädchen konnte man das damals nach der Schule machen.«
Ihre Ziele waren bescheiden gewählt und griffen
doch zu hoch. Als sie, ziemlich unerhört für ihr
Milieu, aufs Gymnasium kommen sollte - sie war
eine ausgezeichnete Schülerin und durfte sogar
das letzte Grundschuljahr überspringen -, musste
ihre Familie schlagartig die Stadt verlassen.
Die Bevölkerung wurde zur Flucht vor den
Deutschen aufgerufen. (...). Nach dem
Waffenstillstand im Juni 1940 kehrten alle
evakuierten Familien wieder nach Hause zurück.
(...). Ans Gymnasium war für meine Mutter nicht
mehr zu denken. Sie bestand den
Volksschulabschluss, worauf sie bis heute sehr
stolz ist, und kam gleich darauf als Hausmädchen
»in Anstellung«." (2016, S.59)
|
ERIBON tritt in gewisser
Weise in die Fußstapfen seiner Mutter, wobei ihm die
Zeitumstände gewogener sind. Die Mutter fördert ihn, ist jedoch
auch enttäuscht darüber, dass er andere Vorstellungen von seinem
Berufsleben hat:
Rückkehr nach Reims
"Meiner
Mutter habe ich es (...) zu verdanken, dass ich
aufs Gymnasium gehen und dann studieren konnte.
(...). Ihre enttäuschten Träume konnten sich
durch mich verwirklichen. Diese Art der
Kompensation rührte aber auch an kaum verheilte
Wunden und brachte in ihr eine alte, aufgestaute
Bitterkeit hervor." (2016, S.75)
"Meiner
Mutter lag viel zu viel daran, dass ich Abitur
machte. Als Student widersprach ich ihren
Vorstellungen noch viel mehr. Philosophie als
Studienfach muss ihr wie eine Spinnerei
vorgekommen sein. (...). Englisch oder Spanisch
hätte sie sich vorstellen können. (Medizin oder
Jura lagen jenseits ihres und allerdings auch
meines Horizonts.) Fremdsprachen schienen der
vielleicht direkteste Weg zu einer sicheren
Zukunft, etwa als Gymnasiallehrer." (2016, S.83) |
Die Schullaufbahn bestimmt
jedoch nicht nur den beruflichen Werdegang, sondern auch die
Partnerwahl. Gescheiterte Bildungsanstrengungen führen dadurch
auch zu einer Einschränkung der Heiratskandidatenauswahl:
Rückkehr nach Reims
"Meine Mutter
hat (...) weder studiert noch eine Ausbildung
gemacht. Sie leidet bis heute darunter. (...).
Sie hat immer gewusst, dass sie intelligent
genug gewesen wäre. Auch deshalb gelang es ihr
nicht, mit dieser Ungerechtigkeit ihren Frieden
zu machen. Eine der unmittelbarsten Folgen ihres
Schicksals bestand darin, dass sie erst gar
nicht darauf hoffen konnte, jemand
»Besseren« als meinen Vater abzubekommen. Die Gesetze der
sozialen Endogamie sind so starr wie die der
schulischen Reproduktion. Und beide, das wusste
meine Mutter sehr gut, hängen eng miteinander
zusammen. Bis heute glaubt sie, dass sie eine
»gebildete Frau« hätte werden und
»einen klügeren Mann« hätte finden können. Aber so war sie
nun mal eine Putzfrau, die einen Arbeiter
kennenlernte, der selbst keine guten
Bildungschancen hatte und außerdem nicht gerade
aufgeschlossen war."
(2016, S.73) |
Eine solche Sicht
widerspricht der Vorstellung romantischer Liebe wie sie im
Lichte der Individualisierungstheorie als vorherrschendes
Leitbild der modernen Partnerschaft gezeichnet wurde. Erst
neuerdings wird in Deutschland wieder die Vernunftehe als Ideal
beschworen. Im Zeichen der Demografisierung gesellschaftlicher
Probleme und der neuen Bürgerlichkeit werden die alten Werte der
Klassengesellschaft wieder offensiv propagiert, während sie in
der alten BRD scheinbar immer weniger gegolten hatten.
Bei BARON haben die
eigenen Eltern durch ihren frühen Tod eine geringere Bedeutung
für seine schulische und berufliche Entwicklung. Bei ihm spielt
die Tante, bei der er aufwuchs, und das institutionelle Umfeld
von Schule und Jugendamt eine entscheidende Rolle.
Proleten
Pöbel Parasiten
"Nach dem Tod
meiner Mutter wandte sich mein Vater von uns ab.
Er versank im Drogensumpf und starb kurz vor
meinem Abitur. (...). Weil er sich acht Jahre
zuvor nicht für uns interessiert hatte, kamen
meine drei Geschwister und ich bei unserer
Lieblingstante Karin unter. Wir konnten aus der
verschimmelten und viel zu kleinen Wohnung
ausziehen und hatten mehr Platz. Zwar sind wir
auch bei meiner Tante in bescheidenen und
»bildungsfernen« Verhältnissen erwachsen
geworden, aber immerhin ohne häusliche Gewalt
und ohne Alkoholmissbrauch. (...).
Wäre mir durch den frühen Tod meiner Mutter
nicht eine besondere Aufmerksamkeit durch das
Jugendamt und durch sehr gute
Grundschullehrerinnen zuteil geworden, ich hätte
es wahrscheinlich nur zum Hilfsarbeiter gebracht
wie mein Vater." (2016, S.13f.)
"Je mehr ich
mich mit meinem Bildungsaufstieg
auseinandersetze, umso klarer erscheint mir:
Wären mir nicht derart einfühlsame und ihr
Handwerk beherrschende Grundschullehrerinnen
vergönnt gewesen, mir wäre keine Eignung für das
Gymnasium attestiert worden. Für meinen Bruder
hatten sie eine Realschule als angemessen
betrachtet, mich wollten sie unbedingt in der
höchsten Schulform sehen. Aufgrund meiner
sozialen Herkunft aber wollte mich kein
Gymnasium. An dieser Stelle schritten wieder
meine Grundschullehrerinnen ein: Sie setzten
sich dafür ein, dass mein Bruder und ich eine
Integrierte Gesamtschule mit gymnasialer
Oberstufe besuchen konnten. Der Weg zum
Bildungserfolg war geebnet - zumindest für
mich." (2016, S.44) |
Man kann also
zusammenfassen, dass ein sozialer Aufstieg ohne eine Förderung
durch das soziale Umfeld in bildungsfernen Milieus unmöglich
ist. Das ist jedoch nur eine notwendige, aber keine hinreichende
Bedingung, denn weder die Geschwister von ERIBON noch die
Geschwister von BARON schafften einen gesellschaftlichen
Aufstieg.
Wer als
Bildungsaufsteiger zur Elite gehören will, der muss seine
soziale Herkunft verraten
Während ERIBON als
erfolgreicher Buchautor und Professor zur Pariser
Intellektuellenszene gehört und damit Teil des französischen
Establishments ist, gehört BARON als Redakteur einer
ostdeutschen Zeitung (noch?) nicht zu den meinungsbildenden
Eliten in Deutschland. ERIBON würde sagen, dass er seine
Möglichkeiten nicht ausgeschöpft hat und sich mit weniger
zufrieden gibt als ihm zustände. Statt nach der Promotion eine
wissenschaftliche Karriere anzustreben, gibt er sich mit seiner
Journalistentätigkeit zufrieden - zumindest klingt das im Buch
so an (vgl. 2016, S.65; S.218ff.;
auf seiner Homepage gibt er jedoch an, dass seine Promotion
noch nicht beendet ist. Möglicherweise strebt er also doch noch
eine Universitätskarriere an.). Der entscheidende Unterschied:
Während ERIBON sein eigenes Milieu verrät, bleibt ihm
BARON immer noch stärker verhaftet. ERIBON beschreibt sich als
Klassenflüchtling, der sich seiner sozialen Herkunft schämt,
während er seine Homosexualität auslebt. Im damals herrschenden
Zeitgeist war es für ERIBON einfacher eine berufliche Karriere
als Schwuler zu machen als eine Herkunft aus der Arbeiterschicht
offensiv zu vertreten:
Rückkehr nach Reims
"»Warum
bin ich, der ich so große soziale Scham empfunden habe,
Herkunftsscham, wenn ich in Paris Leute aus ganz anderen
sozialen Milieus kennenlernte und sie über meine
Klassenherkunft entweder belog oder mich zu dieser nur in
größter Verlegenheit bekannte, warum also bin ich nie auf
die Idee gekommen, dieses Problem in einem Buch oder
Aufsatz anzugehen?« Sagen wir es so: Es war mir leichter
gefallen, über sexuelle Scham zu schreiben als über
soziale." (2016, S.19)
"Neben der
typischen Entwicklung eines jungen Schwulen
(...) verfolgte ich auch eine andere, soziale
Entwicklung, den Weg eines
»Aufsteigers«, den man auch als
»sozialen Überläufer« bezeichnen kann. Denn ich war
gewissermaßen klassenflüchtig, auf mehr oder
weniger bewusste Weise mehr oder weniger
permanent darauf bedacht, meine soziale Herkunft
abzustreifen, sie von mir fernzuhalten und dem
Milieu meiner Kindheit zu entfliehen." (2016, S.23) |
Je höher ein Arbeiterkind
in der Gesellschaft aufsteigen will, desto mehr muss es die
Werte der besseren Kreise übernehmen und seine soziale Herkunft
hinter sich lassen. ERIBON beschreibt diese Abgrenzung
ausführlicher als BARON. Der Spagat beide Welten miteinander zu
verbinden, scheitert irgendwann und dann gilt es sich definitiv
zu entscheiden.
