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Zitate
zur sexuellen Revolution
Wäldernacht
"Bist
du unkeusch gewesen?
Ehrlich gesagt: Keine Ahnung. Schon allein
deswegen nicht, weil ich kaum wußte, worin
sie eigentlich bestand (...), nie sah ich
meine Eltern nackt, und ihr kaltes
Schlafzimmer ließ eher ans Klinikum denken
als an einen Sündenpfuhl.
(...)
Alle tun's. Und alle tun so, als täten sie's
nicht. Das konnte ich nur schockierend
finden; lachhaft und traurig zugleich."
(Ralf
Rothmann, 1994)
Paarungen
"Woher
nahm er eigentlich die Sicherheit, daß er
zeugungsfähig war? Diese Sicherheit hatte
sich bisher einzig auf seine Weigerung
gegründet, Vater zu werden. Wie aber, wenn
er dazu gar nicht in der Lage war? Klara
zitierte eine Erhebung, wonach in fünfzig
Prozent der Fälle von anhaltender
Unfruchtbarkeit der Mann für das Malheur
verantwortlich war. Jetzt, nach dem Tod
seines Vaters, wollt er wissen, ob er ein
Kind haben könnte, falls er es wollte.
(...)
Das Urteil über seine Zeugungsfähigkeit kam
durchs Telefon. (...) Wie Eduard selber
vermutet habe, lasse die Qualität seines
Samens zu wünschen übrig.
(...)
Sollte er wirklich kein Kind haben können?
Aus der Beunruhigung, die dieser Gedanke
auslöste, mußte er schließen, daß er sich
allen Beteuerungen zum Trotz eigentlich immer
Kinder gewünscht hatte. Offenbar hatte sich
seine zeitweise Entscheidung gegen jede
Nachkommenschaft auf die Gewißheit
gegründet, daß sie jederzeit widerrufbar
sei. Nun, da diese Gewißheit dahin war,
verlor sein »Verzicht« jeden Glanz. Auf
eine Möglichkeit heldenhaft zu verzichten,
die man nie hatte, lief auf eine bestenfalls
peinliche Veranstaltung hinaus."
(Peter
Schneider, 1992)
Kontaktanzeigen
Das
Leben war wirklich ein grausamer Witz. Erst
verbrachte man fünfzehn oder zwanzig Jahre
mit Beten, daß man nicht schwanger war
(...). Dann entschied man sich für
Schwangerschaft und machte eine Wendung um
hundertachzig Grad."
(Marissa
Piesman, 1997)
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Warum
wird gerade jetzt die sexuelle Revolution
verteufelt?
Michael
BÖRGERDING ist in Oversexed (Theater
der Zeit, Januar 2001) der Frage nachgegangen,
warum Michel HOUELLEBECQ zur Leitfigur des
deutschen Theaters geworden ist. Er geht davon
aus, dass dies mit der gegenwärtigen
Debatte
um die sexuelle Revolution und deren
zugeschriebenen Folgenkomplex
zusammenhängt. Er geht deshalb der Frage nach,
"warum gerade jetzt die Sexualität so
verteufelt schwierig und elend erscheint, oder
genauer: der Diskurs über Sexualität diese so
unmöglich erscheinen lässt".
BÖRGERDING
kritisiert die Tendenz, die sexuelle Revolution
für das ganze Elend dieser Gesellschaft
verantwortlich zu machen: "für Atomisierung
und Anonymisierung, kaputte Familien, verlassene
Kinder, Einsamkeit und Angst".
Die
Nachzügler aus der Provinz und der Kulturschock
Der
Verfasser ist in den 1950er Jahren in der
katholischen
Provinz aufgewachsen, einer Zeit und
Gegend, in der Kinder Erwachsene als
asexuelle Wesen erlebt haben (siehe
hierzu auch Ralf ROTHMANN
). Diese Erfahrung
können Kinder, die in den 1960er Jahren in
Metropolen aufgewachsen sind, nicht mehr
nachvollziehen. Aber viele dieser katholisch
erzogenen Kinder sind in die Metropolen - oder größere Städte - gezogen und erlebten einen
"Kulturschock". Für andere war die
sexuelle Revolution etwas, das sich auf dem
Fernsehbildschirm abspielte, während das soziale
Umfeld im katholischen Mittelalter verharrte.
