[ Übersicht der Themen des Monats ] [ Rezensionen ] [ Homepage ]

 
       
   

Kommentierte Bibliografie

 
       
   

Pirmasens im demografischen Wandel

 
       
   

Eine kreisfreie Mittelstadt in der Demografiefalle? Oder gar im Strudel einer Abwärtsspirale?

 
       
     
   
     
 

Einführung

Stadtverwaltung Pirmasens, Foto: Bernd Kittlaus 2018

Die pfälzische Mittelstadt Pirmasens gilt als Problemfall. Sie schrumpft seit Jahrzehnten und ihr wird eine weitere Schrumpfung prognostiziert. Das Regionalhandbuch Rheinland-Pfalz, Ausgabe 2004, ging von einem Bevölkerungsrückgang in Pirmasens zwischen 2000 und 2015 von 15,2 % aus. Für Ende 2015 wurde mit 38.343 Einwohner gerechnet. Tatsächlich waren es dann 40.125 mehr.  Die Ausgabe 2007 ging dann von einem Bevölkerungsrückgang zwischen 2006 und 2020 von 12,1 % auf 37.301 Einwohner aus. Die Ausgabe 2011 ging von einem Bevölkerungsrückgang zwischen 2010 und 2030 von 19,7 % auf 32.428 Einwohner aus. Die letzte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Landesamtes (Ausgabe 2015) geht nun von einem Bevölkerungsrückgang zwischen Ende 2013 bis 2035 von 15,1 % auf 34.028 Einwohner aus.

Ist die Demografie unser Schicksal wie uns wirtschaftsnahe Lobbyorganisationen behaupten oder ist die Rede von Abwärtsspiralen lediglich Vorwand, um eine neoliberale Politik der Stärkung der Starken zu rechtfertigen? Die Stadt Pirmasens ist oder war schon in etlichen Bereichen Schlusslicht, z.B. bei den Privatverschuldungen, bei der Lebenserwartung oder den kommunalen Kassenkrediten. Als kreisfreie Stadt steht Pirmasens - im Gegensatz zu anderen Mittelstädten der gleichen Größenordnung - im Brennpunkt medialer Aufmerksamkeit. Das mediale Negativimage ist auch eine Frage der Verfügbarkeit von Daten.

Aus der folgenden Tabelle sind die 10 kreisfreien Städte mit den niedrigsten Einwohnerzahlen im Jahr 2017 ersichtlich:

Übersicht: Kreisfreie Städte mit den niedrigsten Einwohnerzahlen
Rang Gemeinde Bundesland Fläche Einw./qkm Einwohner
1 Zweibrücken Rheinland-Pfalz 70,64 485 34.270
4 Suhl Thüringen 141,62 264 37.321
5 Pirmasens Rheinland-Pfalz 61,37 662 40.632
6 Schwabach Bayern 40,82 999 40.781
8 Coburg Bayern 48,29 854 41.236
9 Ansbach Bayern 99,91 417 41.652
10 Amberg Bayern 50,14 843 42.248

Während die drei bayerischen Mittelstädte jeweils Teil einer Metropolregion sind, gehören die drei kleinsten Städte zu strukturschwachen Regionen. Ein Teil der Probleme von Pirmasens rührt also daher, dass sie als Mittelstadt in einer strukturschwachen Region liegt und Rheinland-Pfalz nicht zu den wirtschaftsstarken Bundesländern wie Bayern zählt. Die Probleme von Pirmasens sind also in erster Linie ökonomisch und nicht demografisch verursacht. In dieser Bibliografie wird die öffentliche Debatte zur Lage der Stadt dokumentiert, denn die weitere Entwicklung ist eine empirische Frage und keine demographische Schicksalsfrage. Aus der folgenden Tabelle sind einige Kennzahlen des demografischen Wandels aufgeführt, die in der medialen Berichterstattung als problematisch angesehen werden:  

Tabelle: Bevölkerungsentwicklung, Geburtenentwicklung und Alterung von Pirmasens
Jahr Bevölkerungsstand Lebendgeborene Geburtenrate (TFR) Rohe Geburtenziffer Altenquotient
60 +
Altenquotient
65 +
1990            
1991            
1992            
1993            
1994            
1995            
1996            
1997            
1998            
1999            
2000 45.212          
2001 44.822          
2002 44.367          
2003 43.971 351   7,9 59,8  
2004 43.637 324   7,4 59,9  
2005 44.137 291   6,7 58,9  
2006 42.427 319   7,5   44,7
2007 41.875 338   8,0   44,3
2008 41.358 323 1,49 7,8   44,5
2009 40.808 322 1,52 7,8   44,4
2010 40.384 294 1,42 7,2   43,5
2011 40.655 309 1,48 7,7   42,7
2012 40.267 321 1,55 7,9   42,6
2013 40.101 293 1,42 7,3   43,0
2014 40.046 299 1,44 7,5   43,8
2015 40.125 347 1,68 8,7   44,2
2016 40.416 349   8,7   43,9
2017 40.632 330   8,2    
2018 40.455          
Quellen: Statistisches Landesamt Rheinland-Pfalz Bevölkerung und Geburten 2003-2018 Publikation Rheinland-Pfalz Regional
2004-2019; Statistisches Jahrbuch 2018 und Pressemitteilung 23.01.2019;  Bevölkerung 2000-2002 Wikipedia;

Kommentierte Bibliografie (2004 - heute)

2004

GEO -Extrabeilage: Kreise und Städte im Test.
Der demographische Wandel: Daten, Trends und Analysen

GEO (2004): Der demographische Wandel: Daten, Trends und Analysen.
Kreise und Städte im Test,
in: GEO. Beilage zu den demographischen Perspektiven Deutschlands, Mai

"Bis 2020 könnte die Stadt im Vergleich zu 1999 rund 18 Prozent an Bevölkerung verlieren" (2004, S.12),

prophezeit das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung der pfälzischen Stadt Pirmasens. Damit erhält die Stadt die Schulnote 6, die Kreise oder kreisfreie Städte erhalten, deren Bevölkerungsrückgang mehr als 15 Prozent bis zum Jahr 2020 beträgt.

BÖNISCH, Julia Maria (2004): Insolvenz-Landkarte.
Wo Deutschland Pleite geht,
in: Spiegel Online v. 12.10.

"Pirmasens und Wilhelmshaven sind (...) die Orte mit den meisten Privatpleiten: Die Zahl der eröffneten Insolvenzverfahren lag in Pirmasens mit 269 pro 100.000 Einwohner fast vier Mal so hoch wie der Bundesdurchschnitt. In Wilhelmshaven lag die Quote mit 226 annähernd drei Mal so hoch", berichtet Spiegel Online.

2006

KRÖHNERT, Steffen/MEDICUS, Franziska/KLINGHOLZ, Reiner (2006): Die demographische Zukunft der Nation. Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen? München: Dtv, April

"Hoyerswerda ist überall: Allein in Ostdeutschland stehen etwa 1,3 Millionen Wohnungen leer - etwa 16 Prozent des Bestandes. Städte wie Gera und Dessau, aber auch Pirmasens oder Bremerhaven im Westen tragen inzwischen das Stigma des Verfalls", (2006, S.42f.)

erklärt uns das Buch, das auch auf die niedrige Lebenserwartung hinweist:

"Selbst die Lebenserwartung differiert aufgrund ungleicher Lebensverhältnisse: Sieben Jahre leben die Frauen im bayerischen Kreis Fürstenfeldbruck länger als im pfälzischen Pirmasens. Bei den Männern beträgt der Unterschied sogar acht Jahre zwischen dem (reichen) bayerischen Kreis Starnberg und dem (armen) mecklenburgischen Demmin." (2006, S.9)

Folgenden kreisfreien Städten wird ein weiterer Bevölkerungsrückgang prognostiziert: Hoyerswerda, Cottbus, Halle a.d.Saale, Suhl, Görlitz, Neubrandenburg, Dessau, Brandenburg, Gera, Chemnitz, Magdeburg, Stralsund, Zwickau, Bremerhaven und Pirmasens (vgl. 2006, S.42). 

