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Zitate: Ulrich Beck und
die Single-Gesellschaft
Jenseits von Stand und Klasse?
"Als Gegenbild einer ständisch-klassenkulturell geprägten
Lebenswelt entsteht das Gefüge einer immer feinkörniger
privatisierten Lebenswelt.
(...).
Ihre Fortsetzung findet diese Entwicklung heute in
innerfamilialen Individualisierungsschüben (...) und
schließlich in dem vollindividualisierten, mobilen
»Single-Dasein« und der Einsamkeit alleinstehender alter
Menschen."
(1983, S.54)
Risikogesellschaft
"Die Richtung der
Entwicklung wird dabei durch die Zusammensetzung der
Haushalte signalisiert: Immer mehr Menschen leben allein.
Der Anteil an Einpersonen-Haushalten hat in der
Bundesrepublik inzwischen ein Viertel (30 %) überschritten.
(...). Allerdings handelt es sich dabei nur zum Teil um
Personen, die der Stereotype des
»Single-Daseins« entsprechen: junge, ledige Berufstätige; in
der Mehrzahl dagegen um ältere, verwitwete Personen,
überwiegend Frauen".
(1986, S.164)
"In dem zu Ende gedachten Marktmodell der Moderne wird
die familien- und ehelose Gesellschaft unterstellt.
Jeder muß selbständig, frei für die Erfordernisse des
Marktes sein, um seine ökonomische Existenz zu sichern. Das
Marktsubjekt ist in letzter Konsequenz das alleinstehende,
nicht partnerschafts-, ehe- oder familien»behinderte«
Individuum. Entsprechend ist die durchgesetzte
Marktgesellschaft auch eine kinderlose Gesellschaft -
es sei denn, die Kinder wachsen bei mobilen,
alleinerziehenden Vätern und Müttern auf."
(1986, S.191)
"Wenn
»Gleichheit« im Sinne der Durchsetzung der
Arbeitsmarktgesellschaft für alle gedeutet und betrieben
wird, dann wird - implizit - mit der Gleichstellung
letztlich die vollmobile Single-Gesellschaft
geschaffen.
Die Grundfigur der durchgesetzten Moderne ist - zu
Ende gedacht - der oder die Alleinstehende (L.
Gravenhorst).
(...).
Daß dies nicht nur ein Gedankenexperiment ist, zeigen die
sprunghaft ansteigenden Zahlen für Einpersonenhaushalte und
alleinerziehende Mütter und Väter im internationalen
Vergleich."
(1986, S.198f.)
Das ganz normale Chaos der Liebe
"Die Richtung der
Entwicklung wird dabei durch die Zusammensetzung der
Haushalte signalisiert: Immer mehr Menschen leben allein.
Der Anteil an Einpersonen-Haushalten hat in der
Bundesrepublik inzwischen ein Drittel (35 %) überschritten.
In urbanen Zentren wie Frankfurt, Hamburg und München liegt
der Anteil bei 50 % - mit steigender Tendenz. (...).
Allerdings handelt es sich dabei nur zum Teil um Personen,
die der Stereotype des
»Single-Daseins« entsprechen: junge, ledige Berufstätige; in
der Mehrzahl dagegen um ältere, verwitwete Personen,
überwiegend Frauen".
(Ulrich Beck & Elisabeth Beck-Gernsheim 1990, S.26)
Der Konflikt der zwei Modernen
"Da gibt
es schockierende Entwicklungen: Wilde Ehen, Ehen ohne
Trauschein, Zunahme der Einpersonenhaushalte im Quadrat,
alleinerziehende, alleinnachziehende, alleinherumirrende
Elternteile.
(...).
Was muß denn noch geschehen, damit die empirische Soziologie
überhaupt die Möglichkeit einer Begriffsreform ihres
Forschungsfeldes auch nur in Erwägung zieht? Ich bin sicher,
daß auch dann, wenn 70 % der Haushalte in Großstädten
Einpersonenhaushalte sind (und das ist nicht mehr lange
hin), unsere tapfere Familiensoziologie mit Millionen Daten
beweisen wird, daß diese 70 % nur deshalb allein leben, weil
sie vorher und nachher in Kleinfamilien leben."
(1991)
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Einleitung
Anlässlich des 60.
Geburtstags von Ulrich BECK ist die Festschrift
Ulrich Becks
kosmopolitisches Projekt im Baden-Badener Nomos Verlag
erschienen.