Die
sexuelle Revolution hat bei der
Single-Generation zwar den Verstand, aber
nicht das Gefühl erreicht
HOUELLEBECQ
ist ein durch und durch katholischer
Schriftsteller. Die sexuelle Revolution
ist bei ihm im Verstand und im Handeln
angekommen, aber nicht im Gefühl. Wie ihm ist es
vielleicht vielen aus seiner Generation gegangen.
In Interviews hat er immer wieder auf die
Bedeutung des Religiösen hingewiesen. Obgleich
der Kirchgang im Alltag keine Bedeutung mehr hat,
ist das Fühlen stärker durch die
religiöse
Sozialisation geprägt als dies viele
glauben möchten. In sozialwissenschaftlichen
Umfragen ist die Variable "Religion"
immer noch unverzichtbar für die Erklärung
unterschiedlicher Verhaltensweisen.
Der
Kreuzzugscharakter der Debatte
Die Debatte
um HOUELLEBECQ trägt durchaus Züge
eines Religionskrieges, wenn er auch säkularisiert
ausgetragen wird. Spätestens seit der Franzose Jean-Claude
GUILLEBAUD mit dem Buch Die
Tyrannei der Lust seinen Unmut über die
Darstellung von Sexualität in den Medien auf einen griffigen
linksmoralischen Slogan gebracht hat, ist die Rede vom
Scheitern der sexuellen Revolution Allgemeingut in der
öffentlichen Debatte
.
Die Tyrannei der Lust
"Der
Autor untersucht historisch und soziologisch das Phänomen
Sexualität in unterschiedlichen Gesellschaften. Er
analysiert den Wechsel zwischen repressiven und
freizügigen Phasen in der Geschichte, das Verhältnis von
Sexualität zu Krankheit, Tod und Fortpflanzung. Er zeigt
den Einfluss von Religion, der Psychologie und sozialer
Revolutionen auf das Verhältnis von gesellschaftlicher
Toleranz bezeichnenderweise Intoleranz gegenüber dem
sexuellen Verhalten von Minderheiten. Im Brennpunkt steht
jedoch die Diskrepanz zwischen der totalen Emanzipation,
welche die moderne Gesellschaft vom Individuum verlangt,
und dem konformistischen Verhalten, das die vermeintliche
Befreiung des Individuums mit sich bringt."
(Klappentext 2001) |
GUILLEBAUD
möchte den Sex retten, indem er ihn aus der
Öffentlichkeit verbannt. Eine auf den ersten
Blick merkwürdige Vorstellung, wenn man die
Verhältnisse der Vor-68er Zeiten aus eigener
Anschauung kennt.
Hinter
den statistischen Oberflächen liegt die
unsichtbare Alltagswirklichkeit
Ist
es möglich, dass es Menschen gibt, die sich
dorthin zurückwünschen? Kaum vorstellbar.
Höchstens sie glauben der Oberfläche
statistischer Daten und sozialwissenschaftlicher
Umfragen, die wenig über die Zustände hinter
dieser Fassade eines "goldenen
Zeitalters der Heirat" aussagen.
