|
Einführung
Im Herbst 2002 befasste
sich single-generation.de mit der Generation Golf
in der Jobkrise
. Damals wurden die
1965 - 1975 Geborenen in verschiedene Generationseinheiten
unterteilt. Die Generation Golf wurde als männliche
Modernisierungsgewinner der Mittelschicht u. a. gegen
Modernisierungsverlierer, die Frauen der Generation Ally
und die Ostdeutschen abgegrenzt. Und es wurde gefragt, ob es
richtig ist, dass die Generation Golf als eine verlorene
Generation angesehen werden kann. Das Fazit lautete damals:
Die Generation Golf in der Jobkrise Anfang des
Jahrtausends
Inwieweit die
Lebenspläne der Generation Golf nur kurzfristig
aufgeschoben, aber nicht aufgehoben sind, das muss
sich erst zeigen.
Bislang
ist jedenfalls nicht ausgemacht, dass die Generation
Golf eine verlorene Generation ist. Die
Aufmerksamkeit, die dem Phänomen gewidmet wird, zeugt
davon, dass diese Generation eine starke Lobby in der
Mitte hat. Davon wagten frühere Generationen kaum zu
träumen. |
Acht Jahre später soll
hier gefragt werden: Was ist aus der verlorenen
Generation der männlichen Mittelschichtangehörigen der 1965 -
1975 Geborenen geworden? Der FAZ-Journalist Jochen BUCHSTEINER,
Jahrgang 1965, sprach damals vom Betrug an der Elite.
FAZ-Journalist Sascha LEHNARTZ, Jahrgang 1969, sprach von der
abservierten Elite
Alles, was
zählt
"Nun
hat die Wirtschaftskrise auch das
Nervenzentrum der Gesellschaft erreicht,
die etablierte Mittelschicht: Ehrwürdige
Unternehmen (...) entlassen (...)
Mitarbeiter (...).
Besonders hart trifft es die
Berufsanfänger, die - deutscher
Betriebsratslogik entsprechend - am
einfachsten zu kündigen sind. Viele von
ihnen gelten als solche, die 'alles
richtig gemacht' haben (...)
Menschlich wiegt ihr Schicksal nicht
schwerer als das eines entlassenen
Bauarbeiters bei Holzmann (...). Politisch aber bedeutet
der Betrug an den nachwachsenden Eliten
eine neue Dimension.
Wenn denjenigen, die dafür erzogen
wurden, Verantwortung in diesem Land zu
übernehmen, die Perspektive geraubt
wird, ist mehr als der 'soziale Frieden'
in Gefahr. Dann droht das Fundament des
Gemeinwesens zu bröckeln: der Bestand an
gemeinsamen Werten, der sich über alle
Generationswechsel hinweg erhalten hat -
allen voran das Vertrauen in die
Qualität des politisch-wirtschaftlichen
Systems."
(Jochen Buchsteiner, FAS 14.07.2002)
Die abservierte Elite
"Daß die Krise ausgerechnet sie erfassen
könnte, stand nicht in ihrem
Karriereplan. Menschen, für die es immer
nur aufwärtsgehen sollte, stellen fest,
daß es für ihren Traumjob keine
Planstelle mehr gibt. Oder - was
erheblich deprimierender ist - sie
verlieren den Traumjob, weil man es in Deutschland für
sozialverträglich hält, in Krisenzeiten die jüngsten Mitarbeiter
zuerst zu entlassen. 'An Ihrer Leistung lag es nicht', ruft man
ihnen noch nach. An 'Betriebszugehörigkeit' fehlte es. Ein Land,
das in jüngster Zeit wirtschaftlich nicht geglänzt hat, schickt
branchenübergreifend seine meistversprechenden Kräfte in die
Warteschleife und wurschtelt mit denen weiter, die den Karren
vor die Wand gefahren haben."
(Sascha Lehnartz, FAS 21.07.2002)
|
BUCHSTEINER ist immer noch
bei der FAZ und arbeitet dort als Asien- und
Australienkorrespondent. 2005 hat er das Buch "Die Stunde der
Asiaten" veröffentlicht. Sascha LEHNARTZ schreibt inzwischen
auch für Welt und Süddeutsche Zeitung und hat
ebenfalls 2005 das Buch Global Players veröffentlicht,
nachdem sich die Revolte der Bürger gegen die Wiederwahl von
Gerhard SCHRÖDER im Sande verlaufen hat
. Auch Florian
ILLIES, dem Klassensprecher der Generation Golf, hat die
Jobkrise nicht geschadet. Er etablierte das Kunstmagazin
Monopol und ist danach zusammen mit Jens JESSEN Ressortleiter
Feuilleton und Literatur der ZEIT geworden. Der nächste
Karrieresprung steht kurz bevor.
Man sollte also meinen
die Generation Golf hätte keinen Grund mehr zum Klagen.
In den letzten Jahren hat sich aber - trotz schwarz-gelbem
Wunschbündnis - die Stimmung in der Mitte verschlechtert.
Abstiegsängste gehen um und Bücher über den Niedergang
Deutschlands haben Konjunktur. Die Generation Leistungsträger
will schöner leben in der Dauerkrise
. Heftige Debatten
um Peter SLOTERDIJK und Thilo SARRAZIN haben zu einem härteren
Ton geführt. Der "Kuschelsound" der vergangenen Jahre ist den
neuen Klartext-Rednern gewichen. Zwei Bücher sollen deshalb im
Mittelpunkt stehen, weil sie den neuen Sozialdarwinismus der
gesellschaftlichen Mitte verkörpern.
Aber auch die Soziologie
und die Politik beschäftigen sich inzwischen mit der Frage, ob
die gesellschaftliche Mitte bedroht ist, wie das
populärwissenschaftliche Sachbuch Mitte und Maß von Herfried
MÜNKLER, der wissenschaftliche Sammelband Dynamiken (in) der
gesellschaftlichen Mitte, herausgegeben von Nicole BURZAN und
Peter A. BERGER oder das Buch Wohlstandskonflikte von
Berthold VOGEL zeigen.
Die netten Jahre sind
vorbei, heißt ein programmatischer Buchtitel dieses Herbsts und
der Erfolg des Buches Deutschland schafft sich ab von
Thilo SARRAZIN zeigt, dass dies durchaus richtig ist. Die
Klartextredner wollen einen anderen Sozialstaat.