Ulrich Becks kosmopolitisches Projekt
"Die
von Ulrich Beck entwickelte Theorie einer Reflexiven oder
Zweiten Moderne hat die sozialwissenschaftliche Debatte in
Deutschland und zunehmend auch auf internationaler Ebene
maßgeblich beeinflusst. (...). Der Band lädt zu einer
Diskussion des offenen Projektes einer kosmopolitischen,
reflexiven Moderne und ihren theoretischen, praktischen
und politischen Herausforderungen ein. Er versammelt u.a.
Beiträge von Jürgen Habermas, Bruno Latour, Aihwa Ong und
Richard Sennett zur Risikothematik, zur
Individualisierung, zu Politik und Demokratie, zur
Globalisierung und zu themenübergreifenden Aspekten des
Beckschen Werkes. »Insider« sind damit ebenso angesprochen
wie das breiter interessierte Fachpublikum." |
Im Folgenden werden
vier der 22 Beiträge ausführlicher vorgestellt. Im Mittelpunkt
steht dabei die Frage, welche Relevanz die
Individualisierungsthese angesichts der geänderten
gesellschaftlichen Situation noch hat und inwiefern die
Rede von
der Single-Gesellschaft überhaupt sinnvoll ist.
1) Peter A. Berger -
Individualisierung als Integration
Der Sozialstrukturforscher
Peter A. BERGER verteidigt in seinem Beitrag die
Lifestyle-Soziologie in BECK'scher Tradition gegen jene
Vertreter, die sich eher den klassischen Ungleichheitsformen
verpflichtet fühlen.
Hierzu gehören
Eliteforscher wie Michael HARTMANN ("Der Mythos von den
Leistungseliten"), der Lebensverlaufsforscher Karl-Ulrich
MAYER oder Michael VESTER ("Soziale Milieus im gesellschaftlichen
Strukturwandel").
Der
Hauptunterschied beider Schulen besteht vor allem darin, dass
sich Lifestyle-Forscher nur für jene Ungleichheiten
interessieren, die von den Betroffenen einerseits wahrgenommen
werden und andererseits auch politisch konfliktfähig sind.
Dagegen interessieren sich die Schicht- bzw. Klassentheoretiker
um objektiv bestehende Ungleichheiten, auch wenn diese weder
bewusstseinsmäßig repräsentiert noch handlungsleitend
sind. In Ulrich BECKs Diktion heißt dieser Unterschied
Fahrstuhleffekt.
BERGER beschreibt
Individualisierung als Prozess, der durch die Zunahme von
Mobilitätsprozessen gekennzeichnet ist. Dazu zählt BERGER
sowohl Berufswechsel, Ortswechsel als auch den Wechsel von
Bezugspersonen (Familie, Nachbarschaft, Freunde usw.).
Der berufliche
Wechsel kann dabei mit Auf- und Abstiegen, d.h.
Statuswechseln (das zentrale Thema der Schicht- bzw.
Klassentheoretiker) einhergehen, aber er muss nicht. Letzteres
bezeichnet BERGER mit dem Begriff der Unstetigkeit. In der
politischen Debatte wird in beiden Fällen unspezifisch von
Flexibilität gesprochen.
BERGER
unterscheidet hinsichtlich der Bewertung von Mobilitäts- und
damit von Individualisierungsprozessen zwei
Deutungsmuster: Der Individualisierungspessimismus betont die Risiken
bzw. Gefahren, während der Individualisierungsoptimismus
die Chancen heraushebt. BERGER reiht sich selbst ins zweite
Lager ein.
Individualisierung
bedeutet für BERGER Emanzipations- und Autonomiegewinn.
Flexibilisierung wird als Optionserweiterung begriffen. In den
Worten von BERGER liest sich das folgendermaßen:
Individualisierung als Integration
"Individualisierung
gilt hier eben nicht als Ausdruck eines Wandels von
personengebundenen Werten und Einstellungen hin zu mehr
»individualistischen« oder gar »egozentrischen« bzw.
