2016
LUDWIG, Jan
(2016): Der kurze Weg nach Westen.
Brandenburg: Einwanderer aus Polen lassen ganze
Dörfer in Brandenburg wiederaufblühen. Doch in ihrem Heimatland
werden sie oft schmerzlich vermisst,
in:
Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung v. 01.01.
SLUPINA, Manuel/DAMM,
Theresa/KLINGHOLZ, Reiner (2016): Im Osten auf Wanderschaft.
Wie Umzüge die demografische Landkarte zwischen Rügen und
Erzgebirge verändern, Berlin-Institut für Bevölkerung und
Entwicklung, Januar
Decker, Markus (2016): Studie "Im Osten auf Wanderschaft".
Ostdeutsche Städte wachsen
wieder,
in:
Berliner Zeitung Online v. 26.01.
Markus DECKER erklärt
uns anlässlich der Broschüre Im Osten auf Wanderschaft
den Standpunkt von Reiner KLINGHOLZ zur Zukunft der Dörfer:
"Ländliche Gegenden
haben Probleme, während Großstädte und deren Umland oft
boomen. Doch während die Ost-Beauftragte Gleicke für
»pfiffige Lösungen« auf dem Land plädiert, setzt Klingholz
einen anderen Akzent. Er findet, dass kleinere Orte von
ihren Bewohnern aufgegeben würden, sei »eine kaum noch zu
vermeidende Folge eines Strukturwandels, von dem die
Gesellschaft als ganze nur gewinnen kann«. Die Geschichte
beweise überdies, dass sich der Wandel selbst nicht
verhindern lasse".
EHRENSTEIN,
Claudia (2016): Im Osten boomen die Großstädte.
Die Bevölkerung in den neuen
Bundesländern wächst wieder, vor allem in den Metropolen. Sogar
das Landleben ist für eine Altersgruppe attraktiv,
in:
Welt v. 27.01.
Die Studie
Im Osten auf Wanderschaft
verspricht Analysen auf Gemeindeebene, was jedoch nicht
passiert. Statt Gemeinden werden in erster Linie
Gemeindegrößenklassen, Gemeindelagen oder
Gemeindefunktionsklassen als Indikatoren für
Gemeindeentwicklungen analysiert. Viel interessanter wäre
dagegen, welche Unterschiede innerhalb der einzelnen
Gemeindetypen bestehen, statt die Unterschiede durch
Mittelwerte zu nivellieren. Gäbe es hier große Unterschiede,
dann müsste nämlich gefragt werden, warum dies so ist. Hier
wären also Fallanalysen (Ein gutes Beispiel ist die
Langzeitstudie Dörfer im Wandel) angesagt, statt Gemeindetypen über einen Kamm zu
scheren. Analysen, die territoriale Grenzen als Indikatoren
benutzen, statt z.B. Verflechtungsräume oder Beschränkungen
durch Verkehrsnetze, mögen aus Sicht der Territorialmächte
aufschlussreich sein, die Bedürfnisse der Einwohner werden
dadurch zwangsläufig vernachlässigt. Bezeichnenderweise wurden
für die Studie Bürgermeister und Verwaltungsmitarbeiter
befragt, aber nicht die Bürger!
WEINGARTNER, Maximilian (2016): Der Osten schrumpft nicht mehr.
Erstmals seit der Wende kommen
mehr Menschen als wegziehen - doch viele Gemeinden bleiben
Verlierer,
in:
Frankfurter Allgemeine
Zeitung v. 27.01.
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG-Tagesthema:
Zuwanderung Ost.
Jahrzehntelang bluteten die neuen Bundesländer aus, verödeten
Städte und ganze Landstriche. Jetzt ändert sich die Richtung, es
ziehen mehr Menschen nach Leipzig und Halle, als in den Westen
abwandern. Hat der Osten dank der Aufbauhilfe überall aufgeholt,
oder profitieren nur die Großstädte vom neuen Zuzug? |
POLLMER,
Cornelius (2016): Geh doch rüber.
Neue Jobs und alte Freunde
bewegen viele Ostdeutsche zur Rückkehr. Wo früher vom Abriss
geredet wurde, gibt es nun Andrang bei den Meldeämtern. Manche
fragen sich, was passiert, wenn die Wirtschaft schwächelt,
in:
Süddeutsche Zeitung v.
02.02.
"In nur 15
Prozent der ostdeutschen Gemeinden lebten im Jahr 2013 mehr
Menschen als sechs Jahre zuvor. Etwa 85 Prozent der Gemeinden
verlieren also nach wie vor Einwohner", erklärt Cornelius
POLLMER anlässlich der Broschüre
Im Osten auf Wanderschaft.
POLLMER,
Cornelius (2016): Wird es ruhig, kommt der Wolf.
Sachsen:
Wie der
Erzgebirgekreis gegen
die Abwanderung kämpft. Interview mit Matthias Lißke,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 02.02.
LOBENSTEIN, Caterina
(2016): Schwerte schafft es nicht.
Bund und Länder rechnen sich
die Kosten für Flüchtlinge schön. Viele klamme Städte müssen
dafür bezahlen,
in:
Die ZEIT Nr.7 v.
11.02.
KÖLNER
STADT-ANZEIGER-MAGAZIN-Thema:
Stadt oder Land?
Wenn die
Familie wächst, geht die Suche nach dem idealen Wohnort los: Drei
Erfahrungsberichte |
BIRKENBACH, Sabrina
(2016): Aufatmen im Bergischen,
in: Kölner
Stadt-Anzeiger Magazin v.
20.02.