Bildungsaufsteiger sind in ihrem
Herkunftsmilieu Außenseiter bevor ihre aktive Abgrenzung beginnt
Was in beiden Büchern zu
kurz kommt: In gewisser Weise sind soziale Aufsteiger schon vor
ihrer aktiven Abgrenzung gegenüber ihrem eigenen Milieu, Außenseiter in
ihrem Herkunftsmilieu. Sie
sind anders als ihr soziales Umfeld und statt ihr Anderssein zu
verbergen, kultivieren sie es. Diesen Aspekt verleugnen oder
verdrängen sowohl ERIBON als auch BARON. ERIBON spricht sogar
von einem Wunder, dass ausgerechnet er es geschafft hat. Nur in
Andeutungen wird das anfängliche Anderssein sichtbar:
Rückkehr nach Reims
"Mein Vater
war ein Heimwerker (...). Er blühte dabei auf
und steckte fast seine gesamte Freizeit hinein.
(...). Ich wusste mit meinen zehn Fingern nichts
anzufangen. In diese gewollte Unfähigkeit
(natürlich hätte ich etwas von ihm lernen
können) investierte ich mein ganzes Verlangen,
anders als er zu sein, das gesellschaftliche
Gegenteil von ihm zu werden." (2016, S.50)
Proleten
Pöbel Parasiten
"Auf die
Lebensleistung meines Opas, meiner Mutter und
meiner Tante bin ich stolz; mein Wandeln
zwischen den Welten aber ist eben oft genug
frustrierend. In meiner Familie hat nie jemand
einen Beruf oder Job jenseits des Handwerks
ausgeübt. Da ich mich schon als Grundschüler
mehr fürs Schreiben als fürs Schrauben
interessiert habe, wurden mir elternlicherseits
niemals dezidiert handwerkliche Tätigkeiten
aufgetragen.
Stets durfte mein Bruder Stefan beim Aufbauen
von Regalen oder Betten tatkräftig helfen,
derweil mir
»zwei linke Hände« attestiert wurden und ich,
zum Handlanger degradiert, vor mich hin
schmollte." (2016, S.108f.) |
Allein schon diese beiden
Beschreibungen der unzulänglichen handwerklichen Fähigkeiten
zeigt, dass ERIBONs Abgrenzung viel entschiedener ist als
diejenige von BARON. Während BARON noch den Ärger darüber
ausdrückt, dass seine handwerklichen Fähigkeiten für sein Milieu
nicht ausreichen, um Anerkennung zu erlangen, stellt ERIBON
heraus, dass er auf die Anerkennung im eigenen Milieu keinerlei
Wert legt. ERIBON ist stolz auf seine "gewollte Unfähigkeit",
während BARON sich als schmollendes Kind darstellt. Im
Anerkennungswettbewerb mit seinem Bruder um die Gunst des Vaters
ist er der Unterlegene. ERIBON geht auf diesen Aspekt gar nicht
ein. Vergleiche mit seinem Bruder beziehen sich bei ihm allein
auf dessen Einbindung ins Herkunftsmilieu. Der Bruder dient ERIBON nur zur Verdeutlichung seiner eigenen Herauslösung:
Rückkehr nach Reims
"Mit fünfzehn
oder sechzehn wollte er nur mit seinen Kumpels
um die Häuser ziehen, Fußball spielen, Mädels
aufreißen und Johnny Hallyday hören, während ich
lieber zu Hause blieb, um zu lesen, die Rolling
Stones oder Françoise Hardy zu hören (...). Mein
Bruder pflegte weiterhin das Ethos der Arbeiter,
seine Umgangsformen und seine Körperhaltung
unterstrichen die Zugehörigkeit zu der sozialen
Welt, aus der wir stammten. Ich hingegen machte
mir ein Gymnasiasten-Ethos zu eigen, das genauso
klischeemäßig war und mit dem ich mich von
meiner Familie abgrenzen wollte (...). Auch
unsere Einstellung zur Politik trennte uns".
(2016, S.100)
"Wir wohnten
noch immer unter einem Dach, jetzt in einer
Sozialbausiedlung am Stadtrand, in die wir 1967
gezogen waren. Unsere Zimmer waren nur durch
einen schmalen Gang getrennt (weil ich
Gymnasiast war und immerzu
»lernen« musste, durfte ich mein eigenes haben, während er
seines mit einem unserer jüngeren Brüder teilte
und der Kleinste bei den Eltern schlief) (...).
Mein Bruder machte seinen Wehrdienst, heiratete
unmittelbar danach (...) und sie bekamen sofort
zwei Kinder. Ich schrieb mich mit achtzehn an
der Universität ein, zog mit zwanzig (also kurz
nach ihm) von zu Hause aus, um alleine und
selbstbestimmt zu leben, und hoffte nichts
sehnlicher, als der Armee zu entgehen. (Was mir
schließlich einige Jahre später auch endgültig
gelang"). (2016, S.101) |
ERIBON hatte 3 Brüder,
einen zwei Jahre Älteren, und zwei wesentlich Jüngere. Die
Abgrenzung erfolgt gegenüber dem älteren Bruder. BARON ist mit
zwei Brüdern aufgewachsen, über deren Alter der Leser nichts
erfährt. Auch sonst erfahren wir bei ihm kaum etwas über deren
Lebensweg.
Die frühe Bekanntschaft mit
Gleichaltrigen aus den besseren Kreisen und Alltagserfahrungen
mit Klassenunterschieden können die Aufstiegsmotivation fördern
In seinem Habitus ist BARON sehr viel stärker dem
Herkunftsmilieu verhaftet, weil er in seiner Jugendzeit im
Gegensatz zu ERIBON keine gleichaltrigen Vorbilder aus den
besseren Kreisen hatte:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Weil ich in meiner Jugend kaum Kontakt zu
Gymnasiasten und Akademikerkindern hatte, blieb ich bei Classic
Rock, Pop und Hip-Hop stehen, ohne alternative
Musikrichtungen kennengelernt zu haben.
Das rächt sich jetzt: Ich habe keine Ahnung von
den Bands über die meine Kollegen häufig sprechen und versuche
dann, die Unterhaltung unbeholfen auf Fußball umzulenken."
(2016, S.223)
Rückkehr nach Reims
"Er hatte
einen klangvollen Vornamen, ich einen banalen.
Schon darin symbolisierte sich unser
gesellschaftlicher Abstand. Er wohnte mit seiner
Familie in einem großen Haus in einem
wohlhabenden Viertel im Zentrum. Besuche bei ihm
waren eine beeindruckende, einschüchternde
Erfahrung für mich. Um jeden Preis wollte ich
vermeiden, dass er herausbekam, in welcher
»Siedlung« am Stadtrand ich wohnte. (...). Eines Tages
stand er aber unangemeldet vor unserer Haustür.
Er hatte einfach wissen wollen, wie und wo ich
wohnte. Trotz der Freundlichkeit, die in seiner
Geste lag, und obwohl er mir zu bedeuten schien,
dass ich mich für gar nichts schämen brauchte,
fühlte ich mich gedemütigt. (...).
Er war natürlich ein ausgezeichneter Schüler und
ließ keine Gelegenheit aus, um sich während des
Unterrichts mit seinem Spezialwissen zu
profilieren. Ohne seine Mittel zu besitzen,
begann ich, dasselbe Spiel zu spielen. Ich
lernte, die anderen zu täuschen. Ich simulierte
ein Wissen, das ich gar nicht hatte. Wahrheit,
was war das schon? Was zählte, war allein die
Erscheinung, das für mich selbst und die anderen
konstruierte Bild. Ich ging sogar so weit, seine
Schreibweise (die Art, wie er die Buchstaben
formte) zu imitieren."
(2016, S.164f.) |
ERIBON beschreibt seine frühen Erfahrungen mit
Klassenunterschieden folgendermaßen:
Rückkehr nach Reims
"Ich habe die
Zugehörigkeit zu einer Klasse immer gespürt. Was nicht
dasselbe ist, wie einer selbstbewussten Klasse
anzugehören. Man kann sich über seine Zugehörigkeit zu
einer Klasse bewusst sein, ohne dass sich diese Klasse
ihrer selbst als Klasse oder als »klar definierte Gruppe«
bewusst ist. Im Alltagsleben macht sich die
Gruppenzugehörigkeit trotzdem bemerkbar. Etwa wenn meine
Mutter meinen Bruder und mich an schulfreien Tagen zum
Putzen mitnahm (...). Welche Abscheu ich noch heute vor
diesem Tonfall und dieser Welt habe, in der die
Herablassung aus jedem Atemzug spricht. Wie sehr sie mich
gelehrt haben, Macht und Hierarchien zu hassen." (2016, S.93)
"Als ich aufs
städtische Gymnasium wechselte, brachte mich
dies in unmittelbaren Kontakt mit Bürgerkindern
(Bürgersöhnen vor allem, gemischte Klassen waren
damals noch die Ausnahme). Ihre Art zu sprechen,
ihr Wissen, ihre Kleidung, vor allem aber der
Umstand, dass die anderen Jungen mit der
legitimen Kultur vertraut waren, erinnerte mich
permanent daran, dass ich hier eine Art
»Eindringling« war, jemand, der sich nicht an dem für ihn
vorgesehen Platz befand." (2016, S.160) |
Die frühe Erfahrung mit Demütigungen und dem Selbstbewusstsein
der besseren Kreise kann Ansporn sein, das eigene Milieu hinter
sich zu lassen. Es kann jedoch auch demotivieren oder zu
Unsicherheiten führen. Während letzteres in beiden Büchern
zumindest anklingt, wird der Aspekt der Demotivation ausgespart.
Mehr darüber könnte man von jenen erfahren, die bei ihrem
sozialen Aufstieg gescheitert sind.
Klassenflucht und Engagement für die einfachen Leute als zwei
mögliche Wege sozialer Aufsteiger
Bei
BARON finden sich keine prägenden Erlebnisse mit den besseren
Kreisen wie bei ERIBON, stattdessen wird der Versuch beschrieben die
verschiedenen Welten miteinander zu vereinbaren:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Ich erinnere
mich, dass eine Schwester meiner Tante Karin, zu der ich nur
sporadisch Kontakt hatte, mich und meinen Bruder hochkulturell
fördern wollte. Sie hat einen Akademiker geheiratet und ist
dadurch zu Wohlstand gelangt. Nach dem Tod meiner Mutter nahm
sie mich und meinen Bruder zu Lesungen,
Kindertheaterinszenierungen, Kunstausstellungen und
philharmonischen Konzerten mit.