»egoistischen« Orientierungen oder Werthaltungen. Vielmehr wird
der diagnostizierte Individualisierungsschub in der
westdeutschen Nachkriegsgeschichte von Ulrich Beck unmittelbar
in Zusammenhang gebracht mit gesellschaftsstrukturellen
Veränderungen, also insbesondere mit (...) dem Ausbau des
Wohlfahrtsstaates und der allgemeinen Wohlstandssteigerung der
1950er und 1960er Jahre (»Vollkasko-Individualisierung«), der
Bildungsexpansion der 1960er und 1970er Jahre sowie mit
Arbeitsmarkt-Deregulierungen seit den 1980er Jahren und den
damit einhergehenden, erhöhten Anforderungen an berufliche
Mobilität und Flexibilität (»Risiko-Individualisierung«).
Dadurch würden, so eine weitere Schlussfolgerung, die
beispielsweise (...) Gerhard Schulze (1992) in seiner
»Erlebnisgesellschaft« zieht, für viele Menschen eindeutige
Handlungsbeschränkungen zugunsten neuer
Handlungsmöglichkeiten (Optionen) in den Hintergrund treten,
was sie dann in zunehmendem Maße dazu zwingt, über verschiedene
Möglichkeiten, über unterschiedliche Lebensformen, Lebensstile
und Lebenswegen nachzudenken und sich zwischen ihnen zu
entscheiden."
(aus: Ulrich Becks kosmopolitisches Projekt 2004 S.106f) |
Eine solche
Optionserweiterung ist gemäß BERGER typisch für das
"postindustrielle Lebenslaufregime" und die Integration durch
Individualisierung.
BERGER sieht jedoch
in der Individualisierung nur einen Integrationsmodus, der
typisch ist für die "zweite Moderne". Daneben existieren
weiterhin die Modi der "ersten Moderne": Herrschaft und
geteilte Werte.
Offenbar sind wir
mittlerweile weit weg vom Ideal der zweiten Moderne, wie sie von
Ulrich BECK und seinen Jüngern propagiert wird. Kurzzeitig
schien die "zweite Moderne" als New Economy - und damit
als Individualisierung für alle - auf.
Im Zeichen von
Hartz I - IV steht dagegen für die nächste Zukunft ein Comeback
der ersten Moderne bevor. Der entstehende Niedriglohnsektor
verlangt nach Disziplinierung und nicht nach Autonomie. Hinzu
kommt die zunehmende Diskriminierung junger Singles.
Der Meister selber,
also Ulrich BECK, hat in neueren Zeitungsartikeln vom hier
vorgetragenen Individualisierungsmodell Abstand genommen (siehe
z.B. Die Utopie des Weniger in der Psychologie Heute,
Oktober 2005
).
Für die Berliner
Republik greift die von BERGER repräsentierte
Lifestyle-Soziologie offensichtlich zu kurz.
Der Schweizer
Sozialforscher Matthias DRILLING hat in Basel das Phänomen der
Young urban poor erforscht. Darunter versteht er
im gleichnamigen Buch:
Young Urban Pour. Abstiegsprozesse in den Zentren der
Sozialstaaten
"junge
Menschen, die auf unterschiedliche Weise bedürftig
geworden sind und auch verschiedene Sichtweisen auf die
Stadt haben. Insbesondere unterscheidet sich ihre
Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem und sozialen
Kapital und daraus abgeleitet auch ihr Weg durch die und
aus der Sozialhilfe".
(2004, S.20) |
Einen Typus
bezeichnet DRILLING als Pioniere der Post-Individualisierung.
Es handelt sich dabei hauptsächlich um junge Alleinlebende und
Nesthocker, die bereits während der Ausbildung von Sozialhilfe
leben müssen und Opfer des Individualisierungsprozesses sind.
In Deutschland ist
dies noch kein Thema. Inwiefern der Hartz-Mensch zum Pionier der
Postindividualisierung verdammt ist, das wird die Zukunft
zeigen.
