|
|
|
|
|
|
Einführung
|
Stadtverwaltung Pirmasens, Foto: Bernd Kittlaus 2018 |
Die
pfälzische Mittelstadt Pirmasens gilt als Problemfall. Sie
schrumpft seit Jahrzehnten und ihr wird eine weitere
Schrumpfung prognostiziert. Das
Regionalhandbuch Rheinland-Pfalz, Ausgabe 2004, ging von
einem Bevölkerungsrückgang in Pirmasens zwischen 2000 und 2015
von 15,2 % aus. Für Ende 2015 wurde mit 38.343 Einwohner
gerechnet. Tatsächlich waren es dann 40.125 mehr. Die
Ausgabe 2007 ging dann von einem Bevölkerungsrückgang zwischen
2006 und 2020 von 12,1 % auf 37.301 Einwohner aus. Die Ausgabe
2011 ging von einem Bevölkerungsrückgang zwischen 2010 und
2030 von 19,7 % auf 32.428 Einwohner aus. Die letzte
Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Landesamtes
(Ausgabe 2015) geht nun von einem Bevölkerungsrückgang
zwischen Ende 2013 bis 2035 von 15,1 % auf 34.028 Einwohner
aus.
Ist die
Demografie unser Schicksal wie uns wirtschaftsnahe
Lobbyorganisationen behaupten oder ist die Rede von
Abwärtsspiralen lediglich Vorwand, um eine neoliberale Politik
der Stärkung der Starken zu rechtfertigen? Die Stadt Pirmasens
ist oder war schon in etlichen Bereichen Schlusslicht, z.B.
bei den Privatverschuldungen, bei der Lebenserwartung oder den
kommunalen Kassenkrediten. Als kreisfreie Stadt steht
Pirmasens - im Gegensatz zu anderen Mittelstädten der gleichen
Größenordnung - im Brennpunkt medialer Aufmerksamkeit. Das
mediale Negativimage ist auch eine Frage der Verfügbarkeit von
Daten.
Aus der
folgenden Tabelle sind die 10 kreisfreien Städte mit den
niedrigsten Einwohnerzahlen im Jahr 2017 ersichtlich:
Übersicht: Kreisfreie Städte mit den niedrigsten
Einwohnerzahlen |
Rang |
Gemeinde |
Bundesland |
Fläche
|
Einw./qkm |
Einwohner |
1 |
Zweibrücken |
Rheinland-Pfalz |
70,64 |
485 |
34.270 |
4 |
Suhl |
Thüringen |
141,62 |
264 |
37.321 |
5 |
Pirmasens |
Rheinland-Pfalz |
61,37 |
662 |
40.632 |
6 |
Schwabach |
Bayern |
40,82 |
999 |
40.781 |
8 |
Coburg |
Bayern |
48,29 |
854 |
41.236 |
9 |
Ansbach |
Bayern |
99,91 |
417 |
41.652 |
10 |
Amberg |
Bayern |
50,14 |
843 |
42.248 |
|
Während die
drei bayerischen Mittelstädte jeweils Teil einer
Metropolregion sind, gehören die drei kleinsten Städte zu
strukturschwachen Regionen. Ein Teil der Probleme von
Pirmasens rührt also daher, dass sie als Mittelstadt in einer
strukturschwachen Region liegt und Rheinland-Pfalz nicht zu
den wirtschaftsstarken Bundesländern wie Bayern zählt. Die
Probleme von Pirmasens sind also in erster Linie ökonomisch
und nicht demografisch verursacht. In dieser Bibliografie wird
die öffentliche Debatte zur Lage der Stadt dokumentiert, denn
die weitere Entwicklung ist eine empirische Frage und keine
demographische Schicksalsfrage. Aus der folgenden Tabelle sind
einige Kennzahlen des demografischen Wandels aufgeführt, die
in der medialen Berichterstattung als problematisch angesehen
werden:
Tabelle:
Bevölkerungsentwicklung, Geburtenentwicklung und Alterung
von Pirmasens |
Jahr |
Bevölkerungsstand |
Lebendgeborene |
Geburtenrate (TFR) |
Rohe
Geburtenziffer |
Altenquotient
60 + |
Altenquotient
65 + |
1990 |
|
|
|
|
|
|
1991 |
|
|
|
|
|
|
1992 |
|
|
|
|
|
|
1993 |
|
|
|
|
|
|
1994 |
|
|
|
|
|
|
1995 |
|
|
|
|
|
|
1996 |
|
|
|
|
|
|
1997 |
|
|
|
|
|
|
1998 |
|
|
|
|
|
|
1999 |
|
|
|
|
|
|
2000 |
45.212 |
|
|
|
|
|
2001 |
44.822 |
|
|
|
|
|
2002 |
44.367 |
|
|
|
|
|
2003 |
43.971 |
351 |
|
7,9 |
59,8 |
|
2004 |
43.637 |
324 |
|
7,4 |
59,9 |
|
2005 |
44.137 |
291 |
|
6,7 |
58,9 |
|
2006 |
42.427 |
319 |
|
7,5 |
|
44,7 |
2007 |
41.875 |
338 |
|
8,0 |
|
44,3 |
2008 |
41.358 |
323 |
1,49 |
7,8 |
|
44,5 |
2009 |
40.808 |
322 |
1,52 |
7,8 |
|
44,4 |
2010 |
40.384 |
294 |
1,42 |
7,2 |
|
43,5 |
2011 |
40.655 |
309 |
1,48 |
7,7 |
|
42,7 |
2012 |
40.267 |
321 |
1,55 |
7,9 |
|
42,6 |
2013 |
40.101 |
293 |
1,42 |
7,3 |
|
43,0 |
2014 |
40.046 |
299 |
1,44 |
7,5 |
|
43,8 |
2015 |
40.125 |
347 |
1,68 |
8,7 |
|
44,2 |
2016 |
40.416 |
349 |
|
8,7 |
|
43,9 |
2017 |
40.632 |
330 |
|
8,2 |
|
|
2018 |
40.455 |
|
|
|
|
|
|
Quellen:
Statistisches
Landesamt Rheinland-Pfalz Bevölkerung und Geburten
2003-2018 Publikation Rheinland-Pfalz Regional
2004-2019; Statistisches Jahrbuch 2018 und
Pressemitteilung 23.01.2019; Bevölkerung 2000-2002
Wikipedia; |
Kommentierte Bibliografie (2004 - heute)
2004
GEO -Extrabeilage: Kreise und Städte im Test.
Der
demographische Wandel: Daten, Trends und Analysen |
GEO (2004): Der
demographische Wandel: Daten, Trends und Analysen.
Kreise und Städte im Test,
in:
GEO. Beilage zu den demographischen Perspektiven Deutschlands,
Mai
"Bis 2020 könnte die Stadt im
Vergleich zu 1999 rund 18 Prozent an Bevölkerung
verlieren" (2004, S.12),
prophezeit
das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung der
pfälzischen Stadt Pirmasens. Damit erhält die Stadt die
Schulnote 6, die Kreise oder kreisfreie Städte erhalten, deren
Bevölkerungsrückgang mehr als 15 Prozent bis zum Jahr 2020
beträgt.
BÖNISCH, Julia Maria (2004): Insolvenz-Landkarte.
Wo Deutschland
Pleite geht,
in:
Spiegel Online v.
12.10.
"Pirmasens
und Wilhelmshaven sind (...) die Orte mit den meisten
Privatpleiten: Die Zahl der eröffneten Insolvenzverfahren lag in
Pirmasens mit 269 pro 100.000 Einwohner fast vier Mal so hoch
wie der Bundesdurchschnitt. In Wilhelmshaven lag die Quote mit
226 annähernd drei Mal so hoch", berichtet Spiegel Online.
