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"»Das Single-Dasein ist
eine defizitäre Sozialfigur«, meint der
Soziologe Dirk Kaesler von der Universität
Marburg."
(Kas, Deutsche Welle vom
05.04.2002) |
Paradiesische
Zustände
Das Urbild der guten
Gesellschaft jener, die unsere
Gesellschaft mit dem Drohbild
Single-Gesellschaft beschreiben, ist
die
Normalfamilie. Die
Gemeinschaft der Normalfamilie, das sind die
paradiesischen Zustände. Die einen haben sie
in der Urgesellschaft oder in den Mythen
gefunden. Andere - nostalgische
Familienrhetoriker - sehen sie ersatzweise in den
1950er Jahren. Damals erschien die
Gesellschaft vor dem Hintergrund der
Kontrastfolie "Grauen der 40er Jahre"
als friedlich. Gewalt war - wenn überhaupt - die
Konsequenz erlebter Gewalt in Kriegszeiten.
Die
Halbstarkenkrawalle
erschütterten erstmals das selbstgefällige
Selbstbild der 1950er Jahre und
institutionalisierten die Jugendgewaltforschung
in der Nachkriegsgesellschaft.
Das
Böse kommt in die Gesellschaft
Das Urbild des Bösen
ist für jene, die unsere Gesellschaft mit dem
Drohbild
Single-Gesellschaft
beschreiben, der Single. Je singlehafter der
Unsicherheitsverursacher erscheint, desto weniger
stellt er eine Gefährdung der Gemeinschaft der
Normalfamilien dar und desto geringer ist das
gesellschaftliche Erregungspotenzial. Die Rasterfahndungskategorien
der Sicherheitsproduktion können entlang eines
Kontinuums
beschrieben werden, das mit hoher
Singlehaftigkeit (Walter BIEN) beginnt und danach
bis ins Herz der Normalfamilie vordringt
. Die Unfassbarkeit
eines Ereignisses ist umso größer je
näher der Unsicherheitsverursacher im Herzen der
Normalfamilie gesucht werden muss. Die Medien bieten im
ersten Moment immer Unsicherheitsverursacher an,
die mit hoher Singlehaftigkeit einhergehen. Der
Unsicherheitsverursacher Nr.1 ist der
Einzelgänger.
Der
Einzelgänger
Der Typus des Einzelgängers lebt idealer Weise
jenseits aller Bindungen. Matthias ALTENBURG hat diesen Typus im
Buch Landschaft mit
Wölfen (1997) beschrieben:
Landschaft mit Wölfen
"Ich war nicht immer ohne
Freunde. Mit Welser ging es sogar recht
lange, aber nach seinem Tod habe ich
aufgehört, Freundschaften zu schließen. Es
lohnt sich nicht. Man sollte gleich daheim
bleiben. Kaum geht man aus dem Haus, schon
wird man mit Frechheiten traktiert. Wie
angenehm es wäre, wenn man leben könnte,
ohne behelligt zu werden und ohne jemanden zu
behelligen. Man wäre ein Fußgänger, in
Eintracht mit jedermann, freundlich, ohne
Vorsatz. Den Nachbarn würde man so arglos
grüßen wie den Mond, wie einen Stein am
Wegrand, eine unverhoffte Lichtung. Wir
würden mit kleinen Worten auskommen. Sonst
nichts. Es ist zu spät. Die Menschen können
einander nicht lassen. Mit Welser war alles
noch anders. Wir konnten uns beschimpfen,
ohne den Respekt zu verlieren. So groß war
unsere Achtung voreinander, daß wir uns jede
Rücksichtnahme verbaten. Fremde zuckten
zusammen, wenn sie hörten, wie wir
miteinander sprachen. Es war ein Spiel, bei
dem wir beide gewannen. Wir waren
unbesiegbar. Dann hat er sich umgebracht, und
ich war allein. Meine Toten flackern mir
durch den Kopf, aber ich will nicht an sie
denken."
(1997,
S.154f.) |
"Die Welt sieht aus, als würde
sie warten, daß man sie erlöst", denkt
Neuhaus, der Protagonist in ALTENBURGs Roman,
bevor er sieben Menschen erschießt und danach
heißt es: "Ich sehe schon mein Bild in der
Zeitung." Ich hab's ja immer gewusst, das musste 'mal so
enden, wird jeder sofort denken. Das Merkmalsprofil des
Unsicherheitsverursachers ist stimmig und die Alltagswelt der "Single-Gesellschaft"
kann wieder einkehren - bis zum nächsten
Einbruch der Unsicherheit.