War Pirmasens im Jahr 2004 noch ein Bevölkerungsrückgang unter 15 % prognostiziert worden, so gilt jetzt für die Stadt die schlechteste Kategorie von mehr als 15 % Bevölkerungsrückgang.

2008

WILHELM, Hannah (2008): Pleitestadt Pirmasens.
In dem einstigen Zentrum der Schuhindustrie haben mehr Menschen Probleme mit Schulden als irgendwo sonst in Deutschland. Und viele Einwohner finden keinen Weg in die Zukunft,
in: suedeutsche.de v. 05.03.

"Die Zeit ist mit großen Schritten an Pirmasens vorübergezogen. Hinterlassen hat sie enttäuschte Menschen wie Petra Kaiser, Menschen, die sich verschulden. Einer von fünf Einwohnern von Pirmasens hat Zahlungsschwierigkeiten oder hat sich schon hoffnungslos verschuldet. Das sind fast doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt. Pirmasens ist deutscher Meister im Schuldenmachen. Die örtlichen Schuldnerberater schieben Überstunden. (...).
Jeder zehnte Einwohner meldet in Pirmasens Privatinsolvenz an, den früheren Offenbarungseid. Im Bundesdurchschnitt ist es nur jeder zwanzigste. So landet die Stadt bei der Schufa-Studie zur privaten Verschuldung seit Jahren auf dem letzten Platz", berichtet Hannah WILHELM.

WISDORFF, Flora (2008): Keine Mitte, nirgends.
Wer studiert hat, geht weg aus Pirmasens und kommt nicht wieder - Was mit einer Stadt passiert, der die Leistungsträger fehlen,
in: Welt v. 17.05.

"Pirmasens ist eine Stadt ohne Mitte. Der Gesellschaft hier fehlt Rückgrat, das einen stützt und nach einem Sturz auch wieder aufrichten kann. Bundesweit diskutieren Ökonomen und Politiker das Schrumpfen der Mittelschicht (...). Hier in Pirmasens ist die Mitte nie entstanden.
In der Pfälzer Stadt haben laut den Berechnungen der Gesellschaft für Konsumforschung knapp 22 Prozent der Haushalte mehr als 2.600 Euro netto im Monat zur Verfügung. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 45 Prozent. Auch am unteren Rand macht sich der fehlende Bauch bemerkbar: Während bundesweit nur 14 Prozent der Haushalte weniger als 1.100 Euro als Nettoeinkommen zur Verfügung haben, sind es in Pirmasens 25 Prozent. Ein ganzes Viertel der Stadt lebt an der Einkommens-Untergrenze. Pirmasens lebt vor, was es für eine Gesellschaft bedeutet, keinen Mittelbau zu haben",

behauptet Flora WISDORFF, die den Soziologen Stefan HRADIL zitiert und der Mittelschicht jene Eigenschaften zuschreibt, dieder Arbeiterschicht abgeht: Bildung, Aufstiegswille, Ehrgeiz und Dynamik:

"Pirmasens (...) ist lange ausschließlich von einer einfachen Arbeiterschicht geprägt worden. Die Schuhindustrie beschäftigte hier in den 60er-Jahren 20.000 der 60.000 Einwohner. Es waren schlecht bezahlte Jobs, die keine Qualifikation verlangten. Nur mit doppeltem Einkommen konnten die Pirmasenser Schuharbeiter sich in die untere Mittelschicht hoch hangeln (...).
Nur zwei Lehrberufe in der Schuhbranche, Zuschneider und Stepper machten den sozialen Aufstieg durch Leistung möglich. (...).
Und auch beim zweiten großen Arbeitgeber, den US-Streitkräften, die nach dem Krieg in Pirmasens stationiert waren, (...) boten 4.000 Mark Lohn und Brot - für einfachste Arbeiten: Panzer putzen etwa. Aber die US-Truppen wurden ab(ge)zogen und Schuhe irgendwann erst in Osteuropa, dann in China gefertigt. Wer nichts anderes konnte, stürzte ab, und da ziemlich jäh."

Der Neuffer Park wird uns als Villenviertel der Schuhbarone beschrieben:

"Ihretwegen hatte Pirmasens einst die höchste Millionärsdicht Deutschlands".

Die derzeitige Lage beschreibt WISDORFF als desolat:

"Viele verlassen ihre Stadt: 42.000 Menschen leben heute noch in Pirmasens, vor 30 Jahren waren es noch 60.000. Vor allem die Jungen mit Abitur gehen. 25 Prozent der Pirmasenser Kinder leben in Armut. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 14 Prozent, davon sind vier Fünftel Langzeitarbeitslos. Die Stadt hält den traurigen Rekord der meisten Privatinsolvenzen der Republik. Bei der Kommunalwahl 2004 holten die Republikaner zehn Prozent.
Zwar ist der Aufschwung auch in Pirmasens angekommen. Bei seinen Bürgern aber nicht."

Pirmasens fehlt nach Meinung von WISDORFF das, was der Soziologe Heinz BUDE als "neue Bürgerlichkeit" beschreibt. Den Verantwortlichen schreibt er einen Hang zur Opferrolle zu:

"Lieber flüchtet sich die Stadt in eine Opferrolle. Die »ungünstige topografische Lage« wird gern als Erklärung für die Krise genommen. Viele andere Unternehmen lockte es in der Tag nicht in die Stadt, nahe der französischen Grenze, ohne Autobahnanbindung. Schon die Stadtgründung war reine Willkür (...). Dazu gesellt sich eine Art Verschwörungstheorie gegen die einst mächtigen Schuhbarone: Mehrmals, so erzählt man in Pirmasens, hätten sie verhindert, dass sich andere Unternehmen ansiedelten, dass durch Wettbewerb und Diversifizierung die Löhne hätten steigen können."

WISDORF betreibt letztendlich einen reinen Personenkult, während die Strukturprobleme und der Einfluss politischer Entscheidungen auf die Lage der Stadt  geleugnet werden.

2010

FUNK, Viktor (2010): Eine Geschichte zweier Städte.
Vergleich: Arme und reiche Kommunen liegen in Deutschland nicht weit voneinander entfernt. Pirmasens, einst Hauptstadt der Schuhmacher, stemmt sich gegen die globale Konkurrenz - mit wenig Erfolg. In Bad Homburg dagegen fließt das Steuergeld dank der neuen Branchen. Die Folgen spüren die Bürger jeden Tag,
in: Frankfurter Rundschau Online v. 19.07.

"Heute ist Pirmasens eine Stadt ohne Mittelschicht, die Jahr für Jahr viele Privat-Insolvenzen meldet. Als einzige Stadt in Rheinland-Pfalz könnte Pirmasens größere Messen ausrichten, doch die Halle nahe der Bibliothek ist lange nicht so gut ausgelastet, wie sie es sein könnte. (...).
Der Glanz der ehemaligen Garnisonsstadt ist verblasst. Nur noch das prächtige Rathaus aus roten und beigen Sandstein am Exerzierplatz lässt erahnen, wie gut es der Stadt einst ging. Wer heute nach Pirmasens reist, steigt an einem verwahrlostem Bahnhof aus, wo die Fenster ehemaliger Kleingeschäfte mit Holz- oder Metallplatten verdeckt sind. Verblasst ist das Stadtmotto: Pirmasens, die Einkaufsstadt",

berichtet Viktor FUNK über Pirmasens, das mit Bad Homburg verglichen wird, die im mitten im Speckgürtel von Frankfurt a/M liegt.