KNUF,
Thorsten & Ulrich Paul (2016): Volle Städte, leerer Osten.
In den Ballungsgebieten wird
Wohnraum laut einer Studie bis zum Jahr 2045 noch knapper.
Auswirkungen in Berlin besonders groß. Stadtentwicklungssenator
Geisel trotzdem optimistisch,
in:
Berliner Zeitung v.
09.03.
Der Bericht der Berliner
Zeitung über die Prognos-Studie
Wohnen in Deutschland 2045 im Auftrag der
Baufinanzierung der Allianz verschweigt jene Annahmen der
Bevölkerungsprognose, die zu einem Anstieg der Bevölkerung auf
85 Millionen im Jahr 2045 führen. Auch die
auf der Allianz-Website präsentierte Studie gibt keinerlei
Auskunft über die angenommene Entwicklung der Geburtenrate
oder der Lebenserwartung. Einzig beim Zuwanderungsüberschuss
werden 3 Varianten vorgestellt:
Das Basisszenario geht von
einer Abnahme der Zuwanderung von 2015 bis 2021 auf 200.000
aus. Dieses Szenario entspricht der Variante 2 bei stärkerer
Zuwanderung der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des
Statistischen Bundesamtes und würde bis 2045 bis zu einem
Rückgang der Bevölkerung auf 77,7 Millionen führen. Da diese
Zahlen fast identisch sind mit der
Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes,
gelten für die Prognos-Studie auch die gleichen Einwände.
Die mittlere Variante, die
einzig in der Berliner Zeitung genannt wird, geht
dagegen von einem Wanderungssaldo von jährlich 500.000 bis
2030 aus, der dann bis 2040 auf 300.000 zurückgeht. Die obere
Variante geht sogar von einem jährlichen Wanderungssaldo von
650.000 bis zum Jahr 2045 aus. Dann würden im Jahr 2045 sogar
92 Millionen Menschen in Deutschland leben.
Der Wohnungsbedarf hängt
jedoch nicht in erster Linie von der Bevölkerungsentwicklung
ab, sondern von der Entwicklung der Lebensformen, die wie bei
der Prognos-Studie meist nur über die Entwicklung der
Haushaltszahlen geschätzt wird.
Angesichts der Tatsache,
dass die Prognose von Haushaltszahlen über 30 Jahre noch
unsicherer ist als Aussagen zur Bevölkerungsentwicklung und
frühere Studien zur Binnenwanderung von völlig falschen
Annahmen ausgegangen sind, handelt es sich bei dieser Studie
lediglich um die Interessenpolitik eines Akteurs auf dem
deutschen Wohnungsmarkt, aber nicht um eine realistische
Einschätzung der weiteren Entwicklung in Deutschland.
KALTENBRUNNER, Robert (2016): Raum mit Eigenschaften.
Von Eigenheimen, zersiedelten
Landschaften und der verblassten Vision einer "Bodenseestadt",
in:
Telepolis v. 13.03.
KELNBERGER, Josef (2016): Glanz und
Gloria.
Kurorte: Sie hatten Glück im Leben und
lieben ihre berühmte Stadt: Wie reiche Rentner Baden-Baden
aufmöbeln wollen,
in:
Süddeutsche Zeitung v.
29.03.
BORSTEL, Stefan von (2016): Wo leben die Deutschen am längsten?
Am Starnberger See werden die
Menschen am ältesten. Am niedrigsten ist die Lebenserwartung im
strukturschwachen Pirmasens,
in:
Welt v. 31.03.
Stefan von BORSTEL berichtet über
eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sabine ZIMMERMANN
(Linkspartei) zur
Lebenserwartung in Deutschland. Nach den Daten des BBSR unterscheidet sich die Lebenserwartung deutlich zwischen
strukturschwachen Regionen, in denen viele Menschen mit geringem
Einkommen leben und Gegenden, in denen viele reiche Menschen leben.
Jedoch gibt es auch große geschlechtsspezifische Unterschiede bei der
Lebenserwartung. Eine Grafik zeigt uns die Unterschiede in der
Lebenserwartung für einige ausgewählte kreisfreie Städte und
Landkreise, wobei nicht kenntlich gemacht wurde, ob die kreisfreie
Stadt oder der Landkreis gleichen Namens gemeint ist.
Tabelle: höchste und
niedrigste geschlechtsspezifische
Lebenserwartung in Deutschland |
|
Quelle: Grafik in
der Welt v. 31.03.2016 |
MOHR, Reinhard (2016): Richtig schön alt werden.
Für den Mann, der sich den besten
Jahren nähert, ist der Starnberger See das Paradies: Hier hat er die
höchste Lebenserwartung (aber meiden Sie bloß
Pirmasens),
in:
Welt am Sonntag kompakt v. 10.04.
Reinhard MOHR, alternder Ex-Spiegel-Mitarbeiter und Autor des
Buches Generation Z, in dem er das privilegierte Altern
seiner Generationseinheit beschreibt, berichtet anlässlich einer
Studie des Robert Koch Instituts (Welt 31.03.) zu Gesundheit
und Lebenserwartung in Deutschland. Nicht die
sozioökonomischen Unterschiede in der
Lebenserwartung interessiert MOHR, sondern lediglich der
Starnberger See als Wohnort von Prominenten, die sich die Gegend
noch leisten können. Ein Artikel also, der auf die Zielgruppe der
People Magazine abzielt. In der Welt am Sonntag findet sich
der Artikel unter der Schlagzeile
Ommm am Wohlstrand.
LEMBKE, Judith (2016): Das Land von
übermorgen.
