|
Wer gehört zur Arbeiterklasse und ist
dieser Begriff überhaupt noch zeitgemäß?
ERIBON definiert in seinem
Buch nicht, was er unter dem Begriff "Arbeiterklasse" versteht. Da
sich seine Beschreibungen vorwiegend auf die Situation des 20.
Jahrhunderts beziehen, ist sein Begriff vor allem mit der
Fabrikarbeiterschaft identisch. Aber auch das, was heute als
haushaltsnahe Dienstleistungen einen neuen Aufschwung erlebt,
zählt dazu. ERIBON spricht aber auch von den "classes populaires",
was als die "einfachen Leute" übersetzt wird:
Rückkehr nach Reims
"Mein
Vater hat (...) von seinem vierzehnten bis zu
seinem sechsundfünfzigsten Lebensjahr in der
Fabrik gearbeitet, von seinem letzten Schultag
bis zu dem Tag, als man ihn ungefragt in
Frührente schickte. Meiner Mutter erging es kurz
darauf genauso (sie war fünfundfünfzig). Beide
wurden von einem System ausgestoßen, das sie ein
Leben lang schamlos ausgebeutet hatte." (2016, S.49)
"Ich fragte
meine Mutter nach den abgebildeten Leuten. Der
erweiterte Familienkreis: die Kinder meiner
Brüder, Cousins und Cousinen mit ihren
Ehepartnern usw. Immer fragte ich:
»Was macht er/sie jetzt?« Die Antworten ergaben eine
Kartografie der heutigen
»classes populaires«, der sogenannten
»einfachen« Leute, die in Wahrheit Leute ohne Privilegien
sind.
»Der arbeitet bei X in der Fabrik«,
»der bei Y in der Kellerei«,
»der ist Maurer«,
»der ist Polizist« und
»der ist arbeitslos«. Den sozialen Aufstieg verkörpern die
Cousine, die Finanzbeamtin geworden ist, und die
Schwägerin, die als Sekretärin arbeitet. (...).
Im sozialen Gefüge nehmen (...) all diese
Menschen denselben Platz ein wie früher, die
relationale Position in der Klassengesellschaft
hat sich für die gesamte Verwandtschaft kaum
geändert." (2016, S.97) |
Wenn von
Klassengesellschaft die Rede ist, dann bezieht sich das auf die
vertikale Dimension unserer Gesellschaft, während es in den
1980er Jahren üblich geworden ist, die horizontale Dimensionen
in den Vordergrund zu rücken. Die Unterschiede zwischen dieser
Lebensstilforschung und der randständig gewordenen
Klassenanalyse, wurden auf dieser Website im Jahr 2004 im Thema
des Monats Ulrich
Becks kosmopolitisches Projekt näher ausgeführt und
diese dominierende Lifestyle-Soziologie angesichts der
Agenda
2010-Politik kritisiert. Wenn es um die schulische Karriere
geht, dann wird in diesem Zusammenhang auch von den
"bildungsfernen" Schichten oder Milieus gesprochen. Dann geht es um jene,
die keinen Hauptschulabschluss haben oder keine
Berufsausbildung, die dann als Arbeitslose oder
Sozialtransferempfänger zu der Unterschicht gezählt werden.
BARON zählt zur Arbeiterklasse auch die Mittelschicht, d.h. alle
jene, die einer Erwerbsarbeit nachgehen, wobei er jedoch
Unterschiede innerhalb dieser Mittelschicht macht:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Heutzutage
zählt sich kaum noch jemand zur Arbeiterklasse.
Es ist üblich, außer den Superreichen und den
Ärmsten alle Menschen in Deutschland zu einer
ominösen Mittelschicht zusammenzufassen und
diese Gruppe zwischen Ober- und Unterschicht
einzuordnen. Weil sie in der gesellschaftlichen
Debatte leider fest verankert sind, verwende ich
für die eigentlich allesamt objektiv zur
Arbeiterklasse zählenden Leute, von denen ich
hier schreibe, die Begriffe
»Mittelschicht« und
»Unterschicht« - obwohl ich sie analytisch für
falsch halte." (2016, S.15)
"Nicht nur
der Kfz-Mechaniker oder die Friseurin sind
lohnabhängig, sondern auch Grafikdesigner,
Freelancer, ja, sogar fast alle Journalisten und
Künstler sind es. Die Arbeiterklasse besteht aus
allen, denen jahrzehntelang abtrainiert worden
ist, sich als Teil der Arbeiterklasse zu
verstehen.
Das darf aber nicht bedeuten, jene feinen
Unterschiede zu ignorieren, die es innerhalb der
Arbeiterklasse gibt, weil sie dieses komplexe
System des Klassenhasses überhaupt erst
ermöglichen. Natürlich ist ein Lehrer nicht in
gleicher Weise ein Arbeiter, wie es eine
Altenpflegehelferin ist. Beide mögen keine
Kapitalisten sein, lebensweltlich aber trennt
sie viel: Je weiter jemand im Ranking des
sozialen und kulturellen Kapitals oben steht,
umso mehr Wert wird er darauf legen, sich nach
unten abzugrenzen. Das kann der Konsum von
Bio-Produkten ebenso sein wie der regelmäßige
Gang ins Theater oder die exklusive
Rucksackreise nach Südamerika." (2016, S.16)
|
Auf dieser
Website wird die Mittelschicht
differenzierter betrachtet, denn zur Oberschicht
gehört nur derjenige, der seinen Lebensunterhalt
aus seinem eigenen Vermögen bestreiten kann und
deshalb keiner Erwerbsarbeit nachgehen muss. Die
Eliten werden dagegen zur oberen Mittelschicht
gezählt, weil sie als Angestellte (z.B.
Führungspersonen auf der obersten Ebene von
Unternehmen oder Vorstände der Dax-Konzerne)
oder hohe Beamten (z.B. Richter an den höchsten
Gerichten; Hochschulprofessoren, Minister)
ebenfalls einer bezahlten Arbeit nachgehen
müssen.
ERIBON
spricht auch von Herrschenden und Beherrschten,
um den Unterschied der Klassen zu benennen.
Soziale Aufsteiger müssen sich in dieser Sicht
dann den Regeln der Herrschenden unterwerfen. Im
Anschluss an BOURDIEU spricht er auch von
"legitimer Kultur".
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die
verwendeten Begrifflichkeiten zwar nicht immer
trennscharf sind und deshalb auch immer wieder
Anlass zur Kritik geben, aber auch den Gegnern
von Begriffen wie "Arbeiterklasse" oder
"Klassengesellschaft" fehlt eine allgemein
anerkannte Theorie darüber wie sich die
vertikale Struktur unserer Gesellschaft
heutzutage genau darstellt. Es kursieren nur
mehr oder weniger verbreitete Schicht- oder
Milieumodelle, die sich wiederum in ökonomische
(Einkommensklassen) und soziologische (Stellung
in der Gesellschaft) unterscheiden.
Entscheidender Punkt ist jedoch, dass die
Herrschenden die Definitionsmacht über jene
haben (wollen), die man als "Arbeiterklasse",
"bildungsferne Schichten" oder "Unterschicht"
bezeichnet. Dieser Aspekt soll deshalb näher
beleuchtet werden.
Die einfachen Leute und
die Unterschicht als Objekt von
gesellschaftlichen Debatten
ERIBON
beschreibt in seinem Buch, dass die einfachen
Leute keine eigene Stimme haben und in der
Gesellschaft nur jene über diese Menschen
schreiben dürfen, die entweder als Aufsteiger
froh sind ihrem Schicksal entronnen zu sein oder
die herrschende Kultur repräsentieren:
Rückkehr nach Reims
"Mir ist
vollkommen klar, dass meine gesamte Art zu
schreiben gegenüber den Milieus und Menschen,
für die meine versuchte Lebensbeschreibung und
Lebenswiedergabe noch immer Lebenswirklichkeit
ist, ein sozial bestimmtes Außen voraussetzt,
meine eigene Exterritorialität als Schreibender
ebenso wie die meiner Leser. Und natürlich weiß
ich, dass die von mir so Beschriebenen
wahrscheinlich nicht zu meinen Lesern gehören
werden. Von Arbeitermilieus wird nicht oft
gesprochen. Und wenn, dann meistens unter der
Maßgabe, dass derjenige, der spricht, sie
verlassen hat und dass er von seinem
»Aufstieg«, über den er froh ist, berichten will. Die
soziale Illegitimität der Beschriebenen wird
genau in dem Moment bestätigt, wo jemand, der
die notwendige kritische Distanz (und damit eine
wertende, urteilende Perspektive) erreicht hat,
sie beschreibt und anklagt."
(2016, S. 90) |
Das Monopol
der Herrschenden auf die Beschreibung der
einfachen Leute ist jedoch nicht mehr ganz so
ungebrochen. In Zeiten des Internets und der
Möglichkeiten des Selbstverlegertums ist eine
Konkurrenz zur Elitenkultur entstanden. Die
Eliten versuchen
diese Konkurrenz mit aller Macht wieder zurückzudrängen
und zu diffamieren. BARON beschreibt in
seinem Buch diese Entwicklung nur im Hinblick
auf den Online-Journalismus der Printmedien:
Proleten
Pöbel Parasiten
"In
Onlineredaktionen - auch in linken - entscheiden
mittlerweile immer seltener Menschen darüber,
welche Texte geschrieben oder aus der
Printausgabe ins Netz gestellt werden, sondern
Algorithmen. Wenn ein komplexer
Feuilleton-Artikel online laufen soll, verweisen
die zuständigen Redakteure in allen
Medienhäusern neuerdings auf die roten Lämpchen
von Facebook, die genau anzeigen, welche Texte
online wie viele Leser erreichen. Wenn sogar
linke Medien die hintergründige Analyse dem
Klicks generierenden und schnell
zusammenrecherchierten Häppchenjournalismus
opfern, dann darf sich niemand mehr wundern,
wenn sich die breite Masse da draußen nicht
ernst genommen fühlt durch jene Journalisten,
die ihnen doch eigentlich die Welt erklären
sollen und wollen.
Ein brennendes Anliegen scheint ihnen zu sein,
das zeigen Umfragen immer wieder, eine
»neutrale« Berichterstattung vorzufinden. Wer,
wenn nicht linke Medien, könnte den Leuten
begreiflich machen, dass Neutralität ein Fiktion
ist. (...).