2011

LINK, Christoph (2011): Angst vor der großen Leere.
Demografie: Der starke Rückgang der Bevölkerung trifft zuerst strukturschwache Gebiete. Im Süden steht die Region Pirmasens beispielhaft für das Problem. Man erprobt in der Pfalz längst Strategien gegen Abwanderung - seit Jahrzehnten ist man betroffen,
in: Stuttgarter Zeitung v. 21.11.

2013

KOHLHAAS-WEBER, Isabella & Jörg PLÖGER (2013): Fallstudie Pirmasens. In: BBSR (Hrsg.) Wieder erstarkte Städte Strategien, Rahmenbedingungen und Ansätze der Regenerierung in europäischen Groß- und Mittelstädten, Oktober, S.51-56

"Obwohl seit Ende der 1990er Jahre, kurz nach dem Höhepunkt der Krise, bereits Strategien und Pläne für die Umstrukturierung der Wirtschaftsbasis und der Stadtentwicklung erarbeitet wurden, entwickelte sich parallel dazu ein negatives Außen- und Innenimage und eine gewisse Perspektivlosigkeit bei der Bevölkerung. Der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften stellt ein weiteres Problem für den wirtschaftlichen „Neuanfang“ dar, da die Schuhindustrie und auch die Zulieferbetriebe hauptsächlich von gering- bzw. niedrig-qualifizierten Arbeitskräften geprägt waren",

beschreiben KOHLHAAS-WEBER & PLÖGER die Faktoren, die eine angemessene Bewältigung der Krise verhinderten. Die positive Sicht auf Pirmasens beruht auf der Einschätzung der Stadtpolitiker und Verwaltung, d.h. die Beschreibungen sind in erster Linie dem Selbstbild der Akteure geschuldet. 

2015

BERTELSMANN-STIFTUNG (2015): Demographischer Wandel verstärkt Unterschiede zwischen Stadt und Land.
Deutschlands Bevölkerungsstruktur wird sich in den kommenden Jahren spürbar verändern. Das Durchschnittsalter steigt. Der Pflegebedarf nimmt zu. Während die Städte eher wachsen, dünnt der ländliche Raum weiter aus. Die Kommunen stellt das vor ganz unterschiedliche Herausforderungen,
in:
Pressemitteilung BertelsmannStiftung v. 08.07.

Die neoliberale Bertelsmann-Stiftung hat ihre Bevölkerungsprognosen für die deutschen Kommunen erneuert. Für den Zeitraum 2012 bis 2030 prognostiziert sie für Pirmasens einen Bevölkerungsrückgang von 10,9 Prozent. Der Altenquotient (65 +) wird 2030 bei 60,5 gesehen.

2016

BORSTEL, Stefan von (2016): Wo leben die Deutschen am längsten?
Am Starnberger See werden die Menschen am ältesten. Am niedrigsten ist die Lebenserwartung im strukturschwachen Pirmasens,
in:
Welt v. 31.03.

MOHR, Reinhard (2016): Richtig schön alt werden.
Für den Mann, der sich den besten Jahren nähert, ist der Starnberger See das Paradies: Hier hat er die höchste Lebenserwartung (aber meiden Sie bloß Pirmasens),
in:
Welt am Sonntag kompakt v. 10.04.

ZWICK, Daniel (2016): Tue Gutes und pendle rüber.
Millionen Deutsche haben täglich sehr weite Arbeitswege. Stress für sie - aber ein Segen für manch darbende Region. Sonst würde da gar keiner wohnen, wie in der Südwestpfalz,
in: Welt am Sonntag kompakt
v. 15.05.

Daniel ZWICK argumentiert im Dienste der Wirtschaft gegen Sozialpolitiker und Umweltpolitiker, die in der Pendlermobilität nur die Ruinierung der Gesundheit oder die Beeinträchtigung der Lebensqualität sehen. Am Beispiel des Landkreises Südwestpfalz zeigt ZWICK, dass Studien, die sich z.B. wie das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung oder die Bertelsmann-Stiftung nur an politischen Territorien, aber nicht an der Realität der Menschen orientieren, zu Fehleinschätzungen neigen:

"Ruppertsweiler liegt in dem Landkreis Deutschlands, der in gewisser Hinsicht der ärmste ist im ganzen Land. Südwestpfalz. Unternehmen gibt es hier fast keine mehr, Arbeitsplätze nur noch wenige, und die Wirtschaftsleistung (BIP) pro Kopf beträgt 14.473 Euro - weniger als in allen Kreisen Ostdeutschlands oder auch in Griechenland",

erklärt uns Zwick, um dann auf statistische Verzerrungen bei Vergleichen hinzuweisen:

"Größere Firmen gibt es nur in Pirmasens und Zweibrücken. Doch ausgerechnet diese Städte gehören nicht zum Kreis, »das führt zu starken statistischen Verzerrungen«, sagt Heiner Röhl, Regionalexperte beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Viele Pendler arbeiten dort. »Gäbe es in Rheinland-Pfalz eine Kreisreform, ähnlich wie in Mecklenburg-Vorpommern, dann würde die Region bei der Wirtschaftskraft insgesamt zu den schwächeren Ostkreisen aufschließen.«"

Tatsächlich entscheiden oftmals historisch gewachsene Territorien über Wohl und Wehe der dortigen Bewohner und nicht irgendwelche demografischen Entwicklungen wie uns immer wieder gerne erzählt wird.

BUDRAS, Corinna & Sharon EXELER (2016): Pirmasens, abgehängt.
Arme Menschen haben wenig Geld und sterben früher. Pirmasens hält den traurigen Rekord. Ein Besuch,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 22.05.

"Das Leben in Pirmasens ist gefährlich. Das zeigt ein Blick in die Statistik. Nirgendwo in Deutschland sterben die Menschen so früh wie hier in der Westpfalz, auf den sieben Hügeln zwischen Kaiserslautern und der französischen Grenze, direkt an der Bundesstraße 10. Nach durchschnittlich 73 Jahren sind die Männer tot, mit 77 Jahren die Frauen. Am Starnberger See hätten sie dagegen noch acht Jahre länger zu leben, womöglich sogar die schönsten Jahre",

erzählen uns BUDRAS & EXELER. Bringt uns dies schon in Verwirrung, wird es noch verwirrender, wenn man den Text mit der Grafik vergleicht. Dort wird für Pirmasens und Starnberg jeweils nur für die Männer eine Lebenserwartung von 73 bzw. 81 Jahren angegeben. Gilt die Lebenserwartung nun für die Westpfalz oder für Pirmasens und warum leben Frauen nicht länger als Männer, wenn für Pirmasens oder Westpfalz bereits ein Unterschied von 4 Jahren besteht? Gemäß Wikipedia wird die kreisfreie Stadt Pirmasens vom Landkreis Südwestpfalz umschlossen.

Die Verwirrung hat offenbar eine dpa-Meldung Ende März ausgelöst. Seitdem sind Zahlen zur regional unterschiedlichen Lebenserwartung im Umlauf, die mit einer Anfrage von Sabine ZIMMERMANN (Linkspartei) in Verbindung stehen. In einem Welt-Beitrag von Stefan von BORSTEL wird die geschlechtsspezifische Lebenserwartung in den beiden Regionen noch am differenziertesten dargestellt.