Wie
die Deutschen in 30 Jahren wohnen, weiß keiner. Aber man kann ja
mal darüber spekulieren,
in:
Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung v. 01.05.
Man stelle
sich vor, wie uns unsere Zukunftsforscher an die Wand gefahren
hätten, die 1980 für das Jahr 2020 geplant hätten! Nun stellt
uns Judith LEMBKE die Zukunftsvisionen des Jahres 2050 vor,
die auf dem Projekt Baukulturatlas Deutschland 2030/2050
beruhen. Drei Szenarien hat man sich dort ausgedacht: das
geschrumpfte Netzland mit 65 Millionen Einwohnern, das
energiegebeutelte Wattland und das auf 85 Millionen gewachsene
Integralland, das LEMBKE als "Öko-Diktatur der Gutmenschen"
abwertet.
LEMBKE erklärt uns, dass
sich zwar die Bevölkerung einmal in 40 Jahren austauscht, aber
die gebaute Umwelt länger stehen bleibt. Die Demografie
dagegen erklärt uns, dass uns die Bevölkerung länger erhalten
bleibt und deshalb die Zukunft heute schon feststeht. Egal mit
welcher Zukunft wir uns befassen. Sie ist immer die Zukunft
unserer Gegenwart, die linear fortgeschrieben wird. Das
Projekt, soll dafür sorgen, dass Kommunen heute schon die
Weichen stellen können für morgen. Kommunen können jedoch noch
nicht einmal die Weichen fürs nächste Jahr richtig stellen.
Das zeigt nicht nur die Flüchtlingskrise, sondern Bankenkrise,
Ölpreisentwicklung oder der Bedarf an Kitas. Will man also
mittels Zukunftsforschung vor dem eigenen Versagen in der
Gegenwart flüchten?
LEMBKE erklärt uns deshalb
die Ziele auch nur an jenem Beispiel, das uns im letzten
Jahrzehnt als unsere darwinistische bzw. neoliberale Zukunft
ausgemalt worden ist:
"in einer schrumpfenden
Gesellschaft nicht zu den demographischen Verlierern zu
gehören, sondern im Wettbewerb um Fachkräfte möglichst vorne
mitzuspielen."
Schon der Begriff
Gesellschaft ist in diesem Kontext falsch, denn lediglich
Bevölkerungen können schrumpfen. Es zeigt jedoch bis in die
Wortwahl hinein wie weit uns die Demografisierung
gesellschaftlicher Probleme bereits zur unhinterfragten
Selbstverständlichkeit geworden ist, wenn uns dies nicht mehr
auffällt.
GROSSARTH,
Jan (2016): Die Stadt ist das bessere Land.
Das Land wird zum
Industriegebiet. Die Natur der Zukunft blüht in den Metropolen,
in:
Frankfurter Allgemeine
Zeitung v. 07.05.
HAMPEL, Lea & Pia RATZESBERGER (2016):
Was vom Dorfe übrig blieb.
Viele Menschen zieht es in die
Stadt. Deshalb und aus weiteren Gründen sterben die kleinen
Ortschaften. Doch die Spirale muss nicht zwangsläufig
abwärtsführen. Zu Besuch in zwei idyllischen Gemeinden, die sich
wehren - jede auf ihre Weise,
in:
Süddeutsche Zeitung v.
07.05.
HAMPEL &
RATZESBERGER berichten aus den Gemeinden
Kirchenlamitz im Fichtelgebirge und dem sächsischen
Falkenau. Der Ort ist seit 2011 keine eigenständige
Gemeinde mehr, was die Autorinnen verschweigen, sondern ein
Stadtteil von Flöha.
"Kirchenlamitz ist einer
dieser Orte in Deutschland, denen Statistiker prophezeien,
dass sie in den nächsten Jahrzehnten viele Menschen
verlieren werden, zu viele. (...). Schon 2028 sollen 500
Menschen weniger in der Ortschaft leben als heute, 2800
wären sie dann noch. Der Landkreis Wunsiedel wird in den
nächsten Jahren 16 Prozent seiner Bevölkerung verlieren",
beschreiben
HAMPEL &
RATZESBERGER die düsteren Zukunftsaussichten der Stadt
Kirchenlamitz, das eine Ansammlung von 27 Orten ist, von denen
das Dorf Kirchenlamitz eines davon ist. Schreiben die
Autorinnen also von Dörfern oder von Gemeinden?
Und wo immer es um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse
geht, ist Reiner KLINGHOLZ nicht weit, als ob es dazu
nicht auch andere Positionen gäbe. Aber was wären die Medien ohne
jene, die mit steilen Thesen ihre lahmen Storys aufpeppen
würden? Und ist mit "die Statistiker" auch nur das Institut
von KLINGHOLZ gemeint?
ZWICK, Daniel (2016): Tue Gutes und pendle
rüber.
Rheinland-Pfalz: Millionen Deutsche haben
täglich sehr weite Arbeitswege. Stress für sie - aber ein Segen
für manch darbende Region. Sonst würde da gar keiner wohnen, wie
in der Südwestpfalz,
in: Welt am
Sonntag kompakt
v. 15.05.