Die Neutralitätsfiktion einzugestehen und
entsprechende Konsequenzen in puncto Transparenz
und Kritikfähigkeit gegenüber den ökonomischen
Bedingungen der massenmedialen Produktion der
Gegenwart zu zeigen, das würde von wahrer Größe
zeugen." (2016, S.230)
|
BARON
bleibt jedoch dem traditionellen
Verständnis der Medien treu. Warum aber sollte
sich die kulturelle Selbstverständigung der
Menschen einer Gesellschaft auch in Zukunft nur
in den kanalisierten Bahnen von
Medieninstitutionen abspielen? Derzeit ist noch
nicht entschieden, ob sich in Deutschland eine
autokratische Entwicklung durchsetzt wie in
Russland oder in der Türkei. Die Gefahr besteht
jedoch, dass die liberale Meinungsfreiheit auch
hierzulande der Staatsraison geopfert werden
wird. Postdemokratische Tendenzen, die selbst
vor Einschränkungen des Wahlrechts für als
unwürdig empfundene Gesellschaftsgruppen nicht
zurückschrecken, gibt es bereits in Teilen
unserer meinungsbildenden Medien. So schreibt
z.B. BARON:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Eine
Abschaffung des Wahlrechts für
»Nettostaatsprofiteure« forderte im September
2006 in der Tageszeitung Die Welt der Gründer
und Herausgeber der radikalliberalen Zeitschrift
eigentümlich frei, André F. Lichtschlag.
Deutschland (...) sei »auf dem Weg hin zu einem
neosozialistischen Staat« (...). Deshalb solle
über folgenden Vorschlag nachgedacht werden:
»Wählen dürfen in Zukunft nur noch die
Nettosteuerzahler, also Arbeitgeber und
Arbeitnehmer in der privaten Wirtschaft.« Das
sei ein gerechter »Wahlrechtsentzug für die
Unproduktiven«.
Wenige Wochen später fand diese Idee in der
gleichen Zeitung Unterstützung durch den
Publizisten Konrad Adam, der 2013 zum
Bundesvorsitzenden der rechten Partei
»Alternative für Deutschland« (AfD) aufsteigen
sollte. Er fokussierte dabei besonders den
Entzug des Wahlrechts für Rentner und
Arbeitslose". (2016, S.81)
|
Weit
verbreiteter ist es jedoch im Namen der
Generationengerechtigkeit ein Familienwahlrecht
zu fordern. Weil solche Forderungen (noch?)
nicht durchsetzbar sind, wird über die mediale
Verbreitung von Stereotypen als unwürdig
erachteter gesellschaftlichen Gruppen eine
Ausgrenzung subtilerer Art erreicht. Die Debatte
um die so genannte Unterschicht im Vorfeld und
in Begleitung der Hartz-Gesetzgebung stellt
BARON vor dem Hintergrund eines
gesamtgesellschaftlichen Wandels dar, in dessen
Verlauf die Individualisierungsverheißungen
einem Drohungsszenario gewichen ist, das BARON
folgendermaßen beschreibt:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Unser
Gemeinwesen ist von einer Gesellschaft der
Versprechen zu einer Gesellschaft der Drohungen
geworden. (...). Denn wenn du dich im
Konkurrenzkampf nicht durchsetzt, landest du
schnell im Zwangsregime namens Hartz IV!
Die soziale Herkunft ist unter diesen
verschärften innergenerationellen
Konkurrenzbedingungen gerade bei der Ressource
Bildung zu einem unlauteren Wettbewerbsvorteil
geworden, den Mittelschichteltern ihren Kindern
gewähren können, um deren Berufskarrieren zu
sichern. Am Ende der Grundschulzeit, wenn in den
meisten Bundesländern noch immer die
Empfehlungen der Lehrerinnen und Lehrer für eine
weiterführende Schule anstehen, wirkt dieser
Startnachteil fort: Statistisch gesehen bekommt
das Kind eines Arztes oder Juristen fünfmal
öfter eine Gymnasialempfehlung als ein
Facharbeiterkind. Schüler aus gebildeten
Elternhäusern legen siebenmal häufiger das
Abitur an einem Gymnasium ab als
Arbeiterkinder." (2016, S.43)
|
Der Soziologe
Peter BERGER hat noch in einem 2004 erschienen
Aufsatz von einer
"Integration durch Individualisierung"
gesprochen, was in dem bereits weiter oben
erwähnten Monatsthema
Das
kosmopolitische Projekt Ulrich Becks vor
dem Hintergrund der gesellschaftlichen
Änderungen kritisiert wurde. Der Klassenkampf
von oben wurde Mitte der Nuller Jahre von dem
Historiker Paul
NOLTE vorangetrieben, der sich zum
Sprachrohr einer
Generation Reform stilisierte. BARON
sieht bei NOLTE eine Umdeutung der sozialen
Frage von einem Umverteilungsproblem zu einem
Mentalitätsproblem:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Einer
der Wortführer dieser Bewegung ist der
Historiker Paul Nolte, der schon 2003 in der
Wochenzeitung Die Zeit einen Gastbeitrag
mit dem Titel
»Das
große Fressen«
veröffentlicht hat, in dem er behauptet:
»Nicht Armut ist das Hauptproblem der
Unterschicht. Sondern der massenhafte Konsum von
Fast Food und TV.«"
(2016, S.28)
"Den
endgültigen Durchbruch schaffte die These von
der Umdeutung der sozialen Ungleichheitsfrage in
ein Mentalitätsproblem unkultivierter
»Hartzer« im Jahr 2006, als die Studie
»Gesellschaft im Reformprozess« der SPD-nahen
Friedrich-Ebert-Stiftung erschien. Großes
Aufsehen erregte die Behauptung, ein zunehmender
Bevölkerungsteil gehöre dem sogenannten »abgehängten Prekariat« an. (...). Kurt Beck
(...) äußerte sich in einem Interview mit der
Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung
besorgt ob der Existenz einer neuen
Unterschicht, in der kaum noch
Aufstiegsbestrebungen zu finden seien. Er
definierte seine Diagnose als
»Unterschichtenproblem«." (2016, S.30)
|
Die räumliche Dimension der
sozialen Ungleichheit: Abgehängte in einer
abgehängten Stadt
BARON, der in
Kaiserslautern aufgewachsen ist, zeigt anhand
eines als sozialer Brennpunkt verschrienen
Wohnblocks die Situation von "Abgehängten in
einer abgehängten Stadt" auf. Dazu wählt er als
Ausgangsort eine Kneipe, die als Treffpunkt der
dortigen Unterschicht dient:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Man könnte
meinen, in ihrer Kneipe träfen sich alle
Stereotype der Unterschicht (...), die in den
USA als
»white trash« (weißer Abfall) gelten würden und
in Deutschland wahlweise
»Asoziale«,
»Hartzer«,
»Alkis« oder
»Prolls« heißen. (...).
Sie alle sind Abgehängte in einer abgehängten
Stadt. Kaiserslautern zählt knapp 100.000
Einwohner und ist beim Übergang von der
Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft
grandios gescheitert. Nach und nach haben die
arbeitsplatzträchtigsten Unternehmen diesem Ort
den Rücken gekehrt. Geblieben sind Menschen, die
einen Job verloren haben, von dem sie zu hoffen
wagte, er würde ihnen ein Leben lang erhalten
bleiben. Die Arbeitslosigkeit liegt rund vier
Prozent über dem Bundeswert und sogar fünf
Prozent über dem Landeswert für Rheinland-Pfalz.
Anstatt mit den Nachbarn Baden-Württemberg und
Hessen auf Augenhöhe zu agieren, steht
Kaiserslautern bei der Arbeitslosenquote auf
einer Stufe mit Sachsen-Anhalt und
Mecklenburg-Vorpommern."
Die Kaufkraft ist im Vergleich zu benachbarten
Großstädten wie Saarbrücken, Trier oder Mannheim
dementsprechend gering, so dass man sich
werktags in der Fußgängerzone eher in einer
heruntergekommenen britischen Industriestadt
wähnt als im ansonsten prosperierenden
Südwestdeutschland. (...). Nur die Technische
Universität bietet einer die Armut ignorierenden
Politik noch Gelegenheit, Kaiserslautern zum
unverzichtbaren Wissenschaftsstandort zu
überhöhen und davon abzulenken, dass diese Stadt
fast nur noch den wenigen technisch und
naturwissenschaftlich Hochqualifizierten etwas
bieten kann." (2016, S.20f.)
|
Das
Handelsblatt hat im vergangenen Jahr in
einer Serie zum Prognos-Zukunftsatlas die
Stadt Kaiserslautern als
Am Boden geblieben beschrieben.
Und es gibt für die Autorin nur zwei Orte, die
von den Deutschen
mit Kaiserslautern verbunden werden: Den Betzenberg und damit der Fußball sowie der
Asternweg, den BARON in den Mittelpunkt seiner
Betrachtungen zur Unterschicht stellt:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Wen es am
härtesten trifft, der landet hier im Asternweg
(...)(im) berüchtigten
»Texasblock«, dem der Ruf vorauseilt, besonders
brutale Zeitgenossen zu beherbergen. Bei
alteingesessenen Kaiserslauterern firmiert die
Gegend unter der alten Bezeichnung
»Kalkofen«, den die Stadt vor gut zehn Jahren in
Astern- und Geranienweg umbenannt hat. Umgeben
vom dicht bewachsenen Pfälzer Wald, lässt sich
das Gespenst des sozialen Brennpunkts von hier
nicht einfach sprachlich vertreiben: Kalkofen
ist stadtweit mehr als ein Name oder ein Ort, er
ist vor allem Warnung und Vorurteil. Was auch
mich traf, obwohl ich zwei Kilometer von dort
entfernt aufgewachsen bin.
Wer einmal hier strandet, kommt nicht mehr weg.
In den zehn baufälligen Wohnblöcken leben 350
Menschen in sogenannten Schlichtwohnungen
unterhalb des Existenzminimums. (...). 75 Euro
zahlen die Bewohner monatlich an die Stadt als
Nutzungsentgelt. Weil sie keinen Mietvertrag
haben, sind ihre Anrechte auf eine
menschenwürdige Wohnsituation stark
eingeschränkt." (2016, S.22)
|
Erst im Zuge
der Flüchtlingswelle entdeckten die Medien
hierzulande solche Viertel neu. Man spricht auch
nicht mehr von sozialen Brennpunkten, sondern
von "Quartieren
mit besonderem Entwicklungsbedarf".