BUDRAS & EXELER beschreiben die derzeitige Situation mit einer Arbeitslosigkeit von 13 Prozent (ohne Jahresangabe) vor dem Hintergrund einer golden Epoche:

"Pirmasens war einmal eine stolze Stadt, mit einer boomenden Schuhindustrie, die in der ganzen Welt ihresgleichen suchte. Die Stadt mit der höchsten Millionärsdichte und nahezu Vollbeschäftigung: 350 Schuhfabriken, die zu ihren Glanzzeiten 25.000 Menschen beschäftigten, und das über Generationen hinweg und mindestens bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts."

Das Bleiben eines traditionsreichen Schuhherstellers wird dann zum Wendepunkt stilisiert. Pirmasens wird jungen Familien und Rentnern als guter Standort gepriesen:

"Pirmasens mag zwar eine sterbende Stadt sein, aber eine, in der es sich leben lässt. Vor allem billig. Das ist ein Standortvorteil in einem Land mit explodierenden Immobilienpreisen. Rentner und Familien lieben Pirmasens, sagt sie. Da pendelt man schon mal ins nahe gelegene Daimler-Werk oder sogar nach Stuttgart, wie ihr eigener Ehemann",

zitieren BUDRAS & EXELER eine Immobilienmaklerin, die PR in eigener Sache betreibt und den Niedergang von Pirmasens auf Ende der 1990er Jahre datiert.

"Seitdem bleiben sie vornehmlich zu Hause, kassieren Hartz IV und bekommen Kinder, die mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls zu Hause bleiben und Hartz IV kassieren. Jedes dritte Kind unter 15 Jahren lebt hier in einer Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft",

wird uns erzählt und die niedrige Lebenserwartung in Pirmasens damit nicht nur erklärt, sondern auch gleichzeitig die Verschärfung dieses Problems suggeriert.

Das Hauptproblem solcher Daten ist jedoch, dass nicht Lebensläufe, sondern die Korrelation von Gebiet und Bevölkerung, Grundlage sind, d.h. eine niedrige Lebenserwartung einer Region sagt erst einmal nichts über die Lebenserwartung konkreter Menschen aus, denn dann dürfte es innerhalb eines Menschenlebens keinerlei Mobilität in diesem Gebiet gegeben haben. Wie also soll eigentlich aus solchen Korrelationsdaten überhaupt sinnvoll die Lebenserwartung von Menschen ermittelt werden? Sagen die Zahlen nicht viel mehr über das Wanderungsgeschehen als über die Lebenserwartung aus? Deshalb bemühen die Autorinnen zur Erklärung Studien des Robert-Koch-Instituts, wobei deren Erkenntnisse sich offenbar nicht auf die Stadt Pirmasens beziehen, sondern lediglich allgemeine Zusammenhänge beschreiben:

"Nicht zuletzt dank des Robert-Koch-Instituts ist das alles hinreichend erforscht. Und doch verblüffen, gar empören die Befunde immer wieder aufs Neue. Dass arme Menschen schlechter leben als reiche, ist bekannt und wohl auch akzeptiert. Aber dass die Höhe des Einkommens und der Stand der Bildung über die Länge des Lebens entscheiden, ist nichts, woran sich eine Gesellschaft gewöhnt – oder gewöhnen sollte. Denn die Konsequenzen sind riesig: Armut, vor allem gepaart mit einem niedrigen Bildungsniveau, kostet rund zehn Jahre des Lebens. Rauchen, Alkohol, Übergewicht sind bei Hartz-IV-Empfängern weiter verbreitet als bei Menschen mit höherem Einkommen. Arme kümmern sich weniger um gesundes Essen und treiben weniger Sport, all das befördert Herz-Kreislauf-Krankheiten und Atemwegsbeschwerden. Hinzu kommen Stress und Frust über die eigene Situation. Auch das verkürzt das Leben."

Diese Situation wird uns als Grund für einen "Pakt für Pirmasens" präsentiert, der vor 7 Jahren geschlossen wurde und nun für Abhilfe sorgen soll. BUDRAS & EXELER präsentieren am Ende sogar noch Erfolge, die von dem Leser dem Projekt zugeschrieben werden sollen:

"Langsam geht es vorwärts, im vergangenen Jahr ist die Einwohnerzahl erstmals seit zwanzig Jahren wieder gestiegen, die Arbeitslosenzahl gesunken. Wenn in zwanzig Jahren 25 Prozent der betreuten Kinder eine Ausbildung schaffen, wäre das ein Erfolg, sagt Oberbürgermeister Matheis in einem Anflug von Pirmasenser Realismus."

ÖFINGER, Hans-Gerd (2016):  In 50 Jahren von der Karte getilgt.
Die Stadt Pirmasens gilt als "Armenhaus" von Rheinland-Pfalz,
in:
Neues Deutschland v. 26.08.

Die Schlagzeile spielt auf die markigen Worte von Frank ESCHRICH ("Chef der Linksfraktion") an und ist kein Ergebnis der Bertelsmann-Stiftung oder des Berlin-Instituts zur Bevölkerungsentwicklung in Pirmasens, obwohl diese Institute immer für Horrorszenarien gut sind. Die kreisfreie Stadt Pirmasens ist das Oberhausen der Pfalz - nur noch schlimmer.

"Pirmasens galt einst als Hochburg der deutschen Schuhindustrie. Doch die Monostruktur wurde zum Verhängnis. (...) Auch die US-Army (...) hat sich seit den 1990er Jahren aus der Stadt verabschiedet. Die Folge ist ein massiver Bevölkerungsschwund. Waren es Mitte der 1960er Jahre noch rund 67.000 Einwohner, so sind es jetzt nur noch rund 40.000",

erklärt uns Hans-Georg ÖFINGER. Weder auf der offiziellen Website der Stadt, noch auf Wikipedia lassen sich diese Zahlen überprüfen. Glaubt man Wikipedia, dann ist die Einwohnerzahl zwischen 2011 und 2015 um rund 100 gestiegen. Für 1970 werden 57.773 Einwohner angegeben. Eine Broschüre der Stadt weist für das Jahr 1968 58.746 Einwohner aus (weiter zurück reicht die Pressebroschüre nicht und sie endet bereits mit Zahlen aus dem Jahr 2012). Das wäre also ein wahrhaft rasanter Niedergang von Mitte der 1960er Jahre bis 1968 und entsprechend der Entwicklung, die von der Broschüre gezeichnet wird, eher unwahrscheinlich.

2017

BRANKOVIC, Maja & Christian SIEDENBIEDEL (2017): Kein Land der Abgehängten.
Die Globalisierung hat die Exportnation Deutschland reich gemacht. Aber auch hier gibt es Regionen, in denen viele arbeitslos geworden sind. Die Autoren haben sich unter Profiteuren und Verlierern umgehört,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung
v. 11.02.

"Die »Abgehängten« (...) sind nicht wirklich arm, aber haben (...) ihren Status als Rückgrat der Wirtschaft eingebüßt. Ihr Verdruss gilt als eine der Ursachen dafür, dass Donald Trump (...) gewinnen konnte. (...).
Müssen auch wir (...) mit einer Revolte der »Abgehängten« gegen das »Establishment« rechnen? (...).
Wer diese Fragen beantworten will, muss sich erst einmal mit den Ökonomen Jens Südekum, Wolfgang Dauth und Sebastian Findeisen unterhalten. Sie haben untersucht, welche Regionen hierzulande gewonnen haben und welche verloren. Sie haben das vor allem daran gemessen, wie sich die Beschäftigung in den verschiedenen Teilen des Landes seit 1978 verändert hat",

beschreiben BRANKOVIC & SIEDENBIEDEL die Herangehensweise ans Thema. Sie unterschlagen dabei aber, dass die Untersuchung Verlierer(-regionen) der Globalisierung in Deutschland: Wer? Warum? Was tun? von SÜDEKUM/DAUTH/FINDEISEN vom Dezember 2016 lediglich die Situation in Westdeutschland berücksichtigt hat und die neuen Bundesländer außen vor lässt. Die wirklich Abgehängten kommen also gar nicht zur Sprache.