Eigenverantwortung ist der Schlüsselbegriff. Wer arm ist, der
ist kein Opfer der Verhältnisse, sondern selber schuld an seiner
Situation. Das gilt gemäß SARRAZIN insbesondere für Hartz
IV-Empfänger.
Deutschland schafft sich ab
"Wenn
der Regelsatz eine ausgewogene, abwechslungsreiche und
ausreichende Ernährung erlaubt, dann haben die Empfänger
von Transferzahlungen, die sich und ihre Kinder nicht
gesund und in jeder Hinsicht adäquat ernähren, ein
Einkommens- oder Armuts-, sondern ein Verhaltensproblem.
Damit wird aus einer Forderung an die Gesellschaft eine
Forderung an das Individuum und aus der
Gesellschaftskritik eine Individualkritik."
(2010, S.119) |
Während SARRAZIN bis vor
kurzem im Vorstand der Bundesbank war und damit zu den besseren
Kreisen in Deutschland zählt, also mindestens zur oberen
Mittelschicht gehört, als Bestseller-Autor und dank großzügiger
Pension nun gar zur Oberschicht zu rechnen ist, gehört der
Soziologe Frank HERTEL, Jahrgang 1971, mit 38 Jahren immer noch
zu jenen, die noch nicht im Mittelschichts-Berufsleben etabliert
sind. An der richtigen Einstellung im Sinne von SARRAZIN mangelt
es ihm jedoch nicht. Er sieht sich und seine Kollegen nicht als
Opfer, sondern als jemand, der selber schuld an seiner Situation
ist.
Knochenarbeit
"In
meiner Fabrik herrscht die Dummheit. Sie wird unterstützt
von der Faulheit, dem Wahnsinn, der Krankheit und der
Unordnung. (...) Ich kann diese Dummheit nicht
argumentativ nachweisen, und doch scheint sie mir zu
existieren und eine Wurzel der sozialen Ungleichheit zu
sein. Bietet unser Land nicht alle Chancen, die man nutzen
kann, wenn man intelligent genug ist? (...).
Früher dachte ich, die Oberschicht sei
böse. Jetzt denke ich, die Unterschicht ist dumm. Das ist
eine Kurve, die ich gar nicht nehmen wollte. Nun bin ich
aber durch und kann sie nicht mehr verleugnen. Meine
Kollegen sind in der Mehrzahl dumme Menschen. Ich selbst
muss ein Dummkopf sein, wenn ich nur dort Arbeit finde.
(...).
Wir sind keine Opfer, sondern
unbegabte Trottel. Das tut weh, aber ich glaube, es
stimmt.
Etwas ist in mir kaputtgegangen. Meine
Hoffnung wurde enttäuscht. Ich glaube nicht mehr daran,
dass den Menschen (...) geholfen werden kann. (...). Ich
glaube jetzt, dass sich jeder selber helfen muss. Und ich
bin sicher, dass die Zukunft viele Verlierer und nur
wenige Gewinner sehen wird. Man könnte fragen, was man
gegen die Dummheit tun kann, aber das wäre eine
soziologische Frage, und ich glaube nicht mehr an die
Soziologie. Die Aufklärung ist gescheitert."
(2010,
S.30f.) |
Knochenarbeit - eine Sozialreportage
über die Unterschicht oder die verunsicherte Mittelschicht in
Deutschland?
Man könnte HERTELs Buch
als Beispiel einer Sozialreportage auffassen, wie sie neuerdings
von Soziologen wie Berthold VOGEL gefordert wird, um den
gesellschaftlichen Wandel besser in den Blick zu bekommen, denn
die bisherige Sozialstrukturforschung, die das Bild einer
nivellierten Mittelschichtgesellschaft gemalt hat, ist nicht in
der Lage die gegenwärtige Unzufriedenheit der Mittelschicht in
allen ihren Facetten zu fassen.
Wohlstandspanik und Statusbeflissenheit. Perspektiven
auf die nervöse Mitte der Gesellschaft
"Wer
etwas darüber erfahren möchte, in welcher Weise und in
welche Richtung sich soziale Strukturen und
Lebensverhältnisse im neuen Wohlfahrtsstaat zu verändern
beginnen - und wir befinden uns ja in vieler Hinsicht erst
am Beginn der Neujustierung des Verhältnisses von Staat
und Gesellschaft - ,der ist in starkem Maße auf die Quelle
der Sozialreportage angewiesen. Für eine Exploration und
eine erste Systematisierung angelegte Soziologie
gesellschaftlichem Wandels ist dies kein ungewöhnlicher
Bezugspunkt (...). Die soziologisch sensible und
informierte Reportage ist eine gute
gesellschaftswissenschaftliche Tradition. (...). Das
aufmerksame und neugierige Umherschweifen sowie das
Protokollieren des Unfertigen sind die Leitprinzipien
solcher an Gesellschaftsdiagnostik orientierter
journalistischer Arbeit."
(aus: Dynamiken (in) der gesellschaftlichen Mitte 2010, S.27) |
Wenn man HERTELs
Frontbericht aus der Wohlstandsgesellschaft - so der
Untertitel - als Sozialreportage liest, dann stellt sich die
Frage: Handelt es sich um eine Sozialreportage über die
Unterschicht - wie der Klappentext es nahe legt - oder über das
Unbehagen eines Mittelschichtlers über die gesellschaftliche
Realität in Deutschland?
Gegen
eine Sozialreportage im ersten Sinne spricht, dass die Arbeit in
der Billigfirma lediglich in der ersten Hälfte des Buches im
Mittelpunkt steht. Die Kollegen in der Billigfirma dienen eher
der Illustrierung von Sachverhalten als dass sie dem Leser näher
kommen. Die Reportagen von Matthias HORX oder die Romane von
Michel HOUELLEBECQ kommen einem in den Sinn, aber nicht Günter
WALLRAFF. Es bleiben meist bloße Typen, die einem menschlich nicht
näher kommen. HERTEL sieht sich selber als Feldforscher.