Keiner dieser Abende verging, ohne dass ich mich
vor dem Einschlafen mit meinem Bruder über das
Gehabe der Leute lustig machte. In dem Habitus
der Bescheidwisser (...) erkannten wir schon
damals intuitiv die Zurschaustellung eines
Überlegenheitsgefühls. Offenbar suchte ich in meiner Jugend nach
Wegen, den sozialen Aufstieg ohne einen Verrat an meinem
Herkunftsmilieu zu schaffen. Im Sportjournalismus sah ich wohl
den passenden Kompromiss. Sämtliche Männer in meiner
Verwandtschaft interessierten sich brennend für Fußball,
Handball und Olympia. Würde ich es schaffen, Sportreporter zu
werden, so schwante mir, dann wären mir Respekt und Verständnis
durch meine Familie ebenso sicher wie Anerkennung und Akzeptanz
in Akademikermilieus."
(2016, S.263f.) |
Dieses stärkere Verhaftetsein von BARON in
seinem Herkunftsmilieu führt dazu, dass er sich für die Kultur
der "einfachen Leute" einsetzt, während ERIBON eine gewisse
Aversion gegen sein Herkunftsmilieu entwickelt, was insbesondere
durch seine Homosexualität bedingt ist:
Rückkehr nach Reims
"Die
Arbeiterkultur und
»Armutskultur«, die mich belastete und von der ich
fürchtete, sie könne auch nach meiner
überstürzten Flucht an mir haften. Ich musste
den Teufel austreiben, der sich in mir
eingenistet hatte, dafür sorgen, dass er meinen
Körper verließ. Oder ihn unsichtbar machen,
damit niemand seine Gegenwart spürte. Dies
sollte sich für Jahre als eine Aufgaben
erweisen, mit der ich in jedem einzelnen Moment
meines Lebens beschäftigt war." (2016, S.105)
"Meine sexuelle Identität nahm ich trotz aller
Beschimpfungen an und bekannte mich zu ihr, von
meiner sozialen Herkunft und der durch diese
bedingten Identität riss ich mich los. Man
könnte sagen, dass ich in dem einen Bereich zu
dem wurde, der ich bin, im anderen jedoch
denjenigen zurückwies, der ich hätte sein
sollen.
Ich wurde von zwei sozialen Verdikten
gebrandmarkt, einem sozialen und einem
sexuellen. Solchen Urteilen entkommt man nicht.
Diese beiden Einschreibungen trage ich in mir.
Als sie in einem bestimmten Moment meines Lebens
miteinander in Konflikt traten, musste ich, um
mich selbst zu formen, die eine gegen die andere
ausspielen." (2016, S.219)
|
Während BARON, der im Verein Fußball spielte und für
ein Lokalblatt in seiner Jugend als Sportreporter tätig war, der
Meinung ist, dass der Fußball ein klassenübergreifendes Phänomen
ist, entdeckt ERIBON, dass seine Abgrenzungsbemühungen überzogen
waren:
Rückkehr nach Reims
"Was ich so
lange als fundamentale, klassenbedingte
Opposition wahrgenommen hatte (Bücher vs.
manuelle Arbeit), war bestenfalls für mich
selbst und meine eigene Geschichte konstitutiv
gewesen. Ähnlich erging es mir beim Sport. Ich
konnte kaum glauben, dass manche meiner Freunde
sich leidenschaftlich Sport im Fernsehen
ansahen. Es widersprach Überzeugungen, die sich
mir mit aller Gewalt eingeprägt hatten. Die
Abscheu vor genau solchen Fernsehabenden war für
mich ein Meilenstein auf dem Weg zum
Intellektuellen gewesen." (2016, S.50) |
BARON musste dagegen
feststellen, dass Fußball zwar sowohl im Arbeiter- als auch in
der Akademikermilieu kulturell etabliert ist. Inzwischen
schreiben hierzulande selbst altgediente Linksintellektuelle wie
Klaus THEWELEIT Fußballbücher. Doch die Kluft ist dadurch eher
größer geworden zwischen den beiden Kulturen. BARON bemüht sich
in seinem Buch um die Anerkennung der Fußballkultur der
einfachen Leute. Die Rezension von Frédéric VALIN und das
Kapital 8 von BARONs Buch zeigen jedoch, dass sich Fußball
hierzulande zum linken Kulturkampfthema eignet.
"Unterwerfung war
meine Rettung"
ERIBON beschreibt ausführlich
wie sein Klassenhabitus ein Hindernis für seinen
Bildungsaufstieg war, was er pointiert zum Ausdruck bringt:
"Widerstand
hätte meine Niederlage bedeutet, Unterwerfung
war meine Rettung." (2016, S.161). Auch BARON -
von ERIBONs Buch inspiriert -, spricht in diesem Zusammenhang
von Unterwerfung:
Rückkehr nach Reims
"Wie schwer
mir meine ersten Jahre auf dem Gymnasium
gefallen sind. Ich war zwar ein ausgezeichneter
Schüler, stand aber stets kurz davor, mich der
schulischen Situation komplett zu verweigern.
Wären meine Klassenkameraden nicht aus dem
Bürger- und Kleinbürgertum gekommen, sondern aus
meinem eigenen sozialen Milieu, ich hätte mich
wahrscheinlich von der Dynamik der Selbstexklusion mitreißen lassen." (2016, S.151)
Proleten
Pöbel Parasiten
"Warum bin
ich (...)
»durchgekommen»,
meine Geschwister aber nicht? Neben der
Unterstützung durch wichtige Mentoren, so
vermute ich, war es mein sportlicher Ehrgeiz:
Hätte ich mich nicht immer wieder schnell
habituell der neuen Situation angepasst, ich
hätte Niederlagen erlitten. Und mit Niederlagen
konnte ich schon als jähzorniges Kleinkind nicht
gut umgehen. Unterwerfung war meine Rettung: In
der Akzeptanz bürgerlicher Regeln und in einem
starken Interesse für Hochkultur sah ich
Erfolgsstrategien, ja veritable Pfade zum
sozialen Sieg. Es ist keine schöne Wahrheit:
Nur, weil ich meine soziale Herkunft zu einem
großen Teil verleugnet habe, konnte ich zu dem
werden, der ich heute bin." (2016, S.264)
|
ERIBON und BARON beschreiben eindringlich die
Facetten ihrer Wandlung bzw.
Selbst- bzw. Umerziehung. Die folgenden Passagen zeigen
ungeschminkt, welcher Preis zu zahlen ist:
Rückkehr nach Reims
"Interesse an
Kunst ist eine Frage der Bildung. Ich musste es
erst erlernen. Das war ein Teil der nahezu
vollständigen Umerziehung, die ich absolvieren
musste, um in eine andere Welt, in eine andere
soziale Klasse eintreten zu können und meine
alte, angestammte hinter mir zu lassen.
Interesse für Kunst oder Literatur hat stets
(...) auch damit zu tun, dass man das Selbst
aufwertet, indem man sich von jenen abgrenzt,
die keinen Zugang zu solchen Dingen haben; es
handelt sich um eine
»Distinktion«, einen Unterschied (...) und zwar immer im
Vergleich zu den anderen - den
»bildungsfernen« oder
»unteren« Schichten etwa. (...). Dieses
Überlegenheitsgefühl (...) hat mich seit je
eingeschüchtert, und doch tat ich alles dafür,
so zu werden wie diese Leute, in kulturellen
Kontexten dieselbe Lockerheit an den Tag zu
legen und den Eindruck zu vermitteln, ich sei
ebenfalls so geboren worden.
Auch das Sprechen musste ich von Grund auf neu
lernen: fehlerhafte Aussprachen oder Wendungen
korrigieren, Regionalismen verlernen (...), den
Zungenschlag sowohl des Nordostens als auch der
Arbeiterschicht ablegen, mir ein feineres
Vokabular und präzisere grammatikalische
Konstruktionen angewöhnen - kurz: Ich musste
meine Sprache und meine Ausdrucksweise permanent
überwachen. (...). Es handelt sich nicht um
Zweisprachigkeit im engeren Sinn, aber doch um
ein Spiel mit den sprachlichen Ebenen, um
milieu- und situationsspezifische Register."
(2016, S.98f.)
"Ich
entscheid mich (...) für Bildung und
»Kultur« und gegen den Männlichkeitskult der unteren
Schichten. (...). Es war eine regelrechte Askese
für mich, eine Selbst- oder besser gesagt,
Umerziehung, die sich auch dadurch vollzog, dass
ich das verlernte, was ich ursprünglich gewesen
war. Dinge, die für andere selbstverständlich
waren, musste ich mir im Kontakt mit einem
bestimmten Umgang mit Sprache, Zeit und auch mit
anderen Menschen Tag für Tag, Monat für Monat
erarbeiten. All das veränderte meine gesamte
Persönlichkeit und meinen Habitus von Grund auf,
und ich entfernte mich immer weiter von jenem
familiären Milieu, in das ich doch jeden Abend
zurückkehrte. Der Selbstbezug, den die
Lernkultur erfordert, erwies sich als
unvereinbar mit dem, was bei uns zu Hause üblich
war. Meine erfolgreiche Integration in den
Schulbetrieb hatte zur Bedingung, dass ich in
eine Art Exil ging, dass ein immer deutlich
werdender Bruch entstand, der mich nach und nach
immer weiter von der Welt entfernte, aus der ich
kam und in der ich nach wie vor lebte.(...).
Wenn ich mich nicht selbst vom Schulsystem
ausgrenzen wollte - beziehungsweise wenn ich
nicht ausgegrenzt werden wollte -, musste ich
mich aus meiner eigenen Familie, aus meinem
eigenen Universum ausgrenzen. Diese beiden
Sphären zusammenzuhalten, zu beiden Welten
gleichzeitig zu gehören, war praktisch
unmöglich. Über mehrere Jahre hinweg musste ich
immer wieder vom einen Register ins andere
wechseln, vom einen Universum ins andere. Und
diese Zerrissenheit zwischen meinen beiden
Persönlichkeiten, zwischen diesen beiden Rollen
und sozialen Identitäten, die immer weniger
miteinander gemein hatten und die mir immer
unvereinbarer erschienen, brachte in mir eine
Spannung hervor, die mir immer unerträglicher
wurde und die mich, so viel ist sicher, extrem
verunsicherte." (2016, S.158f.)