Was aber, wenn der
Unsicherheitsverursacher kein Einzelgänger war,
sondern eingebunden ist in Gruppen?
Der
kommunikationsgestörte Gruppenmensch
Das Sozialkapital (PUTNAM) in der
Gesellschaft hat sich verringert, beklagen die
Kommunitaristen.
Und die Sportvereine plakatieren: Im Verein
ist Sport am schönsten. Deutschland ist
der Weltmeister unter den Vereinsmeiern. Und wer einem Verein
angehört, der kann doch kein schlechter Mensch
sein, oder?
Wer war Robert Steinhäuser?
"Robert war zwei mal die
Woche beim Training, er kam immer pünktlich,
erinnert sich Andreas Köthe (...). Der
Trainer wundert sich darüber, was jetzt
über Robert erzählt wird. Es heißt ja
jetzt oft, Robert habe sich nicht integriert
Andreas Köthe erinnert sich dagegen
eher an einen 'Gruppenmenschen'. Handball,
sagt Köthe, ist ein Mannschaftssport, wer
sich nicht integrieren kann, macht das nicht
lange."
(Rico Czerwinski & Silke
Becker im Tagesspiegel vom 28.04.2002)
"Er war eher so'n Außenseiter"
"Wir sind alle betroffen.
Wir betreiben das Schießen als Sport. Ich
habe nie gedacht, daß so was passieren
könnte von einem Schützenbruder."
(Julia Schaaf in der
Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom
28.04.2002)
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Während die Kommunitaristen der
Gesellschaft Heilung per
Vereinsmitgliedschaft versprechen,
zeigen die Gewalttäter, dass die Einbindung in
Gemeinden kein Allheilmittel ist. Seit dem 11.
September 2001 ist der Begriff
"Schläfer" in aller Munde. Unter der
Fassade der Eingebundenheit lauert das
Unfassbare. Der Unsicherheitsverursacher gibt
sich nach außen als kommunikativ, gar als
aufgeschlossen und bleibt doch in seinem Kokon
verbarrikadiert. Zu allererst gilt
jedoch die Vermutung, dass jemand trotz
oberflächlicher Einbindung (passive Mitglieder,
"Karteileichen") kommunikationsgestört
ist. Das Stereotyp dafür ist inzwischen
der
Nerd und davon abgeleitet das nerdische Verhalten. Der Schweiger
("Stille Wasser sind tief") steht unter
Anomieverdacht und gilt den Geselligen als
hochgradig verdächtig. Wer zur
Netzgeneration
(Eike HEBECKER) gehört, der ist den schlimmsten
Gefährdungen ausgesetzt: dem Internet und
Computerspielen. Günter GRASS hat zuletzt dieses
Schreckgespenst in der Novelle
Im Krebsgang
(2002) beschworen. Der neueste Stand der Technik
ist immer die größte Bedrohung für jene, die
dadurch ihre Definitionsmacht gefährdet sehen.
Ich hab's ja immer
gewusst, das musste 'mal so enden, wird jeder
Gesellige oder Technikfeind sofort denken. Das
Merkmalsprofil des Unsicherheitsverursacher ist
plausibel und die Alltagswelt der
"Single-Gesellschaft" kann wieder
einkehren - bis zum nächsten Einbruch der
Unsicherheit.
Was aber, wenn der
Unsicherheitsverursacher kein
kommunikationsgestörter Gruppenmensch war,
sondern ein geselliger Mensch ist?
Die wehrlose
Familie
Die Saat der Gewalt
"Wenn eine der Hauptbühnen
der Brutalisierung das Fernsehen ist, was
Studien zur Jugendgewaltforschung belegen, so
zeigt dies, dass die Familie nicht mehr die
Prägekraft besitzt, den suggestiven
TV-Bildern ein humanes Miteinander
entgegenzusetzen. Kinder, die ohne Vater oder
Mutter aufwachsen, sich selbst und ihren
(Alb-)Träumen überlassen - sind sie nicht
die Verkörperung unserer Misere?"
(Heiko Schwilk in der Welt
am Sonntag vom 28.04.2002) |
Wenn in der Außenwelt der
Gesellschaft keine Rasterfahndungskategorien wie
Einzelgängertum oder Kommunikationsstörung
auffindbar sind, dann muss die Innenwelt der
Familie unter die Lupe genommen werden. Die
unvollständige
Familie ist der Unsicherheitsverursacher
Nr.1. Sie ist anfällig für schlechte Einflüsse
von außen, d.h. Massenmedien oder Internet.