In der FAS schrieb Inge KLOEPFER
Mitte 2014 der Sozialstaatsmentalität eine
zentrale Rolle für unterschiedliche räumliche
Entwicklungen zu. Jan HAUSER erklärte
im September 2016 in der FAZ den
sozialen Wohnungsbau zum Problem: Er sei dafür
verantwortlich, dass die Stadt Essen
geschrumpft sei, weil sie die falschen Leute
anzog: Sozialtransferempfänger statt
Doppelkarriere-Familien.
Am gleichen Tag hat Judith LEMBKE -
ebenfalls in der FAZ - den sozialen
Brennpunkt Mümmelberg in Hamburg entdeckt, um
Maßnahmen vorzustellen wie nicht nur die
Wohngegend gentrifiziert werden kann, sondern
vor allem entstigmatisiert. Diese wenigen
Schlaglichter zeigen bereits, dass die
Berichterstattung zur Wohnsituation einen
wichtigen Stellenwert in der
Unterschichtendebatte einnimmt. Zur Situation
am Kaiserslauterer Asternweg schreibt BARON:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Dass
Menschen im reichen Deutschland allen Ernstes
heute noch in solchen Verhältnissen leben müssen
- ohne warmes Wasser, ohne Heizung, ohne Dusche
-, das wollen viele aus der Mittelschicht nicht
wahrhaben.
Selbst die Eigenheimbesitzer, die hier ganz in
der Nähe leben und jeden Kontakt zu ihren
Nachbarn meiden wie der Teufel das Weihwasser,
denken nichts Gutes über diese Menschen. Sie
sehen in ihnen kaum mehr als Kleinkriminelle, Brutalos und Asoziale, die aus reiner
Bequemlichkeit dem Alkohol verfallen sind und
nicht mehr in ein bürgerliches Leben zurück
wollen. Hätte der Privatsender VOX nicht im
April 2015 und ein Jahr später jeweils einen
abendfüllenden Fernsehdokumentarfilm über den
Asternweg gesendet, viele von ihnen wüssten noch
immer nichts von den Zuständen in den
Schlichtwohnungen.
Mittlerweile hat sich ein Verein namens
»Asternweg - Eine Straße mit Ausweg« gegründet,
der die Wohn- und Lebenssituation der Bewohner
verbessern und ihnen zu einer neuen Chance
verhelfen will. (...). Die Politik hat dafür
bislang nicht gesorgt, obwohl der Kalkofen einer
der ältesten sozialen Brennpunkte Deutschlands
ist, der direkt nach dem Ersten Weltkrieg
entstanden ist." (2016, S.27f.)
"Viele
registrieren mit Argwohn, dass die Stadt
Kaiserslautern für sie jahrelang einfach nicht
für Duschgelegenheiten sorgen wollte. Kurze
Zeit, nachdem die Flüchtlinge angekommen waren,
funktionierten die Behörden aber ein
leerstehendes Haus um und bauten dort ein paar
Gemeinschaftsduschen ein. Die dürfen zwar
offiziell alle Bewohner nutzen, sie reichen aber
nicht einmal für die Geflüchteten." (2016, S.129)
|
Dass die
Politik und vor allem die Medien das Problem zu
weniger Wohnungen für Geringverdiener erst
aufgrund der Flüchtlingswelle aufgriffen, hat
Rechtspopulisten in die Hände gespielt. Hinzu
kommt, dass die Lage von Hartz IV-Empfängern
skrupellos von Geschäftemachern ausgenutzt wird.
Dazu heißt es bei Franziska SCHUTZBACH in der
aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Blätter für
deutsche und internationale Politik:
Das Geschäft mit der
Wohnungsnot
"Gut
dokumentiert sind (...) die Aktivitäten von
Private-Equity-Fonds in Nordrhein-Westfalen, die
mit sogenannten Hartz-IV-Geschäftsmodellen hohe
Renditen einfahren. Seit der Steuerbefreiung von
Veräußerungsgewinnen wechselten hier
insbesondere ehemalige Werkswohnungen mit einem
hohen Anteil an Hartz-IV-Empfängern unter den
Mietern in großer Zahl den Besitzer. Die neuen
Eigentümer setzten auf eine für sie rentable
Abwirtschaftung der Immobilien. Obwohl sie die
Bausubstanz verfallen ließen, waren ihre
Mieteinnahmen durch die Transferleistungen der
Jobcenter garantiert."
(März 2017, S.105)
|
BARON zeigt
auf, wie gesellschaftliche Debatten über die
Unterschicht das Denken der einfachen Leute
beeinflusst. Das Beispiel eines älteren
Arbeitslosen zeigt, dass mit der
Unterschichtdebatte die Gruppe der einfachen
Leute gespaltet wird:
Proleten
Pöbel Parasiten
"1998. (...).
Es war das Jahr seiner Entlassung bei dem
Nähmaschinenhersteller Pfaff, der ihm 20 Jahre
lang einen sicheren Arbeitsplatz geboten hatte.
Seine Erkenntnis nach all den Jahren in der
Perspektivlosigkeit bringt er (...) schnell auf
den Punkt: »Ob mit Arbeit oder ohne: Verarscht
wern wir doch ehe alle.« (...). Mit
»Unterschicht« verbindet Heinz nicht etwa sich
selbst. Ihm fällt da jemand ganz anderes ein:
»De Florida-Rolf!«
Welch ein gutes Gedächtnis! Denn die Geschichte
um Florida-Rolf liegt einige Jahre zurück. Im
Sommer 2003 und damit inmitten der Werbephase
für das
rot-grüne Sozialabbau-Programm Agenda
2010 berichtete die Bild-Zeitung über den
damals 64-jährigen Frührentner Rolf J., der im
US-amerikanischen Miami lebte und monatlich
Sozialhilfe aus Deutschland erhielt, womit er
seine Wohnung finanzierte. (...). Unerwähnt
geblieben sind in der breit rezipierten
Diskussion damals die amtsärztlich
diagnostizierten Krankheiten von Rolf J. ebenso
wie die Tatsache, dass es sich bei dem Gesetz
nicht um einen Ausdruck sozialstaatlicher
Dekadenz, sondern um eine Ausnahmegenehmigung
gehandelt hatte (...). Weniger als 1000 Menschen
nahmen dieses Gesetz zwischen 1949 und der
Abschaffung im Sommer 2003 in Anspruch. Was
nichts daran zu ändern vermochte, dass die
Medien kurz vor der Einführung der sogenannten
Hartz-Gesetze eine Diskussion entfachten, die
den bestehenden Sozialstaat als Hängematte
denunzierte." (2016, S.26f.) |
Für BARON ist
nicht etwa der vielzitierte Arbeiterstolz die
Grundlage für solche Spaltungsprozesse, sondern
der Neid:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Je stärker
jemand stolz sein Arbeitsethos nach außen trägt,
umso mehr können wir davon ausgehen, dass es
sich dabei nicht um Erwerbsarbeitsfreude
handelt, sondern um eine durch die ständige
Bedrohung vor sozialen Sanktionen ausgelöste
Überanpassung.
Wenn ich in meiner Familie oder deren Freundes-
und Bekanntenkreis genauer nachfrage, bestätigt
sich das dann auch fast immer als entscheidender
Grund, warum viele Prekäre so stark auf
vermeintliche Sozialschmarotzer draufhauen, die
offen damit umgehen, angeblich nicht arbeiten
gehen zu wollen: Es ist blanker Neid! Tief im
Innern sehen sich die Menschen nach einer lebensbejahenden Form der Faulheit und nach der
Freiheit vom Erwerbsarbeitszwang. Kaum eine
Utopie wäre emanzipatorischer als eine jenseits
dieses Zwangs." (2016, S. 105) |
Es wäre
jedoch falsch diesen Aspekt lediglich auf die
Unterschicht zu münzen, während der
Mittelschicht und Oberschicht andere Motive
zugeschrieben werden wie es bei BARON an einer
Stelle anklingt::
Proleten
Pöbel Parasiten
"Die
Unterschicht (...) dient auch als Drohpotenzial
für die Mittelschicht, der gezeigt wird, was
passiert, wenn sie die Versprechen des
Kapitalismus nicht für voll nimmt. (...).
Selbsthass kennzeichnet viele aus der
Unterschicht, während die Mittelschicht das
Radfahrer-Prinzip anwendet: Nach oben buckeln
und nach unten treten. Die Oberschicht verfügt
als Einzige über das, was man früher als
»subjektives Klassenbewusstsein« bezeichnet hat.
Ihre Aufgabe sieht sie darin, eigene Privilegien
zu sichern und Unfrieden unter den
Lohnabhängigen zu stiften." (2016, S.98f.) |
An solchen
Stellen erscheint die Analyse von BARON allzu
holzschnittartig. Die Soziologin Cornelia
KOPPETSCH beschreibt dagegen in ihrem Buch
Die Wiederkehr der Konformität (2013)
drei Formen der Reaktion auf Abstiegsängste in
der Mittelschicht: Die Logik des Erbes, die
Selbstoptimierung und die Beharrung. BARON
wendet sich in seinem Buch insbesondere gegen
das, was KOPPETSCH als Logik des Erbes
beschreibt, die sich häufig in links(liberalen)
Milieus finden läßt.
Die Verachtung der
einfachen Leute durch die Linken
Es ist die
Auseinandersetzung von BARON mit den
verschiedenen linken Milieus in Deutschland und
sein Engagement für die Kultur der einfachen
Leute, die dazu führte, dass sein Buch in den
Rezensionen im Gegensatz zum Buch von ERIBON
schlecht weggekommen ist. Das Problem dieser Art
von Auseinandersetzung mit den Linken liegt in
der Gefahr Lob von der falschen Seite zu
erhalten. Das Plädoyer für einen linken
Populismus verstärkt diese Gefahr zusätzlich.
BARON liegt
sicher richtig, wenn er Ressentiments bei den
Linken gegenüber der Arbeiterklasse vermutet,
wobei es aber keinen Unterschied macht, ob sie
Mittelschichtkinder oder soziale Aufsteiger
sind. Und sicher ist es verfehlt zu glauben,
dass diese Menschen das "natürliche Klientel"
der Linken seien. Das gilt noch nicht einmal für
Frankreich, wo der Kommunismus eine viel
stärkere Tradition als in Deutschland hatte. In
dieser Hinsicht wird ERIBONs Buch - auch von
BARON - zu einseitig ausgelegt.