Proleten
Pöbel Parasiten
Das größte Rätsel meines jungen Lebens besteht
wohl darin, dass ich mich trotz meiner lange
kultivierten Abneigung gegen Elitenbewusstsein
und Hochkultur zum Promotionskandidaten an der
Hochschule und zum Feuilletonredakteur einer
Tageszeitung entwickeln konnte. Ich habe mich
den bürgerlichen Konventionen nahezu vollständig
angepasst, obwohl ich mich unablässig dagegen zu
wehren glaubte. In meinem eisernen Widerwillen,
dauerhaft als Wissenschaftler zu arbeiten, oder
in dem bis heute in den Pausen bei
Theaterpremieren in mir aufsteigenden Ekel auf
das hochkulturell-selbstgefällige Gebaren
mancher Zuschauer, scheint ein
Antiintellektualismus durch, für den ich mich im
nächsten Moment schäme. Denn bin nicht ich es,
der die Stelle als Theaterredakteur einer
Zeitung als Traumjob angestrebt hat und jetzt
gerade ein Buch schreibt, das zum Nachweis einer
gewissenhaften intellektuellen Arbeit fast 200
Endnoten enthält?
Je mehr ich über diesen Widerspruch nachdenke,
umso mehr fällt mir auf, dass ich schon zu
Schulzeiten eine Gefallsucht empfunden haben
muss, die ich durch das Kultivieren meiner
Unterschichtsherkunft permanent zu negieren
versuchte. Als ich in die erste Klasse kam,
sprach ich kein Hochdeutsch. (...) Während sich
meine Freunde nachmittags auf dem Spielplatz
vergnügten, saß ich allein mit einer Logopädin
in einem miefigen Schulraum, feilte an meiner
hochdeutschen Aussprache und versuchte außerdem,
mein notorisches Lispeln abzustellen (...). Was
war ich stolz auf das Lob meiner Lehrerin ob
meiner sich schnell einstellenden sprachlichen
Fortschritte! Es war wohl jene Zeit, in der ich
unbewusst lernte: Anpassung führt zu
Anerkennung." (2016, S.264) |
Die Idealisierung der Arbeiterklasse
fördert die Herauslösung aus dem eigenen Milieu
Die Unterwerfung kann so weit führen, dass das
Bild von der Arbeiterklasse, das in den besseren Kreisen
kursiert, zum Maßstab für die Bewertung der eigenen Familie
wird. So gerät ERIBON mit den marxistischen Theorien über das
"revolutionäre Subjekt" Arbeiter in Berührung, vor denen der
Alltag in seiner eigenen Familie nicht bestehen kann:
Rückkehr nach Reims
"Damals
kümmerte mich die gnadenlose Härte der
Fabrikarbeit kaum (...). Im Gegenteil nahm ich
meinen Eltern übel, dass sie waren, was und wie
sie waren, und nicht die erträumten idealen
Gesprächspartner, ja noch nicht einmal die, die
meine Kommilitonen in ihren Eltern hatten.
Während ich mich anschickte, der erste soziale
Aufsteiger meiner Familie zu werden, hatte ich
für meine Eltern und ihr Leben kaum Interesse
(...). Marxist war ich wohl, aber der Marxismus
meiner Studienjahre und mein gesamtes
politisches Engagement liefen auf eine
Idealisierung der Arbeiterklasse hinaus, auf
ihre Verwandlung in eine mythische Entität,
neben der sich das Leben meiner Eltern besonders
erbärmlich ausnahm. Mit all ihrer Kraft strebten
sie danach, auch die üblichen Konsumgüter zu
besitzen, und ich sah in der tristen Realität
ihres Alltags, in ihrem Wunsch, an einem
Lebensstandard teilzuhaben, der ihnen so lange
verwehrt geblieben war, ein Zeichen, dass ihre
»Verbürgerlichung« zugleich eine soziale
»Entfremdung« war. Sie waren Arbeiter, hatten das Elend
gekannt und wollten jetzt (...) endlich
nachholen, was schon ihre Eltern vor ihnen nicht
hatten haben können." (2016, S.79)
"Ich war
damals überzeugt, meine Eltern hätten eine
bestimmte Lebensweise verraten. In Wahrheit
brachte meine Verachtung lediglich meinen
unbedingten Willen zum Ausdruck, anders zu sein
als sie. (...). Das
»Proletariat« war für mich eine Idee aus Büchern, eine
abstrakte Vorstellung. Meine Eltern gehörten
nicht in diese Kategorie. Und wenn ich mich in
selbstgefälligen Klagen über den Unterschied
zwischen der
»Klasse an sich« und der
»Klasse für sich« oder zwischen einer
»entfremdeten« und einer
»selbstbewussten« Arbeiterschaft erging, dann war mein
»revolutionäres« politisches Urteil nur der Deckmantel für
das soziale Urteil, das ich über meine Eltern
und meine Familie fällte, der Ausdruck meiner
Entschlossenheit, aus dieser ihrer Welt zu
entfliehen. Mein jugendlicher Marxismus war also
ein Instrument meiner eigenen sozialen
Desidentifikation. Ich glorifizierte die
Arbeiterklasse, um mich leichter von den realen
Arbeitern abgrenzen zu können. Wenn ich Marx und
Trotzki las, glaubte ich, Teil der Avantgarde zu
sein; viel eher markierten meine Lektüren aber
den Eintritt in die Welt der Privilegierten".
(2016, S.81) |
ERIBON und
BARON unterscheiden sich auch dadurch, dass ersterer viel früher
mit Gleichaltrigen aus dem Bürgertum in Berührung kommt. Während
ERIBON schon im Gymnasium Umgang hatte, wurde BARON erst während
der Studienzeit damit konfrontiert. Weil er stärker seinem
Herkunftsmilieu verhaftet bleibt, ist seine Unterwerfung nicht
so umfassend wie jene von ERIBON, sondern er entwickelt eine
trotzige Distanz zu den Mittelschichtstudenten, denen er sich durch seine
Sozialisation unterlegen fühlt:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Der
französische Soziologe Pierre Bourdieu schrieb
einmal, dass nur derjenige sozial aufsteigen
kann, der seine eigene Klasse verrät. Treffender
lässt es sich nicht ausdrücken. (...). Was
daraus logisch folgt, ist ein Hang zum
Konformismus (...). Wenn die
wenigen Arbeiterkinder, die irgendwie zur
Aneignung bürgerlicher Bildung gelangen konnten,
später Gehör finden wollen in Seminardebatten an
der Uni oder in Lesekreisen linker Gruppen, dann
ist es genau diese anerzogene Zurückhaltung, die
es den Linken aus der Mittelschicht leicht
macht, sich in den Vordergrund zu drängen und
schüchterne Neuankömmlinge der unteren Schicht
galant unterzubuttern. Zumal dieser Aspekt der
erlernten sozialen Scheu den Linken einfach
nicht auffallen will." (2016, S.46f.)
|
Der Alltag von
Arbeiterfamilien als Ausgangspunkt der
Politisierung
Die Linken
seiner Universitätszeit werden für BARON zum
Feindbild, weil sie ihn nicht so nehmen wie er
ist. Während ERIBON so sehr Klassenflüchtling
ist, dass er für die Belange der Arbeiterkultur
keinerlei Engagement aufbringt, geht BARON den
umgekehrter Weg: Die besseren Kreise sollen die
Arbeiterkultur anerkennen, statt sie zu
verachten:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Menschen
aus behüteten Verhältnissen (...)
messen das Leben der Unterschicht an ihren
eigenen Maßstäben und sehen deren miserable Lage
als Resultat falscher Lebensentscheidungen und
mangelnder Leistungsbereitschaft, sie betrachten
die Armut der Leute also vor allem als
freiwillige Bildungsverweigerung. In Wahrheit
besteht der Unterschied darin, dass den
Mittelschichtkindern ihre Jugendsünden und
Fehlentscheidungen verziehen und sie durch
Eltern oder andere Verwandte materiell und
seelisch aufgefangen werden, während die
Mittellosen einfach ins Bodenlose fallen und gar
nicht erst die Chance erhalten, ein Sensorium
für diskriminierungsfreie Sprache zu
entwickeln." (2016, S.23)
|
BARON
beschreibt sein politisches Engagement als
biografisch geprägt. Beim Intellektuellen ERIBON
findet sich diese Differenz als Gegensatz
zwischen dem Politikverständnis der
Linksintellektuellen (genannt wird Gilles
DELEUZEs "Abécédaire") und dem
Alltagsbewusstsein der Arbeiterklasse wieder:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Diesen im
Alltag permanent präsenten Widerspruch zwischen
einer nicht-akademischen Herkunft und dem
Versuch, im akademischen Milieu Fuß zu fassen,
habe ich immer als außerordentlich belastend
gefunden, was wohl ganz besonders einem Umstand
geschuldet ist: Mein Linkssein ist in erster
Linie biografisch bedingt und damit
interessengeleitet - ganz im Gegensatz zu den
meisten anderen Aktivisten, die ihr Opponieren
gegen die herrschenden Zustände mit einer
ethisch-moralischen Empörung begründen. Während
in der gebildeten Mittelschicht sich das
Verständnis vom Linkssein vor allem darauf
bezieht, die Nöte des
»globalen Südens« wichtiger zu finden als die
Probleme vor der eigenen Haustür und immer eine
weltweite Perspektive einzunehmen, ist es in der
Unterschicht üblich, pragmatisch zu denken und
sich zu fragen, wie sich das unmittelbar
spürbare Leid schnellstmöglich beseitigen lässt.