Knochenarbeit
"Ich
bin zwar Soziologe, aber ich muss zugeben, dass ich auch
aus der Soziologie geflohen bin. Nach meinem Studium habe
ich einige philosophische Bücher gelesen und dort die
Antworten gefunden, die mir die Soziologie nicht bieten
konnte. In der Soziologie fand ich nur die Feldforscher
interessant. Und jetzt bin ich selber einer. Jeder kann
übrigens Feldforscher werden. "
(2010, S.121) |
Für einen Ethnologen der
Arbeitswelt beschreibt HERTEL zu wenig. Es überwiegt stattdessen
das Einordnen in Schubladen und das Erklären. Bei dieser
teilnehmenden Beobachtung liegt der Schwerpunkt eindeutig auf
dem Teilnehmen, statt auf der Beobachtung. Deshalb liest man
diese Sozialreportage auch besser als Einblick in die Welt eines
Mittelschichtangehörigen, der seine Position in der Gesellschaft
noch nicht gefunden hat. Denn dann stehen nicht die Kollegen in
der Billigfirma im Mittelpunkt, sondern der Blick des temporären
Billigarbeiters aus der Mittelschicht. Und in dieser Hinsicht
ist das Buch durchaus erhellend.
Berufseinstieg und Etablierung im Beruf
als Problem der Mittelschicht
Was passiert, wenn man
erkennen muss, dass es mit einem Hochschulabschluss heutzutage
nicht mehr getan ist? Wenn man 200 Bewerbungen schreibt und nur
Absagen erhält? Wenn das Ende des Studiums nicht mehr Monate,
sondern Jahre zurück liegt? Die einen geben es irgendwann ganz
auf, die anderen - dazu gehört HERTEL - warten weiter auf ihre
Chance, aber die Einstellung verändert sich mit der Zeit. Für
HERTEL ist die Sache jetzt klar: Er hat für die neue Zeit
bislang die falsche Einstellung gehabt.
Knochenarbeit
"Die
Ungleichheit nimmt zu. Der Klassenkampf kehrt zurück.
Jetzt muss man wissen, auf welcher Seite man steht. Das
fällt mir schwer. Bin ich für die Reichen, oder bin ich
für die Armen? Ich will für beide sein, aber ich glaube,
das geht nicht. Man muss sich entscheiden. Und ich bin
entscheidungsschwach. Ich bin unentschlossen. So wie mir
geht es vielen in meiner Generation. Wir wollen reich
sein, aber nicht böse. Wir wollen gute Menschen sein und
trotzdem genug Geld auf dem Konto haben. Aber irgendwie
klappt das nicht ganz. Denn nur die harten Hunde kriegen
den Erfolg. Die Entschlossenen und Entscheidungsstarken.
Wir sind nicht so und wollen auch nicht so sein, so
angepasst und stromlinienförmig. Wir versuchen in der
Mitte zu bleiben. Wir wollen die Balance halten. Wir
wollen weder arm noch reich sein, wir wollen einfach
mittelmäßig sein, durchschnittlich. So wie früher. Aber
das geht nicht. Denn die Mitte verschwindet."
(2010,
S.123) |
Man muss heutzutage härter
werden. Während SARRAZIN keine Skrupel kennt, spürt man bei
HERTELs Buch die Unentschiedenheit. Auf der einen Seite gibt er
den Macho, auf der anderen Seite möchte er seine Weltsicht gegen
jegliche Kritik immunisieren.
Natürlich verschwindet die Mitte
nicht, darin ist sich die Sozialforschung einig, aber die Mitte
ändert ihre Gestalt und das ist nichts Neues. Wohin Deutschland
treibt, das steht nicht fest, sondern entscheidet sich Tag für
Tag neu. Der Sammelband von BURZAN & BERGER zeigt eine
mögliche
Bandbreite auf. Der Niedergang ist kein
Naturgesetz wie es bei SARRAZIN erscheint, sondern er
entscheidet sich auch in der politischen Arena.
HERTEL malt von
der Soziologie ein Bild, das längst nicht mehr stimmt. Mit der
Soziologie der 1970er Jahre, die bei HERTEL kritisiert wird, hat
die gegenwärtige Soziologie kaum mehr etwas zu tun. Auf dieser
Website wird die Individualisierungsthese von Ulrich BECK, die
in den 1980er Jahren entstand und in den 1990er Jahren viele
Bereiche dominierte, harsch kritisiert
.
Der
kürzlich erschienene Sammelband von BURZAN & BERGER zeigt, dass die Individualisierungsthese durch
die veränderten Verhältnisse nach der Jahrtausendwende unter
Druck geraten ist. Im Beitrag von Michael VESTER wird deshalb
versucht, den Gestaltwandel neu zu beschreiben. Das
Zwiebelschalenmodell der nivellierten Mittelschichtgesellschaft
hat ausgedient, aber was tritt an seine Stelle? VESTER
beschreibt die Veränderungen seit den 1990er Jahren als
Gestaltwandel der Berufsgliederung. "Orange", "Pyramide" oder "Eieruhr"?
stellt sich die Frage für VESTER. Das Drohszenario der
"Pyramide" findet sich bei Thilo SARRAZIN, das schließlich naturgesetzartig und unabwendbar in den Untergang mündet.
Deutschland schafft sich ab
"-
Die (...) Verschiebung der Bevölkerungsstruktur zu weniger
intelligenten beziehungsweise bildungsferneren Schichten
(...) geht einher mit einer durchschnittlich geringeren
Aufgeschlossenheit gegenüber dem Erwerb von Wissen sowie
mit einer geringeren Fähigkeit, dieses zu erwerben.
- Nach der Gaußschen Normalverteilung der Intelligenz
gilt, dass jeder geringfügige Rückgang der
durchschnittlichen Intelligenz mit einer
überdurchschnittlichen Abnahme des Anteils der
Hochbegabten verbunden ist (...).
- Die Kombination von weniger Menschen im erwerbsfähigen
Alter, steigendem Durchschnittsalter, sinkender
durchschnittlicher Intelligenz sowie wachsender Bildungs-
und Kulturferne beeinträchtigt in der Summe das
künftige intellektuelle Potential Deutschlands erheblich."
(2010, S.345f.) |
In gemäßigter Form findet
sich die Pyramide auch bei Gerald HÖRHANs Bestseller
Investment Punk. Das Buch versucht zu erklären, warum die
Mittelschicht schuftet, während das neue Finanzbildungsbürgertum
(Beat WEBER) reich wird.
Investment Punk
"Das
globale ökonomische System war niemals für eine große
Mittelschicht ausgelegt. In Europa und allen anderen
industrialisierten Teilen der Welt wird es bald wieder so
sein, wie es in der Geschichte der menschlichen
Zivilisation fast immer war und wie es dem Grundprinzip
dieses Systems entspricht:
Es wird wenige
geben, die viel haben werden,
und viele, die nichts haben."