Typisch für
etablierte linke Aufsteiger aus der
Arbeiterklasse ist die Einstellung der taz-Journalistin
Doris AKRAP, die ihr Elternhaus als engstirnig
beschreibt und die sich wie ERIBON als
Klassenflüchtling fühlt:
Rückkehr nach Flörsheim
"Ich war
ein Papakind. Meine jüngere Schwester das
Mamakind. Alles, was Mutter tat, dachte, mochte,
war mir suspekt. So wie ihr suspekt war, was ich
tat, dachte, mochte. (...).
Meine Mutter hatte keine Ahnung, was Klasse
bedeutete. Sie sprach von »den kleinen Leuten«,
so wie sie auch von »den Ausländern« sprach,
obwohl sie selbst mit einem verheiratet war und
eine ihrer Töchter, ich, eine
Aufenthaltsgenehmigung brauchte. (...).
Mein Vater verehrte Miles Davis, weil der, wie
mein Vater sagte, »immer auf der Flucht« war.
Immer auf der Suche nach dem Neuen. Mein Vater
war alles andere als ein Jazzkenner. Er war
Baustellenarbeiter, Küchenmonteur und arbeitete
für die US-Army in Hessen. Vielleicht verehrte
mein Vater Miles Davis, weil er selbst als
jugoslawischer Marinesoldat die neue Welt
bereist hatte. Vielleicht weil er vor seiner
Vergangenheit floh, in der die Nazis seine
Eltern, Geschwister, Tanten und Onkel ermordet
hatten, worüber er nie redete."
(taz.de, 24.12.2016)
|
Dass die
Arbeiterklasse links sei, hält sie für ein
Gerücht, das Bürgerliche in die Welt gesetzt
haben:
Rückkehr nach Flörsheim
"Die Linken
sind schuld daran, dass die Arbeiter heute
rechts wählen. Didier Eribons These, die
hierzulande vor allem von bürgerlicher Seite
begeistert rezipiert wurde, teile ich nicht
gänzlich. Schon allein deswegen, weil
mittlerweile völlig unklar ist, was und wo
»links« überhaupt sein soll. Und, weil
Deutschland nicht Frankreich ist.
Wenn ich meine Arbeitereltern fragte, warum sie
eigentlich nie kommunistisch wählten und sie
dann von Verbrechern sprachen, ist das auch ein
Ergebnis deutscher Politik, die kriminalisierte,
wer die Sache der Arbeiter radikal vertrat: Die
Kommunistische Partei wurde 1933 von den Nazis
und 1956 von der CDU verboten. Links war die
deutsche Arbeiterklasse in der BRD vor allem in
der Vorstellung bürgerlicher Linker. Aber nicht
in der Realität.
Meinen eigenen Arbeitereltern haben nie links,
sondern konservativ gewählt. Und jetzt sitze ich
da und frage mich, ob ich mich fragen muss,
welchen Teil ich dazu beigetragen habe, dass
meine Mutter nie links wurde. Das ist absurd. Es
wird viel über den Arbeiter geredet. Aber den
gibt es nun mal nicht. Auch für den Arbeiter
gilt wie für jeden Bürger das Recht auf
Individualität."
(taz.de, 24.12.2016)
|
ERIBON
beschreibt seine Familie als fest in der
kommunistischen Tradition der Arbeiterpartei
verwurzelt. Dies änderte sich jedoch nach der
68er-Revolte als die so genannte neue Linke
entstand. ERIBON zitiert seinen Vater und seine
Vorbehalte gegen diese linke Studentengeneration
und gibt ihm im Nachhinein recht:
Rückkehr nach Reims
"Als ich aufs
Gymnasium ging und ein trotzkistischer Linker
war, wurde mein Vater nicht müde, gegen
»die Studenten« zu wettern,
»die alles besser wissen« und die
»schon in zehn Jahren zurückkommen« würden,
»um uns zu regieren«. Für mich stand seine Meinung
emotional und übertrieben wie sie war, im
Widerspruch zu den historischen Interessen der
Arbeiterklasse. (...) Wenn ich aber sehe, was
aus denen geworden ist, die sich damals am
Mythos des proletarischen Aufstands berauschten
und den Bürgerkrieg predigten, wie könnte ich da
behaupten, dass mein Vater falschlag? Sie sind
genauso selbstsicher und vehement wie früher,
verurteilen heute jedoch (mit wenigen Ausnahmen)
all das, was auch nur von Weitem nach einem
Protest der
»populären Klassen« aussieht. Diese Leute haben erreicht,
was ihnen gesellschaftlich versprochen war. Sie
sind geworden, was sie werden sollten, und haben
sich dabei von der selbsterklärten Avantgarde
der Arbeiter (die sie für zu schüchtern, zu
»verbürgerlicht« hielten) in deren Feinde verwandelt."
(2016, S.118f.) |
Auch in
Deutschland hatte die Arbeiterklasse Vorbehalte
gegen die linken Studenten und auch hierzulande
wandten sich die Studenten im
roten Jahrzehnt
bald von den Arbeitern ab und es entstanden die
neuen sozialen Bewegungen als Vorboten der neuen
Bürgerlichkeit.
Sind die Linken schuld am
Rechtsruck der Arbeiterschaft?
ERIBON beschreibt den Rechtsruck
der Arbeiterschaft in Frankreich, wobei er
unterschiedliche Motive für die jeweilige Wahlentscheidung
annimmt. Er geht sogar so
weit, den Arbeitern, die den Front National
wählten Notwehr zuzugestehen
Rückkehr nach Reims
"Mit der Wahl
der Kommunisten versicherte man sich stolz
seiner Klassenidentität, man stellte diese
Klassenidentität durch die politische
Unterstützungsgeste für die
»Arbeiterpartei« gewissermaßen erst richtig her. Mit der
Wahl des Front National verteidigte man hingegen
still und heimlich, was von dieser Identität
noch geblieben war, welche die Machtpolitiker
der institutionellen Linken, die Absolventen der
ENA oder anderer technokratischer Eliteschulen,
in denen eine dominante, mittlerweile transpolitisch funktionierende Ideologie
fabriziert und gelehrt wurde, ignorierten oder
sogar verachteten." (2016, S.123)
"So
widersprüchlich es klingen mag, bin ich mir doch
sicher, dass man die Zustimmung zum Front
National zumindest teilweise als eine Art
politische Notwehr der unteren Schichten
interpretieren muss. Sie versuchten, ihre
kollektive Identität zu verteidigen, oder
jedenfalls eine Würde, die seit je mit Füßen
getreten worden ist und nun sogar von denen
missachtet wurde, die sie zuvor repräsentiert
und verteidigt hatten. (...) Entwürdigt fühlen
sich die Menschen vor allem dann, wenn sie sich
als quantité négligeable, als bloßes
Element politischer Buchführung und damit als
ein stummer Gegenstand politischer Verfügung
vorkommen." (2016, S.124) |
Aus dieser
Warte erscheinen die Linken dann schuld am
Rechtsruck der Arbeiterschaft. Sie haben ihre
scheinbar "natürliche" Klientel verraten, indem
sie ihr die Klassenidentität geraubt haben und
sie in die Arme des Front National getrieben
haben:
Rückkehr nach Reims
"Die
Eigenschaft Franzose zu sein, wurde zu seinem
zentralen Element und löste als solches das
Arbeitersein oder Linkssein ab." (2016, S.137)
"Wenn die
Linke die Mobilisierbarkeit aus dem
Selbstwahrnehmungshorizont der Gruppe löscht,
dann rekonstituiert diese sich anhand eines
anderen, diesmal nationalen Prinzips, anhand der
Selbstwahrnehmung als
»legitime« Population eines Territoriums, das einem
scheinbar weggenommen wird und von dem man sich
vertrieben fühlt: Das Viertel, in dem man lebt,
ist für das Selbstverständnis und die Sicht auf
die Welt nun wichtiger als der Arbeitsplatz und
die Position im sozialen Gefüge." (2016, S.139f.) |
Doch schaut
man sich seine Argumentation genauer an, dann
hegt ERIBON Zweifel daran, dass die
Arbeiterklasse die "natürliche" Klientel der
Linken ist. Vielmehr sei es notwendig den
richtigen Deutungsrahmen bereitzustellen, um die
Arbeiterklasse für sich zu gewinnen. Dass das
"Klasseninteresse" kein Automatismus ist, der
den Linken zu gute kommt, ist wahrlich keine
neue Erkenntnis, denn die Abkehr von der
Klassenanalyse und die Hinwendung zum Lebensstil
war ja gerade der Vorstellung geschuldet, dass
die Arbeiterschaft nicht mehr mobilisierbar sei.
Dass der neue Deutungsrahmen der
Individualisierungstheorie dann nicht mehr die
Arbeiterschaft, sondern die Akademiker und ihre
Lebenswirklichkeit fokussierte, war angesichts
der Bildungsexpansion und den entstehenden neuen
sozialen Bewegungen kaum verwunderlich. Man
könnte also sagen, dass ERIBON nun eine
Rückbesinnung auf die Arbeiterschaft als
Zielgruppe der linken Parteien vorschlägt:
Rückkehr nach Reims
"Vielleicht
ist das Band zwischen der
»Arbeiterklasse« und der Linken gar nicht so natürlich,
wie man gerne glaubt. Vielleicht handelt es sich
dabei einfach um das Konstrukt einer bestimmten
Theorie (des Marxismus), die alle anderen
Theorien ausgestochen hat und bis heute unsere
Wahrnehmung der sozialen Welt sowie unsere
politischen Kategorien bestimmt." (2016, S.141)
"Wenn die
Linke ihren eigenen Niedergang verstehen und
aufhalten will, muss sie sich nicht nur von
ihren neoliberalen Auswüchsen, sondern auch und
gerade von Mythologisierungen und
Mystifizierungen lösen, für deren
Aufrechterhaltung sich manche als Verfechter
einer neuen Radikalität feiern lassen. (...).