Das mögen zwei diametral entgegengesetzte
Horizonte sein, sie treffen sich aber in einer
grundlegenden Parteilichkeit im Namen der
sozialen Gerechtigkeit." (2016, S.48)
Rückkehr nach Reims
"Seine
(Anm.d.Verf.: Gilles Deleuzes)
Definition ist der Art, in der meine Eltern
links waren, diametral entgegengesetzt. Für
Arbeiter und Leute aus armen Verhältnissen
bestand das Linkssein vor allem darin, ganz
pragmatisch das abzulehnen, worunter man im
Alltag litt. Es ging um Protest, nicht um ein
von globalen Perspektiven inspiriertes
politisches Projekt. Man schaute auf sich
selbst, nicht in die Ferne, und zwar in
geschichtlicher wie in geografischer Hinsicht."
(2016, S.38) |
Zeitgeschichtliche Gelegenheitsstrukturen
kanalisieren die Aufstiegswege von
Bildungsaufsteigern
ERIBON hat
seine soziale Herkunft bis nach dem Tod seines
Vaters in den Nuller Jahren verleugnet. Sein
ganzes intellektuelle Streben galt der
kulturlinken Identitätspolitik, wobei die
Auseinandersetzung mit dem Schwulsein ein zentrales
Anliegen seines Werks war. Dies war auch der Tatsache
geschuldet, dass die homosexuelle Subkultur für
ihn zum Eintrittstor in die intellektuelle
Pariser Szene wurde:
Rückkehr nach Reims
"Zwei
wechselseitig voneinander abhängende Bahnen,
mich selbst neu zu erfinden. Die eine in
Rücksicht auf die sexuelle Ordnung, die andere
in Rücksicht auf die soziale. Wenn es ums
Schreiben ging, habe ich immer die erste, von
sexueller Unterdrückung handelnde Entwicklung
betrachtet und analysiert und damit vielleicht
schon im Ansatz meines theoretischen Schaffens
den existenziellen Verrat wiederholt." (2016, S.25f.)
"Ich war mit
der doppelten Hoffnung nach Paris gekommen, ein
freies schwules Leben zu führen und ein
»Intellektueller« zu werden. Meine erste
Hoffnung hatte sich bald und ohne größere
Schwierigkeiten erfüllt, die zweite war im Sande
verlaufen: Nach meinen gescheiterten Versuchen,
Lehrer zu werden oder eine Doktorarbeit
abzuschließen, stand ich ohne Arbeit und ohne
Perspektive da. Meine Rettung lag in den
Ressourcen der schwulen Subkultur. Beim schwulen
Cruisen vermischen sich bis zu einem gewissen
Grad die sozialen Klassen (...). Diese Mischung
ermöglicht Solidarität und Formen der Hilfe, die
einem als solche gar nicht bewusst sind".
(2016, S.223)
"Die neue
Position, die ich Mitte der Neunziger erreichte,
und das internationale Umfeld, in dem ich mich
bewegte, spielten für mich mit gehöriger
Verspätung jene Rolle, die der Klassenhabitus
und der Königsweg durch das Bildungssystem bei
anderen schon viel früher im Leben spielt.
(...). Meine Arbeiten zur Ideengeschichte, zur
Homosexualität, zur minoritären Subjektivität
hatten mich zu etwas gemacht, wovon ich
angesichts meiner Klassenherkunft (...) nicht zu
träumen gewagt hätte, und das (...) angesichts
dieser Herkunft auch nicht sonderlich
wahrscheinlich gewesen war." (2016, S.229f.) |
BARON
wiederum hat sich bereits während seiner
Universitätszeit für die Belange der
Arbeiterklasse eingesetzt. Er gründete in Trier
eine Hochschulgruppe der Linkspartei gegen die
Widerstände der dortigen, etablierten linken
Hochschulgruppen. Er schreibt außerdem an seiner
Dissertation, die ihm ein Stipendium
ermöglichte, über den neoliberalen
Sozialstaatsdiskurs mit seiner Volte gegen die
deutsche Unterschicht:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Bald schon
trat ich aus der SPD aus, der ich noch zu
Schulzeiten in naiv-sozialdemokratischem Eifer
zugelaufen war. Die Sozialdemokraten, zumal
unter Führung beinharter Neoliberaler wie
Gerhard Schröder oder Franz Müntefering, waren
mir zum roten Tuch geworden. Ich wurde
selbstgefällig und arrogant, weil ich mich
unbedingt dem intellektuellen Milieu annähern
wollte. Jetzt strebte ich zur Universität und
wollte die Revolution machen, wie es mein Held
Rudi Dutschke vor mir schon versucht hatte.
Was es aber wirklich bedeutet, im Deutschland
des 21. Jahrhunderts als Arbeiterkind zum Linken
zu werden, das musste ich erkennen, als ich
meine ersten eigenen Schritte als linker
Aktivist in Trier wagte. Mit einigen
Kommilitonen gründete ich eine lokale
Hochschulgruppe von
»Die Linke.SDS«. Das ist die
Hochschulorganisation der Linkspartei." (2006, S. 54f)
"Nach dem
Abschluss meines Studiums verließ ich die
Trierer Universität mit 13.000 Euro
BAföG-Schulden beim Staat, die seither aufgrund
des verzinsten KfW-Studienabschlusskredits und
meines geringen Einkommens jährlich steigen.
Einen beruflichen Masterplan hatte ich auch
nicht. Was sollte ich also tun? Nun, wie so oft
in meiner Bildungslaufbahn, so war es auch
diesmal eine hierarchisch weit oben stehende
Person, die mir den Weg wies. Zwei Jahre vor
meinem ersehnten Ziel des akademischen Grades
eines
»Magister Artium« übernahm Ulrich Brinkmann in
Trier den Lehrstuhl für Wirtschaftssoziologie
(...).
Obwohl ich alles tat, um nicht aufzufallen,
erkannte er meine Stärken und ermutigte mich,
eine Promotion anzustreben, deren Betreuung er
übernehmen wollte. (....). Eine Doktorarbeit?
Ich? Das lag weit jenseits meiner
Vorstellungskraft. Es dauerte einige
Gesprächsrunden, bis er mich dann doch überzeugt
hatte: Ich durfte selbst ein Thema wählen und
entschied mich für eine Analyse des
massenmedialen Sozialstaatsdiskurses mit der
Frage, inwiefern sich dort eine Diskriminierung
der Unterschicht widerspiegelt. Ich traute mich
letztlich sogar, eine Bewerbung um ein
Begabtenstipendium einzureichen, die dann auch
noch erfolgreich war." (2016, S.62)
|
Im Gegensatz
zu ERIBON gab es für BARON eine
Gelegenheitsstruktur, die ihm die Chance bot,
seinem Engagement nachzugehen. Auch die
Redaktionen der Medien stehen Arbeiterkindern im Zeichen
von Diversity aufgeschlossener entgegen - sofern
diese erst einmal die hohe Hürde des Bildungsaufstiegs
überwunden haben:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Wie sollte
ich (...) den Einstieg in diesen Beruf schaffen
bei all der Konkurrenz aus der Mittelschicht mit
all den selbstbewussten jungen Männern und
Frauen mit all ihren Prädikatsexamen und der
finanziellen Sicherheit durch die Familie in der
Hinterhand, die bei beruflichen Talsohlen immer
wieder einspringen kann? Ich schob alle Bedenken
beiseite und bewarb mich republikweit bei
regionalen und überregionalen Tageszeitungen um
Volontariate." ( 2016, S.219f.)
"Auf meine
gut 20 Bewerbungen erhielt ich zehn Einladungen.
Jedesmal zeigte sich, dass die Chefredakteure
(es waren ausschließlich Männer) meinen sozialen
Aufstieg interessant fanden und sie hofften, ich
könne durch diesen in ihrem Berufsfeld völlig
ungewöhnlichen Blickwinkel die Qualität der
Zeitung steigern. Mir drängte sich der Eindruck
auf: Gerne würden viele Redaktionen mehr
Arbeiterkinder einstellen, es mangelt einfach an
jenen, die dank entsprechender Unterstützung
durch frühe Mentoren den erforderlichen langen
Marsch bis zur qualifizierten Bewerbung
durchstehen." (2016, S.220)
|
BARON kam
sicher zugute, dass er bereits journalistische
Vorerfahrungen mitbrachte:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Meine
journalistische Laufbahn begann ich im Alter von
17 Jahren im Lokalsport, das Feuilleton
betrachtete ich damals eher naserümpfend. (...).
Damit ich an den Wochenenden durch das Pfälzer
Land als rasender Reporter von Sportplatz zu
Sportplatz oder von Sporthalle zu Sporthalle
tingeln konnte, beendete ich sogar meine aktive
Laufbahn im Fußballverein. An der Universität
schrieb ich mich nur deshalb in
Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik
ein, weil mein Notendurchschnitt im Abitur nicht
für Publizistik oder Medienwissenschaft reichte
und mir diese Fächerkombination ohnehin als
ideale inhaltliche Eintrittskarte in die Welt
des (Sport-) Journalismus erschien.
Es dauerte mehrere Jahre, bis ich meiner ständig
verdrängten und doch stetig wachsenden
Leidenschaft für traditionell bürgerliche Formen
der Kunst endlich nachgab. (...). So dauerte es
bis zum Frühjahr 2009, ehe ich im beschaulichen
Trier widerwillig meine erste Theaterkritik
schrieb. Meine frühesten journalistischen
Förderer von dem lokalen Onlinemagazin 16vor
(...) wünschten sich von mir endlich auch
feuilletonistische Texte." (2016, S.238f.) |
Die
geringeren finanziellen Spielräume für
Kinder aus bildungsfernen Milieus spielen eine
große Rolle angesichts der Konkurrenz von
Mittelschichtkindern, die sich ihren Traumberuf
finanziell eher leisten können als Kinder der
bildungsfernen Milieus.