2006
KRÖHNERT, Steffen/MEDICUS, Franziska/KLINGHOLZ, Reiner (2006):
Die demographische Zukunft der Nation. Wie zukunftsfähig
sind Deutschlands Regionen? München: Dtv, April
"Hoyerswerda
ist überall: Allein in Ostdeutschland stehen etwa 1,3 Millionen
Wohnungen leer - etwa 16 Prozent des Bestandes. Städte wie Gera
und Dessau, aber auch Pirmasens oder Bremerhaven im Westen
tragen inzwischen das Stigma des Verfalls", (2006, S.42f.)
erklärt uns
das Buch, das auch auf die niedrige Lebenserwartung hinweist:
"Selbst die
Lebenserwartung differiert aufgrund ungleicher
Lebensverhältnisse: Sieben Jahre leben die Frauen im bayerischen
Kreis Fürstenfeldbruck länger als im pfälzischen Pirmasens. Bei
den Männern beträgt der Unterschied sogar acht Jahre zwischen
dem (reichen) bayerischen Kreis Starnberg und dem (armen)
mecklenburgischen Demmin." (2006, S.9)
Folgenden
kreisfreien Städten wird ein weiterer Bevölkerungsrückgang
prognostiziert: Hoyerswerda, Cottbus, Halle a.d.Saale, Suhl,
Görlitz,
Neubrandenburg, Dessau, Brandenburg, Gera, Chemnitz, Magdeburg,
Stralsund, Zwickau, Bremerhaven und Pirmasens (vgl. 2006,
S.42).
War Pirmasens
im Jahr 2004 noch ein Bevölkerungsrückgang unter 15 %
prognostiziert worden, so gilt jetzt für die Stadt die
schlechteste Kategorie von mehr als 15 % Bevölkerungsrückgang.
2008
WILHELM, Hannah
(2008): Pleitestadt Pirmasens.
In dem einstigen
Zentrum der Schuhindustrie haben mehr Menschen Probleme mit
Schulden als irgendwo sonst in Deutschland. Und viele Einwohner
finden keinen Weg in die Zukunft,
in:
suedeutsche.de v.
05.03.
"Die Zeit ist
mit großen Schritten an Pirmasens vorübergezogen. Hinterlassen
hat sie enttäuschte Menschen wie Petra Kaiser, Menschen, die
sich verschulden. Einer von fünf Einwohnern von Pirmasens hat
Zahlungsschwierigkeiten oder hat sich schon hoffnungslos
verschuldet. Das sind fast doppelt so viele wie im
Bundesdurchschnitt. Pirmasens ist deutscher Meister im
Schuldenmachen. Die örtlichen Schuldnerberater schieben
Überstunden. (...).
Jeder zehnte Einwohner meldet in Pirmasens Privatinsolvenz an,
den früheren Offenbarungseid. Im Bundesdurchschnitt ist es nur
jeder zwanzigste. So landet die Stadt bei der Schufa-Studie zur
privaten Verschuldung seit Jahren auf dem letzten Platz",
berichtet Hannah WILHELM.
WISDORFF, Flora (2008): Keine Mitte,
nirgends.
Wer
studiert hat, geht weg aus Pirmasens und kommt nicht wieder -
Was mit einer Stadt passiert, der die Leistungsträger fehlen,
in: Welt v. 17.05.
"Pirmasens
ist eine Stadt ohne Mitte. Der Gesellschaft hier fehlt Rückgrat,
das einen stützt und nach einem Sturz auch wieder aufrichten
kann. Bundesweit diskutieren Ökonomen und Politiker das
Schrumpfen der Mittelschicht (...). Hier in Pirmasens ist die
Mitte nie entstanden.
In der Pfälzer Stadt haben laut den Berechnungen der
Gesellschaft für Konsumforschung knapp 22 Prozent der Haushalte
mehr als 2.600 Euro netto im Monat zur Verfügung. Der
Bundesdurchschnitt liegt bei 45 Prozent. Auch am unteren Rand
macht sich der fehlende Bauch bemerkbar: Während bundesweit nur
14 Prozent der Haushalte weniger als 1.100 Euro als
Nettoeinkommen zur Verfügung haben, sind es in Pirmasens 25
Prozent. Ein ganzes Viertel der Stadt lebt an der
Einkommens-Untergrenze. Pirmasens lebt vor, was es für eine
Gesellschaft bedeutet, keinen Mittelbau zu haben",
behauptet
Flora WISDORFF, die den Soziologen Stefan HRADIL zitiert und der
Mittelschicht jene Eigenschaften zuschreibt, dieder
Arbeiterschicht abgeht: Bildung, Aufstiegswille, Ehrgeiz und
Dynamik:
"Pirmasens
(...) ist lange ausschließlich von einer einfachen
Arbeiterschicht geprägt worden. Die Schuhindustrie beschäftigte
hier in den 60er-Jahren 20.000 der 60.000 Einwohner. Es waren
schlecht bezahlte Jobs, die keine Qualifikation verlangten. Nur
mit doppeltem Einkommen konnten die Pirmasenser Schuharbeiter
sich in die untere Mittelschicht hoch hangeln (...).
Nur zwei Lehrberufe in der Schuhbranche, Zuschneider und Stepper
machten den sozialen Aufstieg durch Leistung möglich. (...).
Und auch beim zweiten großen Arbeitgeber, den US-Streitkräften,
die nach dem Krieg in Pirmasens stationiert waren, (...) boten
4.000 Mark Lohn und Brot - für einfachste Arbeiten: Panzer
putzen etwa. Aber die US-Truppen wurden ab(ge)zogen und Schuhe
irgendwann erst in Osteuropa, dann in China gefertigt. Wer
nichts anderes konnte, stürzte ab, und da ziemlich jäh."
Der Neuffer
Park wird uns als Villenviertel der Schuhbarone beschrieben:
"Ihretwegen
hatte Pirmasens einst die höchste Millionärsdicht Deutschlands".
Die
derzeitige Lage beschreibt WISDORFF als desolat:
"Viele
verlassen ihre Stadt: 42.000 Menschen leben heute noch in
Pirmasens, vor 30 Jahren waren es noch 60.000. Vor allem die
Jungen mit Abitur gehen. 25 Prozent der Pirmasenser Kinder leben
in Armut. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 14 Prozent, davon sind
vier Fünftel Langzeitarbeitslos. Die Stadt hält den traurigen
Rekord der meisten Privatinsolvenzen der Republik. Bei der
Kommunalwahl 2004 holten die Republikaner zehn Prozent.
Zwar ist der Aufschwung auch in Pirmasens angekommen. Bei seinen
Bürgern aber nicht."
Pirmasens
fehlt nach Meinung von WISDORFF das, was der Soziologe Heinz
BUDE als
"neue Bürgerlichkeit" beschreibt. Den Verantwortlichen
schreibt er einen Hang zur Opferrolle zu:
"Lieber
flüchtet sich die Stadt in eine Opferrolle. Die »ungünstige
topografische Lage« wird gern als Erklärung für die Krise
genommen. Viele andere Unternehmen lockte es in der Tag nicht in
die Stadt, nahe der französischen Grenze, ohne
Autobahnanbindung. Schon die Stadtgründung war reine Willkür
(...). Dazu gesellt sich eine Art Verschwörungstheorie gegen die
einst mächtigen Schuhbarone: Mehrmals, so erzählt man in
Pirmasens, hätten sie verhindert, dass sich andere Unternehmen
ansiedelten, dass durch Wettbewerb und Diversifizierung die
Löhne hätten steigen können."
WISDORF
betreibt letztendlich einen reinen Personenkult, während die
Strukturprobleme und der Einfluss politischer Entscheidungen auf
die Lage der Stadt geleugnet werden.
2010
FUNK, Viktor (2010): Eine
Geschichte zweier Städte.
Vergleich: Arme und
reiche Kommunen liegen in Deutschland nicht weit voneinander
entfernt. Pirmasens, einst Hauptstadt der Schuhmacher, stemmt
sich gegen die globale Konkurrenz - mit wenig Erfolg. In Bad
Homburg dagegen fließt das Steuergeld dank der neuen Branchen.
Die Folgen spüren die Bürger jeden Tag,
in:
Frankfurter Rundschau
Online v. 19.07.
"Heute ist
Pirmasens eine Stadt ohne
Mittelschicht, die Jahr für Jahr viele Privat-Insolvenzen
meldet. Als einzige Stadt in Rheinland-Pfalz könnte Pirmasens
größere Messen ausrichten, doch die Halle nahe der Bibliothek
ist lange nicht so gut ausgelastet, wie sie es sein könnte.