Die Stellung innerhalb des sozialen Gefüges und
der Arbeitswelt bestimmt noch kein
»Klasseninteresse« und sorgt auch nicht automatisch dafür,
dass die Menschen dieses als das ihre
wahrnehmen. Dazu bedarf es vermittelnder
Theorien, mit denen Parteien und soziale
Bewegungen eine bestimmte Sichtweise auf die
Welt anbieten. Solche Theorien verleihen den
gelebten Erfahrungen zu einem bestimmten
Zeitpunkt eine Form und einen Sinn, und die
selben Erfahrungen können ganz unterschiedlich
interpretiert werden, je nachdem, welcher
Theorie oder welchem Diskurs man sich gerade
zuwendet, um in ihnen einen Halt zu finden."
(2016, S.142f.)
"Aufgabe, vor
der kritische Intellektuelle und soziale
Bewegungen stehen: Es gilt, einen theoretischen
Rahmen und eine politische Sichtweise auf die
Realität zu konstruieren, die es erlauben, jene
negativen Leidenschaften, die in der
Gesellschaft insgesamt und insbesondere in den
populären Klassen zirkulieren (...) zu
neutralisieren; Theorien und Sichtweisen, die
neue Perspektiven erschließen und der Linken
einen Weg in die Zukunft weisen". (2016, S.146f.) |
Die Versöhnung der
zwei auseinandertriftenden linken
Politikrichtungen als Herausforderung
ERIBON
enthält sich in seinem Buch politischer
Ratschläge. Auch was den neuen Deutungsrahmen
betrifft (mit Elisabeth WEHLING könnte man auch
von politischem Framing sprechen), bleibt ERIBON
im Vagen. Was er vorschlägt ist eher eine Utopie
als eine Anleitung, die für die praktische
Politikformulierung relevant wäre:
Rückkehr nach Reims
"Muss man
annehmen, dass (...) der Untergang des
Marxismus, oder zumindest sein Verschwinden als
vorherrschender linker Diskurs, die notwendige
Bedingung war, um die Mechanismen sexueller,
rassischer und anderer Formen der Unterwerfung
sowie das Entstehen minoritärer Subjektivität
politisch zu denken? Möglicherweise muss man
das. Aber warum sollten wir zwischen
verschiedenen Kämpfen gegen verschiedene Formen
der Unterdrückung wählen müssen? Wenn das, was
wir sind, sich an der Schnittstelle mehrerer
kollektiver Bestimmtheiten und also mehrerer
»Identitäten« und Subjektivierungsweisen
abspielt, warum sollten wir dann eher die eine
als die andere in den Brennpunkt des politischen
Interessen stellen?"
(2016, S.234) |
BARON geht
sowohl was die Linken betrifft als auch was die
politischen Ratschläge betrifft weit über ERIBON
hinaus, was ihn zugleich angreifbarer macht. Was
ERIBON nur andeutet, das versucht BARON konkret
auf die deutsche Situation zu übertragen. Seine
Kritik an den Linken läuft darauf hinaus, dass
ihren diversen, postmodernen oder
grün-alternativen Identitätspolitiken der
übergreifende Deutungsrahmen einer
Klassenanalyse fehlt:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Da werden
unter Rückgriff auf postmoderne Vorstellungen
allerlei gesellschaftliche Normalitätskonzepte
als soziale Konstruktionen abgetan, von denen
sich alle befreien müssten - vom Geschlecht über
die sexuelle Orientierung und die Ernährung bis
hin zu ethnischen Zuschreibungen. Alles
politische Denken dieser Leute ist auf den
Versuch einer Stärkung der nicht-normierten
Identitäten fokussiert, deren Begründung
ausschließlich moralisch erfolgt. Wer sich
subjektiv von Diskriminierung betroffen fühlt,
dem wird das Selbstbewusstsein eingetrichtert,
jeden unbekannten Menschen ohne Rücksicht auf
einfachste Höflichkeitsgesten als Rassist,
Sexist, Heteronormativist und/oder Speziezist zu
beschimpfen.
Sie reklamieren im Dschungel der
identitätspolitischen Verbotsorgien das
sprachpolizeiliche Gewaltmonopol für sich."
(2016, S.179)
"Dass eine
kritische Analyse von Normalitätsvorstellungen
wichtig wäre, ist unstrittig. Wenn sie aber
losgelöst von Klassenanalysen stattfindet,
verfehlt sie jedes sozial verträgliche Ziel."
(2016, S.183)
"Als
moralisch Überlegene arbeiten sie in ihrem
denkwürdigen Diskriminierungs-Delirium innerhalb
eines unpolitischen, weil völlig losgelöst von
Klassenfragen agierenden Mikrokosmos, in dem
Klassensolidarität erst erlaubt ist, wenn die
als wichtiger erachteten Identitätsfragen
irgendwann geklärt sein sollten. Diese auf der
Anerkennungsebene verharrende und sich dort
hoffnungslos verzettelnde Art des Antirassismus
ist dann auch vollständig kompatibel mit
neoliberalen Gleichheitsbildern". (2016, S.191)
"Erst in
einer Gesellschaft jenseits kapitalistischer
Ausbeutung, ohne Hunger und den auf dem
unermesslichen Reichtum der Wenigen beruhenden
materiellen Mangel der Vielen wäre es
angemessen, Konsum- und Identitätsfragen jene
Bedeutung beizumessen, die sie gegenwärtig in
der deutschen Linken einnehmen. Die
Schwerpunktsetzung der Linken geht an der
Lebensrealität ihrer natürlichen Klientel
vorbei. Intelligente Identitätspolitik mit der
politischen Ökonomie unserer Zeit zu verknüpfen,
das hieße, den Leuten nicht ihre Sprache oder
ihren Fleischkonsum vorzuwerfen, sondern sich zu
fragen, warum der Siegeszug der Discounter mit
ihren Billigfleischbergen ausgerechnet um die
Jahre 2004/2005 herum begann: Dann nämlich, als
Gerhard Schröders rot-grüne Bundesregierung
viele Menschen durch das Hartz-IV-Gesetz in
Armut stürzte.
Anstatt über Umverteilung zu reden, wüten
moralistische Linke gegen die angeblich perverse
Unterschicht". (2016, S.202f.)
|
Die
Argumentation von BARON läuft immer wieder
darauf hinaus, dass die linke Identitätspolitik,
die sich auf soziale Anerkennung von Minoritäten
beschränkt, unzureichend ist. Sie müsse
zuallererst Verteilungsfragen der
Klassengesellschaft ins Zentrum der Politik
rücken. Diese Kritik wurde schon Anfang des
Jahrtausends von Nancy FRASER in den USA
vertreten
Die halbierte Gerechtigkeit
"Nancy
Fraser, eine der führenden Theoretikerinnen des
amerikanischen Feminismus, setzt sich in ihrer neuen
Studie mit der derzeitigen Situation der Linken nach dem
Zusammenbruch des Sozialismus auseinander. Fraser zufolge
befinden wir uns im Zeitalter des »Postsozialismus«, für
den Mangel an zukunftsorientierten Perspektive, ein
wiedererstarkender Wirtschaftsliberalismus und
insbesondere die Entkopplung der Identitätspolitik von der
Sozialpolitik konstitutiv sind. Dieser Wechsel von einer
Politik der sozioökonomischen Umverteilung zugunsten einer
Politik der Anerkennung von ethnischer und religiöser
Differenz droht die Linke in den USA in eine »soziale« und
eine »kulturelle« Linke zu spalten und wird daher in »Die
halbierte Gerechtigkeit« einer kritischen Überprüfung
unterzogen." (Klappentext) |
Auf dieser
Website wurde diese Kritik bereits im Jahr 2002
anlässlich einer
Rezension des Buchs Die Tyrannei der Lust
ausführlich dargestellt. Ein Hauptproblem dürfte
sein, dass sich die gleichzeitige Realisierung
aller Aspekte einer solch gezwungenermaßen
komplexen Politik schwierig gestaltet. Die
entscheidende Frage wäre ja, wie verhindert
werden kann, dass neue Einseitigkeiten wie im
Marxismus entstehen, wo Minoritäten- bzw.
Frauenfragen als unwichtiger Nebenwiderspruch galten.
Der Moralismus in
linksradikalen und linksliberalen Milieus als
Hindernis für eine Neuausrichtung linker Politik
Ein
Zurück zum orthodoxen Marxismus ist nicht
möglich, aber eine neue Utopie ohne dessen
Vereinseitigungen existiert
ebenfalls noch nicht. Weil eine solche Aufgabe
nicht nur BARON sichtlich überfordert hätte
(vgl. BARON 2016, S.147), beschränkt er
sich zum einen darauf den Moralismus der Linken zu
geißeln. Das 5. Kapitel Mit der Kreditkarte
die Welt retten über das gute Leben der
Bessermenschen knöpft sich die grün-alternative
Linke vor, während sich das 6. Kapitel Alle
wollen Opfer sein mit den postmodernen
Subkulturen beschäftigt. Zum anderen geht
es ihm um grundsätzliche Richtungsentscheidungen
in der Sozialpolitik.
Der grün-alternative
Moralismus als Hindernis einer Armutsbekämpfung
im eigenen Land
BARON
kritisiert die Idee des guten Lebens, weil diese
Ideologie dazu führt, dass die Armut im eigenen
Land nicht bekämpft wird und die Konsumkultur
der Armen der Verachtung preisgegeben wird. Er
wirft den Grün-Alternativen zudem vor, dass ihr
ökologisches Verhalten scheinheilig ist:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Für die
Liberalen sind die in absoluter Armut
existierenden Menschen selbst schuld an ihrer
Lage, für die Grünen sind die Menschen in
relativer Armut verantwortlich für das Elend der
Welt." (2016, S.152)
"Die Idee vom
guten Leben, das sich Grüne als das einzig
moralisch richtige auserkoren haben, macht die
Diskriminierung vieler nicht auf diese Weise
Sozialisierter salonfähig. Die Grün-Alternativen
(...) machen sich vor, es gäbe ein richtiges
Leben im falschen - und alle, die das anders
sehen, werden als unanständig, doof oder boshaft
verachtet. Die Arbeiter, vor allem jene im
Grundsicherungsbezug, in ihrer lebensweltlichen
Entscheidungsfreiheit aus finanziellen wie
kulturellen Gründen meist stark eingeschränkt
sind, treffen Hohn, Spott und Hass vonseiten
Grün-Alternativer diese Gruppe besonders stark.
Nichts als Abscheu haben sie übrig für die
angeblich konsumgeilen Hartzer, die einfach
keine Bio-Produkte essen wollen, sondern zu
Discountern gehen und den ganzen Tag
»Kohlehydrate in sich reinstopfen« (O-Ton des
langjährigen prominenten Grünen-Politikers
Oswald Metzger).