Wenn der Aufstieg ins Stocken
gerät, können Umwege zum Ziel führen, die jedoch
ihren Preis haben
ERIBON
beschreibt wie seine fehlenden finanziellen und
soziokulturellen Ressourcen dazu führen, dass
sein Aufstieg ins Stocken gerät. BOURDIEUs
Konzept des sozialen und kulturellen Kapitals
wird von ihm zugespitzt, wenn er von "negativem
sozialen Kapital" spricht:
Rückkehr nach Reims
"Wären meine
Brüder Anwälte, Akademiker, Journalisten,
Staatsbeamte, Künstler oder Schriftsteller,
hätte ich selbstverständlich Kontakt zu ihnen,
und sei es nur sporadisch. Ich hätte sie
jedenfalls als meine Brüder angenommen und mich
auf sie berufen. (...). Wenn das verfügbare
soziale Kapital in erster Linie aus der Menge
der gepflegten und mobilisierbaren
verwandtschaftlichen Beziehungen besteht, dann
könnte ich behaupten, dass mein Werdegang mit
all meinen familien- und milieubezogenen
Fluchtbewegungen nicht nur kein positives,
sondern ein negatives soziales Kapital mit sich
brachte. Nicht aufrechterhalten und pflegen
musste ich diese Verbindungen, sondern kappen
und auslöschen. Anstatt, wie in bürgerlichen
Familien, auf meine entfernten Cousins zu bauen,
war ich eher darauf bedacht, meine eigenen
Brüder aus meinem Leben zu tilgen. Auf dem Weg
den ich zu gehen, und bei den Schwierigkeiten,
die ich zu überwinden hatte, konnte ich nicht
auf andere zählen, nur auf mich." (2016, S.85) |
ERIBON muss
aufgrund seines mangelnden finanziellen,
sozialen und kulturellen Kapitals seine
Vorstellungen einer Universitätskarriere
aufgeben. Hatte er es durch ein Studiengehalt
einer Förderorganisation noch geschafft bis zum
Staatsexamen weiter studieren zu können, so
führte sein Scheitern an der hohen Hürde des
Staatsexamens zum Stocken des sozialen
Aufstiegs:
Rückkehr nach Reims
"Meine
Finanzierung war ausgelaufen, und wegen des
verpassten Staatsexamens war auch keine neue in
Sicht. Das änderte meine Lebensumstände ganz
erheblich. Zuerst wurde ich Nachtportier in einem
Hotel in der Rue de Rennes. (...). Schließlich
fand ich einen Abendjob in einer nahen Banlieue.
(...). Dass ich trotz ansehnlicher schriftlicher
Noten ein zweites Mal an der Auswahlprüfung
scheiterte, setzte mir ziemlich zu. (...). Die
Éducation nationale schien aber keine Verwendung
für mich zu haben und da sie mir nicht einmal
eine Vertretungsstelle anbieten konnten, war ich
von meiner zehnjährigen Lehrverpflichtung
freigestellt. Andererseits fehlten mir die
Mittel, um mein Studium bis zur Promotion
fortzusetzen, die für eine Universitätskarriere
unerlässlich war. In welchem Ausmaß solche
Karrieren den
»Erben« sozialer und ökonomischer Privilegien vorbehalten
waren, verstand ich erst jetzt. Ich war aus
meinem Herkunftsmilieu geflohen und wurde doch
von meiner Herkunft eingeholt: Ich musste meine
Promotion, meine intellektuellen Ambitionen und
all die Illusionen, die damit zusammenhingen,
aufgeben. (...). Der wahre Wert eines
Hochschulabschlusses hängt vom sozialen Kapital
ab, auf das man zurückgreifen kann, und von dem
strategischen Wissen darüber, wie man einen
solchen Abschluss auf dem Arbeitsmarkt einsetzt.
In solchen Situationen kommt es auf die Hilfe
der Familie an, auf Beziehungen, auf ein
Netzwerk von Bekannten usw.. Ohne solche Zutaten
kann man den Wert eines Abschlusses gar nicht
ausschöpfen. Soziales Kapital hatte ich
allerdings kaum vorzuweisen. Genauer gesagt: Ich
hatte gar keines. Über strategisches Wissen
verfügte ich auch nicht. Mein Diplom war also
nichts wert, oder jedenfalls sehr wenig."
(2016, S.186f.) |
Die schwule
Pariser Subkultur ermöglichte es ERIBON in
dieser Phase über den Umweg des Journalismus
doch noch seine Vorstellungen von einer
intellektuellen Karriere weiter zu verfolgen.
Dabei half ihm auch die Freundschaft mit dem
Soziologen Pierre BOURDIEU, ein Aufsteiger wie
er, und dem Philosophen Michel FOUCAULT:
Rückkehr nach Reims
"Mein
Liebhaber hatte einen Bekannten und dessen
Partnerin zum Abendessen eingeladen. Sie
arbeitete bei Libération, einer aus dem
Geist von 68 und mit der Unterstützung Sartres
und Foucaults gegründeten Zeitung. (...).
So
wurde ich nach und nach zu einem Journalisten
oder genauer zu jemanden, der in der Presse über
philosophische und literarische Themen schrieb.
Ich verfasste Kritiken, machte Interviews (an
das erste erinnere ich mich, als sei es gestern
gewesen: Ich sprach mit Pierre Bourdieu über
Die feinen Unterschiede). Auf völlig
unerwartete und ungeplante Weise verschaffte mir
der Journalismus Zugang zum und Teilhabe am
intellektuellen Leben. (...). Mit einigen war
ich bald befreundet, mit Michel Foucault und
Pierre Bourdieu sogar sehr eng. (...). Ich blieb
nicht lange bei dieser Zeitung, die sich schon
bald in einen der wichtigsten Vektoren der in
diesem Buch mehrfach beschriebenen konservativen
Revolution verwandeln sollte." (2016, S.224) |
In dieser
Phase, so stellt es ERIBON dar, musste er
Abstriche an seinen Vorstellungen machen. Das
galt vor allem für die Zeit, in der er beim
angesehenen Wochenmagazin Nouvel Observateur
arbeitete:
Rückkehr nach Reims
"Der
Chefredakteur einer Wochenzeitung, der geradezu
besessen war von der Idee, endlich einen Text
von oder ein Interview mit Bourdieu für sein
Blatt zu bekommen, wollte mich aus genau diesem
Grund für seine Redaktion gewinnen. Ich mochte
diese Zeitung nicht, hatte sie nie gemocht. Zu
allem Überfluss wirkte sie sogar noch stärker an
der konservativen Wende mit als mein vorheriger
Arbeitgeber. (...). Ich hatte (...). keine Wahl,
irgendwie musste ich meinen Lebensunterhalt
verdienen.
Vom ersten Tag an fühlte ich mich beim Nouvel
Observateur, milde ausgedrückt, nicht wohl.
(...). Eine kleine Clique von Universitätsleuten
hatte die Literaturseiten dieses Magazins
okkupiert, um dort ihr Ding zu machen und der
gesamten politisch-intellektuellen Szene ihre
Macht und ihre reaktionäre Wende aufzudrücken.
(...): Ich sah in diesem Job jetzt nichts weiter
als einen Broterwerb, der es mir ermöglichen
sollte, meine Bücher zu schreiben." (2016, S.225f.) |
Die
Anstellung bei dem Magazin ermöglichte es ERIBON sein eigentliches Anliegen zu verfolgen.
Während er als Romanautor scheiterte, brachte
ihm die 1989 erschienene Biografie über den
verstorbenen Michel FOUCAULT jenen Ruhm, der ihn
auf seiner ersehnten Karriere weiter brachte:
Rückkehr nach Reims
"Als ich am
ersten Buch arbeitete, 1986 mit Georges Dumézil
fragte dieser, ob ich nicht eine Biografie des
zwei Jahre zuvor verstorbenen Foucault schreiben
wolle. (...). Mein ambitioniertes, unzeitgemäßes
Buch hatte großen Erfolg und dürfte auch nicht
unmaßgeblich zu dem Widerstand beigetragen
haben, der sich allmählich in der Öffentlichkeit
gegen die fortschreitende Konterrevolution
regte. (...). Der Journalismus wurde mir immer
fremder (...) und ich verbrachte nahezu meine
gesamte Zeit mit dem Bücherschreiben oder an
Universitäten im Ausland. Ich hatte den Beruf
gewechselt. (...)
Ich hatte Zeit gebraucht, um in meinem eigenen
Namen zu denken. Denn um sich legitim zu
fühlen, muss man notwendigerweise von seiner
gesamten Vergangenheit, von der sozialen Welt,
von den Institutionen legitimiert worden sein.
Trotz meiner ziemlich überspannten Jugendträume
ist es mir nicht leichtgefallen, mich befähigt -
das heißt von der Gesellschaft autorisiert - zu
fühlen, Bücher zu schreiben, theoretische dazu.
Es gibt Träume. Und es gibt die Wirklichkeit. Um
beide miteinander zu verbinden, braucht es mehr
als nur Hartnäckigkeit. Günstige Umstände
gehören ebenfalls dazu." (2016, S.228f.) |
Den
Unterschied zwischen den Klassen hinsichtlich
ihren ungleichen Startvoraussetzungen für
Begabte bringt ERIBON folgendermaßen auf den
Punkt:
Rückkehr nach Reims
"Für mich war
das Schreiben nicht die Erfüllung einer
Verheißung, die sich schon in den Streichen und
Spielen des Jungen angekündigt hat (...). Mich
erwartete ein ganz anderes Schicksal: Ich musste
meine Wünsche so weit herunterschrauben, bis sie
zu meinen sozialen Möglichkeiten passten. Ich
musste kämpfen, und zwar zuallererst gegen mich
selbst, um mir Fähigkeiten zuzusprechen und
Rechte zu erschließen, die anderen von
vornherein mitgegeben waren." (2016, S.229)
|
Eine gewisse
Unlogik in seiner Argumentation ergibt sich,
wenn er über die neokonservative Wende der
1980er Jahre in Frankreich schreibt, denn in
Grunde profitierte ERIBON vom kritisierten
Individualisierungsparadigma:
Rückkehr nach Reims
"Im Namen
einer vermeintlich notwendigen
»Individualisierung« (oder Entkollektivierung,
Entsozialisierung), die das Arbeitsrecht, die
sozialen Sicherungssysteme und allgemeiner die
Mechanismen der gesellschaftlichen Solidarität
und Umverteilung betraf, wurde im gleichen Zug
der Rückbau des Wohlfahrtsstaats legitimiert.