(...).
Der Glanz der ehemaligen Garnisonsstadt ist verblasst. Nur noch
das prächtige Rathaus aus roten und beigen Sandstein am
Exerzierplatz lässt erahnen, wie gut es der Stadt einst ging.
Wer heute nach Pirmasens reist, steigt an einem verwahrlostem
Bahnhof aus, wo die Fenster ehemaliger Kleingeschäfte mit Holz-
oder Metallplatten verdeckt sind. Verblasst ist das Stadtmotto:
Pirmasens, die Einkaufsstadt",
berichtet
Viktor FUNK über Pirmasens, das mit Bad Homburg verglichen wird,
die im mitten im Speckgürtel von Frankfurt a/M liegt.
2011
LINK, Christoph
(2011): Angst vor der großen Leere.
Demografie: Der starke Rückgang der Bevölkerung trifft zuerst
strukturschwache Gebiete. Im Süden steht die Region Pirmasens
beispielhaft für das Problem. Man erprobt in der Pfalz längst
Strategien gegen Abwanderung - seit Jahrzehnten ist man
betroffen,
in: Stuttgarter Zeitung v. 21.11.
2013
KOHLHAAS-WEBER, Isabella &
Jörg PLÖGER (2013): Fallstudie Pirmasens. In: BBSR (Hrsg.)
Wieder erstarkte Städte Strategien, Rahmenbedingungen und
Ansätze der Regenerierung in europäischen Groß- und
Mittelstädten, Oktober, S.51-56
"Obwohl seit
Ende der 1990er Jahre, kurz nach dem Höhepunkt der Krise,
bereits Strategien und Pläne für die Umstrukturierung der
Wirtschaftsbasis und der Stadtentwicklung erarbeitet wurden,
entwickelte sich parallel dazu ein negatives Außen- und
Innenimage und eine gewisse Perspektivlosigkeit bei der
Bevölkerung. Der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften stellt
ein weiteres Problem für den wirtschaftlichen „Neuanfang“ dar,
da die Schuhindustrie und auch die Zulieferbetriebe
hauptsächlich von gering- bzw. niedrig-qualifizierten
Arbeitskräften geprägt waren",
beschreiben
KOHLHAAS-WEBER & PLÖGER die Faktoren, die eine angemessene
Bewältigung der Krise verhinderten. Die positive Sicht auf
Pirmasens beruht auf der Einschätzung der Stadtpolitiker und
Verwaltung, d.h. die Beschreibungen sind in erster Linie dem
Selbstbild der Akteure geschuldet.
2015
BERTELSMANN-STIFTUNG (2015): Demographischer Wandel verstärkt
Unterschiede zwischen Stadt und Land.
Deutschlands
Bevölkerungsstruktur wird sich in den kommenden Jahren spürbar
verändern. Das Durchschnittsalter steigt. Der Pflegebedarf nimmt
zu. Während die Städte eher wachsen, dünnt der ländliche Raum
weiter aus. Die Kommunen stellt das vor ganz unterschiedliche
Herausforderungen,
in:
Pressemitteilung
BertelsmannStiftung v. 08.07.
Die
neoliberale Bertelsmann-Stiftung hat ihre Bevölkerungsprognosen
für die deutschen Kommunen erneuert. Für den Zeitraum 2012 bis
2030 prognostiziert sie für Pirmasens einen Bevölkerungsrückgang
von 10,9 Prozent. Der Altenquotient (65 +) wird 2030 bei 60,5
gesehen.
2016
BORSTEL, Stefan von (2016): Wo leben die Deutschen am längsten?
Am Starnberger See werden die
Menschen am ältesten. Am niedrigsten ist die Lebenserwartung im
strukturschwachen Pirmasens,
in:
Welt v. 31.03.
MOHR, Reinhard (2016): Richtig schön alt werden.
Für den Mann, der sich den
besten Jahren nähert, ist der Starnberger See das Paradies: Hier
hat er die höchste Lebenserwartung (aber meiden Sie bloß
Pirmasens),
in:
Welt am Sonntag kompakt
v. 10.04.
ZWICK, Daniel (2016): Tue Gutes und pendle
rüber.
Millionen Deutsche haben
täglich sehr weite Arbeitswege. Stress für sie - aber ein Segen
für manch darbende Region. Sonst würde da gar keiner wohnen, wie
in der Südwestpfalz,
in: Welt am
Sonntag kompakt
v. 15.05.
Daniel
ZWICK argumentiert im Dienste der Wirtschaft gegen
Sozialpolitiker und Umweltpolitiker, die in der
Pendlermobilität nur die Ruinierung der Gesundheit oder die
Beeinträchtigung der Lebensqualität sehen. Am Beispiel des
Landkreises Südwestpfalz zeigt ZWICK, dass Studien, die sich
z.B. wie das Berlin-Institut für Bevölkerung und
Entwicklung oder die Bertelsmann-Stiftung nur an
politischen Territorien, aber nicht an der Realität der
Menschen
orientieren, zu
Fehleinschätzungen neigen:
"Ruppertsweiler
liegt in dem Landkreis Deutschlands, der in gewisser
Hinsicht der ärmste ist im ganzen Land. Südwestpfalz.
Unternehmen gibt es hier fast keine mehr, Arbeitsplätze
nur noch wenige, und die Wirtschaftsleistung (BIP) pro
Kopf beträgt 14.473 Euro - weniger als in allen Kreisen
Ostdeutschlands oder auch in Griechenland",
erklärt uns Zwick, um
dann auf statistische Verzerrungen bei Vergleichen
hinzuweisen:
"Größere Firmen gibt es
nur in Pirmasens und Zweibrücken. Doch ausgerechnet diese
Städte gehören nicht zum Kreis, »das führt zu starken
statistischen Verzerrungen«, sagt Heiner Röhl,
Regionalexperte beim Institut der deutschen Wirtschaft
(IW). Viele Pendler arbeiten dort. »Gäbe es in
Rheinland-Pfalz eine Kreisreform, ähnlich wie in
Mecklenburg-Vorpommern, dann würde die Region bei der
Wirtschaftskraft insgesamt zu den schwächeren Ostkreisen
aufschließen.«"
Tatsächlich entscheiden
oftmals historisch gewachsene Territorien über Wohl und Wehe
der dortigen Bewohner und nicht irgendwelche demografischen
Entwicklungen wie uns immer wieder gerne erzählt wird.
BUDRAS, Corinna & Sharon EXELER (2016):
Pirmasens, abgehängt.
Arme Menschen haben wenig
Geld und sterben früher. Pirmasens hält den traurigen Rekord.
Ein Besuch,
in:
Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung v. 22.05.
"Das Leben in Pirmasens
ist gefährlich. Das zeigt ein Blick in die Statistik.
Nirgendwo in Deutschland sterben die Menschen so früh wie
hier in der Westpfalz, auf den sieben Hügeln zwischen
Kaiserslautern und der französischen Grenze, direkt an der
Bundesstraße 10. Nach durchschnittlich 73 Jahren sind die
Männer tot, mit 77 Jahren die Frauen. Am Starnberger See
hätten sie dagegen noch acht Jahre länger zu leben,
womöglich sogar die schönsten Jahre",
erzählen uns BUDRAS &
EXELER. Bringt uns dies schon in Verwirrung, wird es noch
verwirrender, wenn man den Text mit der Grafik vergleicht.
Dort wird für Pirmasens und Starnberg jeweils nur für die
Männer eine Lebenserwartung von 73 bzw. 81 Jahren angegeben.
Gilt die Lebenserwartung nun für die Westpfalz oder für
Pirmasens und warum leben Frauen nicht länger als Männer,
wenn für Pirmasens oder Westpfalz bereits ein Unterschied
von 4 Jahren besteht? Gemäß
Wikipedia wird die kreisfreie Stadt Pirmasens vom
Landkreis Südwestpfalz
umschlossen.
Die Verwirrung hat
offenbar eine dpa-Meldung Ende März ausgelöst.