Daniel
ZWICK argumentiert im Dienste der Wirtschaft gegen
Sozialpolitiker und Umweltpolitiker, die in der
Pendlermobilität nur die Ruinierung der Gesundheit oder die
Beeinträchtigung der Lebensqualität sehen. Am Beispiel des
Landkreises Südwestpfalz zeigt ZWICK, dass Studien, die sich
z.B. wie das Berlin-Institut für Bevölkerung und
Entwicklung oder die Bertelsmann-Stiftung nur an
politischen Territorien, aber nicht an der Realität der
Menschen
orientieren, zu
Fehleinschätzungen neigen:
"Ruppertsweiler liegt in
dem Landkreis Deutschland, der in gewisser Hinsicht der
ärmste ist im ganzen Land. Südwestpfalz. Unternehmen gibt es
hier fast keine mehr, Arbeitsplätze nur noch wenige, und die
Wirtschaftsleistung (BIP) pro Kopf beträgt 14.473 Euro -
weniger als in allen Kreisen Ostdeutschlands oder auch in
Griechenland",
erklärt uns Zwick, um dann
auf statistische Verzerrungen bei Vergleichen hinzuweisen:
"Größere Firmen gibt es
nur in
Pirmasens und Zweibrücken. Doch ausgerechnet diese
Städte gehören nicht zum Kreis, »das führt zu starken
statistischen Verzerrungen«, sagt Heiner Röhl,
Regionalexperte beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW).
Viele Pendler arbeiten dort. »Gäbe es in Rheinland-Pfalz
eine Kreisreform, ähnlich wie in Mecklenburg-Vorpommern,
dann würde die Region bei der Wirtschaftskraft insgesamt zu
den schwächeren Ostkreisen aufschließen.«"
Tatsächlich entscheiden
oftmals historisch gewachsene Territorien über Wohl und Wehe
der dortigen Bewohner und nicht irgendwelche demografischen
Entwicklungen wie uns immer wieder gerne erzählt wird.
WILLE,
Joachim
(2016): Mobile Dörfer.
Die Verödung der ländlichen Räume ist kein
unabwendbares Schicksal. Politik und Experten setzten ihre
Hoffnung in die Digitalisierung,
in:
Frankfurter Rundschau
v. 17.05.
Joachim WILLE berichtet u.a.
am Beispiel des rheinland-pfälzischen Dorfes
Mannebach über
Aktivitäten zur Mobilisierung von Senioren. Außerdem werden neue
Ideen der Gegensteuerung zur Landflucht vorgestellt. Zuletzt
wird Reiner KLINGHOLZ mit seiner Kritik an der Anspruchshaltung
der Bewohner ländlicher Räume zitiert ("Vollversorgung" das
funktionale Äquivalent zur Sozialabbau-Volte
"Vollkaskomentalität"). Totgesagt werden von ihm Dörfer, die
nicht in Pendlerentfernung zu attraktiven Städten liegen oder
touristisch nicht attraktiv sind. Was das sein soll, dürfte wohl
auch von der entsprechenden Infrastruktur abhängig sein. Wenn
z.B. Bahnstrecken in ländlichen Räumen neu errichtet bzw.
stillgelegt werden, dann ändert sich dadurch auch die
Pendlerdistanz. Nicht demografische Entwicklungen, sondern
politische Entscheidungen sind also verantwortlich dafür wie
sich ländliche Räume entwickeln.
KNUF, Thorsten (2016): Dorthin, wo das Leben tobt.
Der
Ökonom Harald Simons über boomende Städte, die Mobilität junger
Menschen und das Ausbluten der Provinz,
in:
Frankfurter Rundschau v. 17.05.
Der
Ökonom Harald SIMONS, Vorstand des Privatinstituts Empirica,
belegt westdeutsche Städte mit großen bzw. bekannten
Universitäten wie Heidelberg, Regensburg, Darmstadt oder
gehypte ostdeutsche Städte mit dem modischen Label
"Schwarmstädte". Die Zielgruppe von SIMONS sind Studenten,
die dann als young urban professionals die
Family-Gentrification der Städte vorantreiben. Rentnern wird
dagegen eine Stadtflucht zugeschrieben:
"Bei Menschen im
Rentenalter lässt sich wiederum beobachten, dass sie
verstärkt die großen Städte wieder verlassen, um in
landschaftlich attraktiven Regionen wie an der Küste oder am
Alpenrand ihren Alterssitz zu nehmen."
SIMONS erklärt das Phänomen
der Schwarmstädte, die doch eher als Städte mit angesagten
Szenevierteln zu bezeichnen wären, als Phänomen der
geburtenschwachen Jahrgänge:
"Die ersten Schwärmer
waren die Geburtsjahrgänge nach dem Pillenknick. Diese Leute
wurden also ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre geboren
und sind jetzt etwa 40 Jahre alt. Das sind einfach wenige.
Wer auf dem Land oder in einer Provinzstadt lebt, findet
dort inzwischen zu wenig Gleichaltrige in Fuß- oder
Fahrrad-Entfernung vor. Mangels Masse fehlte es irgendwann
auch an der passenden Infrastruktur, etwa an Kneipen oder
Jugendzentren, möglicherweise sogar an Schulen. Das geht
teilweise so weit, dass man in manchen Dörfern nicht mal
mehr elf Leute für eine Fußballmannschaft zusammenbekommt."
Diese Erklärung macht es
sich entschieden zu einfach, denn selbst in den 1970er Jahren
gab es so gut wie keine Infrastruktur für die Jugend in der
Provinz und die Jungen zogen in die Städte.
SIMONS plädiert für ein von
oben verordnetes Zentrenkonzept, das ländliche Regionen vor
drohender Abwanderung bewahren soll. Aber kann man attraktive
Szenen politisch verordnen? Bereits heute gibt es politische
Zentrenkonzepte, die ja offensichtlich ihre Grenzen haben. Wie
will man z.B. Handelsunternehmen dazu zwingen, ihre neuen
Filialen dort zu bauen, wo sie zur Stabilisierung einer Region
gebraucht werden? Durch teuere Standortsubventionen?