Ein Gutteil der Linken schrieb sich nun
plötzlich das alte Projekt des Sozialabbaus auf
die Fahnen, die zuvor ausschließlich von rechten
Parteien vertreten und zwanghaft wiederholt
worden war." (2016, S.120)
"Indem man
(...) die Vorstellung konfligierender sozialer
Gruppen aus dem politischen Vokabular der Linken
tilgte, glaubte man, den Wählern damit auch die
Möglichkeit einer von gemeinsamen Sorgen,
Interessen und politischen Zielen bestimmten
Gruppenidentifikation zu nehmen. Man hat die
Wähler auf ihre Individualität ihrer jeweiligen
Standpunkte verwiesen und diese Standpunkte von
ihrem kollektiven Machtpotenzial abgekoppelt.
Man hat diese Wähler zur Ohnmacht verurteilt
(...). Aber aus dieser Ohnmacht ist Wut
geworden. Und das Ergebnis hat nicht lange auf
sich warten lassen. Die Gruppe hat sich neu
formiert. Um ihren Standpunkt Gehör zu
verschaffen, organisierte sich jene soziale
Klasse, die der neokonservative Diskurs der
Linken dekonstruiert hatte, auf eine andere
Weise." (2016, S.125f.) |
Im Grunde hat
ERIBON an diesem linken Projekt selber
mitgewirkt. Erst nach seiner eigenen Hinwendung
zum Klassenparadigma gewinnt seine Kritik an
Glaubwürdigkeit. Mit Pierre BOURDIEU gab es in
Frankreich einen frühen Vertreter des Klassenparadigmas.
Mit dem 1979 in Frankreich und 1982 ins Deutsche
übersetzte Buch
Die feinen Unterschiede
verfasste BOURDIEU einen frühen Klassiker zum
Thema. ERIBON verfolgte jedoch nicht zusammen
mit ihm dieses Projekt, sondern forcierte sein
eigenes.
Die innere Zerrissenheit
sozialer Aufsteiger: zwischen Scham und
Gewissensbissen
Sowohl ERIBON
als auch BARON beschreiben die Ambivalenz ihres
Aufstiegs, die selbst bei einem
Klassenflüchtling wie ERIBON zu Gewissensbissen
führte:
Rückkehr nach Reims
"Jedes Mal,
wenn ich mich abschätzigen Urteilen
angeschlossen und damit meine Kindheit
»verraten« hatte, breitete sich ein dumpfes schlechtes
Gewissen in mir aus." (2016, S.24)
"Der
Großvater, den ich in den sechziger Jahren
kennenlernte, arbeitete als Fensterputzer.
(...). Er transportierte seine Leiter und seinen
Eimer auf einem Moped. Da er auch die Fenster
von Cafés oder Läden außerhalb seines
Wohnviertels reinigte, kreuzten sich unsere Wege
einmal mitten in Paris. Er freute sich über
diese Zufallsbegegnung, mich genierte sie, denn
mir grauste davor, dass ich mit ihm und seinem
seltsamen Gefährt gesehen werden könnte. (...).
In den nächsten Tagen plagte mich ein extrem
schlechtes Gewissen. (...). » (...) Warum habe
ich all die gesellschaftlichen Hierarchien so
sehr verinnerlicht, obwohl ich sie intellektuell
und politisch zu bekämpfen vorgebe?« (...).
Meine Überzeugungen standen im Widerspruch zu
meiner Integration in die bürgerliche Welt. Ich
gab vor, gesellschaftskritische Positionen zu
vertreten, die nicht zu meinen neuen
Wertvorstellungen passten, von denen ich noch
nicht einmal sagen konnte, dass sie mir
aufgezwungen worden waren, denn die
Wahrnehmungen und Urteile der Herrschenden hatte
ich mir ja freiwillig zu eigen gemacht." (2016, S.64f.)
Proleten
Pöbel Parasiten
"Im Gegensatz
zu den meisten mir bekannten sozialen
Aufsteigern, bei denen die Verwandlung zum
Bildungsbürger mit einer emotionalen
Distanzierung vom Herkunftsmilieu einherging,
plagt mich seit meinem Studienabschluss ein
schlechtes Gewissen über diesen Klassenverrat.
Konfrontiert mit den Alltagsproblemen meiner
Geschwister und Freunde, konnte ich ihnen immer
weniger helfen, weil sich meine
Lebenswirklichkeit komplett verändert hatte.
Standen meine beiden Schwestern und mein Bruder
schon mit Anfang/Mitte 20 als Eltern in
unermesslicher Verantwortung, wäre mir niemals
in den Sinn gekommen, zu diesem Zeitpunkt Vater
zu werden. Vor allem meine Schwestern lebten das
Leben meiner Mutter weiter - mit diskutablen
Partnern, depressiven Schüben und einer
lähmenden Perspektivlosigkeit.
Und 100 Kilometer entfernt saß ich in meiner
Studentenbude, bewegte mich zwischen Seminarraum
und wilden Partys, und die einzige Gemeinsamkeit
mit meiner Familie bestand in der chronischen
Ebbe auf meinem Bankkonto - die ich mit meinem
intellektuell anregenden und optimistischen sozialen Umfeld natürlich bedeutend besser
verkraften konnte." (2016, S.63) |
Während bei
ERIBON die Scham letztlich gegenüber den
Gewissensbissen die Überhand gewann, mündeten
bei BARON die Gewissensbisse in seinem
politischen Engagement für die einfachen Leute.
ERIBON verdrängt dagegen lange Zeit die Härte
eines Arbeiterschicksals, wobei ihm die
damaligen politischen Theorien entgegenkamen,
wie bereits weiter oben erwähnt wurde:
Rückkehr nach Reims
"Erst 1970,
als mein Vater eine Weile arbeitslos war, ging
sie in eine Fabrik und blieb auch dort, als mein
Vater wieder Arbeit hatte. Erst heute begreife
ich, dass sie mir mit ihrem Einsatz Abitur und
Studium ermöglicht hat. Auf die Idee, dass auch
ich zum Familieneinkommen hätte beitragen
können, bin ich damals nicht gekommen (Oder
genauer: Ich habe sie sorgsam verdrängt, denn
Andeutungen meiner Mutter gab es genug.)" (2016, S.47)
"Von
finanziellen Sorgen getrieben, nahm sie eine
Stelle in einer Fabrik an. Acht Stunden
Plackerei am Tag. Nach dem Abitur habe ich einen
Monat lang dort gearbeitet und am eigenen Leib
erfahren, was für ein Metier das ist. Meine
Mutter tat das, um mir die Möglichkeit zu geben,
im Gymnasium Montaigne oder Balzac zu lesen und
später als Student in meinem Zimmer stundenlang
über Kant oder Aristoteles zu brüten." (2016, S.77) |
Exkurs: Vom sozialen Aufsteiger
zum Besitzstandswahrer als eine normale
Entwicklung
Im Jahr 2003
beschrieb der Politikwissenschaftler Franz
WALTER, selber ein Aufsteiger, wie die SPD in
Deutschland als Partei der Gewinner der
Bildungsexpansion zu einer Partei der
Besitzstandswahrer zu werden droht. WALTER
spricht von einer "FDP der neuen Mitte". Für ihn
ist eine solche Entwicklung kein singuläreres
Ereignis, sondern eine Episode, die sich in der
Geschichte immer wieder wiederholt:
Der Wandel des Wertewandels kommt bestimmt
"Die Sozialdemokratie hat sich seit den siebziger
Jahren erheblich verändert (...). Viele von uns sind
aufgestiegen. Wenn ich mir einen normalen Parteitag
anschauen und frage würde: Wer ist dabei, der in der ersten
Generation Akademiker ist, bei dem der Vater noch Arbeiter
war? Dann würde die Antwort wahrscheinlich lauten: 80
Prozent. Ich selbst bin ja auch so ein Fall - Vater:
Hilfsarbeiter auf dem Schlachthof; Sohn: Hochschullehrer.
Dieser Prozess ist natürlich möglich geworden durch eine
robuste, entschlossene Form der materiellen Umverteilung in
den sechziger und siebziger Jahren.
Ohne Umverteilung und
den Ausbau des Staates (...) hätte es diesen massenhaften
Aufstieg nicht gegeben. Und auch ich wäre wahrscheinlich
genau wie mein Vater noch immer auf dem Schlachthof. Wir -
oder doch die meisten von uns - sind also gewissermaßen die
Gewinner von Umverteilung, reden aber jetzt nicht mehr von
Umverteilung, fordern es jedenfalls nicht mehr, weil es uns
möglicherweise auch zu teuer kommt, weil es vielleicht auch
zu teuer ist. Nur ist das eine ganz merkwürdige
Angelegenheit: In dem Moment, in dem wir aufgrund eines
spezifischen politischen Instrumentariums sozial gewonnen
haben, legen wir das Instrument zur Seite und lassen die
anderen ziemlich kaltblütig zurück. Das aber wird moralisch
möglicherweise nicht funktionieren, denn es nimmt der
Sozialdemokratie ihre besondere Aura, ihren
unverwechselbaren Ethos. Und am Ende wäre die SPD dann
nichts anderes als - wenn man so will - die FDP der neuen
Mitte aus der vorangegangenen Bildungsexpansion."