Seitdem sind Zahlen zur regional unterschiedlichen
Lebenserwartung im Umlauf, die mit einer Anfrage von Sabine
ZIMMERMANN (Linkspartei) in Verbindung stehen.
In einem Welt-Beitrag
von Stefan von BORSTEL wird die
geschlechtsspezifische Lebenserwartung in den beiden
Regionen noch am differenziertesten dargestellt.
BUDRAS & EXELER
beschreiben die derzeitige Situation mit einer
Arbeitslosigkeit von 13 Prozent (ohne Jahresangabe) vor dem
Hintergrund einer golden Epoche:
"Pirmasens war einmal
eine stolze Stadt, mit einer boomenden Schuhindustrie, die
in der ganzen Welt ihresgleichen suchte. Die Stadt mit der
höchsten Millionärsdichte und nahezu Vollbeschäftigung:
350 Schuhfabriken, die zu ihren Glanzzeiten 25.000
Menschen beschäftigten, und das über Generationen hinweg
und mindestens bis in die siebziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts."
Das Bleiben eines
traditionsreichen Schuhherstellers wird dann zum Wendepunkt
stilisiert. Pirmasens wird jungen Familien und Rentnern als
guter Standort gepriesen:
"Pirmasens mag zwar
eine sterbende Stadt sein, aber eine, in der es sich leben
lässt. Vor allem billig. Das ist ein Standortvorteil in
einem Land mit explodierenden Immobilienpreisen. Rentner
und Familien lieben Pirmasens, sagt sie. Da pendelt man
schon mal ins nahe gelegene Daimler-Werk oder sogar nach
Stuttgart, wie ihr eigener Ehemann",
zitieren BUDRAS & EXELER
eine Immobilienmaklerin, die PR in eigener Sache betreibt
und den Niedergang von Pirmasens auf Ende der 1990er Jahre
datiert.
"Seitdem bleiben sie
vornehmlich zu Hause, kassieren Hartz IV und bekommen
Kinder, die mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls zu
Hause bleiben und Hartz IV kassieren. Jedes dritte Kind
unter 15 Jahren lebt hier in einer
Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft",
wird uns erzählt und die
niedrige Lebenserwartung in Pirmasens damit nicht nur
erklärt, sondern auch gleichzeitig die Verschärfung dieses
Problems suggeriert.
Das Hauptproblem solcher
Daten ist jedoch, dass nicht Lebensläufe, sondern die
Korrelation von Gebiet und Bevölkerung, Grundlage sind, d.h.
eine niedrige Lebenserwartung einer Region sagt erst einmal
nichts über die Lebenserwartung konkreter Menschen aus, denn
dann dürfte es innerhalb eines Menschenlebens keinerlei
Mobilität in diesem Gebiet gegeben haben. Wie also soll
eigentlich aus solchen Korrelationsdaten überhaupt sinnvoll
die Lebenserwartung von Menschen ermittelt werden? Sagen die
Zahlen nicht viel mehr über das Wanderungsgeschehen als über
die Lebenserwartung aus? Deshalb bemühen die Autorinnen zur
Erklärung Studien des Robert-Koch-Instituts, wobei deren
Erkenntnisse sich offenbar nicht auf die Stadt Pirmasens
beziehen, sondern lediglich allgemeine Zusammenhänge
beschreiben:
"Nicht zuletzt dank des
Robert-Koch-Instituts ist das alles hinreichend erforscht.
Und doch verblüffen, gar empören die Befunde immer wieder
aufs Neue. Dass arme Menschen schlechter leben als reiche,
ist bekannt und wohl auch akzeptiert. Aber dass die Höhe
des Einkommens und der Stand der Bildung über die Länge
des Lebens entscheiden, ist nichts, woran sich eine
Gesellschaft gewöhnt – oder gewöhnen sollte. Denn die
Konsequenzen sind riesig: Armut, vor allem gepaart mit
einem niedrigen Bildungsniveau, kostet rund zehn Jahre des
Lebens. Rauchen, Alkohol, Übergewicht sind bei
Hartz-IV-Empfängern weiter verbreitet als bei Menschen mit
höherem Einkommen. Arme kümmern sich weniger um gesundes
Essen und treiben weniger Sport, all das befördert
Herz-Kreislauf-Krankheiten und Atemwegsbeschwerden. Hinzu
kommen Stress und Frust über die eigene Situation. Auch
das verkürzt das Leben."
Diese Situation wird uns
als Grund für einen "Pakt für Pirmasens" präsentiert, der
vor 7 Jahren geschlossen wurde und nun für Abhilfe sorgen
soll. BUDRAS & EXELER präsentieren am Ende sogar noch
Erfolge, die von dem Leser dem Projekt zugeschrieben werden
sollen:
"Langsam geht es
vorwärts, im vergangenen Jahr ist die Einwohnerzahl
erstmals seit zwanzig Jahren wieder gestiegen, die
Arbeitslosenzahl gesunken. Wenn in zwanzig Jahren 25
Prozent der betreuten Kinder eine Ausbildung schaffen,
wäre das ein Erfolg, sagt Oberbürgermeister Matheis in
einem Anflug von Pirmasenser Realismus."
ÖFINGER, Hans-Gerd (2016): In 50 Jahren von der Karte getilgt.
Die Stadt Pirmasens gilt als
"Armenhaus" von Rheinland-Pfalz,
in:
Neues Deutschland v.
26.08.
Die Schlagzeile spielt
auf die markigen Worte von Frank ESCHRICH ("Chef der
Linksfraktion") an und ist kein Ergebnis der
Bertelsmann-Stiftung oder des Berlin-Instituts zur
Bevölkerungsentwicklung in Pirmasens, obwohl diese Institute
immer für Horrorszenarien gut sind.
Die
kreisfreie Stadt Pirmasens ist das Oberhausen der Pfalz
- nur noch schlimmer.
"Pirmasens galt einst
als Hochburg der deutschen Schuhindustrie. Doch die
Monostruktur wurde zum Verhängnis. (...) Auch die US-Army
(...) hat sich seit den 1990er Jahren aus der Stadt
verabschiedet. Die Folge ist ein massiver
Bevölkerungsschwund. Waren es Mitte der 1960er Jahre noch
rund 67.000 Einwohner, so sind es jetzt nur noch rund
40.000",
erklärt uns Hans-Georg
ÖFINGER. Weder auf der offiziellen Website der Stadt, noch
auf Wikipedia lassen sich diese Zahlen überprüfen. Glaubt
man
Wikipedia, dann ist die Einwohnerzahl zwischen 2011 und
2015 um rund 100 gestiegen. Für 1970 werden 57.773 Einwohner
angegeben. Eine Broschüre der Stadt weist für das Jahr 1968
58.746 Einwohner aus (weiter zurück reicht die
Pressebroschüre nicht und sie endet bereits mit Zahlen aus
dem Jahr 2012). Das wäre also ein wahrhaft rasanter
Niedergang von Mitte der 1960er Jahre bis 1968 und
entsprechend der Entwicklung, die von der Broschüre
gezeichnet wird, eher unwahrscheinlich.
2017
BRANKOVIC, Maja & Christian
SIEDENBIEDEL (2017): Kein Land der Abgehängten.
Die Globalisierung hat die
Exportnation Deutschland reich gemacht. Aber auch hier gibt es
Regionen, in denen viele arbeitslos geworden sind. Die Autoren
haben sich unter Profiteuren und Verlierern umgehört,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung
v. 11.02.
"Die »Abgehängten«
(...) sind nicht wirklich arm, aber haben (...) ihren
Status als Rückgrat der Wirtschaft eingebüßt. Ihr Verdruss
gilt als eine der Ursachen dafür, dass Donald Trump (...)
gewinnen konnte. (...).
Müssen auch wir (...) mit einer Revolte der »Abgehängten«
gegen das »Establishment« rechnen? (...).
Wer diese Fragen beantworten will, muss sich erst einmal
mit den Ökonomen Jens Südekum, Wolfgang Dauth und
Sebastian Findeisen unterhalten. Sie haben untersucht,
welche Regionen hierzulande gewonnen haben und welche
verloren. Sie haben das vor allem daran gemessen, wie sich
die Beschäftigung in den verschiedenen Teilen des Landes
seit 1978 verändert hat",
beschreiben BRANKOVIC &
SIEDENBIEDEL die Herangehensweise ans Thema. Sie
unterschlagen dabei aber, dass die Untersuchung
Verlierer(-regionen) der Globalisierung in Deutschland: Wer?