2) Ronald Hitzler &
Michaela Pfadenhauer - Vollkasko-Individualisierung und
Individualisierungsfolgen
HITZLER & PFADENHAUER
beschäftigen sich mit gesellschaftlichen Zuständen, die mit der
Berliner Republik entsorgt werden sollen, wenn sie schreiben:
Individualisierungsfolgen. Einige wissenssoziologische
Anmerkungen zur Theorie reflexiver Modernisierung
"Denn schwerlich lässt
sich übersehen, dass dort, wo die traditionellen direkten
Verteilungskämpfe an Bedeutung verlieren oder hochgradig
ritualisiert sind (wie üblicherweise die Tarifverhandlungen
zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern), andere, indirektere,
unreguliertere Verteilungskämpfe aller Art um materielle Güter,
um Weltdeutungen, um Kollektiv-Identitäten, um
Lebensgewohnheiten und -qualitäten, um soziale Räume, Zeiten und
Ressourcen, um Gestaltungschancen, um Grundsatz- und
Detailfragen ausgetragen werden, die sich kaum noch und immer
weniger mit dem überkommenen klassifikatorischen Analyse-Raster
von links und rechts, von progressiv und konservativ, von
revolutionär und reaktionär, usw. fassen lassen (...). Gemeint
sind damit Verteilungskämpfe wie etwa solche zwischen den
Geschlechtern und Generationen, zwischen Ossis und Wessis,
zwischen Einheimischen und Zugezogenen, zwischen Autofahrern,
Radfahrern und Fußgängern, zwischen Rauchern und Nichtrauchern,
zwischen Menschen mit Kindern und Menschen ohne Kinder usw.,
kurz: Alltagsquerelen, wie sie Symptomatischerweise eben die
erlebten sozialen Ungleichheiten markieren."
(aus: Ulrich Becks kosmopolitisches Projekt 2004,
S.118f.) |
Was HITZLER & PFADENHAUER
als unregulierte Verteilungskämpfe brandmarken, das hat
Rot-Grün mittlerweile zum Kerngeschäft der Agenda 2010 erklärt.
Man könnte auch
sagen: der Konflikt zwischen Menschen mit Kindern und
Menschen ohne Kindern wird in der gegenwärtigen
sozialpolitischen Debatte geradezu miterzeugt.
Im geplanten
Katholischen Sozialstaat soll diese neue Konfliktlinie
sowohl den Staat als auch die Unternehmen entlasten, indem die
Finanzierung des künftigen Sozialstaats allein den Arbeitnehmern
aufgebürdet wird
.
Inwieweit diese
Rechnung aufgeht und inwieweit Kinderlose (ein Begriff, dessen
Definition gerade sozialstaatlich festgeschrieben wird) als
Melkkühe der Nation in die Pflicht genommen werden können, das
ist die zentrale Frage der gegenwärtigen Agenda-Politik.
Bei HITZLER &
PFADENHAUER bleibt dies jedoch außen vor, stattdessen wird der
Sozialstaat als Bedingung der Vollkasko-Individualisierung
diffamiert.
Dass jedoch das
Yuppietum nicht den Sozialstaat, sondern allein den
Marktradikalismus zur Voraussetzung hat, ist der blinde Fleck
des Beitrags.
HITZLER &
PFADENHAUER können deshalb Vollkasko-Individualisierung
folgendermaßen definieren:
Individualisierungsfolgen. Einige wissenssoziologische
Anmerkungen zur Theorie reflexiver Modernisierung
"Vollkasko-Individualisierung meint (...) jene Art
Individualisierung, bei der die mit der Freisetzung der Menschen
aus überkommenen sozialmoralischen »Gemeinschafts«-Bindungen
einhergehenden existentiellen Risiken aufgefangen bzw.
abgefedert werden durch Abhängigkeiten, die im Zusammenspiel von
marktförmigen Optionen und bürokratischen Ligaturen entstehen.
Konkreter: Zusammen mit dem Arbeitsmarkt wirkt gerade der
Sozialstaat als Basis und als Motor der
Vollkasko-Individualisierung".
(aus: Ulrich Becks kosmopolitisches Projekt 2004,
S.120) |
HITZLER & PFADENHAUER
beklagen hier nicht das marktgerechte Yuppietum, sondern
kritisieren allein die Tatsache, dass der Sozialstaat auch
gering verdienenden Singles Autonomiezuwächse gebracht hat.
Dies liest sich dann so:
Individualisierungsfolgen. Einige wissenssoziologische
Anmerkungen zur Theorie reflexiver Modernisierung
"Vieles (scheint) darauf
hinzudeuten, dass sozialstaatliche Rahmenbedingungen wie
Verrechtlichung, ausgebaute soziale und medizinische
Dienstleistungen, sozialpolitische Versorgung usw. die
alltäglichen Handlungsmöglichkeiten des sogenannten
Durchschnittsmenschen eher steigern als verhindern".