(2010, S.10) |
Die "Pyramide" stellt für
HÖRHAN die Normalität der gesellschaftlichen Einkommens- und
Vermögensverteilung dar, während die "Zwiebel" bzw. die "Orange"
- also eine breite Mittelschicht - die Ausnahme einer goldenen
Epoche war. Auch Frank HERTEL beschwört ein Drohszenario, das
zwischen "Pyramide" und "Eieruhr" angesiedelt ist, d.h. er
prognostiziert ebenfalls ein Schrumpfen der Mittelschicht. Ihm
zufolge wird sich jedoch die Mittelschicht - im Gegensatz zur
Unterschicht - nicht mit den drohenden Verhältnissen abfinden.
Knochenarbeit
"Wenn bei uns überhaupt
einer rebelliert, dann sicher nicht die von ganz unten,
sondern eher die Leute aus der Mitte. Die Politik weiß
das. Deshalb umgarnt sie diese Mitte ganz offiziell. Aber
die Mitte verschwindet. Sie spaltet sich in oben und
unten. Ein Viertel geht nach oben, drei Viertel fallen
runter. Wenn die aus der Mitte Gefallenen zahlreich in die
Billigfirmen kommen, wird es wohl einigen Wirbel geben."
(2010, S.108) |
Auch der Soziologe
Berthold VOGEL sieht in seinem Buch Wohlstandskonflikte
den politischen Druck aus der Mitte kommen, wie Alexandra MANSKE
in ihrer Rezension des Buches in der Kölner Zeitschrift für
Soziologie und Sozialpsychologie ausführt. Im Gegensatz zu
HERTEL kommt der politische Druck aber nicht von Akademikern,
die wie HERTEL temporär in Billigfirmen arbeiten müssen, sondern
von der Industriearbeiterschaft und den Beschäftigten im
Öffentlichen Dienst.
Wohlstandskonflikte
"Die
These des Buchs lautet, dass sich die aktuelle soziale
Frage weniger an der wachsenden Zahl der Armen entzünde,
als an zerstörten sozialen Aufstiegshoffnungen und den
Abstiegsdrohungen ehemals hegemonialer Mittelklassemilieus
der Aufsteigergesellschaft der Nachkriegsjahre. Als
typische Repräsentanten der sozialen Mitte klassifiziert
der Autor die Industriefacharbeiterschaft und die
Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes, da sie den Kern
der Arbeitnehmergesellschaft ausmachen würden und insofern
Repräsentanten des »Formverlustes« der Arbeitsgesellschaft
seien".
(aus: Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie, September 2010, S.563) |
Für den
Sozialstrukturforscher Michael VESTER ist
noch nicht entschieden, ob wir der "Pyramide" entgegensteuern, sondern
dies hängt für ihn von den
Entscheidungen in Politik und Wirtschaft ab. Der "Pilz" scheint
das zu sein, was SARRAZIN vorschwebt, wenn er per qualitativer
Bevölkerungspolitik Deutschland vor dem Untergang retten möchte.
Michael VESTER sieht aber gerade in dieser "Flucht in das Pilzmodell"
das Hauptproblem Deutschlands.
"Orange", "Pyramide" oder "Eieruhr"? Der Gestaltwandel der
Berufsgliederung seit 1990
"Der
vom internationalen Exportwettbewerb ausgeübte Druck auf
Arbeitsverdichtung und Höherqualifikation kann durch eine
extreme Flucht in das 'Pilzmodell' - übermäßige Expansion
und Privilegierung der Höchstqualifikationen bei
Dezimierung und Entwertung der mittleren und gehobenen
Fachqualifikationen - nicht bewältigt werden. (...). Die
kommenden Konflikte werden sich nicht nur um die
Entwicklung der Höherqualifizierung, sondern auch darum
drehen müssen, ob die mittleren und unteren
Qualifikationsebenen unterbewertet und unterbezahlt sind.
Dabei geht es auch um die bisherigen Strukturen des
industriellen Exportmodells der BRD. Dieses Modell bedarf
einer besseren 'Balance' mit den für die inländischen
Nachfrage und Entwicklung wichtigen Bildungs-,
Gesundheits- und Sozialdienstleistungen".
(aus: Dynamiken (in) der gesellschaftlichen Mitte 2010, S.70)
|
Für VESTER zeigen
internationale Vergleiche, dass in Deutschland das Potenzial der
Humandienstleistungen noch nicht ausgeschöpft ist. VESTER
betrachtet in seinem Beitrag vor allem den Produktionssektor und
die damit verbundenen Dienstleistungsbereiche, also nur einen
Teilbereich der gesellschaftlichen Mitte. Wenn der bisherige
Trend in diesem Bereich so weiter geht, dann könnte die
Berufsgliederung die Form einer "Eieruhr" annehmen.
"Orange", "Pyramide" oder "Eieruhr"? Der Gestaltwandel der
Berufsgliederung seit 1990
"eine
neue komparative Studie von Oesch und Rodriguez (2009)
(stellte)(...) für die Periode 1990-2008 ein massives
berufliches upgrading fest, und zwar in Gestalt eines
polarisierten uprgradings, das allerdings in
Deutschland erst nach 1996 (...) eingesetzt hat (...).
Dies bedeutet, dass die Beschäftigung in den mittleren
Berufsgruppen stärker zurückging als in den unteren. Bei
diesem upgrading wirken, so die Autoren, auf dem
Arbeitsmarkt drei Faktoren zusammen: der technologische
Wandel auf der Nachfrageseite, die Zunahme qualifizierter
Fachausbildungen auf der Angebotsseite und die Art der
tarifpolitischen Institutionen, die beides regulieren
(...).
Das Muster eines polarisierten, die Mitte ausdünnenden
uprading wird auch von unseren Berechnungen für die
Bundesrepublik bestätigt (...)."
(aus: Dynamiken (in) der gesellschaftlichen Mitte 2010,
S.68) |
Es wird also zukünftig in
den von VESTER beschriebenen Bereichen zu Verteilungskämpfen
kommen, deren Ausgang über die weitere Entwicklung
mitentscheiden.
Für
Berthold VOGEL ist die Entstehung einer breiten Mittelschicht
eine Konsequenz der Nachkriegsentwicklung zum Wohlfahrtsstaat.