Dass im Weltbild dieser Menschen, die das gute
Leben jedem in genau der Weise aufzwingen
wollen, wie sie es selbst leben, kein Platz für
die wahre Armut in Deutschland ist, verwundert
da nicht. Die Grün-Alternativen sind blind
gegenüber anderen Lebenswelten, und sie
bekämpfen die von relativer Armut betroffenen
Menschen mehr als die kapitalistischen
Strukturen."
(2016, S.153f.)
"Die
Grün-Alternativen wollen die Menschheit von
Armut und Krieg durch Geldverprassen an der
richtigen Stelle erlösen. (...). Ginge es nach
den Bessermenschen, müsste darum jeder
gleichermaßen gezwungen werden, seinen monetären
Beitrag zu leisten. Dabei hat jeder
Hartz-IV-Empfänger eine bessere CO2-Bilanz als
all die Bio-Fair-Trade-Konsumkritikergruppen,
die zu ihren Bildungsreisen nach Indien oder
Tansania sicher nicht mit dem Fahrrad
aufbrechen, sondern mit dem Flugzeug die an
modernen Fortbewegungsmitteln größte
Dreckschleuder nutzen." (2016, S.157)
|
BARON
bezeichnet mit Robert MISIK unsere
kapitalistische Gesellschaft als
"Kulturkapitalismus" und beschreibt damit den Konsum als zentrales
Distinktionsmerkmal unserer Kultur. Der richtige
Konsum wird damit zu einer Frage des
Klassengeschmacks:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Der
Journalist Robert Misik bezeichnet unsere
westliche Welt als Kulturkapitalismus, in dem
sich Identität über Konsum konstituiert. Hier
gelte das Motto: Ein positives Image ist alles.
Und wo alle danach streben, ein positives Image
aufzubauen, muss es als Gegenpol natürlich ein
negatives Image geben, von dem man sich
entschieden abgrenzen kann. Ein solch positives
Image zu kreieren erfordert nun aber aufgrund
des grün-alternativen Gebots zum richtigen
Konsum einen gewissen Inhalt im Portemonnaie, so
dass die materiell Armen fortan auch kulturelle
arm und damit gleich doppelt stigmatisiert sind:
»Wer materiellen Mangel leidet und auch noch
symbolisch deklassiert ist, dem klebt schnell
das 'Loser'-Image an. Und wer als Loser gilt,
der wird heute als Aussätziger behandelt, als
einer, der nicht hineinpasst in die
hyperschnelle Leistungsgesellschaft unserer
Tage; der sein Schicksal verdient hat, weil er
einfach nicht kreativ genug ist.«
Das schlechte Image definiert sich hierzulande
(...) im Klassengeschmack der Unterschicht".
(2016, S.154)
|
Den
Mentalitätsunterschied zwischen Grünen(-Wähler)
und FDP(-Wähler) sieht BARON nur darin, dass die
FDP dezidiert Stellung zu den Armen nimmt,
während die Grünen nie zugeben würden, dass
sie genauso denken:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Ausgerechnet
ein Redakteur der taz hat im Jahr 2010
eine mustergültige Charakterisierung der Partei
der Grünen und damit auch der institutionellen
Keimzellen (...) vorgenommen. Nachdem FDP-Rüpel
Guido Westerwelle gegen Hartz-IV-Empfänger
seinen als
»spätrömische Dekadenz« formulierten
Faulheitstadel vorgebracht hatte, folgte ein
Shitstorm vonseiten einiger Grünen-Politiker,
aber zugleich eine merkwürdige Welle der
Zustimmung in Medien und Öffentlichkeit.
Jan Feddersein stellte in der taz die
korrekten Bezüge her:
»Die grüne Wählerschaft war die verständigste,
als es unter Kanzler Schröder um das Hartz IV
genannte Konstrukt aus christlicher Soziallehre
und rheinisch-kapitalistischem
Almosenbewusstsein ging. Die FDP sagt offen,
dass Armut Mist ist und man mit ihr nichts zu
tun haben will. Die Grünen hingegen würden das
niemals offen aussprechen, leben aber so. Man
wohnt im angesagten Berlin-Kreuzburg und schickt
die Gören auf eine elendsarme Schule entweder im
eigenen Quartier oder gleich in einem anderen
Viertel. Grüne würden nicht offen sagen, dass
Unterschicht unter ihrer Würde sei. Aber man
lebt materiell so sehr in trockenen Tüchern,
dass die Antwort auf die Frage des Ökologischen
immer eine der besseren Kreise bleibt. Die
Grünen eint eine gusseiserne Aversion gegen
alles Prollige - nicht cool, nicht öko, nicht
gebildet, nicht anschlussfähig an sich selbst.«"
(2016, S.168)
|
Tatsächlich
führte die Agenda-Politik von Rot-Grün in erster
Linie zu innerparteilichen Konflikten in der SPD
und letztlich zur Abspaltung von Teilen der SPD,
was bekanntlich zur Neugründung der Linkspartei
führte. BARON wendet sich auch gegen Strömungen
wie des Postwachstums und des Neominimalismus
und den Kosmopolitismus von Rucksackreisenden.
Kritik an der
Erwerbszentrierung des Sozialstaats
BARON
prangert die Glorifizierung der Erwerbsarbeit
an. Tatsächlich ist die Erwerbszentrierung des
Sozialstaats in Deutschland ausgeprägter als in
vielen anderen Ländern. Das Lob der
Erwerbsarbeit stellt den Spaßarbeiter in den
Mittelpunkt. Arbeit ist in dieser Sicht
Selbstverwirklichung. Eine solche Ideologie
entspricht am ehesten der Lebensweise und den
Vorstellungen der oberen Mittelschicht. BARON
stellt dieser Ideologie die harte Arbeit der
einfachen Leute gegenüber und fordert deshalb
ein Abrücken von der Erwerbszentrierung:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Linke aus
der Mittelschicht ohne häufigen Kontakt zu den
von bürgerlicher Bildung fern Gehaltenen (...)
inszenieren sich selbst als Teil des
Proletariats und werfen mir zugleich vor, mit
meinem forcierten Einsatz für diese Menschen
würde ich eine Kultur verteidigten, die
Kommunisten doch gerade abschaffen wollen. Das
Ziel der Linken bestände darin, die
Klassengesellschaft und damit auch das Sosein
der Arbeiterklasse abzuschaffen. Deshalb sei es
nicht falsch, sondern richtig, das Proletarische
an sich zu verachten und der Arbeiterklasse
nicht dabei helfen zu wollen, durch Bildung in
den Rang der Kapitalistenklasse aufzusteigen.
Ein cleveres Argument, mit dem Linke sich nicht
nur gegen jede Form von Kritik an ihrem elitären
Gehabe immunisieren, sondern auch ihre verwegene
Fetischisierung der Erwerbsarbeit weiter
kultivieren.
Die Glorifizierung der Erwerbsarbeit nimmt
gesamtgesellschaftlich zu. (...). Eine
Sichtweise, der ich mit zunehmendem Alter, aber
schon als Kind skeptisch gegenüberstand.
Irgendwann nämlich realisierte ich, wie
zerstörerisch die Arbeit meines Vaters für
seinen Körper und für seinen Geist war. Solange
er diesen harten Job machte, das merkte ich,
konnte er vom Alkohol gar nicht loskommen, weil
er sich seinen Arbeitsalltag schönsaufen
musste." (2016, S.109f.)
"Gerade Linke
müssten (...) für ein Sozialsystem trommeln, das
nicht mehr die menschliche Arbeitskraft als Kern
der Wertschöpfung betrachtet. Ob sich das dann
als Forderung nach einem bedingungslosen
Grundeinkommen äußert, in der Förderung von
Teilzeitarbeit bei vollem Lohnausgleich oder
etwas ganz anderem, müssten die
debattenfreudigen Linken noch unter sich
ausfechten". (2016, S.113)
|
Das
bedingungslose Grundeinkommen wird von vielen
gefordert, sogar von Neoliberalen, die darin ein
Mittel zum Abbau des Sozialstaats sehen. Hinzu
kommt, dass es auch jenen zugute käme, die es
nicht benötigen würden. Statt sich also mit
überzogenen Forderungen, die sich als Bumerang
erweisen könnten, zu profilieren, wären kleine
Schritte besser.
In der
Debatte um die Altersarmut zeigt sich z.B. dass
die Arbeit von Rentnern über die
Regelaltersgrenze hinaus, von Neoliberalen
dahingehend interpretiert wird, dass diese
Menschen nicht aus Not, sondern wegen dem Spaß
an der Arbeit arbeiten würden. Dabei wird jedoch
meist unterschlagen, wer in welchen Bereichen
überhaupt weiterarbeitet. In dem Beitrag
Abhängige Erwerbstätigkeit im Rentenalter. Erste
Erkenntnisse auf betrieblicher Ebene der
Zeitschrift WSI-Mitteilungen (Heft
2/2017) weisen Jutta SCHMITZ & Lina ZINK darauf
hin, dass die Motive der Arbeit von Rentnern
sehr unterschiedlich sein können:
Abhängige
Erwerbsarbeit im Rentenalter: erste Erkenntnisse auf
betrieblicher Ebene
"Motivlagen
(...) lassen sich theoretisch durch die
Extrempole der matereIlen Motive (wie
Armutsvermeidung, Lebensstandardsicherung,
Finanzierung von Urlauben oder einmaligen
Reparaturen/Anschaffungen) und immateriellen
Beweggründe (wie soziale Kontakte, Freude an der
Tätigkeit, Weitergabe von Wissen, Erhalt der
Fitness) ordnen."
(2017, S.109)
|
SCHMITZ &
ZINK schätzen, dass heutzutage bereits etwa ein
Drittel weiterarbeiten, um Armut zu vermeiden.
Sie gehen davon aus, dass dieser Anteil weiter
steigen wird. Dass dieser Anteil noch gering
ist, liegt zum einen daran, dass die
gesundheitlichen Voraussetzungen vorhanden sein
müssen und zum anderen muss auch ein
angemessenes Angebot von Arbeitsplätzen
vorhanden sein. In beiden Bereichen mangelt es.