Warum? Was tun? von SÜDEKUM/DAUTH/FINDEISEN vom
Dezember 2016 lediglich die Situation in Westdeutschland
berücksichtigt hat und die neuen Bundesländer außen vor
lässt. Die wirklich Abgehängten kommen also gar nicht zur
Sprache.
BRANKOVIC & SIEDENBIEDEL
stellen uns zuerst die Gewinnerregion Vechta vor (148 %
Beschäftigungszuwachs) und stellen dem Landkreis dann die
Verliererregion Südwestpfalz gegenüber:
"Inmitten der so
idyllischen Hügellandschaft zwischen Kaiserlautern und der
französischen Grenze ist seit 1978 mehr als jeder dritte
Arbeitsplatz weggefallen - das ist der stärkste Rückgang
in ganz Westdeutschland. Selbst das Ruhrgebiet (...)
blutete laut der zitierten Studie weniger aus.
Bis in die sechziger Jahre gehörte Pirmasens zu den
bedeutendsten Industriezentren des Landes, voll
ausgerichtet auf die Schuhproduktion (...). Umso stärker
war die Südpfalz betroffen, als die günstigeren Schuhe aus
Osteuropa und China den Niedergang der heimischen
Industrie einläuteten."
BRANKOVIC & SIEDENBIEDEL
malen ein düsteres Bild von der City in Pirmasens, das einer
Geisterstadt nicht unähnlich ist, um dann die
wirtschaftliche Situation mit einigen Indikatoren zu
beschreiben:
"Liegt das
Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in Pirmasens mit 35.000
Euro weit unter dem Bundesdurchschnitt der kreisfreien
Städte von rund 50.000 Euro, kommt das Umland nicht einmal
auf 15.000 Euro. Kein Kreis in Deutschland erwirtschaftet
weniger.
Hinzu kommt das geringe Bildungsniveau der Bevölkerung,
das die Vermittlung der Arbeitssuchenden erschwert. Die
Arbeitslosenquote in der Stadt Pirmasens beträgt 13
Prozent. Auf dem Land herrscht zwar nahezu
Vollbeschäftigung, doch das hat vor allem einen Grund:
Mehr als zwei Drittel der Erwerbstätigen pendeln zu ihrem
Arbeitsplatz (...) über die Grenzen des Landkreises
hinaus. (...). Von den ehemals 60.000 Einwohnern sind der
Stadt nur noch 40.000 geblieben. Wer bleibt, findet heute
Beschäftigung im schlechter bezahlten
Dienstleistungssektor. Oder geht auf direktem Weg in die
Arbeitslosigkeit. Hartz IV gehört ohnehin zur Realität
vieler Kinder. Jedes dritte unter 15 Jahren lebt von
staatlichen Transferleistungen."
BRANKOVIC & SIEDENBIEDEL
bezeichnen die Südwestpfalz als "Osten des Westens", was
sich auch im Wahlverhalten ausdrücken würde:
"Seit Jahren sitzen NPD
und Republikaner im Stadtrat von Pirmasens, bei der
Landtagswahl im März 2016 stimmten mehr als 15 Prozent für
die AfD."
Dennoch wollen sie keinen
"eindeutigen" Zusammenhang zwischen Globalisierungsfolgen
und dem Wahlverhalten der "Abgehängten" erkennen. Dafür
steht ein Gymnasiast und ein Marketingexperte der Stadt
Pirmasens ("Leiter der Wirtschaftsförderung"). Letzterer
darf die frohe Botschaft für die Region verkünden:
"Der Abwärtstrend in
den Bevölkerungszahlen sei mittlerweile gestoppt. Auch
wirtschaftlich gehe es langsam wieder bergauf. Und
schließlich zögen auch die spottbilligen Immobilienpreise
immer mehr Familien an, denen die Städte schlicht zu teuer
würden."
Alles bestens? Nicht die
Journalisten und auch nicht die Ökonomen sind es, die uns
sagen können, was die Zukunft bringt, sondern allein die
Geschichte wird uns zeigen wie es weitergeht.
In der Studie von SÜDEKUM/DAUTH/FINDEISEN,
die im Mittelpunkt der Story von BRANKOVIC & SIEDENBIEDEL
steht, wird uns folgende Rangliste der Regionen präsentiert,
deren einziger Indikator die Beschäftigungsgewinne und
-verluste zwischen 1978 und 2014 in Westdeutschland sind:
Tabelle:
Entwicklung der regionalen Beschäftigung
1978-2014 |
Rang |
Kreisfreie
Städte
bzw.Kreise |
Beschäftigungsentwicklung
(in Vollzeitäquivalenten) |
1 |
Vechta |
149,1 % |
2 |
Freising |
143,2 % |
3 |
München-Land |
139,6 % |
4 |
Landshut |
128,6 % |
5 |
Eichstätt |
118,2 % |
... |
... |
... |
198 |
Hamburg |
9,7 % |
... |
... |
... |
210 |
Frankfurt
a.M. |
8,4 % |
... |
... |
... |
219 |
Köln |
6,5 % |
... |
... |
... |
319 |
Pirmasens |
- 29,4 % |
320
|
Leverkusen |
- 31,1 % |
321 |
Wuppertal |
- 31,1 % |
322 |
Herne |
- 33,3 % |
323 |
Gelsenkirchen |
- 36,1 % |
324 |
Duisburg |
- 36,3 % |
325 |
Südwestpfalz |
- 37,6 % |
|
Quelle:
SÜDEKUM/DAUTH/FINDEISEN
2016, Tabelle 1, S.4 |
SÜDEKUM/DAUTH/FINDEISEN
sehen einen direkten Einfluss der Globalisierung auf die
regionale Beschäftigungssituation:
"Die Regionen im
unteren Bereich der Liste (neben dem Ruhrgebiet etwa die
Pfalz und Oberfranken) wiesen in den 1970er Jahren
deutlich andere sektorale Beschäftigungsstrukturen auf als
etwa Niederbayern oder der Stuttgarter Raum. Die
Wirtschaft im Ruhrgebiet war traditionell fokussiert auf
Kohlebergbau, Roheisenund Stahlerzeugung sowie auf
verwandte Bereiche wie Gießereien oder Kesselbau. In der
Pfalz war die Textil- und Schuhindustrie stark, in
Oberfranken der Bereich der einfachen Haushalts- und
Elektrogeräte und der Spielwaren. Diese
Spezialisierungsmuster waren nicht zufällig. Sie spiegeln
lokale Gegebenheiten und Kompetenzen wider und haben sich
über Jahrzehnte entwickelt. Sie haben diesen Regionen über
einen langen Zeitraum hinweg Wohlstand beschert. So
gehörte Duisburg einmal zu den deutschen Städten mit dem
höchsten Pro-Kopf Einkommen!
Aber im Zuge der Globalisierung entwickelten Osteuropa und
Asien, allen voran China, einen komparativen Vorteil in
eben jenen Branchen des einfachen verarbeitenden Gewerbes.
Das bedeutet, dass sie Güter wie Rohstahl, einfache
Elektroartikel, T-Shirts, Spielzeug usw. zu geringeren
Lohnstückkosten als andere Produzenten herstellen konnten.
Oftmals zwar in geringerer Qualität, aber dafür zu einem
deutlich geringeren Preis." (2016, S.4)
Die Autoren unterscheiden
jedoch zwischen Globalisierungsgewinnern/-verlierern und
allgemeinen Gewinnern/Verlierern. Inwiefern eine solche
Unterscheidung Sinn macht angesichts der komplexen
Wechselwirkungen, ist eine andere Frage. Den Abgehängten ist
es egal, aufgrund welcher Effekte sie abgehängt sind.
Was die FAZ
unterschlägt: Die Ökonomen gehen davon aus, dass die
Polarisierung nur durch verteilungspolitische Maßnahmen
entschärft werden kann. Zur Umverteilungspolitik zählen die
Autoren jedoch nicht nur Sozialtransfers, sondern
insbesondere Maßnahmen des aktivierenden Sozialstaats.