HONNIGFORT, Bernhard (2016): Geh doch einfach rüber.
Görlitz zieht westdeutsche Rentner an,
in:
Frankfurter Rundschau
v. 21.05.
GROSSMANN, Uta (2016): "Dörfer müssen sich vernetzen".
Gabriele Göhring von der Caritas über das Altwerden auf
dem Land, Fahrdienste zum Arzt oder Einkaufen und eine
Bürokratie, die fantasievolle Lösungen blockiert,
in:
Frankfurter Rundschau
v. 21.05.
Gabriele
GÖHRING berichtet über eine
Demografie-Studie, die der Deutsche Caritasverband beim
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung in Auftrag
gegeben hat und die im April veröffentlicht wurde. Eine
generelle Zuwanderung der Alten in die Städte gäbe es danach
nicht, sondern insbesondere Kurstädte, die eine altersgerechte
Infrastruktur anbieten, würden von einem Zuzug profitieren.
GÖHRING berichtet, dass die
privaten Pflegeanbieter Landkreise mit hohem Altenanteil
vernachlässigen, weil sich für sie das Geschäft dort nicht
lohne.
"Unsere Studie zeigt,
dass in 180 Flächenlandkreisen im Westen und fünf im Osten,
in denen 34 Millionen Menschen leben, der Anteil Älterer im
Moment noch gering ist. Aber zwischen 2003 und 2011 hat der
Anteil der Pflegebedürftigen um 23 Prozent zugenommen. Es
wird mehr Bedarf an altersgerechten Wohnungen und
pflegerischer Versorgung geben. Die Kommune muss sich als
sorgende Gemeinschaft begreifen und rechtzeitig ein
altersgerechtes Umfeld schaffen",
fordert GÖHRING. Da fragt
man sich höchstens, warum wurde der Zeitraum 2003 bis 2011
ausgewählt? Etwa weil ein anderer Zeitraum keine so
dramatischen Steigerungsraten aufgewiesen hätte? Es handelt
sich dabei um jenen Zeitraum, in dem Deutschland statistisch
einen Bevölkerungsrückgang verzeichnete, während das seitdem
nicht mehr der Fall ist.
GÖHRING berichtet über
Vorzeigeprojekte und zeigt Hindernisse aus Sicht der Pflege
und des katholischen Caritasverbandes auf.
BUDRAS, Corinna & Sharon EXELER (2016): Pirmasens,
abgehängt.
Rheinland-Pfalz: Arme Menschen haben wenig Geld und
sterben früher. Pirmasens hält den traurigen Rekord. Ein Besuch,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 22.05.
|
Pirmasens,
Foto: Bernd Kittlaus 2018 |
|
WERMKE, Christian (2016): Heimlicher
Aufstieg.
Schleswig-Holstein: Still und leise hat sich in Flensburg eine starke Start-up-Szene
entwickelt. Vor allem viele Studenten wagen hier den Schritt in
die Selbständigkeit,
in:
Handelsblatt v. 27.05.
Welche Indikatoren sollen
Flensburg als positives Beispiel charakterisieren?
Ein Schaubild nennt die Einwohnerzahl 2014,
Einwohnerentwicklung in Prozent (ohne Zeitraum),
Arbeitslosenquote Dezember 2015, Bruttoinlandsprodukt in Euro
je sozialversicherungspflichtig Beschäftigter. Der Anteil des
Dienstleistungsbereichs wird als Stärke gesehen und nicht etwa
als Schwäche. Dagegen wird der Anteil an Bedarfsgemeinschaften
als Schwäche gewertet
- 2,49 Gründungen pro 10.000 Einwohner werden als
Innovationsmerkmal vermarktet. Nichts über die Anzahl der so
geschaffenen Arbeitsplätze, die Lebensdauer einer solchen
Gründung bzw. deren Aussichten auf Erfolg
- Ein Fünftel der Einwohner sind junge Erwachsene. Welche
Altersgruppe hier gemeint ist, wird nirgends erläutert.
Fazit: Fakten werden
lediglich in homöopathischen Dosen verabreicht. Stattdessen
viel Stadtmarketing. Nachvollziehbar ist für den Leser nicht,
warum Flensburg so toll sein soll. Dies mag daran liegen, dass
hier nicht die Gegenwart zählt, sondern eine erhoffte Zukunft
in die Stadt projiziert wird. Kreativität ist schließlich
alles!
SAUER,
Stefan (2016): Deutschland, ein geteiltes Land.
Welchen Regionen die besten
Zukunftschancen vorausgesagt werden,
in:
Frankfurter Rundschau
v. 28.05.
Stefan
SAUER stellt die Ergebnisse des Prognos Zukunftsatlas 2016 in
einen Zusammenhang mit dem Länderfinanzausgleich und die
Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Er kommt zu dem
Schluss,
"dass der
Länderfinanzausgleich alles in allem durchaus zumutbar und
angemessen, jedenfalls nicht schreiend ungerecht ist."
Die größten Probleme
westdeutscher Regionen in NRW und Norddeutschland sieht SAUER
in der hohen Arbeitslosigkeit und Kinderarmut sowie in der
Verschuldung der Kommunen.
Auch in der FR werden die Indikatoren des Rankings
weder nachvollziehbar dargestellt, noch kritisch hinterfragt.
FRÖHLICH, Diana
(2016): Am Boden geblieben.
Rheinland-Pfalz:
Kaum eine Region ist im
Zukunftsatlas von Prognos so stark abgerutscht wie die Stadt
Kaiserslautern und der dazugehörige Landkreis. Die Probleme der
strukturschwachen Region sind längst erkannt - doch unternommen
wird zu wenig,
in:
Handelsblatt v. 30.05.