(H.5, 2003)
"In der Geschichte der
Menschen und der Politik ist das ja kein neuer Vorgang: Eine
Gruppe, die aus der unterlegenen Position zunächst sehr
emanzipatorisch agiert, die sehr dezidiert und voller Energien
in der Vertretung eigener Ziele auftritt, erreicht schließlich
diese Ziele, steigt auf, verlässt die Subalternität, bildet
fortan das Establishment. Im Moment des eigenen Erfolges - ein
tausendfach erlebter Prozess - wird sie konservativ, verteidigt
ihren neuen Status. Sie koppelt sich nicht nur mental und
kulturell ab, sondern sie wird auch sozial aggressiv
besitzstandswahrend - gegen diejenigen, die es nicht geschafft
haben. Aggressiv distanzieren sich die neuen Aufsteiger von
denen, die nicht mitgekommen sind. Und sie wollen die
Abgehängten auch nicht alimentieren, weil man nichts dabei
gewinnen kann. Das ist ein historisch nicht gerade
ungewöhnlicher Prozess. Und für mich ist die ausschlaggebende
Frage: Ist dieser Prozess eigentlich das, was die
Sozialdemokratie gerade mitmacht? Ist es so, dass die
Sozialdemokratie soeben dabei ist, zur Vertretung der neuen,
avancierten, arrivierten, parvenühaften, aufgestiegenen
gesellschaftlichen Mitte zu werden und dadurch überhaupt keine
Bindung mehr an ihre Ursprünge zu haben, keine biografischen
oder kulturellen Affinitäten, weder vom Ort des Wohnens noch vom
sozialen Umfeld der Geselligkeiten her, um sich irgendwann
einmal von all dem auch politisch abzukoppeln? Denn Solidarität,
das wissen wir, ist etwas, was nur innerhalb einer Gruppe mit
ganz ähnlichen oder gleichen Interessen existiert."
(H.5, 2003, S.52) |
2003 wurde
auf dieser Website in einem Thema des Monats
ausführlich über die
Rückkehr
der Klassengesellschaft geschrieben, die
damals von der oberen Mittelschicht medial
begleitet und durchgesetzt wurde. Während WALTER
und auch andere davon ausgehen, dass es in
Deutschland ein kurzes Zeitfenster gab, in dem
soziale Aufstiege häufiger vorkamen als vor- und
nachher, beschreibt ERIBON die französische
Verhältnisse als festgefügt:
Rückkehr nach Reims
"»Aller à la
Fac«, an die Uni gehen, das war es doch, was
sich jeder Student wünschte. Auch hier führt die
Unkenntnis von Bildungshierarchien und
Selektionsmechanismen häufig zu schwerwiegenden,
kontraproduktiven Entscheidungen. Man wählt
vollkommen freiwillig einen Pfad, der zur
Selbstentwertung führt, und klopft sich dafür
auch noch auf die Schulter, während andere, die
es besser wissen, ihn weiträumig umgehen. Wenn
die Angehörigen benachteiligter Klassen glauben,
sie hätten eine alte Zugangsschranke überwunden,
müssen sie häufig feststellen, dass das
Erreichte mittlerweile seinen Wert verloren hat.
Der Abstieg mag langsamer verlaufen, der
Ausschluss später stattfinden, aber der Abstand
zwischen Herrschenden und Beherrschten bleibt
konstant. Er reproduziert sich, indem er sich
verschiebt. Eine
»Verlagerung der Struktur« nennt Bourdieu das (translation
de la structure). Was man als
»Demokratisierung« bezeichnet hat, ist nichts anderes als
eine Verschiebung, bei der die Struktur, trotz
aller Veränderungen an der Oberfläche,
unverändert erhalten bleibt - kaum weniger starr
als zuvor." (2016, S.172f.) |
ERIBON
spricht von "Demokratisierung" statt von
Bildungsexpansion, gemeint ist jedoch der
gleiche Sachverhalt. Ob es nicht auch in
Frankreich eine solche Gewinnergeneration
gegeben hat, wäre also eine Frage, die von
ERIBON nicht beantwortet wird. Er jedenfalls kam
nach seiner Meinung zu spät, um von einer
solchen Öffnung zu profitieren.
Unkenntnis aufgrund
der sozialen Herkunft führt zu suboptimaler
Ausnutzung der Aufstiegsmöglichkeiten
Immer wieder
kommt ERIBON im Buch auf Schaltstellen in
seiner Bildungskarriere zu sprechen, an denen er
mit falschen Entscheidungen oder durch
Unkenntnis der Regeln seine Möglichkeiten nicht
ausschöpfen kann, weil er der falschen Klasse
angehörte. So beschreibt er wie er sich während
seiner Gymnasialzeit durch die Wahl einer
falschen Sprache (Spanisch statt Deutsch) unter
den schlechten, statt unter den besten Schülern
wiederfindet:
Rückkehr nach Reims
"An den
Entscheidungen auf meinem Bildungsweg kann man
(...) auch die Mittellosigkeit ablesen, die ich
von zu Hause mitbrachte. (...). Ich entschied
mich für die literarische Abschlussklasse,
obwohl ich mit der naturwissenschaftlichen - der
Klasse der Wahl - viel besser gefahren wäre. Ich
gehorchte meinen Neigungen (...). Die Kinder aus
bürger- oder bildungsbürgerlichen Schichten
entschieden sich für Deutsch, während die
Spanischklasse zum Sammelbecken für die
schlechtesten Schüler aus den ärmsten Familien
wurde, wobei diese beiden Merkmale natürlich
statistisch miteinander korrelieren. Diese Wahl,
die in Wirklichkeit gar keine war, zeichnete
vor, wer auf mittlere Sicht aus dem
Bildungssystem eliminiert werden oder in einem
jener verrufenen Studiengänge landen würde, die
im Zuge der bald einsetzenden
»Demokratisierung« eingeführt wurden, diesem Ideal aber
von vornherein Hohn sprachen. Von all diesen
Zusammenhängen wusste ich damals natürlich
nichts." (2016, S.169f.)
"Ich glaube
zu wählen, wurde in Wahrheit aber (...) von dem
eingeholt, was mir vorgezeichnet war. Das
dämmerte mir, als mich ein um mein Fortkommen
besorgter Französischlehrer darauf hinwies,
meine Sprachwahl stelle einen Rückschritt dar,
da ich meine kostbare Zeit nun mit den
schlechtesten Schülern des Gymnasiums vertrödeln
würde. Jedenfalls begriff ich sehr bald, dass
ich es denjenigen gleichgetan hatte, die mir in
sozialer Hinsicht ähnelten - nicht den Kameraden
mit ähnlichen schulischen Leistungen. Man sieht,
dass Kinder aus unterprivilegierten Schichten
selbst dann stets in Gefahr sind, falsche
Entscheidungen zu treffen, wenn sie sehr gute
Leistungen bringen, und dass sie deshalb die
besten Chancen haben, die elitären Bildungswege,
für die man sich nicht nur schulisch, sondern
auch sozial qualifizieren muss, zu verfehlen."
(2016, S.170f.) |
Im Rückblick
und aus seiner heutigen Warte erscheinen ihm
sein damaliges Wissen über das
Universitätssystem und die Lage auf dem
Arbeitsmarkt für Akademiker als unzureichend,
wobei er dies seiner sozialen Herkunft
zuschreibt:
Rückkehr nach Reims
"Philosophiestudent zu sein machte mich auf
naive Weise glücklich. Vorbereitungsklassen für
die Grandes Écoles, hypokhâgnes und
khâgnes, die verschiedenen Varianten der
École normale supérieure - von all diesen Dingen
hatte ich keine Ahnung. Dass es so etwas
überhaupt gab, habe ich erst nach dem Abitur
erfahren. Nicht nur der Zugang zu diesen
Institutionen war den Sprösslingen der
bürgerlichen Klassen vorbehalten (und ist es, in
vielleicht noch schärferer Form, bis heute),
Jugendliche aus der Arbeiterklasse wussten nicht
einmal um deren Existenz." (2016, S.172)
"Mir war noch
nicht ganz klar, dass ein Studium an einer
geisteswissenschaftlichen Provinzfakultät nichts
anderes - oder zumindest kaum mehr - als einen
Abstiegsplatz bedeutete. Immerhin wusste ich,
dass sich aus nur zwei Studienjahren kein
beruflicher Nutzen ziehen ließ, denn schon für
eine licence brauchte man drei und für eine maîtrise vier Jahre. Die Namen dieser Abschlüsse
klangen magisch für mich. Was ich nicht wusste,
war, dass der Prozess ihrer beinahe
vollständigen Entwertung damals schon begonnen
hatte. Wer aber wie ich Gymnasiallehrer werden
wollte, musste sie absolvieren, um sich
anschließend zum Staatsexamen anmelden zu
können." (2016, S.175)
"Was mir wie
die autonome Wahl einer bestimmten Form des
Denkens vorkam, wurde in Wahrheit von meiner
sozialer Position diktiert. Hätte ich in Paris
studiert und wären mir die Orte, an denen neue
Theorien erarbeitet und das neue Denken
zelebriert wurde, nur ein bisschen vertrauter
gewesen, ich hätte mich für Althusser, Foucault
oder Derrida interessiert und Sartre womöglich
nur müde belächelt. Wie ich später herausfand,
schickte sich das im Pariser Milieu so." (2016, S.180) |
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein
sozialer Aufstieg aus bildungsfernen Milieus in
die obere Mittelschicht - wie sie ERIBON
gelungen ist - nicht die Regel, sondern die
Ausnahme ist. Wir leben nicht in einer
Leistungsgesellschaft, weshalb der
Elitenforscher Michael HARTMANN auch vom
Mythos der Leistungselite spricht. Und
was heute gerne übersehen wird: Ein Bildungsabschluss ist
noch kein
Garant für einen erfolgreichen sozialen Aufstieg aus bildungsfernen
Milieus ins Akademikermilieu, sondern lediglich
eine notwendige Voraussetzung. In der heutigen
Zeit, in der zwar viele Menschen einen
Hochschulabschluss besitzen, hält die
Entwicklung der angemessenen Stellen auf dem
Arbeitsmarkt nicht Schritt. Was bedeutet es
also, wenn sich selbst viele gut qualifizierte
Menschen in dieser Gesellschaft mit schlechtbezahlten Jobs begnügen müssen, während
andere, schlechter qualifizierte Menschen, erst gar nicht im Arbeitsmarkt unterkommen? Dieser
Aspekt steht im zweiten Teil im Mittelpunkt
dieses Frühjahrsthema.
|
|