BRANKOVIC & SIEDENBIEDEL stellen uns zuerst die Gewinnerregion Vechta vor (148 % Beschäftigungszuwachs) und stellen dem Landkreis dann die Verliererregion Südwestpfalz gegenüber:

"Inmitten der so idyllischen Hügellandschaft zwischen Kaiserlautern und der französischen Grenze ist seit 1978 mehr als jeder dritte Arbeitsplatz weggefallen - das ist der stärkste Rückgang in ganz Westdeutschland. Selbst das Ruhrgebiet (...) blutete laut der zitierten Studie weniger aus.
Bis in die sechziger Jahre gehörte Pirmasens zu den bedeutendsten Industriezentren des Landes, voll ausgerichtet auf die Schuhproduktion (...). Umso stärker war die Südpfalz betroffen, als die günstigeren Schuhe aus Osteuropa und China den Niedergang der heimischen Industrie einläuteten."

BRANKOVIC & SIEDENBIEDEL malen ein düsteres Bild von der City in Pirmasens, das einer Geisterstadt nicht unähnlich ist, um dann die wirtschaftliche Situation mit einigen Indikatoren zu beschreiben:

"Liegt das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in Pirmasens mit 35.000 Euro weit unter dem Bundesdurchschnitt der kreisfreien Städte von rund 50.000 Euro, kommt das Umland nicht einmal auf 15.000 Euro. Kein Kreis in Deutschland erwirtschaftet weniger.
Hinzu kommt das geringe Bildungsniveau der Bevölkerung, das die Vermittlung der Arbeitssuchenden erschwert. Die Arbeitslosenquote in der Stadt Pirmasens beträgt 13 Prozent. Auf dem Land herrscht zwar nahezu Vollbeschäftigung, doch das hat vor allem einen Grund: Mehr als zwei Drittel der Erwerbstätigen pendeln zu ihrem Arbeitsplatz (...) über die Grenzen des Landkreises hinaus. (...). Von den ehemals 60.000 Einwohnern sind der Stadt nur noch 40.000 geblieben. Wer bleibt, findet heute Beschäftigung im schlechter bezahlten Dienstleistungssektor. Oder geht auf direktem Weg in die Arbeitslosigkeit. Hartz IV gehört ohnehin zur Realität vieler Kinder. Jedes dritte unter 15 Jahren lebt von staatlichen Transferleistungen."

BRANKOVIC & SIEDENBIEDEL bezeichnen die Südwestpfalz als "Osten des Westens", was sich auch im Wahlverhalten ausdrücken würde:

"Seit Jahren sitzen NPD und Republikaner im Stadtrat von Pirmasens, bei der Landtagswahl im März 2016 stimmten mehr als 15 Prozent für die AfD."

Dennoch wollen sie keinen "eindeutigen" Zusammenhang zwischen Globalisierungsfolgen und dem Wahlverhalten der "Abgehängten" erkennen. Dafür steht ein Gymnasiast und ein Marketingexperte der Stadt Pirmasens ("Leiter der Wirtschaftsförderung"). Letzterer darf die frohe Botschaft für die Region verkünden:

"Der Abwärtstrend in den Bevölkerungszahlen sei mittlerweile gestoppt. Auch wirtschaftlich gehe es langsam wieder bergauf. Und schließlich zögen auch die spottbilligen Immobilienpreise immer mehr Familien an, denen die Städte schlicht zu teuer würden."

Alles bestens? Nicht die Journalisten und auch nicht die Ökonomen sind es, die uns sagen können, was die Zukunft bringt, sondern allein die Geschichte wird uns zeigen wie es weitergeht.

In der Studie von SÜDEKUM/DAUTH/FINDEISEN, die im Mittelpunkt der Story von BRANKOVIC & SIEDENBIEDEL steht, wird uns folgende Rangliste der Regionen präsentiert, deren einziger Indikator die Beschäftigungsgewinne und -verluste zwischen 1978 und 2014 in Westdeutschland sind:

Tabelle: Entwicklung der regionalen Beschäftigung
1978-2014
Rang Kreisfreie Städte
bzw.Kreise
Beschäftigungsentwicklung
(in Vollzeitäquivalenten)
1 Vechta 149,1 %
2 Freising 143,2 %
3 München-Land 139,6 %
4 Landshut 128,6 %
5 Eichstätt 118,2 %
... ... ...
198 Hamburg 9,7 %
... ... ...
210 Frankfurt a.M. 8,4 %
... ... ...
219 Köln 6,5 %
... ... ...
319 Pirmasens - 29,4 %
320 Leverkusen - 31,1 %
321 Wuppertal - 31,1 %
322 Herne - 33,3 %
323 Gelsenkirchen - 36,1 %
324 Duisburg - 36,3 %
325 Südwestpfalz - 37,6 %
Quelle: SÜDEKUM/DAUTH/FINDEISEN 2016, Tabelle 1, S.4

SÜDEKUM/DAUTH/FINDEISEN sehen einen direkten Einfluss der Globalisierung auf die regionale Beschäftigungssituation:

"Die Regionen im unteren Bereich der Liste (neben dem Ruhrgebiet etwa die Pfalz und Oberfranken) wiesen in den 1970er Jahren deutlich andere sektorale Beschäftigungsstrukturen auf als etwa Niederbayern oder der Stuttgarter Raum. Die Wirtschaft im Ruhrgebiet war traditionell fokussiert auf Kohlebergbau, Roheisenund Stahlerzeugung sowie auf verwandte Bereiche wie Gießereien oder Kesselbau. In der Pfalz war die Textil- und Schuhindustrie stark, in Oberfranken der Bereich der einfachen Haushalts- und Elektrogeräte und der Spielwaren. Diese Spezialisierungsmuster waren nicht zufällig. Sie spiegeln lokale Gegebenheiten und Kompetenzen wider und haben sich über Jahrzehnte entwickelt. Sie haben diesen Regionen über einen langen Zeitraum hinweg Wohlstand beschert. So gehörte Duisburg einmal zu den deutschen Städten mit dem höchsten Pro-Kopf Einkommen!
Aber im Zuge der Globalisierung entwickelten Osteuropa und Asien, allen voran China, einen komparativen Vorteil in eben jenen Branchen des einfachen verarbeitenden Gewerbes. Das bedeutet, dass sie Güter wie Rohstahl, einfache Elektroartikel, T-Shirts, Spielzeug usw. zu geringeren Lohnstückkosten als andere Produzenten herstellen konnten. Oftmals zwar in geringerer Qualität, aber dafür zu einem deutlich geringeren Preis." (2016, S.4)

Die Autoren unterscheiden jedoch zwischen Globalisierungsgewinnern/-verlierern und allgemeinen Gewinnern/Verlierern. Inwiefern eine solche Unterscheidung Sinn macht angesichts der komplexen Wechselwirkungen, ist eine andere Frage. Den Abgehängten ist es egal, aufgrund welcher Effekte sie abgehängt sind.

Was die FAZ unterschlägt: Die Ökonomen gehen davon aus, dass die Polarisierung nur durch verteilungspolitische Maßnahmen entschärft werden kann. Zur Umverteilungspolitik zählen die Autoren jedoch nicht nur Sozialtransfers, sondern insbesondere Maßnahmen des aktivierenden Sozialstaats.

Die Wahlanalyse der Ökonomen ist nicht wirklich eine Wahlanalyse, sondern rein spekulativ, d.h. auch der FAZ-Artikel steht damit auf tönernen Füßen. 