Das Rätsel um "Steini"
"Jahrelang lebte 'Steini'
nur wenige hundert Meter von seiner Schule
entfernt in einer eigenen Wohnung im
ausgebauten Dachgeschoss. Ein Teil des Hauses
mitten in Erfurts historischer Altstadt
gehört dem Großvater Hermann, der ebenso
wie die Eltern des Amokläufers dort auch
selbst wohnt. Im Treppenhaus des
vierstöckigen, erst kürzlich renovierten
Altbaus stehen ordentlich aufgereiht Blumen
auf den Fensterbrettern, vor den Türen
liegen die Fußabtreter korrekt angeordnet,
die Namenschilder glänzen. Im Erdgeschoss
ist eine Zahnarztpraxis und der kleine
Vorgarten ist akkurat gepflegt.
Roberts Mutter arbeitet als Krankenschwester
in einer Hautklinik, sein Vater schafft bei
Siemens. Die beiden sollen sich getrennt
haben, wissen Nachbarn zu berichten, und
trotzdem sagen sie auch, dass alles in
Ordnung war."
(Matthias Gebauer im Spiegel
Online vom 27.04.2002) |
Herrmann HESSE schildert im Buch
Demian
(1919, 1974) die Gefährdungen von Kindern in
vollständigen Familien folgendermaßen:
Demian
"Wenn ich mir den Teufel
vorstellte, so konnte ich ihn mir ganz gut
auf der Straße unten denken, verkleidet oder
offen, oder auf dem Jahrmarkt, oder in einem
Wirtshaus, aber niemals bei uns daheim."
(1974)
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Ich hab's ja immer gewusst, das
musste 'mal so enden, wird der in der
Normalfamilie Lebende sofort über jene denken,
die in einer unvollständigen Familie leben
müssen. Das Merkmalsprofil des
Unsicherheitsverursacher ist plausibel und die
Alltagswelt der "Single-Gesellschaft"
kann wieder einkehren - bis zum nächsten
Einbruch der Unsicherheit.
Was aber, wenn der
Unsicherheitsverursacher nicht aus zerrütteten
Verhältnissen kam, sondern in einer
Normalfamilie lebt?
Im Herzen
der Normalfamilie
Von dem französischen
Schriftsteller Emmanuel CARRÈRE wurde im Jahr
2001 Amok veröffentlicht. Das Buch
erzählt die Geschichte eines Mannes, der seine
Frau, seine beiden Kinder und seine Eltern
erschießt. Die Begebenheit hat sich tatsächlich
ereignet und zwar 1993 in Ferney-Voltaire - also
im kinderfreundlichen Frankreich.
CARRÈRE hat diesen
Fall rekonstruiert und daraus eine plausible
Geschichte konstruiert. Der Knackpunkt: Der Mann
hat sich über Jahre hinweg eine Scheinexistenz
aufgebaut. Er spielte seiner Familie den sozialen
Aufsteiger vor, obwohl er seit Jahren arbeitslos
war. Im Laufe der Zeit verstrickte er sich so
sehr in ein Lügengebäude, das irgendwann nicht
mehr aufrecht zu erhalten war und im Amoklauf
endete.
Im Kino ist gerade
der Film Lovely Rita von Jessica HAUSNER angelaufen.
Erzählt wird die Geschichte einer Pubertierenden, die in einer
Normalfamilie lebt, und am Ende ihre Eltern erschießt. Auch hier
war eine wahre Geschichte der Auslöser für den Film.
Ich hab's ja immer
gewusst, das musste 'mal so enden, dürfen nun
alle Singles denken und der Alltag kann wieder
einkehren - bis zum nächsten Einbruch der
Unsicherheit.
Was aber, wenn die Lebensform gar
keinen Einfluss auf den Unsicherheitsverursacher
und seine Tat hat?
Die Kunst
des Verlierens
In letzter Zeit hört man immer
öfter davon, dass unserer Leistungsgesellschaft
eine Kultur des Scheiterns
fehlt. 1996 ist im
Suhrkamp-Verlag von dem Münsteraner Soziologen
Martin DOEHLEMANN das Buch
Absteiger erschienen. Der
Soziologe hat 59 Personen im Alter zwischen 24
und 71 Jahren befragt und festgestellt:
Absteiger. Die Kunst des Verlierens
"Bemerkenswerterweise wurde
kein »positives« Wort zu Abstieg verloren.