Die Wahlanalyse der
Ökonomen ist nicht wirklich eine Wahlanalyse, sondern rein
spekulativ, d.h. auch der FAZ-Artikel steht damit auf
tönernen Füßen.
BERTELSMANN-STIFTUNG (2017): Trotz guter Konjunktur hält
Haushaltskrise der Kommunen in Rheinland-Pfalz an.
Die Finanzlage der
rheinland-pfälzischen Kommunen bleibt auch in Zeiten guter
Konjunktur angespannt. Das liegt vor allem an den wachsenden
Sozialausgaben und zu wenigen Investitionen, wie der Kommunale
Finanzreport 2017 der Bertelsmann Stiftung zeigt. Land und
Kommunen müssen ihre gemeinsamen Anstrengungen erhöhen.,
in:
Pressemitteilung
BertelsmannStiftung v. 09.08.
NIEWEL, Gianna (2017): Die inneren Werte.
Niedrige Lebenserwartung,
hohe Arbeitslosigkeit, leere Häuser: Pirmasens gilt vielen als
das Beispiel für missglückten Strukturwandel. Ein Ortstermin,
in:
Süddeutsche Zeitung v.
05.09.
"Pirmasens, Westpfalz,
sieben Hügel, viel Wald. Michael Schieler sitzt in seinem
Büro im Rathaus. (...). Die Journalisten kommen in seine
Stadt wie Kriegsberichterstatter. (...). Und manchmal
kommen sie gar nicht erst, es werden genug Meldungen über
die Agenturen gejagt, um Pirmasens auch vom Redaktionsbüro
aus niederzuschreiben",
schreibt Gianna NIEWEL
über die stigmatisierende Medienberichterstattung zu
Pirmasens, die sie mittels einigen Berichten belegt:
"Pleitestadt
Pirmasens" (SZ 05.03.2008),
"Pirmasens abgehängt" (FAS
22.05.2016) oder "Früher sterben in Pirmasens" (Spiegel
10.06.2017). Eine Schlagzeile der Springer-Presse ("Keine
Mitte nirgends", Welt 17.05.2008) tritt uns
dagegen nur als Frage entgegen: "Was passiert mit einer
Stadt, der die Mittelschicht wegbricht?". Gianna NIEWEL will
dem Selbstbild, das die Stadt für sich entworfen hat, nicht
folgen.
"350 Schuhfabriken
hatte die Stadt, 25 000 Menschen, die Leder schnitten und
Rahmen vernähten. Die Pirmasenser sagen »Schlabbeflicker«.
(...). In der Stadt lebten so viele Millionäre wie sonst
nirgendwo in Deutschland. Das alles war, bevor Inder und
Pakistaner für weniger Lohn die Sohlen stanzten. Bevor
1997 auch die US-Kaserne schloss, die Soldaten und
Offiziere wegzogen und noch einmal Kaufkraft verloren
ging. Pirmasens hat heute 42 120 Einwohner. Um in der
Schuhfabrik zu arbeiten, brauchten die Jungs und Mädchen
keinen Schulabschluss, und als sie arbeitslose Erwachsene
waren, holten viele die mittlere Reife nicht nach.
Arbeitslosenquote 12,9 Prozent (...).
Allen voran fehlt es an Geld, 350 Millionen Euro Schulden.
Aber das fehlt in anderen Gemeinden auch. Gröde in
Schleswig-Holstein, St. Wendel im Saarland, Oberhausen,
Darmstadt. Alle pleite. Und trotzdem leben da Menschen,
arbeiten, halten es aus, dass ihre Heimat nicht überall
schön ist. Es sind Gemeinden, die Werbeagenturen
beauftragen, die sich Slogans ausdenken",
beschreibt NIEWEL die
Entwicklung von Pirmasens anhand typischer
Niedergangsindikatoren, bevor die Versuche der Stadt
geschildert werden, die Misere zu überwinden - aber sehr
optimistisch wirkt das nicht. Mehr als zu einem "Pirmasens
ist aushaltbar" reicht es nicht.
"Nach den Journalisten
beugten sich die Sozioökonomen über Pirmasens, um den
Strukturwandel zu analysieren",
auch hierzu wird nur
Negatives berichtet, obwohl einige Forscher ein weniger
negatives Bild zeichnen. NIEWELs Ortsbesuch reiht sich ein
in eine endlose Reihe an stigmatisierenden
Medienberichterstattungen:
"The analysis of
national media for the city of Pirmasens showed that
negative articles about the city accumulate from about the
mid 2000s. The stigma of the so-called »bankrupt city« is
a repeated one, referring primarily to private poverty in
the city. Pirmasens seems in this way to have become a
West German counterpart to the East German crisis cities.
(...). The high density of private insolvencies is
primarily associated with the downward trend of the city
and the lack of a middle class. The »bankrupt city« stigma
is at times interpreted as a failure of local politics.
Indications of stigmatisation can be reconstructed using
numerous press reports. In October 2004 the article
»Where Germany is going bankrupt« in the magazine
Der Spiegel (Bönisch 2004) emphasises that a national
comparison shows that with 269 per 100.000 inhabitants
private insolvencies in Pirmasens and Wilhelmshaven are
four times as high as the national average",
beschreiben Thomas BÜRK,
Manfred KÜHN und Hanna SOMMER in ihrem Aufsatz
Stigmatisation of Cities. The Vulnerability of Local
Identities den Beginn der stigmatisierenden
Medienberichterstattung über Pirmasens. In dem 2013
erschienenen Buch Peripherisierung, Stigmatisierung,
Abhängigkeit? herausgegeben von Matthias BERNT & Heike
LIEBMANN wird die Entwicklung von 6 Städten, darunter auch
Pirmasens anhand unterschiedlicher Aspekte untersucht.
"Während in
Sangerhausen weitestgehende Auflösung der wirtschaftlichen
Basis und in Eschwege anhaltende Erosion und starke
Abhängigkeit von überlokalen Unternehmenszentralen die
Gegenwart prägen, ist die Situation in Pirmasens eher
durch ein Nebeneinander von Krise, Abwanderung und
Transformation bestehender Unternehmen gekennzeichnet.
Im Gegensatz zu den bisher beschriebenen Städten führt die
Peripherisierung deshalb in Pirmasens zu einer stärkeren
Kooperation von Wirtschaft, Stadtpolitik und Verwaltung"
(S.70),
heißt es in dem Beitrag
Governanceprozesse und lokale Strategiebildung von
Matthias BERNT, der der Stadtpolitik eine Wandlung von einer
"eher reaktiven zu einer pro-aktiven Politik bescheinigt.
Manfred KÜHN & Sabine WECK sehen in ihrem Beitrag
Interkommunale Kooperation, Konkurrenz und Hierarchie
ein Problem durch die Konkurrenz zwischen der Stadt
Pirmasens und dem umgebenden Landkreis Südwestpfalz:
"Die ungleiche
Verteilung der Einkommen(ssteuer) und (Sozial-)Ausgaben
durch anch wie vor anhaltende Stadt-Umland-Wanderungen
(bei quantitativ geringeren Reurbanisierungstendenzen)
belastet die Kernstadt-Umland-Beziehungen. In
peripherisierten Regionen wird dadurch die Lage von
hochverschuldeten Kernstädten noch zusätzlich geschwächt
und der Handlungsspielraum der Stadtpolitik weiter
eingeengt." (S.88)
Solch differenzierende
Betrachtungen sucht man in den Medienberichten vergeblich.
FISCHER, Konrad (2017): Schwaben und Chinesen kaufen.
Immobilien: Selbst in
Pirmasens kann man 2017 Geld mit Immobilien verdienen. Ein
Ortsbesuch belegt den realen Wahnsinn am deutschen Häusermarkt,
in:
Wirtschaftswoche Nr.42
v. 06.10.