BERTELSMANN-STIFTUNG (2017): Trotz guter Konjunktur hält Haushaltskrise der Kommunen in Rheinland-Pfalz an.
Die Finanzlage der rheinland-pfälzischen Kommunen bleibt auch in Zeiten guter Konjunktur angespannt. Das liegt vor allem an den wachsenden Sozialausgaben und zu wenigen Investitionen, wie der Kommunale Finanzreport 2017 der Bertelsmann Stiftung zeigt. Land und Kommunen müssen ihre gemeinsamen Anstrengungen erhöhen.,
in:
Pressemitteilung BertelsmannStiftung v. 09.08.

NIEWEL, Gianna (2017): Die inneren Werte.
Niedrige Lebenserwartung, hohe Arbeitslosigkeit, leere Häuser: Pirmasens gilt vielen als das Beispiel für missglückten Strukturwandel. Ein Ortstermin,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 05.09.

"Pirmasens, Westpfalz, sieben Hügel, viel Wald. Michael Schieler sitzt in seinem Büro im Rathaus. (...). Die Journalisten kommen in seine Stadt wie Kriegsberichterstatter. (...). Und manchmal kommen sie gar nicht erst, es werden genug Meldungen über die Agenturen gejagt, um Pirmasens auch vom Redaktionsbüro aus niederzuschreiben",

schreibt Gianna NIEWEL über die stigmatisierende Medienberichterstattung zu Pirmasens, die sie mittels einigen Berichten belegt: "Pleitestadt Pirmasens" (SZ 05.03.2008), "Pirmasens abgehängt" (FAS 22.05.2016) oder "Früher sterben in Pirmasens" (Spiegel 10.06.2017). Eine Schlagzeile der Springer-Presse ("Keine Mitte nirgends", Welt 17.05.2008) tritt uns dagegen nur als Frage entgegen: "Was passiert mit einer Stadt, der die Mittelschicht wegbricht?". Gianna NIEWEL will dem Selbstbild, das die Stadt für sich entworfen hat, nicht folgen. 

"350 Schuhfabriken hatte die Stadt, 25 000 Menschen, die Leder schnitten und Rahmen vernähten. Die Pirmasenser sagen »Schlabbeflicker«. (...). In der Stadt lebten so viele Millionäre wie sonst nirgendwo in Deutschland. Das alles war, bevor Inder und Pakistaner für weniger Lohn die Sohlen stanzten. Bevor 1997 auch die US-Kaserne schloss, die Soldaten und Offiziere wegzogen und noch einmal Kaufkraft verloren ging. Pirmasens hat heute 42 120 Einwohner. Um in der Schuhfabrik zu arbeiten, brauchten die Jungs und Mädchen keinen Schulabschluss, und als sie arbeitslose Erwachsene waren, holten viele die mittlere Reife nicht nach. Arbeitslosenquote 12,9 Prozent (...).
Allen voran fehlt es an Geld, 350 Millionen Euro Schulden. Aber das fehlt in anderen Gemeinden auch. Gröde in Schleswig-Holstein, St. Wendel im Saarland, Oberhausen, Darmstadt. Alle pleite. Und trotzdem leben da Menschen, arbeiten, halten es aus, dass ihre Heimat nicht überall schön ist. Es sind Gemeinden, die Werbeagenturen beauftragen, die sich Slogans ausdenken",

beschreibt NIEWEL die Entwicklung von Pirmasens anhand typischer Niedergangsindikatoren, bevor die Versuche der Stadt geschildert werden, die Misere zu überwinden - aber sehr optimistisch wirkt das nicht. Mehr als zu einem "Pirmasens ist aushaltbar" reicht es nicht.

"Nach den Journalisten beugten sich die Sozioökonomen über Pirmasens, um den Strukturwandel zu analysieren",

auch hierzu wird nur Negatives berichtet, obwohl einige Forscher ein weniger negatives Bild zeichnen. NIEWELs Ortsbesuch reiht sich ein in eine endlose Reihe an stigmatisierenden Medienberichterstattungen:

"The analysis of national media for the city of Pirmasens showed that negative articles about the city accumulate from about the mid 2000s. The stigma of the so-called »bankrupt city« is a repeated one, referring primarily to private poverty in the city. Pirmasens seems in this way to have become a West German counterpart to the East German crisis cities. (...). The high density of private insolvencies is primarily associated with the downward trend of the city and the lack of a middle class. The »bankrupt city« stigma is at times interpreted as a failure of local politics. Indications of stigmatisation can be reconstructed using numerous press reports. In October 2004 the article »Where Germany is going bankrupt« in the magazine Der Spiegel (Bönisch 2004) emphasises that a national comparison shows that with 269 per 100.000 inhabitants private insolvencies in Pirmasens and Wilhelmshaven are four times as high as the national average",

beschreiben Thomas BÜRK, Manfred KÜHN und Hanna SOMMER in ihrem Aufsatz Stigmatisation of Cities. The Vulnerability of Local Identities den Beginn der stigmatisierenden Medienberichterstattung über Pirmasens. In dem 2013 erschienenen Buch Peripherisierung, Stigmatisierung, Abhängigkeit? herausgegeben von Matthias BERNT & Heike LIEBMANN wird die Entwicklung von 6 Städten, darunter auch Pirmasens anhand unterschiedlicher Aspekte untersucht.

"Während in Sangerhausen weitestgehende Auflösung der wirtschaftlichen Basis und in Eschwege anhaltende Erosion und starke Abhängigkeit von überlokalen Unternehmenszentralen die Gegenwart prägen, ist die Situation in Pirmasens eher durch ein Nebeneinander von Krise, Abwanderung und Transformation bestehender Unternehmen gekennzeichnet.
Im Gegensatz zu den bisher beschriebenen Städten führt die Peripherisierung deshalb in Pirmasens zu einer stärkeren Kooperation von Wirtschaft, Stadtpolitik und Verwaltung" (S.70),

heißt es in dem Beitrag Governanceprozesse und lokale Strategiebildung von Matthias BERNT, der der Stadtpolitik eine Wandlung von einer "eher reaktiven zu einer pro-aktiven Politik bescheinigt. Manfred KÜHN & Sabine WECK sehen in ihrem Beitrag Interkommunale Kooperation, Konkurrenz und Hierarchie ein Problem durch die Konkurrenz zwischen der Stadt Pirmasens und dem umgebenden Landkreis Südwestpfalz:

"Die ungleiche Verteilung der Einkommen(ssteuer) und (Sozial-)Ausgaben durch anch wie vor anhaltende Stadt-Umland-Wanderungen (bei quantitativ geringeren Reurbanisierungstendenzen) belastet die Kernstadt-Umland-Beziehungen. In peripherisierten Regionen wird dadurch die Lage von hochverschuldeten Kernstädten noch zusätzlich geschwächt und der Handlungsspielraum der Stadtpolitik weiter eingeengt." (S.88)

Solch differenzierende Betrachtungen sucht man in den Medienberichten vergeblich.

FISCHER, Konrad (2017): Schwaben und Chinesen kaufen.
Immobilien: Selbst in Pirmasens kann man 2017 Geld mit Immobilien verdienen. Ein Ortsbesuch belegt den realen Wahnsinn am deutschen Häusermarkt,
in:
Wirtschaftswoche Nr.42 v. 06.10.

Dürfen sich von Medien und Ökonomen stigmatisierte Städte wie Pirmasens der neoliberalen Theorie widersetzen? Wenn es nach Konrad FISCHER ginge, dann nicht. Dazu wird von ihm eine Gleichgewichtsthese aufgestellt: Wenn die Immobilienpreise in den Metropolen steigen, dann müssen sie in der Provinz fallen, denn sonst läuft etwas falsch. Pirmasens wird von FISCHER deshalb nun auch noch zum Problemfall eines fehlgeleiteten Immobilienmarktes stilisiert, denn:

"Nach menschlichem Ermessen dürfte die Mischung aus Abwanderung und Perspektivlosigkeit Immobilien hier zu Ladenhütern machen".