Gemäß VOGEL prägte die Bildungsexpansion und der Ausbau des
Wohlfahrtsstaates die Aufsteigergesellschaft der
Nachkriegsjahre. Insbesondere die Entwicklung des öffentlichen
Dienstes prägte das Bild von der neuen Mittelschicht, der so
genannten Dienstklasse, im Gegensatz zur alten Mittelschicht,
dem selbständigen Unternehmertum. Von der Expansion bzw. vom
Schrumpfen des öffentlichen Dienstes waren die Berufsanfänger
der verschiedenen Generationen unterschiedlich betroffen.
Profiteure des Ausbaus des Wohlfahrtsstaates sind für VOGEL die
gut Gebildeten der um 1950 Geborenen.
Wohlstandskonflikte
"Die
empirischen Analysen zeigen, dass aufeinanderfolgende
Kohorten unterschiedlich in ihren beruflichen und
erwerbsbiographischen Chancen beeinflusst wurden. So stieg
der Anteil der Berufsanfänger, die im staatlichen Sektor
Beschäftigung fanden, von 12,7 Prozent bei der Kohorte
zwischen 1929 und 1931 Geborenen auf 15 Prozent der
Kohorte 1939-1941 und schließlich auf 24,1 Prozent in der
Kohorte 1949-1951. Als erste Faustregel im
Verhältnis von Sozialstrukturentwicklung und
wohlfahrtsstaatlicher Expansion gilt: Die Generation
der um 1950 Geborenen konnte in besonderer Weise vom
Ausbau des Wohlfahrtsstaates profitieren.
(...).
Die wahren Profiteure staatlicher Beschäftigungsexpansion
sind aber ohne Zweifel die Hochschulabsolventen, die mit
30,1 Prozent den größten Zuwachs beim Berufseinstieg in
den öffentlichen Sektor erreichen konnten. Der
beschleunigte Ausbau personalintensiver öffentlicher
Leistungen und sozialer, erzieherischer, therapeutischer
und medizinischer Dienste sowie die deutliche Zunahme von
qualifizierten Dienstleistungspositionen hat seit den
1960er und 1970er Jahren die Nachfrage nach höherer
Qualifikation deutlich verstärkt.
(...).
Der Arbeitgeber und der Arbeitsort Staat wurden zu einem
Sammelbecken der Akademikerbeschäftigung. Die
durchschnittliche (Bildungs-)Qualifikation der
Staatsbediensteten lag daher deutlich höher als in den
privatwirtschaftlichen Sektoren des Arbeitsmarktes,
obgleich sich auch hier der Trend einer tendenziellen
Höherqualifikation zeigt. Die Entwicklung markiert
schließlich auch den grundlegenden Strukturwandel der
industriellen Gesellschaft."
(2009, S.149ff.) |
Insbesondere die
68er-Generation (Jahrgänge 1938 - 1947) profitierten als
Berufsanfänger von den neu entstehenden Laufbahnen im Bereich
der Dienstklassen wie der Stellenzuwachs von 15 auf 24,1 Prozent
bei den Jahrgängen 1939 - 1951 deutlich macht. VOGEL spricht von
der neuen Mittelschicht als "staatsgebundenen Mittelklasse".
Im
Gegensatz zur öffentlichen Debatte um Wohlfahrtsgenerationen
, die sich lediglich
auf den engeren Bereich der Sozialversicherungssysteme
beschränkt, geht es VOGEL um den großen Bereich staatlicher
Wohlfahrt, der auch die Infrastruktur von Krankenhäusern bis zur
Telekommunikation und Verkehr umfasst. Und es geht hier nicht
primär um die Sozialstaatsklientel bzw. die so genannten
Versorgungsklassen (LEPSIUS), sondern um die Anbieterseite
staatlicher Leistungen. Wenn man von Verlierer- und
Gewinnergenerationen spricht, dann zeigen sich auch Differenzen,
je nachdem welche Aspekte in den Blick geraten und welche
ausgeblendet werden. In der Sicht von VOGEL gehören aber nicht
nur die 68er-Generation, sondern insbesondere auch die
Frauen der Generation Golf zu den Profiteuren der
Entwicklungen im Bereich des Wohlfahrtsstaates wie ein Blick auf
die 1990er Jahre zeigt.
Wohlstandskonflikte
"Frauen
stellen mittlerweile mehr als die Hälfte der öffentlich
Bediensteten. In den 1990er Jahren konnten sie
insbesondere im höheren Dienst und bei den Beamten ihren
Beschäftigungsanteil noch einmal steigern. Zudem werden
immer häufiger und regelmäßiger auch Führungspositionen in
der öffentlichen Verwaltung von Frauen eingenommen bzw.
besetzt. Die letzte Faustregel lautet: Junge und gut
ausgebildete Frauen konnten in besonderer Weise von der
Expansion des Wohlfahrtsstaates profitieren und vermochten
sich dauerhaft in den Arbeitsmärkten der öffentlichen
Dienste zu etablieren.
»Vater Staat« entwickelte sich seit den 1960er Jahren zur
Mutter qualifizierter Frauenbeschäftigung. Vor allem hat
sich mit dem Ausbau der Bildungseinrichtungen das
Verhältnis der Frauen zu Bildung, Arbeit und Beruf
langfristig und dauerhaft verändert. Die Frauen
repräsentieren eine starke Kerngruppe der
wohlfahrtsstaatlich formierten Aufsteigergesellschaft."
(2009, S.153f.) |
Vor diesem Hintergrund der
Aufsteigergesellschaft müssen nun die neueren Entwicklungen in
der Mitte der Gesellschaft nach der Jahrtausendwende betrachtet
werden. VOGEL beschreibt die aufbrechenden Wohlstandskonflikte
mit den Begriffen "prekärer Wohlstand" und "soziale
Verwundbarkeit". Bevor darauf näher eingegangen wird, soll
zuerst gefragt werden, wie sich die Situation für die
Mittdreißiger der Generation Golf darstellt.
Einblicke
gewährt das Buch
Die Wendegeneration von Karl Ulrich
MAYER & Eva SCHULZE, das sich dem prominenten Jahrgang 1971
widmet.