Denn mitten in diese Idylle platzte der erste
Jugendprotest und überraschte die unvorbereitete
Öffentlichkeit. Dies war der
"Sputnikschock" der Jugendforschung. 1959
erschien Sexualreife und Sozialstruktur der
Jugend von Hans Heinrich MUCHOW. Es geht
darin um die Halbstarken und die
Erklärung der "Halbstarkenkrawalle":
Sexualreife und Sozialstruktur der Jugend
"Obwohl
der Name »Halbstarke« in der Literatur schon um 1912
begegnet (in Hamburg ist er in der Umgangssprache sogar noch
älter), ist das heute damit bezeichnete Phänomen doch erst
neueren Datums. Pfingsten 1953 haben sich
auf dem Bahnhofsvorplatz von Hannover zum
ersten Male jene Szenen abgespielt, die dann
in den folgenden Jahren immer häufiger
beobachtet werden konnten und die
schließlich im Sommer 1956 die erschreckte
Öffentlichkeit monatelang beschäftigt
haben."
(1959, S.125)
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Seit
diesen Halbstarkenkrawallen ist die Jugend im
Nachkriegsdeutschland immer schon verdächtig.
Das
Problem der 1950er Jahre erscheint als Lösung der
1990er Jahre
In diesen
goldenen 1950er Jahren war die Frühehe
ein Problem, heutzutage scheint so mancher
Familienpolitiker und
Bevölkerungswissenschaftler darin eher eine
Problemlösung zu sehen, wenn man die Debatte um
späte Heiraten verfolgt.
Rückschlüsse
von der Mediendebatte auf die Schlafzimmer und
was davon zu halten ist
Aber
was hat dies mit der sexuellen Revolution zu tun?
BÖRGERDING fragt sich, warum die These vom Sex,
der überall zu sein scheint, nur nicht im Bett,
heutzutage so populär ist. Er zitiert hierzu
Mariam LAUs Die neuen Sexfronten
aus dem Jahre 2000, wonach es zwischen dem
öffentlichen Sprechen über Sexualität und dem
öffentlichen Zeigen sexueller Verhaltensmodelle
und der realen Sexualität einen direkten
Zusammenhang gibt. Es wird eine
Entlastungsstrategie
postuliert, wonach die "Lustlosigkeit eine
Befreiung von der sexuellen Überanspannung um
uns herum" ist.
Die neuen Sexfronten
"Was
war die sexuelle Revolution, und wie sieht man sie heute?
Was sind ihre Schattenseiten, was ihre Verdienste? Mariam
Lau gibt darauf eine Antwort und beschreibt die
Schauplätze, Aktivisten, Theorieentwürfe und
Mythenbildungen der Revolte wie ihrer Nachwehen: von der
legendären Kommune I mit Uschi Obermeier und Rainer
Langhans über das Projekt der sexuellen Aufklärung bis zur
Genderdebatte, von der Wirkung eines Alfred Kinsey über
Beate Uhse bis zu Lilo Wanders und »Liebe Sünde«."
(Klappentext, 2000) |
Waren also
die als asexuelle Wesen erlebten Erwachsenen der
1950er Jahre im Grunde sexuell aktiver als heutige
Erwachsene? Haben sie dies vor ihren Kindern nur
besser geheim gehalten? Wenn man wissenschaftliche
Ergebnisse mit der Skepsis eines
Sozialwissenschaftlers betrachtet, dann gibt es
nur einen einzigen Indikator, der objektiv
Auskunft über den Erfolg von
Sexualverhalten gibt: die Anzahl der
geborenen Kinder. Alle anderen Herangehensweisen
haben den Nachteil, dass sie nicht überprüfbar
sind. Wenn ich Ergebnisse von Umfragen
miteinander vergleiche, dann sagen diese eher
etwas über den jeweiligen Zeitgeist zum
Zeitpunkt der Umfrage bzw. Untersuchung aus, aber
nicht unbedingt etwas über das reale Verhalten
im Bett. Welche Maßstäbe ziehe ich für
Vergleiche heran? Was sagt die erfasste
Zufriedenheit über das tatsächliche Verhalten
und das Erleben aus? Solche Fragen werden gar
nicht erst gestellt, wichtiger ist die
Plausibilität
von Thesen und die Entlastungsthese ist
insofern plausibel, weil sie gut zur
Debatte
um den Geburtenrückgang passt.