Gedankliche Verbindungen zu »Ausstieg« und
Befreiung wurden nicht hergestellt, etwa im
Sinne von »Entsorgung« (Hans im Glück)
oder eines Abschüttelns von sozialer
Kontrolle und Konformitätsdruck (gemäß dem
Vers von Wilhelm Busch: »Ist der Ruf erst
ruiniert/lebt sich's gänzlich ungeniert«
(1996, S.14)
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Diese Aussage dürfte auch
heutzutage noch zutreffend sein. DOEHLEMANN hat in
dem Buch eine Typologie der Selbstentwürfe
von Absteigern entworfen. Sein
besonderes Interesse gilt den »verlierenden
Gewinnern«, d.h. denjenigen die selbst
im sozialen Abstieg noch einen persönlichen
Gewinn entdecken können. DOEHLEMANN greift
zur Differenzierung der Absteiger auf die Typen
»Statussucher« (»status seekers« im Sinne von
Vance PACKARD, 1959) und »Sinnsucher« zurück:
Absteiger. Die Kunst des Verlierens
"Die Hauptquelle des
Selbstwertgefühls kommt für den
Statussucher aus seiner Mitwelt, für den
Sinnsucher aus der Eigenwelt. Gewinne oder
Verluste von Selbstachtung erfaßt der
Statussucher vor allem in Begriffen von
äußeren (Miß-)Erfolgen und Prestige, der
Sinnsucher in Begriffen von
Ich-Angemessenheit."
(1996, S.48f.)
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Die Konzepte korrespondieren mit der
Unterscheidung von David RIESMANN ("Die Einsame
Masse") in den innengeleiteten
("Sinn") und den außengeleiteten Typus ("Status").
Die
Differenzierungen lassen sich leicht
kulturpessimistisch als Kritik an der
Konsumgesellschaft vereinseitigen, aber eine
solche reduzierte Sichtweise würde dem
Grundgedanken von DOEHLEMANN nicht gerecht
werden. Das Problem, auf das
der Soziologe reagiert, ist tiefer gehend:
Absteiger. Die Kunst des Verlierens
"Die wachsende
Verpflichtung zu erfolgreichen biographischen
Eigenleistungen und zur Übernahme der
Verantwortung, wenn es schiefgeht, besteht
relativ unabhängig von den tatsächlich
gegebenen Chancen der Selbststeuerung.
Natürlich weiß jeder, daß es Umstände des
Mißlingens gibt (Widrigkeiten, Unglück,
Unfall, Krankheit, »Pech«, Indisposition),
für die der Betreffende nichts kann. Aber
die »Individualisierung der Unterlegenheit«
(Neckel)(...) ist zu einer allgemeinen
Vorvermutung und Vorverurteilung geworden,
ohne daß die näheren Umstände sonderlich
interessieren. Beschämungen solcher Art
werden »als soziale Waffe in den
alltäglichen Statuskämpfen zwischen den
Individuen« (...) oder zwischen
gesellschaftlichen Gruppierungen
gebraucht."
(1996, S.31)
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Der Mythos von den Leistungseliten (Michael
HARTMANN)
zusammen mit der verstärkten
Abwärtsmobilität
in der
Gegenwartsgesellschaft, lässt das Scheitern für
Viele zum Normalfall werden. Eine Gesellschaft,
die keine Mechanismen zum Umgang mit solchen
Situationen bereitstellt, trägt zur Erhöhung
des allgemeinen Gewaltniveaus bei. Dies ist sicherlich
kein Allheilmittel, aber bedenkenswert ist dieser
Aspekt auf alle Fälle.
Landschaft mit Wölfen
"Sieben Tote, immerhin.
Wenn man verrückt ist, fragt keiner mehr
nach."
(aus: Matthias Altenburg
"Landschaft mit Wölfen", 1997,
S.158.) Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
Die
Single-Debatte ist längst in eine Sackgasse geraten. Dies
wird in diesem Buch u.a. der Individualisierungsthese des
Münchner Soziologen Ulrich Beck angelastet.
Das Buch
sollte als Beitrag zur Versachlichung der Debatte
verstanden werden und liefert deshalb Argumente für eine
neue Sichtweise auf das Single-Dasein im Zeitalter der
Demografiepolitik.
(aus: Klappentext, 2006) |
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