(aus: Ulrich Becks kosmopolitisches Projekt 2004,
S.120) |
Als
Individualisierungsfolgen beschreiben HITZLER & PFADENHAUER das Entstehen posttraditionaler Gemeinschaften, deren Macht
nicht auf Zwang und Verpflichtung, sondern auf Verführung
basieren. Die Grundlage dafür ist das Bedürfnis nach einem "distinktiven
Lebensstil". HITZLER &
PFADENHAUER sehen darin die Gefahr der Bildung von
"Gesellschaften innerhalb der Gesellschaft" und damit den
Zerfall der Gesellschaft in "Partialinteressengemeinschaften".
Für HITZLER & PFADENHAUER ist damit das Ende der Wirksamkeit
von moralischen Appellen gekommen, die Individuen für das
Gemeinwohl verpflichten möchten.
Einzig Zwang und
Verführung sind für HITZLER & PFADENHAUER praktikable
Mittel in der posttraditionalen Gesellschaft. Die Hartz-Gesetze mit ihren lebensstildiskriminierenden
Elementen setzen - ganz im Einklang mit HITZLER & PFADENHAUER -
auf Zwang gegenüber Sozialstaatsabhängigen. Verführung ist
dagegen das Mittel der Wahl auf dem Markt der Möglichkeiten wie
er den Yuppies weiterhin offen steht.
3) Gerhard Schulze -
Die Soziologisierung des Alltagsdenkens
In seinem Aufsatz
Rettungsversuche am Rande epistemologischer Verzweiflung
postuliert Gerhard SCHULZE, der 1992 als Autor des Buches Die
Erlebnisgesellschaft Furore machte, die Soziologisierung des
Alltagsdenkens.
SCHULZE missfällt
die Tatsache, dass diese Soziologisierung der öffentlichen
Debatte weitgehend unter Ausschluss der Soziologie
stattfindet.
Ulrich BECK hat für
SCHULZE in Deutschland inzwischen den Bekanntheitsgrad von
Coca-Cola erreicht und seine Individualisierungsthese bestimmt
den Sound in Politik und Medien.
Jedoch profitiert
die Soziologie als Disziplin nicht von dieser rhetorischen
Präsenz, vielmehr stehen alle Zeichen auf Niedergang. So hat
z.B. der letzte Soziologentag, bei dem erstmals die
Klassengesellschaft im Mittelpunkt stand, kaum die
Öffentlichkeit gefunden, die dem Thema angemessen gewesen wäre.
Möglicherweise ist SCHULZEs Beitrag symptomatisch für den selbstverschuldeten
Niedergang der Disziplin, denn SCHULZE verschenkt ein
wichtiges Thema, indem er es auf dem Niveau eines
Grundstudienkurses Soziologie behandelt. Als Einführung in
den erkenntnistheoretischen Streit zwischen quantitativer
und qualitativer Soziologie ist der Beitrag akzeptabel, wenn
auch nicht mehr zeitgemäß. Schlimmer ist jedoch, dass SCHULZE
darüber die Geschichte der Soziologisierung des Alltagsdenkens
vernachlässigt.
SCHULZE behandelt
die Entwicklungsgeschichte kulturbezogener Paradigmen im
Alltagsdenken. Dies erfordert keine Anstrengung. Anders wäre es
gewesen, wenn SCHULZE sein Postulat am Beispiel des Eindringens
von Ulrich BECKs Individualisierungsthese in den politischen und
massenmedialen Diskurs belegt hätte.
Einen solchen
Beitrag zur Rezeptionsgeschichte hat single-generation.de
bereits in vielen Abhandlungen geleistet. Zudem ist hier die
Debatte um die Single-Gesellschaft seit dem Jahr 2000 gut
dokumentiert.
Sicherlich hätte
eine Aufarbeitung der Soziologisierung des Alltagsdenkens den Rahmen einer Festschrift gesprengt, aber SCHULZE leistet
nicht einmal die Skizze einer Ablösung der Psychologisierung des
Alltagsdenkens durch die Soziologisierung.
Die
Gegenüberstellung von Beziehungsgesprächen der Alt-68er im
Gegensatz zu den Nach-68ern wäre hier aufschlussreich.
Stattdessen belässt
es SCHULZE bei einem Hinweis auf eine Erzählung von Dorothy
PARKER über Hobie und Kit bewenden. Eine Soziologie,
die den Anforderungen von SCHULZE entspräche, hat der
französische Soziologe Jean-Claude KAUFMANN in den letzten
Jahren vorgelegt. Mit Büchern über die
Schmutzige Wäsche,
Der Morgen danach
oder
Kochende Leidenschaft hat KAUFMANN eine Ethnologie
des Alltags betrieben.