Die Wendegeneration
"Heike
Makatsch, Moritz Bleibtreu, Nadja Auermann, der Biathlet
Sven FISCHER, der »Generation Golf«-Autor Florian Illies
und der Wirtschaftsminister Freiherr zu Guttenberg, aber
auch der Schriftsteller Jakob Hein und der Radprofi Sven
Voigt, haben eines gemeinsam: Alle sind 1971 geboren und
gehören daher zu unserer Wendegeneration. Sie sind das »erfolgreiche«
Gesicht dieses Jahrgangs. Was wurde aus den anderen?
Welche Lebenschancen hatten junge Ostdeutsche und
Westdeutsche in den achtziger und neunziger Jahren und zu
Beginn des Jahrtausends? (...). Wie »privilegiert« waren
die jungen Westdeutschen durch den Zufall ihrer Geburt im
Vergleich mit den altersgleichen Ostdeutschen?
(2009,
S.223) |
Dem Jahrgang 1971 gehören
sowohl Florian ILLIES als auch Frank HERTEL an. Beide
repräsentieren das Spektrum der männlichen westdeutschen
Akademiker. Das Buch von MAYER & SCHULZE beansprucht die
Lebensverläufe der 1971 Geborenen zu beschreiben. Es müssen
jedoch Abstriche gemacht werden, da weder die gesellschaftlichen
Ränder, noch die von VOGEL in den Blick genommene
staatsgebundene Mittelklasse ausreichend im Fokus steht.
Breiten
Raum nehmen Beschreibungen typischer Lebensverläufe für die vier
Gruppen West- und Ostfrauen bzw. West- und Ostmänner ein, die
vor dem Hintergrund quantitativer Daten sozusagen den
gesellschaftlichen Mainstream darstellen. Dadurch geht die
Pluralität verloren, aber es werden zumindest die Grundzüge der
Entwicklungen deutlich, die bis Mitte des Jahrtausend die
Lebensverläufe prägten.
Es
zeigt sich hinsichtlich der Arbeitslosigkeitserfahrungen
(und nicht nur in dieser einen Hinsicht) ein deutlicher
Ost-West-Unterschied, der sich in den Jahren 1997 bis 2002
herausbildete, was rechtfertigt von unterschiedlichen
Generationseinheiten zu sprechen, entgegen den in den Medien
populären Konstruktionen einer gesamtdeutschen Generation
.
Die Wendegeneration
"Ost-
und Westdeutsche (unterschieden sich) relativ wenig in
ihrer Arbeitslosigkeitserfahrung an der Schwelle zwischen
beruflicher Ausbildung und erster Erwerbstätigkeit (...).
Und in Fällen von Arbeitslosigkeit dauerte diese relativ
kurz. (...). Wenn wir nun die ersten 12 Jahre nach der
Wiedervereinigung betrachten, zeigt sich aber ein völlig
anderes Bild. Etwa zwei Drittel der ostdeutschen Männer
machten Erfahrung mit Arbeitslosigkeit - im Gegensatz zu
rund einem Drittel bei westdeutschen Männern. Frauen im
Osten waren fast so häufig arbeitslos wie ostdeutsche
Männer und ebenfalls um über die Hälfte häufiger als
westdeutsche Frauen. (...). Ein zweiter Aspekt der
Arbeitslosigkeit ist die Dauer der verschiedenen
Arbeitslosigkeitsphasen. Hier unterscheiden sich ost- und
westdeutsche Männer kaum voneinander, was darauf
hindeutet, dass es im Osten mehr Arbeitslosigkeitsepisoden
gab, die aber als Sucharbeitslosigkeiten jeweils kürzer
waren. Ostdeutsche Frauen hingegen waren doppelt so lange
arbeitslos wie westdeutsche Frauen. Es war für sie also
besonders schwierig, nach Freisetzungen wieder eine
Erwerbstätigkeit zu finden."
(2009, S.147f.) |
Die Ost-West-Unterschiede
durchziehen aber auch Geschlechterunterschiede wie die
unterschiedliche Dauer von Arbeitslosenepisoden zeigt. Die
Situation des Jahrgangs 1971 Mitte des Jahrtausends sehen MAYER
& SCHULZE im Vergleich zu anderen Jahrgängen differenziert.
Hinsichtlich des Ausmaßes der Betroffenheit von Arbeitslosigkeit
finden sie keine nennenswerte Unterschiede, doch dauert die
Arbeitslosigkeit bei der Wendegeneration länger, wobei sowohl
geschlechtsspezifische als auch Ost-West-Unterschiede erkennbar
sind.
Die Wendegeneration
"Die
quantitativen Auswertungen zeigen, dass der Jahrgang 1971
zwar in Ost und West - im Vergleich zu allen und vor allem
älteren Erwerbstätigen - eher unterdurchschnittliche
Arbeitslosigkeitsquoten aufwies. Aber dessen ungeachtet
war die erfahrene Arbeitslosigkeit und deren kumulative
Dauer von erschreckendem Ausmaß: Zwei Drittel der
Ostdeutschen hatten bis zum Alter von 34 Jahren
Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit im Vergleich zu einem
Drittel im Westen. Für Männer in Ost und West sowie für
die Frauen im Westen summierten sich
Arbeitslosigkeitsphasen auf insgesamt etwa ein Jahr, für
ostdeutsche Frauen auf fast zweieinhalb Jahre. Trotz der
schwierigen Arbeitsmarktlage war die Erwerbsbeteiligung
der Ostfrauen höher als die der Westfrauen. Sie
unterbrachen wegen der Geburt von Kindern seltener und für
kürzere Zeiten als die Westfrauen.
(2009, S.171) |
Die berufliche Mobilität,
d.h. Arbeitsplatzwechsel, Betriebswechsel oder Berufswechsel,
hat gemäß MAYER & SCHULZE im Westen und Osten unterschiedliche
Ursachen: Ostdeutsche waren aufgrund von
Transformationszwängen mobil, während die westdeutsche Mobilität
durch Wünsche nach Selbstverwirklichung und befriedigender
Arbeit verursacht wurde.
Dieses
Urteil scheint jedoch für Westdeutschland zu pauschal, denn die
Arbeitsmarktsituation stellt sich je nach Branche ganz
unterschiedlich dar. Neuere Untersuchungen für die Zeit nach
2005, die womöglich sogar noch die Auswirkungen der Finanzkrise
mit einbeziehen, kommen auch für den Westen zu differenzierten
Ergebnissen. Man kann jedoch zumindest festhalten, dass die Rede
von einer gesamtdeutschen Generation (89er-Generation von
Clauss LEGGEWIE oder die Generation Berlin bei Heinz
BUDE) für die Anfang der 1970er Jahre geborenen Männer und
Frauen falsch ist.