Diana FRÖHLICH beschreibt
die Zweischneidigkeit der Tatsache, dass der Landkreis
Kaiserslautern sich zu lange von der US-Air Base Rammstein
abhängig gemacht hat und zuwenig auf moderne High
Tech-Industrie setzte. Auch das touristische Potenzial sei zu
wenig erschlossen, klagt FRÖHLICH.
"In Kaiserslautern selbst
tragen die Arbeitslosenquote, die laut Agentur für Arbeit
bei mehr als neun Prozent liegt, und der hohe Schuldenstand
maßgeblich zum schlechten Ergebnis bei, im Umland ist es vor
allem die Überalterung der Einwohner",
beschreibt FRÖHLICH die
Probleme der Region aus neoliberalem Blickwinkel einer
gnadenlosen Standortkonkurrenz, bei der die Gleichwertigkeit
der Lebensverhältnisse längst kein Politikziel mehr ist.
ASTHEIMER,
Sven (2016): Warum mehr Wessis in den Osten ziehen.
Erstmal seit der Wende gewinnt
Ostdeutschland Bevölkerung hinzu. Doch für eine Entwarnung gibt
es noch lange keinen Grund,
in:
Frankfurter Allgemeine
Zeitung v. 31.05.
Sven
ASTHEIMER berichtet über die
gestrige Pressemitteilung
Umzüge von West nach Ost: Berlin und Sachsen machen den
Unterschied des Bundesinstituts für
Bevölkerungsforschung zu Umzügen von West nach Ost und hat
vom Studienautor Bernhard KÖPPEN weitere Informationen erhalten.
HERGERT,
Stefanie (2016): Im Blech Valley.
Baden-Württemberg:
Eine Grenzregion der Superlative:
Die beiden Landkreise rund um Friedrichshafen und Lindau
profitieren von einer starken Industrie. Doch das weiß kaum
jemand - vor allem viele Fachkräfte nicht, die von den Firmen
dringend gesucht werden,
in:
Handelsblatt v. 03.06.
HOYER, Niklas (2016): Das Geheimnis von
Dietzhölztal.
HB-Serie Die Tücken der Statistik
(4): Mittelwerte suggerieren unumstößliche Wahrheit. Dabei lässt
sich mit ihnen eine gewünschte Aussage herbeizaubern,
in:
Wirtschaftswoche Nr.23
v. 03.06.
Niklas HOYER erklärt uns u.a.
am Beispiel der hessischen Gemeinde
Dietzhölztal
in Hessen den Unterschied
zwischen dem arithmetischen Mittel (Durchschnittseinkommen) und
dem Medianeinkommen, dessen Berechnung im Falle der relativen Armut
oftmals als lächerlich abgetan wird, hier jedoch auf der
Gemeindeebene wird es uns als dem Durchschnittseinkommen
überlegen präsentiert, weil es den verzerrenden Einfluss von
Spitzenverdienern beseitigt. Auch zur ökonomischen Definition
von Schichtgrenzen wird es herangezogen (z.B. hier).
ROTHHAAS, Julia (2016): Unser Dorf soll
leben.
Immer mehr Menschen drängt es
in die Städte, während kleinere Orte langsam aussterben. Wie
kann man das verhindern? Manchmal hilft ein Kino oder ein
Hochseilgarten,
in:
Süddeutsche Zeitung
v. 04.06.
Unsere
Städte sterben aus! Immer mehr Städter drängt es aufs Land!
Schafft die Pendlerpauschale ab! Hieß lange Zeit das Credo der
urbanen SZ. Nun entdeckt die SZ scheinbar ihre Liebe zum Dorf.
Landlust statt Landflucht? Eher nicht, denn wer lediglich Reiner
KLINGHOLZ als angeblich unabhängigen Experten hofiert, der
schreibt das Land bedenkenlos ab. Dabei gäbe es alternative Experten
(z.B. Annett STEINFÜHRER).
HILDENBRAND,
Kathleen (2016): "Raum für Experimente".
Interview mit Reiner
Klingholz,
in:
Süddeutsche Zeitung
v. 04.06.
AUTHALER, Theresa (2016): Lieber
Kreuzfahrt als Kurpark.
Kurorte: Ausgerechnet die
traditionellen Kurorte verpassen den Boom in der
Gesundheitsbranche. Sie sind in der Krise, seit immer weniger
Aufenthalte von den Kassen bezahlt werden. Bad Pyrmont setzt
jetzt auf Schulungen gegen Burn-out statt auf Moorbäder und
Klassikkonzerte,
in:
Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung v. 05.06.
AUTHALER, Theresa (2016): "Wir setzen
nicht auf Yoga, nur weil es zeitgeistig ist".
Kurorte: Bad Aibling hat sich aus der
Krise geackert. Kurdirektor Thomas Jahn sagt, das sei mit Mut
und dem Sinn für Identität gelungen,
in:
Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung v. 05.06.
KORIOTH, Stefan
(2016): Mehr Geld gegen Selbstentmachtung?
Wissenschaft und Praxis: Der
Vorschlag der Bundesländer zur Reform der Finanzverteilung hat auf die
Schwächen des Föderalismus ein grelles Schlaglicht geworfen,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 09.06.
Stefan
KORIOTH, Rechtsprofessor an der LMU München, befasst sich in
einem aufschlussreichen Artikel mit der Neuregelung des
Länderfinanzausgleichs, der derzeit ca. 9 Milliarden Euro
umverteilt, was angesichts von Steuereinnahmen von rund 680
Milliarden, eher ein geringfügiges Umverteilungsvolumen ist.