Auch den deutschen
Soziologen Günter BURKART treibt die Frage umher wie die
Nach-68er-Paare ihre Beziehung in Gang halten - trotz oder
gerade vor dem Hintergrund einer öffentlichen Debatte, in der
die Trennung als Normalität zelebriert wird.
Diese Ansätze
bleiben bei SCHULZE ungenannt, denn ungleich einfacher ist es,
sich im Jammertal einzurichten.
Was bleibt? Die
Hoffnung, dass ein anderer Soziologe sich der unerledigten
Aufgabe annimmt.
4) Armin Nassehi - Die
Anschlussfähigkeit der Beck'schen Theorie
Der letzte Beitrag des
Sammelbandes mit dem Titel Die Ästhetik der Erreichbarkeit
und Benennbarkeit versöhnt ein wenig mit dem Ärgernis, das
der Aufsatz von SCHULZE hinterlässt.
NASSEHI widmet sich
dem wichtigen Thema der dreifachen Anschlussfähigkeit von Ulrich
BECKs Thesen, die seine Popularität begründen.
Während Volker
STORK in seinem Buch Die "zweite Moderne" - ein
Markenartikel? aus dem Jahr 2001 eine sachliche Annäherung gewählt hat,
begnügt sich NASSEHI mit einer - wie er es formuliert -
unsachlichen Kritik. In beiden Ansätzen spielt jedoch die
Theorieästhetik die Hauptrolle. Was
single-generation.de im Essay Der
Terror der Individualisierungsthese als erfolgreichstes
Enttäuschungsprodukt der Neuen Linken beschrieben hat
, das liest sich bei NASSEHI wertneutral folgendermaßen:
Die Ästhetik der Erreichbarkeit und Benennbarkeit. Eine
unsachliche Kritik
"Die Aktualisierung des
(...) Gedankens der »Individualisierung« von Lebenslagen
reagiert auf die post-linke Erfahrung, dass sich die als
Kollektivschicksale beschriebenen Lebenslagen im
»Spätkapitalismus« v.a. als kollektive Individualschicksale
anfühlten".
(aus: Ulrich Becks kosmopolitisches Projekt 2004,
S.242) |
NASSEHI skizziert die Anschlussfähigkeit in drei
gesellschaftlichen Arenen: der Wissenschaft, den Massenmedien
und der Politik.
Das Wie der
Anschlussfähigkeit beschreibt NASSEHI mit den Begriffen der
Benennbarkeit und der Erreichbarkeit. Das heißt: BECK
liefert die Schlagworte für die politische Agenda, die dann zum
einen die Problemdefinition vorstrukturieren und zum anderen
Problemlösungen vorbereiten, die seiner Zielgruppe
entgegenkommen. Die Massenmedien sorgen schließlich für die
ausreichende Erreichbarkeit.
Wesentliches ästhetisches Kriterium der
Texte ist gemäß NASSEHI die Übersetzbarkeit in Erfahrung.
Dies schließt mit ein, dass manche Erfahrung erst durch die
Diagnose erzeugt wird.
Dies trifft z.B.
auf die These von der vollmobilen Single-Gesellschaft zu,
die Anfang der 1990er Jahre populär wurde. Eine unzureichende
Datenlage und ein aufkommender Sozialpopulismus sorgten für die
notwendige alltagsweltliche Plausibilität.
Obgleich die These
inzwischen als empirisch widerlegt gilt, ist ihre
Öffentlichkeitswirksamkeit weiterhin ungebrochen, denn es gilt
auch - wie NASSEHI darlegt -, dass soziologische Erkenntnisse
nur wahrgenommen werden, wenn sie politisch anschlussfähig sind.
So ist z.B. die
Agenda 2010 nur so lange glaubwürdig, solange die BECKsche
Individualisierungsthese allgemeiner Elitekonsens ist. Die
Problemdefinition demografischer Wandel lässt sich
desweiteren nur aufrechterhalten, solange
Individualisierungsprozesse als Kausalitätsfaktoren anerkannt
sind. NASSEHI weist deshalb zu Recht darauf hin, dass das
politische System gesellschaftliche Sichtbarkeit
herstellt.