Neoliberale streben jedoch nicht etwa
Verbesserungen in diesem Bereich an, sondern im
Gegenteil: Die Rentnerarbeit soll für
Arbeitgeber billiger werden, worauf die
Flexi-Rente abzielt. Eine solche Politik wird
auf dem Rücken der Arbeitnehmer ausgetragen und
erhöht den Zwang zur Erwerbsarbeit unter
schlechten Bedingungen. Eine Politik, die
dagegen die Bedingungen der Erwerbsarbeit und
die Entlohnung verbessern würde, wäre ein
sinnvollerer Beitrag zur Eindämmung der
Erwerbszentrierung als ein utopisches
Grundeinkommen, bei dem die Kämpfe um die
Ausgestaltung kontraproduktiv wären.
Sind die Studenten arm
oder nur privilegiert?
BARON
beschreibt seine studentische Situation aufgrund
seiner sozialen Herkunft als benachteiligt und
als Ausnahme:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Deutschland
lässt sich (...) nur als Klassengesellschaft
beschreiben. Auch wenn die Quote der
Studienberechtigten eines Jahrgangs im Jahr 2012
bei sagenhaft sozialdemokratisch anmutenden 59,6 Prozent stand
und die Zahl der Studierenden mit 2,8 Millionen in absoluten
Zahlen so hoch wie zuvor in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland liegt (...): Von 100
Kindern aus Nicht Akademiker-Haushalten
studieren 23, bei Kindern aus
Akademiker-Haushalten sind es 77." (2016, S.15) |
Die von BARON
zitierten Zahl von 2,8 Millionen umfasst nicht
nur die Studenten des Erststudiums, die für eine
Einschätzung seiner Situation relevant wären.
Gemäß der
20. Sozialerhebung des Studentenwerks, die
im Jahr 2012 stattfand, hatten 55 Prozent der
Universitätsstudenten (inklusive
Kunsthochschulstudenten) einen Elternteil mit
Universitäts- oder Fachhochschulabschluss. Bei
den Fachhochschulstudenten sind es nur 38 %
gewesen
(vgl. 2013, Bild 3.12, S.83).
Wer also 2012
an einer Universität studierte hatte sehr
viele Leidensgenossen, die in der gleichen Lage
waren, dass sie keinem Akademikerelternhaus
entstammten. Diese vielen Studenten bleiben bei
BARON außen vor. Das mag daran liegen, dass
BARON aus einem Elternhaus ohne Berufsabschluss
kommt. 2012 kamen lediglich ein Prozent
derjenigen, die an der Universität ihr
Erststudium absolvierten aus einem solchen
Elternhaus. Von daher ist die Situation von
BARON auch im Vergleich zu den Studenten aus
Nicht-Akademikerelternhäuser außergewöhnlich.
Wenn jemand seine Sicht auf die Welt kritisiert,
wäre das also zu berücksichtigen.
BARON
kritisiert, dass Mittelschichteltern in den Mainstreamzeitungen im Interesse ihrer
studierenden Kindern das Luxusproblem fehlender,
preiswerter Studentenwohnheime als vorrangiges
Problem behandeln würden:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Als gäbe es
im deutschen Bildungswesen kein drängenderes
Problem, schreiben die studierten und fest
angestellten Journalisten im Sinne ihres eigenen
noch immer oft genug beruhigend fülligen
Portemonnaies zugunsten ihrer studierenden
Kinder wilde Pamphlete gegen die vermeintlich
unbezahlbaren Buden für angehende Akademiker.
Nicht nur, dass viele von ihnen später einmal
die Topverdiener dieser Gesellschaft sein
werden, ist es auch verlogen, den Mythos vom
armen Studenten aufrechtzuerhalten. Die meisten
unter ihnen leben sehr gut vom Einkommen ihrer
Eltern. Warum sollte die Politik ausgerechnet
Studentenwohnheime subventionieren? Wäre nicht
der erste Schritt, reichlich Geld in die bessere
soziale Durchlässigkeit des Bildungssystems zu
stecken, bevor über solche Fragen nachgedacht
werden kann? Was soll dieses junglinke Umdeuten
des eigenen Lebensstandards in eine karge
Existenz am Rande des Verhungerns? Das trifft
die wirklich Armen und Perspektivlosen dieser
Gesellschaft
umso härter." (2016, S.68f.) |
Jeder
Zeitungsleser weiß, dass pünktlich zum
Semesterbeginn in den Mainstreamzeitungen die
Wohnungsnot angeprangert wird. Der aktuelle
Armutsbericht der Sozialverbände 2017 weist
darauf hin, dass bei der Erfassung der Armut in
Deutschland folgende Personengruppen nicht
erfasst werden:
Menschenwürde ist
Menschenrecht. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2017
"Da
bei den Armutsanalysen das Haushaltseinkommen herangezogen wird,
ein entsprechender Wert für Personen in
Gemeinschaftsunterkünften jedoch nicht vorliegt, werden
lediglich Menschen gezählt, die einen eigenen Haushalt führen.
Damit bleiben relevante Gruppen außen vor, seien es die 185.000
Studentinnen und Studenten in Gemeinschaftsunterkünften, seien
es die rund 335.000 wohnungslosen Menschen, 764.000
pflegebedürftige Menschen in Heimen, rund die Hälfte davon auf
Sozialhilfe angewiesen, die über 200.000 behinderten Menschen in
vollstationären Einrichtungen oder auch die vielen Flüchtlinge
in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften."
(2017. S.5) |
Studentenwohnheim ist nicht gleich
Studentenwohnheim. Oder anders formuliert: Nicht
jedes Studentenwohnheim gilt als
Gemeinschaftsunterkunft, die nicht erfasst wird. Gemäß der
Wohnraumstatistik 2016 des
Studentenwerks gab es am 1. Januar 2016 in
Deutschland 239.934 Wohnheimplätze für die rund
2,48 Millionen Studenten. Diese Zahl liegt um
über 50.000 höher als die Zahl des
Armutsberichts. Es dürfte sich dabei um besser
ausgestattete Studentenapartments handeln, die
als Privathaushalte gezählt werden.
Der
Armutsbericht reagiert auch auf die Tatsache, dass
der Kirchenfunktionär Georg CREMER in seinem
Buch
Armut in Deutschland kritisiert hat,
dass bei der Armutsquote Studenten in die
Statistik mit eingehen, die nicht arm, sondern
privilegiert seien. Dies wurde in der
neoliberalen Mainstreampresse wohlwollend
registriert, um den relativen Armutsbegriff
grundsätzlich zu
diffamieren. Im aktuellen Armutsbericht heißt es
deshalb zur Armutsquote der 18-25-Jährigen:
Menschenwürde ist
Menschenrecht. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2017
"Selbst
wenn bei der Gruppe der jungen Erwachsenen berücksichtigt werden
muss, dass sich hierunter auch Studenten befinden, die zwar
selbst über wenig Einkommen verfügen, aber aus wohlhabenden
Haushalten stammen, konnte Groh-Samberg mit entsprechenden
Vergleichsrechnungen (...) zeigen, dass zwar »eine solche
Korrektur (…) zu einer deutlichen Reduktion der Armutsquoten
junger Erwachsener und tatsächlich auch zu einer Abschwächung
der zeitlichen Zunahme von Armut bei jungen Erwachsenen (führt).
Gleichwohl konnte auch mit dieser Betrachtungsweise eine
signifikante Zunahme der Armut über die Zeit festgestellt
werden.«"
(2017. S.5) |
Der
Armutsbericht verweist auf das Gutachten
Expertise zur Entwicklung und Struktur von
Jugendarmut von Olaf GROH-SAMBERG, in
dem überprüft wurde, inwiefern die Armutsquote
durch das Alleinleben von Studenten mit reichen
Eltern verfälscht wird. Das Problem beschreibt
GROH-SAMBERG folgendermaßen:
Expertise zur Entwicklung und
Struktur von Jugendarmut
"Eine
zentrale Problematik der konventionellen
Vorgehensweise bei der Analyse relativer
Einkommensarmut besteht im Fall der jungen
Erwachsenen darin, dass ein Teil dieser jungen
Erwachsenen im Alter von etwa 16 bis 27 Jahren
noch zu Hause bei den Eltern wohnt, ein anderer
Teil jedoch bereits ausgezogen ist und einen
eigenen Haushalt führt – aber dennoch
finanzielle und sonstige Unterstützung von den
Eltern erfährt. Beim konventionellen Vorgehen
der Armutsmessung wird jedoch die Annahme
getroffen, dass nur Personen, die in einem
gemeinsamen Haushalt leben, ihre monetären
Ressourcen miteinander teilen (»poolen«), und
getrennte Haushalte als unabhängige
Wirtschaftseinheiten zu betrachten sind. Das
führt dann häufig dazu, dass dasselbe Kind aus
einem wohlhabenden Elternhaus als »reich«
erscheint, wenn es noch bei den Eltern im
Haushalt lebt, aber als »arm«, wenn es bereits
ausgezogen ist. Und dies, obwohl die letztere
Alternative – der eigene Haushalt –
möglicherweise sogar häufiger bei wohlhabenderen
Familien zu finden ist als bei Familien mit
niedrigem Einkommen. Vor diesem Hintergrund
könnte die starke und zunehmende
Armutsbetroffenheit von jungen Erwachsenen unter
den Verdacht gestellt werden, Resultat eines
statistischen oder zumindest demografischen
Artefakts zu sein: Wenn immer mehr junge
Erwachsene studieren oder längere
Ausbildungsgänge wählen und dabei – eventuell im
Zeitverlauf zunehmend – aus dem Elternhaus
ausziehen, dann steigt auch die relative
Einkommensarmut in dieser Altersgruppe übermäßig
an."
(2013. S.27f.) |
GROH-SAMBERG
beziffert das Problem auf immerhin rund 25 % der
einkommensarmen Jugendlichen im Alter von 15-30
Jahren, die in Wirklichkeit sehr wohlhabende
Eltern haben, aber durch ihren Auszug aus dem
Elternhaus als arm erscheinen. Von diesen rund
25 % sind rund die Hälfte Studierenden, d.h. der
Anteil dieser Population von Studenten mit
reichen Eltern beträgt rund 12,5 % der
15-30-Jährigen:
Expertise zur Entwicklung und
Struktur von Jugendarmut
"Etwa
ein Viertel der einkommensarmen jungen
Erwachsenen hat (...) Eltern, die mit über 150
Prozent des Median-Einkommens als sehr
wohlhabend bezeichnet werden können. Dieser
Anteil unterscheidet sich kaum von dem nicht
armer junger Erwachsener. Deutlich wird auch,
dass insbesondere Studierende überwiegend (50 %)
wohlhabende Eltern haben. Nur ein kleiner Teil
der Studierenden hat Eltern, die in Armut (4 %)
oder Niedrigeinkommen (7 %) leben."