FISCHER inszeniert Pirmasens deshalb als trostloseste Stadt Deutschland, um dann schreiben zu können:

"Natürlich sind die Preise hier noch nicht groß gestiegen, aber eben auch nicht gesunken, was für sich genommen schon erstaunlich ist. In einem Ort, der heute 50 Prozent weniger Einwohner hat als zu seinen besten Zeiten. Und selbst das liegt wohl allein daran, dass so wenig Neubauten auf den Markt kommen."

Wie schlecht steht es um Pirmasens aber tatsächlich? Man könnte z.B. als Indikator für die Perspektivlosigkeit der kreisfreien Städte in Rheinland-Pfalz die Zweitstimmenergebnisse der AfD nehmen. Dann ergäbe sich folgendes Bild der perspektivlosten Städte:

Rang Kreisfreie Stadt AfD-Zweitstimmenanteil Veränderung zu 2013
1 Frankenthal 16,5 % + 11,2 % (2)
2 Ludwigshafen am Rhein 16,3 % + 9,7 % (3)
3 Pirmasens 16,1 % + 11,5 % (1)
4 Worms 15,0 % + 8,9 % (6)
5 Zweibrücken 14,5 % + 9,6 % (4)
6 Kaiserslautern 13,7 % + 9,2 % (5)
7 Speyer 13,5 % + 8,2 % (7)
8 Neustadt an der Weinstraße 12,0 % + 7,5 % (8)
9 Landau 10,0 % + 5,1 % (9)
10 Koblenz 8,4 % + 3,8 % (10)
11 Trier 7,8 % + 3,6 % (11)
12 Mainz 7,3 % + 3,0 % (12)

Betrachtet man die Ergebnisse, dann befindet sich Pirmasens hinsichtlich der Perspektivlosigkeit in Gesellschaft der Städte Frankenthal und Ludwigshafen am Rhein. Betrachtet man die Bevölkerungsentwicklung, dann hatte Pirmasens gemäß dem Statistischen Landesamt Rheinland-Pfalz Ende 2016 40.550 Einwohner. Das waren 420 Einwohner (1 %) mehr als ein Jahr zuvor. Das ist jedoch etwas weniger als beim Zensus 2011. Unter den kreisfreien Städten ist damit Pirmasens Schlusslicht.

Verglichen mit dem Landkreis Südwestpfalz, der Pirmasens umschließt und dessen Verwaltungssitz die Stadt ist, ist die Bevölkerungsentwicklung jedoch positiv (Rückgang seit Zensus 2011 um 2,4 % und selbst im letzten Jahr ging die Bevölkerung um 0,5 % zurück). FISCHER dagegen sieht in Pirmasens nicht ein Oberzentrum mit Entwicklungschancen, sondern einen problematischen Immobilienmarkt:

"In den großen Tagen der Stadt war Pirmasens zwar eine Stadt mit vielen Millionären, aber noch mit viel mehr Arbeitern. So entstanden ganze Stadtviertel mit Straßenzügen voller kleiner Häuser mit kleinsten Wohnungen, in denen heute niemand mehr leben mag. Im Sektor Geschosswohnungsbau liegt die Leerstandsquote in Pirmasens bei neun Prozent, bundesweit ergibt das den dritten Platz, mehr sind es nur in Salzgitter und Chemnitz."

Chemnitz gilt bekanntlich als aufstrebende Stadt in Ostdeutschland, sodass der Indikator an sich nicht aussagekräftig ist.

Fazit: Aus neoliberaler Sicht ist die Stärkung der Starken die Zielsetzung. Einer solchen Sichtweise ist die Stigmatisierung von ganzen Städten und Gemeinden geschuldet, deren Entwicklung durch fragwürdige neoliberale Rankings und bewusste, zusätzliche Abwertung durch negative Berichterstattung gehemmt wird. Die Chancen solcher Regionen bleiben dadurch ungenutzt oder werden gar wie im Fall von Pirmasens zum Problem stilisiert.

2018

SCHMIDIGEN, Tom (2018): Oh wie schön ist Pirmasens.
Kaum eine Stadt ist unter Flüchtlingen so beliebt wie Pirmasens - doch weil immer mehr in den Ort ziehen, fordern selbst Helfer eine Zuzugsperre,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 17.03.

"In der Stadt leben doppelt so viele Flüchtlinge, wie die Stadt aufnehmen müsste. 0,99 Prozent der in Rheinland-Pfalz zu verteilenden Flüchtlinge müssten aufgenommen werden, tatsächlich leben in Pirmasens 2,33 Prozent der Flüchtlinge. Die zusätzlichen 675 Menschen sind freiwillig nach ihrem positiven Asylbescheid in die Stadt gekommen, angelockt von den günstigen Mieten. Einen Quadratmeter bekommt man in Pirmasens für durchschnittlich 4,50 Euro kalt vermietet. Eine durchschnittliche Sozialwohnung gibt es bei der Bauhilfe Pirmasens, einer städtischen Vermietungsgesellschaft, schon für 358 Euro. Zudem wollen die meisten Flüchtlinge zentral wohnen, weil sie kein Auto besitzen. Das verstärkt die Ballung in der Innenstadt",

erklärt uns Tom SCHMIDIGEN die Magnetwirkung der Stadt seit März 2017. Facebook wird für diesen Zustrom mitverantwortlich gemacht. Zudem gebe es gute "Strukturen für Sozialschwache" und durch den "Pakt für Pirmasens" engagierte Mitbürger. Die guten Ausgangsbedingungen für Sozialschwache beruht gemäß SCHMIDIGEN auf dem Niedergang der Stadt seit den 1980er Jahren:

"Heute hat Pirmasens eine Arbeitslosenquote von zwanzig Prozent. Über ein Viertel der Kinder wächst bei Eltern auf, die Arbeitslosengeld II beziehen. Die Kinderarmut ist damit doppelt so hoch wie im bundesweiten Schnitt. (...). Die Bevölkerung ist innerhalb von 50 Jahren von 60.000 auf 42.000 geschrumpft",

berichtet SCHMIDIGEN, der in Pirmasens Potenzial für eine "Vorzeigestadt der Integration" sieht. Dem steht lediglich ein Personalproblem entgegen.

Im Gegensatz zur Protestantenzeitung taz beschreibt SCHMIDIGEN in der Katholikenzeitung die Situation nicht anhand einer evangelischen, sondern in einer katholischen Einrichtung.   

SCHMIDT-LUNAU, Christoph (2018): Kein Platz für mehr Flüchtlinge.
Ab Montag will das pfälzische Pirmasens keine Asylbewerber mehr aufnehmen. Wie konnte es so weit kommen? Eine Geschichte von bemühten Erzieher*innen und einer überforderten Gemeinde,
in:
TAZ v. 26.03.

Die Probleme der Stadt Pirmasens erkennt der Bahn-Reisende bereits am Hauptbahnhof. Das schicke Bahnhofsgebäude erweist sich an einem eiskalten Februartag als unzugänglicher Ort. An beiden Eingängen verweist ein handgeschriebenes Hinweisschild auf die andere defekte Tür:

Pirmasens Hauptbahnhof, Foto: Bernd Kittlaus 2018

 "Vom Sorgenkind zum wahren Vorzeigeobjekt", erklärt uns eine PR aus dem Sommer 2014 das Erwachen des Bahnhofs aus dem Dornröschenschlaf. Gelobt wird das "gemeinsame Engagement und die Initiative von Bürgern, Unternehmen und der Stadt Pirmasens". Tatsächlich findet der Reisende an einem Samstagnachmittag Pirmasens als verschlafenes Kleinstädtchen vor. Die Fußgängerzone ist derart leer, dass dort die Autofahrer im Minutentakt zusammen mit Fußgängern flanieren.