Indem BECKs Theorie
primär auf das politische System ausgerichtet ist und darüber
seine Plausibilität erfährt, gilt auch das Gegenteil: ein
politischer Paradigmenwechsel kann das Ende des Starsoziologen
BECK bedeuten.
NASSEHI stellt BECK in die Tradition von
ADORNO und HABERMAS:
Die Ästhetik der Erreichbarkeit und Benennbarkeit. Eine
unsachliche Kritik
"Haben Horkheimer und vor
allem Adorno noch eine kritische Theorie präsentiert, die gegen
die Identitätszumutungen der 50er und 60er Jahre sich
durchsetzen musste, hat Habermas die Erfahrung der
Herstellbarkeit und Verflüssigung von Identität der
70er und 80er Jahre auf den Begriff gebracht und sowohl mit dem
rekonstruktiven Dialog der großen Geister in seinen
theoretischen Schriften wie mit den diskursiven Zumutungen
seiner politischen Schriften ästhetisch vorgeführt.
(...).
Beck schließlich steht für die radikale Selbstversicherung der
modernen Gesellschaft, wie sie spätestens seit den 90er Jahren
bis heute anzutreffen ist."
(aus: Ulrich Becks kosmopolitisches Projekt 2004,
S.250) |
Die zeitliche Einordnung von NASSEHI deckt sich mit dem
Aufstieg des Deutungsmusters "Single-Gesellschaft".
Die Publikation des
Buches
Das ganz normale Chaos der Liebe brachte den
massenmedialen Durchbruch für Ulrich BECK. Dass dies an der
Schnittstelle zwischen Bonner und Berliner Republik stattfindet,
ist nicht zufällig
.
Den Unterschied zwischen HABERMAS und
BECK sieht NASSEHI vor allem im andersartigen Zielpublikum.
Während HABERMAS auf das bundesrepublikanische Bildungsbürgertum
abzielte, ist BECK auf ein anderes Publikum ausgerichtet.
Welches, das verrät uns NASSEHI nicht. Es lässt sich jedoch
seiner Theorie unschwer entnehmen. Zielgruppe sind die so
genannten individualisierten Milieus. In der politischen Debatte
werden diese auch als Neue Mitte bezeichnet. Im Kern handelt es
sich dabei um jene Aufsteigergeneration der 68er, der
BECK selber angehört und die von der entstehenden
Dienstleistungsgesellschaft profitiert hat.
Bislang ist der Individualisierungsglaube noch weithin
ungebrochen. Obgleich sich die Generation Golf als
Gegenspieler der 68er betrachtet, ist sie doch weiterhin den
gleichen Wahrnehmungsmustern verhaftet, die Ulrich BECK & Co.
mit der Individualisierungsthese vorgegeben haben.
Erste Risse im Bild
sind jedoch mittlerweile erkennbar.
Fazit
Die vier
vorgestellten Beiträge der Festschrift zeigen zum einen wie
rasant gegenwärtig als sicher geglaubte gesellschaftliche
Bedingungen der Vergangenheit zugerechnet werden müssen.
Peter A. BERGERs
Individualisierungsoptimismus ist mittlerweile genauso
obsolet wie jene Vollkasko-Individualisierung, die HITZER
& PFADENHAUER zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen gemacht
haben.
Die Agenda
2010-Gesetzgebung untergräbt im Zusammenhang mit der
Arbeitsmarktsituation jene Voraussetzungen, die von den
Individualisierungsverfechtern unhinterfragt als gegeben
vorausgesetzt werden.
Zum anderen lenken
die Beiträge von SCHULZE und NASSEHI den Blick auf das
Zusammenspiel von Politik, Wissenschaft, Massenmedien und
Lebenswelt, das erst den Erfolg des Deutungsmusters
Individualisierung garantiert.
Während
Gerhard SCHULZE die
Soziologisierung des Alltagsdenkens postuliert, widmet sich
Armin NASSEHI der dreifachen Anschlussfähigkeit der BECKschen
Soziologie im deutschen Gesellschaftssystem.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
Die
Single-Debatte ist längst in eine Sackgasse geraten. Dies
wird in diesem Buch u.a. der Individualisierungsthese des
Münchner Soziologen Ulrich Beck angelastet.
Das Buch
sollte als Beitrag zur Versachlichung der Debatte
verstanden werden und liefert deshalb Argumente für eine
neue Sichtweise auf das Single-Dasein im Zeitalter der
Demografiepolitik. |
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