Nichtsdestotrotz wird darüber heftig zwischen Geber- und
Nehmerländern gestritten.
KORIOTH ist der Auffassung,
dass ein Verteilungsschlüssel auf Basis der Bevölkerungszahl
angesichts zunehmender regionaler Ungleichheiten nicht mehr
angemessen ist. Wanderungen und Alterungen stellen das System
in Frage. Besser sei deshalb ein Verteilungsschlüssel, der den
demografischen Faktor berücksichtigt. Auch die Frage nach der
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse stellt KORIOTH:
"Wir brauchen (...) eine
Entscheidung darüber welchen Preis wir bei anhaltender
Konzentration von Wirtschafts- und Finanzkraft in den
Ballungsräumen für einheitliche Lebensbedingungen und
einheitliche Infrastrukturangebote auch in der Fläche zu
zahlen bereit sind."
Diese Fragen werden in der
Öffentlichkeit jedoch allenfalls unter demografischen
Gesichtspunkten diskutiert, wobei
Reiner KLINGHOLZ mit seiner Infragestellung des
Verfassungsgebots einheitlicher Lebensbedingungen von den
Mainstreamzeitungen hofiert wird, während alternative Konzepte
entweder gar nicht diskutiert oder von vornherein
disskreditiert werden.
Der Politikwissenschaftler
Christian RADEMACHER hat
im Jahr 2013 mit einer Studie auf den Bedarf einer
Änderung des kommunalen Finanzausgleichs aufgrund der
aktuellen Entwicklungen hingewiesen, denn die Probleme sind
nicht allein auf Länderebene zu lösen, sondern das Geld muss
dort ankommen, wo es benötigt wird, statt nach dem
Matthäusprinzip: Wer hat, dem wird gegeben.
BALZTER, Sebastian (2016): Sex and the City.
Der Sonntagsökonom: Plötzlich
bekommen die Leute in der Großstadt mehr Kinder als auf dem
Dorf. Am Storch liegt das nicht,
in:
Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung v. 12.06.
RICKENS, Christian (2016): Mittendrin.
Bayern:
Der Kreis Miltenberg in
Mainfranken ist laut Prognos Zukunftsatlas die deutsche
Durchschnittsregion schlechthin. Eine Exkursion ins Herzland der
Republik,
in:
Handelsblatt v. 13.06.
Christian
RICKENS will uns eine spannende Geschichte über den
Landkreis mit der beschaulichen Kleinstadt Miltenberg
erzählen:
"Anhand der Daten aus dem
Zukunftsatlas 2016 (...) lassen sich (...) gleich drei Ecken
ausmachen, die als deutsche Durchschnittsregion infrage
kommen: Der Landkreis Broken in Nordrheinwestfalen, der im
gleichen Bundesland gelegene Rhein-Erft-Kreis und
schließlich der Kreis Miltenberg in Mainfranken."
Borken wird jedoch aufgrund
seiner Randlage an der niederländischen Grenze genauso
aussortiert wie der Rhein-Erft-Kreise als Speckgürtel der
Metropole Köln.
Dass der Landrat im Kreis
Miltenberg ein Grüner ist, nur einer von zweien in ganz
Deutschland, und das in einem traditionellen CSU-Kreis, wird
als Sensation hervorgehoben und soll uns die Erosion
traditioneller politischer Milieus belegen:
"Die Erosion der
traditionellen politischen Milieus, von Wahlforschern und
Leitartiklern gerne beschworen, ist tatsächlich weit
fortgeschritten."
Akademiker, die RICKENS als
traditionelles Kernmilieu der Grünen bezeichnet, sind
lediglich 7,1 Prozent der Beschäftigten, der Rest würde
entweder in der Landwirtschaft oder in der Fabrik arbeiten.
Stellt sich erstens die Frage, inwiefern die Einwohner des
Kreises Miltenberg mit den Beschäftigten des Kreises identisch
sind und zweitens inwiefern sich die Wahlbeteiligung der
einzelnen Milieus unterscheidet. Sind also die Zahlen, die uns
RICKENS hier liefert überhaupt aussagekräftig? Und was heißt
überhaupt traditionell bei einer Partei, die gerade eine
Generation lang existiert?
Kurz reißt RICKENS die
Probleme des ländlichen Raums an, bedingt auch wegen dem
"Kuriosenkabinett des deutschen Föderalismus", ohne den
Rückgang der Bevölkerung im Landkreis überhaupt erwähnenswert
zu finden. Stattdessen ein Loblied auf Familienunternehmen als
Zentrum des Modells Deutschlands, das durch eine
"unideologische Politik" gehegt und gepflegt wird. Vor allem
Klingenberg am Main, berüchtigt durch einen Exorzismus-Fall in
den 1970er Jahren, wird als Unternehmensstandort
hervorgehoben.
"Trotz aller
Durchschnittlichkeit ist Miltenberg privilegiert. Hier gibt
es halb so viele Arbeitslose wie im Bundesdurchschnitt,
weniger Kriminalität und weniger Hartz-IV-Empfänger",
erklärt uns RICKENS die
Stärken der Region. Insbesondere dem Weltmarktführer Wika
als Vorzeigeunternehmen der Region gilt das Interesse von
RICKENS Regionenporträts.
BRILL,
Klaus (2016): Wenn nur die Kirche im Dorf bleibt.
Die ländlichen Regionen in
Deutschland verwaisen. Wo Arbeitsplätze fehlen, Geschäfte,
Gaststätten oder Arztpraxen schließen, zieht es nicht nur die
jungen in die großen Städte. Wie lässt sich dieser Trend
aufhalten,
in: Süddeutsche
Zeitung v. 15.06.