(2013. S.29) |
GROH-SAMBERG
ist jedoch als Verfechter des
Individualisierungsparadigmas gegen eine
Korrektur der Armutsquote, weil der Auszug von
Kindern unter diesem Gesichtspunkt als Wert an
sich gilt:
Expertise zur Entwicklung und
Struktur von Jugendarmut
"Insgesamt
negiert diese Vorgehensweise (...) die
ökonomische Unabhängigkeit von selbstständig
haushaltenden Jugendlichen und jungen
Erwachsenen gegenüber ihren Eltern vollständig
und stellt damit gleichsam das andere Extrem zur
konventionellen Sichtweise dar, bei der beide
Haushalte als vollständig getrennte
Wirtschaftseinheiten betrachtet werden."
(2013. S.29) |
Der
Armutsbericht schließt sich dieser normativen
Sichtweise an, während Georg CREMER diese Sicht
nicht teilt. Und man darf davon ausgehen, dass
BARON der Sicht von CREMER in dieser Hinsicht
näher steht als der von GROH-SAMBERG. Man sieht
an diesem Beispiel, dass die
Individualisierungstheorie die Interessen der
Akademikerschicht vertritt und deshalb auch als
ein Ansatz bezeichnet werden kann, der die
Besitzstandswahrung der oberen Mittelschicht begünstigt.
Die Imitierung der
Armutskultur als Ausdruck der Verachtung der
wirklich Armen
BARON
kritisiert die Moden von Studenten und Linken,
die die Armutskultur imitieren, und sieht in
ihnen eine Verachtung der einfachen Leute bzw.
der Unterschicht. Dazu gehören für ihn neben Trash-Partys von Leuten in Trainingsjacken auch
das verarmte Aussehen, die Küfas, das Containern
oder das Hartz IV-Fasten:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Volxküche
(kurz: VoKü) ist eine linke Tradition, bei der
Essen zum Selbstkostenpreis ausgegeben wird.
Eigentlich eine Spitzenidee. Mittlerweile heißt
die VoKü häufig
»Küche für alle« (Küfa). Eine Mogelpackung: Die
Küfa findet vor allem in vegetarischen und
veganen Kreisen studierender und studierter
Menschen statt, die sich durch ihre freiwillige
Askese den unpolitischen Hipstern angleichen,
die den Style der Armen kopieren, um zu
demonstrieren:
»Ich könnte mich teuer kleiden und exquisit
essen, ich hab es aber im Gegensatz zum an
Erwerbsarbeit oder Sozialstaat hängendem Pöbel
nicht nötig.«" (2016, S.192)
"Heute ist
von der einst so wichtigen linken Szene in
Großstädten wie Frankfurt am Main, Berlin oder
Hamburg fast nur noch das Mönchische geblieben:
die strikte Ablehnung von allem, was
Annehmlichkeit und Spaß versprechen könnte. Wie
sich diese selbstgewählte Askese der linken
Szene aus feministischer Sicht auswirkt,
beschreibt die langjährige Aktivistin Ilona
Bubeck:
»Durch die Ablehnung von materiellem Luxus
werden Unterschiede untereinander weggewischt
und gleichzeitig die zu anderen Frauen
verdeutlich. Frauen aus der Arbeiterklasse,
denen verarmtes Aussehen verhasst ist, wird ihre
gute Kleidung zum Vorwurf gemacht, während
Secondhand-Klamotten schon als politische
Überzeugung gelten. Mittelschichtfrauen können
sich entscheiden, 'arm' zu sein, was in der
Regel heißt, sich in bestimmter Weise zu
kleiden, kaum Luxusartikel zu besitzen und lange
Jahre zu studieren, statt abhängig zu arbeiten.
Gerade diejenigen, die sich vom bürgerlichen
Elternhaus abgrenzen wollen, werfen den anderen
'Bürgerlichkeit' vor. Frei gewählte Armut lässt
sich leicht leben - die Erbschaft im Hintergrund
als Sicherheit wird vor sich selbst und den
anderen verheimlicht.«" (2016, S.194)
"Aus
der von den meisten Obdachlosen als entwürdigend wahrgenommenen
Notwendigkeit, in Mülltonnen nach weggeworfenen Lebensmitteln
oder Pfandflaschen zu suchen, machen diese moralistischen Mittelschichts-Linken dann das Happening des Containerns, indem
sie sich nachts zu den Abfällen von Supermärkten schleichen und
den noch halbwegs brauchbaren Inhalt abstauben, um Geld sparen
zu können für die Karte zum nächsten alternativen
Punkrock-Festival." (2016, S.200)
"Die
Journalistin Kathrin Hartmann beschreibt in
ihrem lesenswerten Buch
»Wir müssen leider draußen bleiben«, wie
linksliberale Institutionen wie die Evangelische
Landeskirche Hannover und die Diakonie Hamburg
zum sogenannten Hartz-IV-Fasten einluden: Für
die Dauer der christlichen Fastenzeit lebten die
Teilnehmer freiwillig von dem für sie
errechneten ALG-II-Satz - mit dem Ziel, mehr
Sensibilität für die Lebenssituation materiell
Bedürftiger zu schaffen. Eine gute Idee?
Tatsächlich ist es beim
»Hartzen for fun« aber nicht möglich, all das
nachzuempfinden, was Hartz-IV-Bezieher
tagtäglich psychisch und physisch mitmachen
müssen. Hartmann stellt das platisch dar:
»Von den Hartz-IV-Fastern war niemand gezwungen,
Kleider aus zweiter Hand zu kaufen, bei Tafeln
Essen zu holen oder zu verzweifeln, weil die
Waschmaschine kaputt ist. Niemand musste
Depressionen bekommen oder die letzten Tag des
Monats hungern, weil kein Geld mehr da war.
Niemanden wurden kriminelle Absichten
unterstellt, weil er einen Antrag falsch
ausgefüllt hat. Niemand musste mit Sanktionen
oder Abzug rechnen, wenn er zumutbare Arbeit
ablehnte. Kein Hobbyhartzer musste sich vor
seinen Freunden schämen.«" (2016, S.205) |
Kinderlosigkeit bzw.
Aufschub des Kinderwunsches als Preis des
Aufstiegs
Bei ERIBON
finden sich keinerlei Hinweise auf einen
Kinderwunsch. Das Thema wird nicht einmal
erwähnt, obwohl heutzutage sich auch
Homosexuelle ihren Kinderwunsch erfüllen
könnten. BARON geht nur an einer einzigen Stelle
auf seine Sicht auf die Vaterschaft ein:
Proleten
Pöbel Parasiten
"Standen
meine beiden Schwestern und mein Bruder schon mit Anfang/Mitte
20 als Eltern in unermesslicher Verantwortung, wäre mir niemals
in den Sinn gekommen, zu diesem Zeitpunkt Vater zu werden." (2016, S.63) |
Für Frauen
ist dieser Aspekt dagegen zentraler.
Im Jahr
2005 wurde auf dieser Website anhand der
Bücher von Susanne GASCHKE ("Die
Emanzipationsfalle") und Katja KULLMANN
("Generation Ally") eine
Milieutheorie der Kinderlosigkeit
konstatiert. Kinderlosigkeit wurde als Preis des
sozialen Aufstiegs beschrieben. Eine
Aufstiegsgesellschaft, so könnte man sagen,
führt zum massenhaften Aufschub von
Kinderwünschen. Ein Scheitern des Aufstiegs kann
zur Kinderlosigkeit führen. Ein sozialer
Aufsteiger muss sehr viel Zeit und
Ressourcen in seinen Aufstieg investieren, die ihm
dann für andere Lebenspläne fehlen. Eine Gesellschaft
der Besitzstandswahrung, in denen
Schließungsprozesse den Aufstieg zusätzlich
erschweren, wäre in diesem Sinne auch eine
Gesellschaft der Kinderlosen. Im Zeichen der
Demografiepolitik wird gerne die Bestrafung von
Kinderlosen gefordert. Man könnte in solchen
Forderungen also auch eine Form der
Besitzstandswahrung und Abschottung nach unten
sehen.
Fazit: Der Blick sozialer
Aufsteiger ermöglicht Einblicke in die Zustände
der Gesellschaft, die denjenigen, die in ihrem
Herkunftsmilieu verharren, verborgen bleiben
Soziale
Aufsteiger sind für Gesellschaften bereichernd,
denn sie können zwischen den Klassen vermitteln.
Da für sie vieles nicht selbstverständlich ist,
sind sie gezwungen genauer hinzusehen. Ohne
diese Fähigkeit wären sie nicht in der Lage die
Hindernisse zu bewältigen, die ihrem Aufstieg
entgegenstehen. Ihnen fehlt ein Elternhaus, das
ihnen das Rüstzeug für ihren Aufstieg vermitteln
könnte. Sicher idealisieren sie dabei auch die
Mittelschichtverhältnisse. In der Überanpassung
von sozialen Aufsteigern liegt eine der
Gefahren. Klassenflüchtlinge wie ERIBON sind das
eine Extrem: Sie brechen alle Brücken zum
Herkunftsmilieu ab, um sich neu zu erfinden.
Dadurch können sie Höhen erreichen, die sich
andere soziale Aufsteiger erst gar nicht
zutrauen. Aber sie können auch scheitern und
solche Geschichten wären genauso
aufschlussreich, liegen derzeit aber nicht im
Trend. Bücher erfolgreicher Aufsteiger scheinen
in einer Gesellschaft, in der die
Aufstiegsmobilität beklagt wird, eine größere
Chance auf Veröffentlichung zu haben. Das
Beispiel von BARON zeigt dagegen, dass ein
sozialer Aufstieg nicht zum Abbrechen aller
Brücken zum Herkunftsmilieu führen muss. Auch
politisches Engagement für die einfachen Leute
kann die Konsequenz sein, obwohl erfolgreiche
Aufsteiger eher dazu neigen, zu
Besitzstandswahrern zu werden. Eine Gesellschaft
ohne Aufstiegsmöglichkeiten ist letzten Endes
eine erstarrende Gesellschaft, denn Aufsteiger
setzen auch Wandlungsprozesse in Gang.
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