Hier
soll jedoch im Weiteren der Blick auf die Männer der
Generation Golf gerichtet werden. Wie lässt sich die
Situation des Sozialwissenschaftlers und Gelegenheitsjobbers
Frank HERTEL im Kontext der Entwicklungen in Westdeutschland
einordnen?
Mit Blick auf HERTELS Situation sprechen Jens AMBRASAT und Martin GROß von "strukturierter
Individualisierung". Wie die eingangs zitierten Journalisten
BUCHSTEINER und LEHNARTZ sehen die Sozialforscher in Deutschland
einen segmentierten Arbeitsmarkt, der in offene und geschlossene
Positionen gespalten ist. Deshalb ist für sie ein
Hochschulabschluss allein kein Garant für eine stabile
Beschäftigung.
Strukturierte Individualisierung. Die diversifizierenden
Reproduktionsmechanismen der Mittelklassen
"Geschlossene
Positionen sind solche, die nur frei werden, wenn der
Positionsinhaber sie selbst räumt, während bei offenen
Positionen der Arbeitgeber über eine Neubesetzung
entscheiden kann.
Mit zunehmendem Grad der Schließung einer Position
entstehen immer größere Vorteile für den Positionsinhaber.
Dazu zählt vor allem die günstigere Erwerbs- und
Einkommensperspektive. (...). Im Gegensatz dazu haben
Inhaber offener Positionen auch mit unfreiwilligen
Mobilitätsschritten in Form von Entlassungen (bzw.
Nicht-Wiederbeschäftigung bei Auslaufen eines befristeten
Vertrages) zu rechnen. (...). Arbeitnehmer in offenen
Positionen (lassen) sich auf eher geringe Entlohnungen
(ein)(...), um der drohenden Arbeitslosigkeit zu entgehen.
(...).
Deutschland verfügt über einen vergleichsweise rigiden
Kündigungsschutz (...) und bietet damit einen eher
geschlossenen Arbeitsmarkt. Atypische
Beschäftigungsverhältnisse dienen nun gerade dazu, diesen
hohen Schließungsgrad aufzubrechen."
(aus: Dynamiken (in) der gesellschaftlichen Mitte 2010,
S.294) |
In ähnlicher Weise
beschreibt Holm FRIEBE im Beitrag Digitale Boheme revisited
den Wandel entlang einer Spaltung des Arbeitsmarktes in Insider
und Outsider.
Digitale Boheme revisited
"Der
Soziologe Heinz Bude weist darauf hin, daß mittlerweile in
jedem Milieu von den Unterprivilegierten bis zur
Managerklasse ein gewisser Anteil »prekär« oder
abrutschgefährdet ist: »So zieht sich die unregelmäßige,
aber unmißverständliche Linie der sozialen Spaltung durch
unsere Gesellschaft. Auf der einen Seite stehen
diejenigen, die den sozialen Wandel verkörpern und den
Takt vorgeben, und auf der anderen Seite diejenigen, die
zurückbleiben und aus dem Rhythmus kommen.« Wie man die
Chancen dieser wachsenden Unsicherheit gerecht verteilt
und die Risiken abfedert, daran muß sich die politische
Debatte entzünden, die wir ausnahmsweise nicht führen
wollten."
(aus: konkret Literatur Nr.35, 2010, S.9) |
In der aktuellen Ausgabe
der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie
vom September 2010 befassen sich gleich zwei Abhandlungen mit
der Thematik. Während Karl Ulrich MAYER, Daniela GRUNOW und
Natalie NITSCHE vom Mythos Flexibilisierung sprechen,
weil die Instabilität der Berufsbiografien von den 1929
Geborenen bis zu den 1971 Geborenen nicht zugenommen haben
. Wie weiter oben
gesehen, arbeiten die Jammerjournalisten der Generation Golf
weiterhin als Journalisten und mussten nicht umsatteln.
Dagegen
sprechen Johannes GIESECKE und Jan Paul HEISIG in ihrem Beitrag
von Destabilisierung und Destandardisierung im Hinblick
auf die westdeutsche Arbeitsplatzmobilität seit 1984. Betroffen
von innerbetrieblichen Veränderungen seien vor allem männliche
Berufseinsteiger und männliche Beschäftigte in Großbetrieben.
Die Autoren sehen ebenfalls eine Spaltung in Insider
(Kernbelegschaften von Großunternehmen) und Outsider
(Randbelegschaften in Großunternehmen), die jedoch nicht in
erster Linie innerhalb der gut Qualifizierten verläuft, sondern
zwischen gut Qualifizierten und gering Qualifizierten und damit
entgegen der Individualisierungsthese bestehende Ungleichheiten
verschärft.
Destabilisierung und Destandardisierung, aber für wen? Die
Entwicklung der westdeutschen Arbeitsplatzmobilität seit
1984
Während
"die globale Destandardisierungsthese oftmals mit der »Entstrukturierungs-These«
(...), der zufolge Ungleichheiten nach sozialer Klasse
oder Bildung an Bedeutung verlören, verknüpft wird,
argumentieren andere Autoren (...), dass bestehende
Ungleichheiten durch die gestiegenen
Flexibilisierungsanforderungen eher verstärkt als
nivelliert werden dürften, weil
Flexibilisierungspotentiale in erster Linie bei
Beschäftigten mit einfachen Tätigkeiten und geringem
betriebsspezifischem Humankapital bestehen. Unsere Befunde
stützen diese zweite Variante recht eindeutig: Klare
Destabilsierungstendenzen können wir nämlich
ausschließlich für Geringqualifizierte beiderlei
Geschlechts nachweisen. Diese wechselten gegen Ende des
Untersuchungszeitraums häufiger den Arbeitgeber und waren
häufiger von Übergängen in Erwerbslosigkeit betroffen als
zu Beginn."
(aus: Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie, September 2010, S.428f.) |
AMBRASATZ & GROß
beschäftigen sich im Gegensatz zu GIESECKE & HEISIG speziell mit
dem Arbeitsmarkt für Akademiker. Durch die Segmentierung
dieses Arbeitsmarktes gibt es nach AMBRASAT & GROß
Verschiebungen im Berufseinstieg.