Pirmasens Fußgängerzone am Samstagnachmittag, Foto: Bernd Kittlaus 2018

Die Neubauten mit klangvollen Namen wie "Dynamikum" sind für die wenigen Einwohner völlig überdimensioniert. An einem Samstagnachmittag erweckt die 40.000 Einwohnerstadt den Eindruck als ob hier nicht einmal 5.000 Einwohner leben würden: Eine seelenlose Steinwüste, die eher wie ein Museum wirkt.

"Lutherkita. Das Haus liegt unterhalb der klassizistischen Lutherkirche, am Rande der Kernstadt von Pirmasens. Der Stadtbezirk ist als sozialer Brennpunkt anerkannt",

Lutherkirche in der Pirmasenser Fußgängerzone, Foto: Bernd Kittlaus 2018

beschreibt Christoph SCHMIDT-LUNAU die Problemkita. Die Lutherkirche befindet sich mitten in der Fußgängerzone:

"Pirmasens ist beliebt bei Flüchtlingen, weil es hier viele freie Wohnungen und günstige Mieten gibt. Ende Februar hat die Stadt jedoch einen Zuzugsstopp verhängt (...). Die Stadt hat der rheinland-pfälzischen Integrationsministerin Anne Spiegel (Grüne) einen Zuzugsstopp für anerkannte Flüchtlinge und Asylbewerber abgerungen. (...):
Die entsprechende Anweisung an die Ausländerbehörden wurden am vergangenen Dienstag verschickt. Am Montag tritt er nun in Kraft, zunächst auf ein Jahr befristet. (...).
Pirmasens musste nach dem geltenden Schlüssel rund 570 Flüchtlinge unterbringen. Doch es sind inzwischen 1.300 angekommen, mehr als doppelt so viele",

berichtet SCHMIDT-LUNAU. Ohne die Migranten wäre die Fußgängerzone in Pirmasens am Samstagnachmittag noch leerer!

Pirmasens Schloßplatz am Samstagnachmittag, Foto: Bernd Kittlaus 2018

SCHMIDT-LUNAU berichtet über ein "Leuchtturmprojekt der Flüchtlingshilfe". Leuchtturmprojekt ist ein Wortungetüm aus dem Vokabular des Neoliberalismus, was offenbar nicht davor schützt, dass es inzwischen gedankenlos auf soziale Projekte übertragen wird. Der Siegeszug des Neoliberalismus und seiner Denkschablonen hat sich also längst im "Sozialarbeiterjargon" festgesetzt, der einst eine Domäne der Linken war. Leuchtturmprojekte sollen ähnliche Projekte nach sich ziehen. Was aber, wenn die Leuchttürme derart dysfunktional sind wie der Pirmasenser Hauptbahnhof?

HÖLL, Susanne (2018): Wenn aus Freude Überforderung wird.
Nun gilt auch in Pirmasens ein Zuzugsstopp für Flüchtlinge - genehmigt von einer grünen Ministerin,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 31.03.

Der Artikel von Susanne HÖLL geht nicht über die Berichte in der taz und in der FAZ hinaus.

GLADIC, Mladen (2018): Rand, ein Zustand.
Peripherie: Leerstand, Arbeitslosigkeit, Zuzugsperre für Flüchtlinge: In Pirmasens findet sich eine deutsche Realität, die in urbanen Debatten selten eine Rolle spielt,
in: Freitag Nr.18 v. 03.05.

Mladen GLADIC nähert sich Pirmasens nicht nur mittels der üblichen Negativstatistiken, sondern auch mit dem Filmemacher Philipp MAJER und seiner geförderten Dokumentation Die Kleinstadt Pirmasens. Es wird deutlich, dass die deutsche Linke in Sachen strukturschwacher Gemeinden keine klare Linie verfolgt, sondern fragmentiert und geschwächt agiert. Lokalpolitiker wie Frank ESCHRICH von der Linkspartei, stehen der Grünen-Integrationsministerin, die eine Zuzugssperre verhängte, genauso skeptisch gegenüber wie der eigenen Wahlkreisvertreterin, der Bundestagsabgeordneten Brigitte FREIHOLD.

Als Lösung für die Probleme der Stadt wird ein "dritter Arbeitsmarkt" propagiert, was immer das sein mag. 

HÖLL, Susanne (2018): Das lederne Wunder von Pirmasens.
Wie der Hersteller Kennel & Schmenger dem Niedergang der pfälzischen Schuhbranche entgehen konnte,
in: Süddeutsche Zeitung v. 12.06.

Susanne HÖLL berichtet nicht wirklich über ein Wunder, sondern eher über einen Wunschtraum:

"Die Firma kämpft mit den Kosten, produziert einen Teil der Modelle in ausgesuchten Werkstätten in Ungarn. Die Qualitätskontrollen finden alle am Stammsitz in Pirmasens statt, dort wo 230 Leute beschäftigt sind. 300 in Ungarn kommen hinzu, in firmeneigenen Läden sind es noch einmal 120, zehn im mittlerweile wieder firmeneigenen Onlinehandel."

Der CDU-Bürgermeister träumt sich die Digitalisierung zurecht. Sie soll das

"ramponierte Image von Pirmasens, das zum Leidwesen der Einwohner oft als Beispiel für postindustrielle Tristesse beschrieben wird"

aufpolieren. Individualisierte Schuhprodukte aus dem 3-D-Drucker sollen die Rettung für Pirmasens werden.

STATISTIKRLP (2018): In 2017 rund 37.000 Neugeborene, weiterhin deutlich mehr Gestorbene,
in: Pressemitteilung Statistisches Landesamt Rheinland-Pfalz v. 08.08.

2019

JUNG, Alexander (2019): Ratlos im Rathaus.
Gerechtigkeit: Wie hoch die Lebensqualität in Deutschland ist, hängt vor allem davon ab, wo man wohnt. Reiche Städte überbieten sich mit günstigen Angeboten für ihre Bürger. Arme Städte erhöhen die Gebühren. Der Abstand wächst,
in:
Spiegel Nr.4 v. 19.01.

In Zeiten, in denen der Soli abgebaut werden soll, wird eine neue Kluft eröffnet:

"Die Trennlinie verläuft nicht (...) zwischen alten und neuen Ländern. (...). Die Problemstädte konzentrieren sich auf den Südwesten - dort, wo früher das ökonomische Kraftzentrum der Republik lag: vom Ruhrgebiet bis ins Saarland."

Als Indikator für die Kluft werden uns die Kassenkredite pro Kopf im Jahr 2016 angegeben. Als klamme Städte werden uns Pirmasens (Rang 1: 8.405 Euro), Oberhausen (Rang 2), Kaiserslautern (Rang 3), Hagen (Rang 4), Mülheim (Rang 5), Zweibrücken (Rang 6), Remscheid (Rang 7), Ludwigshafen am Rhein (Rang 8), Trier (Rang 9) und Essen (Rang 10: 4.183 Euro) aufgelistet.

STATISTIKRLP (2019): Weiterer Anstieg der Bevölkerung in 2018,
in: Pressemitteilung Statistisches Landesamt Rheinland-Pfalz v. 23.01.

 
     
 
       
   

weiterführende Links

 
       
     
       
   
 
   

Bitte beachten Sie:
single-generation.de ist nicht verantwortlich für die Inhalte externer Internetseiten

 
   
 
     
   
 
   
© 2002-2019
Bernd Kittlaus
webmaster@single-generation.de Erstellt: 30. Januar 2019
Update: 30. Januar 2019