Dürfen sich von Medien
und Ökonomen stigmatisierte Städte wie Pirmasens der
neoliberalen Theorie widersetzen? Wenn es nach Konrad
FISCHER ginge, dann nicht. Dazu wird von ihm eine
Gleichgewichtsthese aufgestellt: Wenn die Immobilienpreise
in den Metropolen steigen, dann müssen sie in der Provinz
fallen, denn sonst läuft etwas falsch. Pirmasens wird von
FISCHER deshalb nun auch noch zum Problemfall eines
fehlgeleiteten Immobilienmarktes stilisiert, denn:
"Nach menschlichem
Ermessen dürfte die Mischung aus Abwanderung und
Perspektivlosigkeit Immobilien hier zu Ladenhütern
machen".
FISCHER inszeniert
Pirmasens deshalb als trostloseste Stadt Deutschland, um
dann schreiben zu können:
"Natürlich sind die
Preise hier noch nicht groß gestiegen, aber eben auch
nicht gesunken, was für sich genommen schon erstaunlich
ist. In einem Ort, der heute 50 Prozent weniger Einwohner
hat als zu seinen besten Zeiten. Und selbst das liegt wohl
allein daran, dass so wenig Neubauten auf den Markt
kommen."
Wie schlecht steht es um
Pirmasens aber tatsächlich? Man könnte z.B. als Indikator
für die Perspektivlosigkeit der kreisfreien Städte in
Rheinland-Pfalz die
Zweitstimmenergebnisse der AfD nehmen. Dann ergäbe sich
folgendes Bild der perspektivlosten Städte:
Rang |
Kreisfreie
Stadt |
AfD-Zweitstimmenanteil |
Veränderung zu
2013 |
1 |
Frankenthal |
16,5 % |
+ 11,2 % (2) |
2 |
Ludwigshafen am
Rhein |
16,3 % |
+ 9,7 % (3) |
3 |
Pirmasens |
16,1 % |
+ 11,5 % (1) |
4 |
Worms |
15,0 % |
+ 8,9 % (6) |
5 |
Zweibrücken |
14,5 % |
+ 9,6 % (4) |
6 |
Kaiserslautern |
13,7 % |
+ 9,2 % (5) |
7 |
Speyer |
13,5 % |
+ 8,2 % (7) |
8 |
Neustadt an der
Weinstraße |
12,0 % |
+ 7,5 % (8) |
9 |
Landau |
10,0 % |
+ 5,1 % (9) |
10 |
Koblenz |
8,4 % |
+ 3,8 % (10) |
11 |
Trier |
7,8 % |
+ 3,6 % (11) |
12 |
Mainz |
7,3 % |
+ 3,0 % (12) |
Betrachtet man die
Ergebnisse, dann befindet sich Pirmasens hinsichtlich der
Perspektivlosigkeit in Gesellschaft der Städte
Frankenthal und
Ludwigshafen am Rhein. Betrachtet man die
Bevölkerungsentwicklung, dann hatte Pirmasens gemäß dem
Statistischen Landesamt Rheinland-Pfalz Ende 2016 40.550
Einwohner. Das waren 420 Einwohner (1 %) mehr als ein Jahr
zuvor. Das ist jedoch etwas weniger als beim Zensus 2011.
Unter den kreisfreien Städten ist damit Pirmasens
Schlusslicht.
Verglichen mit dem
Landkreis Südwestpfalz, der Pirmasens umschließt und dessen
Verwaltungssitz die Stadt ist, ist die
Bevölkerungsentwicklung jedoch positiv (Rückgang seit Zensus
2011 um 2,4 % und selbst im letzten Jahr ging die
Bevölkerung um 0,5 % zurück). FISCHER dagegen sieht in
Pirmasens nicht ein Oberzentrum mit Entwicklungschancen,
sondern einen problematischen Immobilienmarkt:
"In den großen Tagen
der Stadt war Pirmasens zwar eine Stadt mit vielen
Millionären, aber noch mit viel mehr Arbeitern. So
entstanden ganze Stadtviertel mit Straßenzügen voller
kleiner Häuser mit kleinsten Wohnungen, in denen heute
niemand mehr leben mag. Im Sektor Geschosswohnungsbau
liegt die Leerstandsquote in Pirmasens bei neun Prozent,
bundesweit ergibt das den dritten Platz, mehr sind es nur
in Salzgitter und Chemnitz."
Chemnitz gilt bekanntlich
als aufstrebende Stadt in Ostdeutschland, sodass der
Indikator an sich nicht aussagekräftig ist.
Fazit: Aus neoliberaler
Sicht ist die Stärkung der Starken die Zielsetzung. Einer
solchen Sichtweise ist die Stigmatisierung von ganzen
Städten und Gemeinden geschuldet, deren Entwicklung durch
fragwürdige neoliberale Rankings und bewusste, zusätzliche
Abwertung durch negative Berichterstattung gehemmt wird. Die
Chancen solcher Regionen bleiben dadurch ungenutzt oder
werden gar wie im Fall von Pirmasens zum Problem stilisiert.
2018
SCHMIDIGEN, Tom (2018): Oh wie schön
ist Pirmasens.
Kaum eine Stadt ist unter
Flüchtlingen so beliebt wie Pirmasens - doch weil immer mehr in
den Ort ziehen, fordern selbst Helfer eine Zuzugsperre,
in:
Frankfurter Allgemeine
Zeitung v. 17.03.
"In der Stadt leben
doppelt so viele Flüchtlinge, wie die Stadt aufnehmen
müsste. 0,99 Prozent der in Rheinland-Pfalz zu
verteilenden Flüchtlinge müssten aufgenommen werden,
tatsächlich leben in Pirmasens 2,33 Prozent der
Flüchtlinge. Die zusätzlichen 675 Menschen sind freiwillig
nach ihrem positiven Asylbescheid in die Stadt gekommen,
angelockt von den günstigen Mieten. Einen Quadratmeter
bekommt man in Pirmasens für durchschnittlich 4,50 Euro
kalt vermietet. Eine durchschnittliche Sozialwohnung gibt
es bei der Bauhilfe Pirmasens, einer städtischen
Vermietungsgesellschaft, schon für 358 Euro. Zudem wollen
die meisten Flüchtlinge zentral wohnen, weil sie kein Auto
besitzen. Das verstärkt die Ballung in der Innenstadt",
erklärt uns Tom
SCHMIDIGEN die Magnetwirkung der Stadt seit März 2017.
Facebook wird für diesen Zustrom mitverantwortlich
gemacht. Zudem gebe es gute "Strukturen für Sozialschwache"
und durch den "Pakt für Pirmasens" engagierte Mitbürger. Die
guten Ausgangsbedingungen für Sozialschwache beruht gemäß
SCHMIDIGEN auf dem Niedergang der Stadt seit den 1980er
Jahren:
"Heute hat Pirmasens
eine Arbeitslosenquote von zwanzig Prozent. Über ein
Viertel der Kinder wächst bei Eltern auf, die
Arbeitslosengeld II beziehen. Die Kinderarmut ist damit
doppelt so hoch wie im bundesweiten Schnitt. (...). Die
Bevölkerung ist innerhalb von 50 Jahren von 60.000 auf
42.000 geschrumpft",
berichtet SCHMIDIGEN, der
in Pirmasens Potenzial für eine "Vorzeigestadt der
Integration" sieht. Dem steht lediglich ein Personalproblem
entgegen.
Im Gegensatz zur
Protestantenzeitung taz beschreibt SCHMIDIGEN in
der Katholikenzeitung die Situation nicht anhand einer
evangelischen, sondern in einer katholischen Einrichtung.
SCHMIDT-LUNAU, Christoph (2018): Kein Platz für mehr
Flüchtlinge.
Ab Montag will das pfälzische
Pirmasens keine Asylbewerber mehr aufnehmen. Wie konnte es so
weit kommen? Eine Geschichte von bemühten Erzieher*innen und
einer überforderten Gemeinde,
in:
TAZ v. 26.03.
Die Probleme der Stadt
Pirmasens erkennt der Bahn-Reisende bereits am Hauptbahnhof.