Die
Massenmedien im Dienste der Bevölkerungspolitik
LAU
will zudem in ihrem Buch aufzeigen, dass
Verheiratete
mehr und besseren Sex haben und glücklicher sind
als Unverheiratete. In den letzten Monaten hat es
in der Presse genügend Meldungen gegeben, die
diese These plausibel erscheinen lassen. Solche
Meldungen sagen etwas über die Veränderungen
des gesellschaftlichen Klimas aus.
Das
Single-Dasein soll als unattraktive Lebensform
erscheinen. Dadurch erhofft man sich
eine Stabilisierung der Ehe und damit eine
Erhöhung der Geburtenraten.
Im Jahr
1996 haben die beiden Demographen Karl SCHWARZ
& Jürgen DORBRITZ in ihrem Aufsatz
Kinderlosigkeit in Deutschland - ein Massenphänomen? dieses Credo als Zielsetzung
für eine Bevölkerungspolitik formuliert, die
sie aus ihrer
These von der zunehmenden
Polarisierung in einen Familien- und einen
Nicht-Familiensektor ableiten. Der
langfristigen Erhöhung der Kinderzahlen pro
Familie geben die Bevölkerungswissenschaftler
keine Chancen. Im historischen Verlauf sind die
geburtenstarken
Jahrgänge in den 1960er Jahren die
Ausnahme gewesen und nicht die Regel.
Erfolg hat
nach DOBRITZ & SCHWARZ allein "einer
Ausbreitung der Kinderlosigkeit
entgegenzuwirken". Entsprechend den
normativen Prämissen sind nur Kinder in der Ehe
erwünscht, d.h. mit dem
Zurückdrängen der Kinderlosen ist gleichzeitig das Zurückdrängen des
Single-Daseins verbunden
.
Diese Position entspricht dem Wertekonservatismus, der sich in
Deutschland ausbreitet und von Nationalkonservativen wie Herwig
BIRG noch zugespitzt wird.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Dies
ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem
nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend
die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt.
Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard
Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die
Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank
Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster
Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der
Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
Es wird aufgezeigt, dass sich die
nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles
im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die
nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen." |
Der
bevorstehende Familienwahlkampf wirft seine
Schatten voraus
Der
Bundestagswahlkampf im Jahr 2002 wird ganz
im Zeichen der Familienwerte stehen. Die Debatte
um HOUELLEBECQ und die Debatte um die Folgen der
sexuellen Revolution müssen im Kontext
der gegenwärtigen sozialpolitischen
Verteilungskämpfe gesehen werden.
BÖRGERDINGs Ausführungen greifen deshalb zu
kurz, wenn er meint, es reiche aus den
Kulturbetrieb
als selbstreferentielles System zu
betrachten. Er gibt deshalb den Ratschlag es mit
Klaus THEWELEIT zu halten:
Oversexed
"Die Kunst (des
Nicht-Boulevard-Seins) besteht darin, die
jeweils vorgegebenen Rhythmen zu ignorieren;
heißt, wählen, wenn nicht Wahl ist.
Bleiben, wenn sich alle trennen. Lachen, wenn
die Rhythmiker heulen. Freud lesen, wenn alle
ihn treten. Lohnerhöhung fordern bei leeren
Kassen. Nicht abonnieren, wenn abonniert
wird. Und soweiter, undsofort: nur wer lernt,
durch die Welle zu tauchen, kann sich sehen
lassen in der Brandung, und erfährt die
Sexualität des Meers."
(Januar 2001)
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Singles
sollten die Umkehr der Beweispflicht verlangen
Viel
wichtiger wäre heutzutage zu fragen, welche
Folgen die öffentliche Debatte für jene Singles
hat, die jetzt schon zu den Benachteiligten
gehören. Wem nutzt diese Debatte, wenn die
Debattierenden in erster Linie gut situierte
Angehörige der Neuen Mitte sind, die in Familien
leben? Wenn es eine Selbstreferentialität
gibt, dann ist sie auf diese Gruppe beschränkt.
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