Hochschulabschlüsse
sind keine hinreichende Bedingung mehr für einen schnellen
Einstieg in einen Mittelklasseberuf, sondern nur noch eine
notwendige Voraussetzung. Das gilt aber nicht erst für die
jetzigen Jahre, sondern bereits Anfang der 1980er Jahre gab es
ähnliche Probleme beim Berufseinstieg für Akademiker, nur dass
sich damals die Lage wieder weitgehend entspannte, während eine
Entspannung derzeit noch nicht absehbar ist.
AMBRASAT &
GROß unterscheiden beim Arbeitsmarkt für Akademiker drei
Bereiche: das traditionelle Segment der
Normalarbeitsverhältnisse (geschlossene Positionen), das
flexibilisierte Segment der offenen Positionen und den
Wissenschaftsbereich. HERTEL muss sich im Bereich des
flexibilisierten Segments durchschlagen, mit dem sich rund 40 %
der Hochschulabsolventen zufrieden geben müssen. Dies liegt auch
an der Studienfachwahl, bei der Aufsteiger aus den unteren
Schichten jene Bildungsabschlüsse anstreben, die eher eine
Festanstellung und hohe Einkommen garantieren.
Strukturierte Individualisierung. Die diversifizierenden
Reproduktionsmechanismen der Mittelklassen
"Bedroht
die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes die Reproduktion
der Mittelklassen trotz des Erwerbs höherer Bildungstitel?
Drei zentrale Ergebnisse der hier vorgestellten Studie
deuten in diese Richtung.
Erstens findet sich ein erheblicher Teil der Absolventen
in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen wieder - etwa 40
% der hier befragten Personen beginnen ihre
Erwerbskarriere in diesem Bereich. Zweitens werden diese
Beschäftigungsverhältnisse (...) schlechter entlohnt
(...). Drittens schützt eine Herkunft aus den
Mittelklassen nicht vor einer Beschäftigung in diesem
benachteiligten Arbeitsmarktbereich. Es finden sich gar
Anzeichen besserer Mobilitätsmöglichkeiten für Angehörige
der unteren sozialen Schichten: Da Absolventen aus eher
einfachen sozialen Verhältnissen zu den Fächern
Wirtschafts- und Ingenieurswissenschaften sowie Informatik
neigen, diese Fächergruppen aber einen relativen Schutz
vor dem flexibilisierten Segment bieten, ergibt sich für
diese Absolventengruppe sogar ein leichter Vorteil
gegenüber den sozial Bessergestellten."
(aus: Dynamiken (in) der gesellschaftlichen Mitte 2010,
S.308f.) |
Im Heft 3 der Zeitschrift
Vorgänge fragen Alexandra MANSKE & Norman LUDWIG Bildung
als Statusgarant? Sie sehen für die Kohorten ab den Jahren
1970 den Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und
Bildung insbesondere bei den Hochqualifizierten gelockert. Dies
gilt insbesondere für die Kommunikationsdesignbranche als Teil
der Kreativwirtschaft.
Bildung als Statusgarant? Über die lose Verbindung
zwischen Qualifikation und Status bei Hochqualifizierten
"Die
Kommunikationsbranche ist kurz gefasst von der
soziodemografischen Zusammensetzung her hochgebildet,
jung, unterbezahlt und hat einen unsicheren, da dauerhaft
diskontinuierlichen Erwerbstatus inne.
(...).
Insbesondere der New-Economy-Crash zu Beginn des
Jahrtausends sowie die Finanzmarktkrise im Jahr 2008
hatten beschäftigungspolitische Folgen. Beide
konjunkturellen Einbrüche mündeten in eine
Diversifizierung und Prekarisierung der
Arbeitsverhältnisse.
(2010, S.96) |
MANSKE & LUDWIG betonen
jedoch, dass viele Geistes- und Sozialwissenschaftler die
geringeren Einkommen und unsicheren Karrierechancen im Kreativ-
bzw. Kulturbereich zugunsten eines attraktiveren Arbeitsfeldes
in Kauf nehmen. So träumt auch HERTEL von
einer Karriere im kulturellen Bereich, auch wenn dort die zu
erzielenden Einkommen nicht unbedingt dem entsprechen, was in
anderen Branchen möglich ist. Holm FRIEBE & Sascha LOBO haben in
ihrem Buch Wir nennen es Arbeit eine positive Ideologie
für das Arbeiten jenseits der Festanstellung entwickelt. Holm
FRIEBE sieht in dieser so genannten digitalen Bohème die Agenten
des gegenwärtigen sozialen Wandels.
Digitale Boheme revisited
"Wir
wollten für den Moment nicht viel mehr sagen, als daß die
digitale Boheme eher auf der Seite derer steht, die den
sozialen Wandel verkörpern, auch wenn sie ihn nicht
verursacht haben. Es sind diejenigen, die sich mit
Energie, Geschick und weniger Berechnung den neuen
Verhältnissen anpassen. Und unter den gegebenen Umständen
ist eine lebenstaktische Entscheidung für mehr Autonomie
und Eigenregie vermutlich nicht die dümmste."
(aus: konkret Literatur Nr.35, 2010, S.9) |
Zwischen dem Job, den
HERTEL in der Billigfabrik absolviert hat, und den Jobs der
Kreativen liegen Welten. Das Segment des
flexibilisierten Arbeitsmarktes bietet also eine große Spannbreite.
Die "echte" digitale Bohème würde solche Jobs, die HERTEL
bislang angenommen hat, ablehnen. Aber auch HERTEL ist
gewissermaßen ein Mitglied dieser kreativen Klasse. Aber dafür
muss er immer wieder Umwege in Kauf nehmen.
Knochenarbeit
"Ich
darf meine Erlebnisse zu einem Buch verarbeiten. Das macht
mehr Spaß als Fließbandarbeit, ich habe viel mehr
Freiheit. Die Maschine, die ich jetzt bediene,
funktioniert, kaum einer redet mir rein, ich kann meine
Arbeitszeit selbst bestimmen, und wenn ich auf die
Toilette gehe, muss ich nicht mehr abstempeln. Ich brauche
keine Ablösung, wenn ich eine rauchen möchte. Und ich gehe
an die frische Luft, wenn mir danach ist. Ich fahre nach
München, ich lese Zeitung, ich sehe fern. Ich bin ganz und
gar frei und bekomme trotzdem so viel Geld wie vorher. Das
ist sehr komfortabel, und sicher werden mich manche darum
beneiden."
(2010, S.120) |
|
|