Das schicke Bahnhofsgebäude erweist sich an einem eiskalten
Februartag als unzugänglicher Ort. An beiden Eingängen
verweist ein handgeschriebenes Hinweisschild auf die andere
defekte Tür:
|
Pirmasens
Hauptbahnhof, Foto: Bernd Kittlaus 2018 |
"Vom Sorgenkind zum
wahren Vorzeigeobjekt", erklärt uns eine
PR aus dem Sommer 2014 das Erwachen des Bahnhofs aus dem
Dornröschenschlaf. Gelobt wird das "gemeinsame Engagement
und die Initiative von Bürgern, Unternehmen und der Stadt
Pirmasens". Tatsächlich findet der Reisende an einem
Samstagnachmittag Pirmasens als verschlafenes Kleinstädtchen
vor. Die Fußgängerzone ist derart leer, dass dort die
Autofahrer im Minutentakt zusammen mit Fußgängern flanieren.
|
Pirmasens
Fußgängerzone am Samstagnachmittag, Foto: Bernd
Kittlaus 2018 |
Die Neubauten mit
klangvollen Namen wie "Dynamikum" sind für die wenigen
Einwohner völlig überdimensioniert. An einem
Samstagnachmittag erweckt die 40.000 Einwohnerstadt den
Eindruck als ob hier nicht einmal 5.000 Einwohner leben
würden: Eine seelenlose Steinwüste, die eher wie ein Museum
wirkt.
"Lutherkita. Das Haus
liegt unterhalb der klassizistischen Lutherkirche, am
Rande der Kernstadt von Pirmasens. Der Stadtbezirk ist als
sozialer Brennpunkt anerkannt",
|
Lutherkirche in der Pirmasenser Fußgängerzone, Foto:
Bernd Kittlaus 2018 |
beschreibt Christoph
SCHMIDT-LUNAU die Problemkita. Die Lutherkirche befindet
sich mitten in der Fußgängerzone:
"Pirmasens
ist beliebt bei Flüchtlingen, weil es hier viele freie
Wohnungen und günstige Mieten gibt. Ende Februar hat
die Stadt jedoch einen Zuzugsstopp verhängt (...). Die
Stadt hat der rheinland-pfälzischen Integrationsministerin
Anne Spiegel (Grüne) einen Zuzugsstopp für anerkannte
Flüchtlinge und Asylbewerber abgerungen. (...):
Die entsprechende Anweisung an die Ausländerbehörden
wurden am vergangenen Dienstag verschickt. Am Montag tritt
er nun in Kraft, zunächst auf ein Jahr befristet. (...).
Pirmasens musste nach dem geltenden Schlüssel rund 570
Flüchtlinge unterbringen. Doch es sind inzwischen 1.300
angekommen, mehr als doppelt so viele",
berichtet SCHMIDT-LUNAU.
Ohne die Migranten wäre die Fußgängerzone in Pirmasens am
Samstagnachmittag noch leerer!
|
Pirmasens
Schloßplatz am Samstagnachmittag, Foto: Bernd Kittlaus
2018 |
SCHMIDT-LUNAU berichtet
über ein "Leuchtturmprojekt der Flüchtlingshilfe".
Leuchtturmprojekt ist ein Wortungetüm aus dem Vokabular des
Neoliberalismus, was offenbar nicht davor schützt, dass es
inzwischen gedankenlos auf soziale Projekte übertragen wird.
Der Siegeszug des Neoliberalismus und seiner Denkschablonen
hat sich also längst im "Sozialarbeiterjargon" festgesetzt,
der einst eine Domäne der Linken war. Leuchtturmprojekte
sollen ähnliche Projekte nach sich ziehen. Was aber, wenn
die Leuchttürme derart dysfunktional sind wie der
Pirmasenser Hauptbahnhof?
HÖLL,
Susanne (2018): Wenn aus Freude Überforderung wird.
Nun gilt auch in Pirmasens
ein Zuzugsstopp für Flüchtlinge - genehmigt von einer grünen
Ministerin,
in:
Süddeutsche Zeitung v.
31.03.
Der Artikel von Susanne HÖLL
geht nicht über die Berichte in
der taz und in der FAZ
hinaus.
GLADIC,
Mladen (2018):
Rand, ein Zustand.
Peripherie: Leerstand,
Arbeitslosigkeit, Zuzugsperre für Flüchtlinge: In Pirmasens
findet sich eine deutsche Realität, die in urbanen Debatten
selten eine Rolle spielt,
in: Freitag
Nr.18 v. 03.05.
Mladen GLADIC nähert sich
Pirmasens nicht nur mittels der üblichen Negativstatistiken,
sondern auch mit dem Filmemacher Philipp MAJER und seiner
geförderten Dokumentation Die Kleinstadt Pirmasens.
Es wird deutlich, dass die deutsche Linke in Sachen
strukturschwacher Gemeinden keine klare Linie verfolgt,
sondern fragmentiert und geschwächt agiert. Lokalpolitiker
wie Frank ESCHRICH von der Linkspartei, stehen der
Grünen-Integrationsministerin, die eine Zuzugssperre
verhängte, genauso skeptisch gegenüber wie der eigenen
Wahlkreisvertreterin, der Bundestagsabgeordneten
Brigitte FREIHOLD.
Als Lösung für die
Probleme der Stadt wird ein "dritter Arbeitsmarkt"
propagiert, was immer das sein mag.
HÖLL,
Susanne (2018): Das lederne
Wunder von Pirmasens.
Wie der Hersteller Kennel &
Schmenger dem Niedergang der pfälzischen Schuhbranche entgehen
konnte,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 12.06.
Susanne HÖLL berichtet
nicht wirklich über ein Wunder, sondern eher über einen
Wunschtraum:
"Die Firma kämpft mit
den Kosten, produziert einen Teil der Modelle in
ausgesuchten Werkstätten in Ungarn. Die
Qualitätskontrollen finden alle am Stammsitz in Pirmasens
statt, dort wo 230 Leute beschäftigt sind. 300 in Ungarn
kommen hinzu, in firmeneigenen Läden sind es noch einmal
120, zehn im mittlerweile wieder firmeneigenen
Onlinehandel."
Der CDU-Bürgermeister
träumt sich die Digitalisierung zurecht. Sie soll das
"ramponierte Image von
Pirmasens, das zum Leidwesen der Einwohner oft als
Beispiel für postindustrielle Tristesse beschrieben wird"
aufpolieren.
Individualisierte Schuhprodukte aus dem 3-D-Drucker sollen
die Rettung für Pirmasens werden.
STATISTIKRLP (2018): In 2017 rund 37.000 Neugeborene, weiterhin
deutlich mehr Gestorbene,
in: Pressemitteilung
Statistisches Landesamt
Rheinland-Pfalz
v. 08.08.
2019
JUNG, Alexander (2019): Ratlos im
Rathaus.
Gerechtigkeit: Wie hoch die
Lebensqualität in Deutschland ist, hängt vor allem davon ab, wo
man wohnt. Reiche Städte überbieten sich mit günstigen Angeboten
für ihre Bürger. Arme Städte erhöhen die Gebühren. Der Abstand
wächst,
in:
Spiegel
Nr.4 v. 19.01.
In Zeiten, in denen der
Soli abgebaut werden soll, wird eine neue Kluft eröffnet:
"Die Trennlinie
verläuft nicht (...) zwischen alten und neuen Ländern.
(...). Die Problemstädte konzentrieren sich auf den
Südwesten - dort, wo früher das ökonomische Kraftzentrum
der Republik lag: vom Ruhrgebiet bis ins Saarland."
Als Indikator für die
Kluft werden uns die Kassenkredite pro Kopf im Jahr 2016
angegeben. Als klamme Städte werden uns Pirmasens (Rang 1:
8.405 Euro), Oberhausen (Rang 2), Kaiserslautern (Rang 3),
Hagen (Rang 4), Mülheim (Rang 5), Zweibrücken (Rang 6),
Remscheid (Rang 7), Ludwigshafen am Rhein (Rang 8), Trier
(Rang 9) und Essen (Rang 10: 4.183 Euro) aufgelistet.
STATISTIKRLP (2019): Weiterer Anstieg der Bevölkerung in 2018,
in: Pressemitteilung
Statistisches Landesamt
Rheinland-Pfalz
v. 23.01.
|
|
|
|
|
|
|