Was ist
ein Trend? Antwort: wenn es in den Zeitungen steht! Nach
diesem Motto versuchen die Mainstreammedien seit einiger Zeit
das Bild vom ländlichen Raum im Sinne einer Stadtflucht zu
inszenieren.
"Bisher gibt es nicht
einmal verlässliche Daten darüber, wie der Rückgang der
Bevölkerung und der damit verbundene Zuwachs des Anteils
älterer Bewohner sich etwa in den deutschen Kleinstädten
auswirken",
schreibt Klaus BRILL
anlässlich der Tagung
Grosse Dörfer, kleine Städte. Tatsächlich wird unser
Bild von der deutschen Binnenwanderung in erster Linie von
neoliberalen Privatinstituten wie dem
Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung und
der
Bertelsmann-Stiftung dominiert. Fakten sind nicht die
Sache von BRILL, der uns lediglich spärliche
Informationshappen zukommen lässt:
"Zu beobachten ist eine
neuartige, mikrokosmische Migration, deren
Orientierungspunkt die vorhandenen und nichtvorhandenen
Versorgungseinrichtungen sind",
erzählt uns BRILL und
zitiert die Soziologin Annett STEINFÜHRER mit einem Fazit:
"Was wir aus vielen,
vielen Kleinstädten jetzt hören: dass die Menschen auf
Infrastrukturangebote reagieren".
Angesichts neoliberaler
Städte- und Regionenrankings, die seit Mitte der Nuller Jahre
in immer schnelleren Takten und für immer speziellere
Zielgruppen durchgeführt werden, wäre eine solche Entwicklung
durchaus denkbar. Dennoch erscheint vieles eher Propaganda
statt Wirklichkeit, denn sonst müssten uns doch empirische
Belege, statt nur Beobachtungen von Praktikern, vorgelegt
werden. So wird uns z.B. die folgende Beobachtung der
Bürgermeisterin aus dem bayerischen
Hollfeld bei Bayreuth mitgeteilt:
"In den dörflichen Teilen
Hollfelds - es sind immerhin 19 - hätten bereits viele
Witwen ihre alten Bauerhäuser verkauft und kleinere
Wohnungen im Zentrum bezogen. Trotz Sanierungsmaßnahmen,
Kulturprojekten oder Leerstandsmanagements sei die
Bevölkerungsprognose für Hollfeld vorerst negativ."
Wenn ältere Witwen
innerhalb einer Gemeinde umziehen, wie bitte soll das die
Bevölkerungsprognose beeinflussen, die lediglich Wanderungen
zwischen Gemeinden erfasst?
Da werden schon
Befürchtungen angesichts eines prognostizierten
Bevölkerungsrückgangs ab 2036 geschürt, obwohl wir nach
früheren Bevölkerungsvorausberechnungen schon seit Mitte der
Nuller Jahre mitten in einem Bevölkerungsrückgang stecken
müssten.
Zum Schluss präsentiert uns
BRILL die gängigen neoliberalen "Lösungsansätze":
Unermüdliches bürgerschaftliches Engagement (dazu wird das
fränkische
Langenfeld und ein "Aktivist" bemüht) sowie Lage im
Speckgürtel einer Metropole bzw. eines Ballungsraumes (Pfaffenhofen
an der Ilm, das sich seit 2011 als "lebenswerteste
Kleinstadt der Welt" vermarkten darf).
KERSTING, Silke (2016): Stadt, Land,
Flucht.
Wohnungswirtschaft legt
Zehn-Punkte-Plan vor, um die Verödung ganzer Landstriche zu
stoppen,
in:
Handelsblatt v. 24.06.
Silke
KERSTING berichtet anlässlich des Wohn-Zukunfts-Tags in dieser
Woche über die Empirica-Studie Schwarmstädte in Deutschland
– Ursachen und Nachhaltigkeit der neuen Wanderungsmuster in
Deutschland im Auftrag des Spitzenverbandes der
Wohnungswirtschaft (GdW), die bereits im letzten November
veröffentlicht wurde.
KERSTING beschreibt uns
Halle an der Saale als Blaupause für die Revitalisierung von
Regionen, wie sie der Bundesbauministerin Barbara HENDRICKS
(SPD) vorschwebt.
Die Wohnungswirtschaft
dagegen warnt vor einer Verödung des ländlichen Raums und
einer Überkonzentration in Metropolen und Ballungsräumen.
Mittels eines 10-Punkte-Plans soll die Abwanderung aus
ländlichen Räumen gestoppt werden.
Als einzige Gegenstimme
wird Christian KÜHN ("Grünen-Baupolitiker") zitiert, der eine
neoliberale Konzentrationspolitik damit rechtfertigt, dass es
absurd sei den Flächenverbrauch in schrumpfenden Regionen zu
fördern, statt Ortszentren zu revitalisieren und so vor der
Verödung zu bewahren.
LASCH, Hendrik (2016): Für manche bleibt
nur Sterbehilfe.
Wanderungsbewegung in Sachsen
stärkt nur Großstädte und wenige "versteckte Perlen",
in:
Neues Deutschland v.
24.06.
NEIßE, Wilfried (2016): Zwischen Abriss
und Wohnungsbau.
Brandenburg: In berlinnahen Gemeinden
wächst die Einwohnerzahl, doch die Peripherie dünnt weiter aus,
in:
Neues Deutschland v.
24.06.
HAAK, Sebastian (2016): Was eine
Gebietsreform so bringt.
Rot-Rot-Grün in Thüringen hat
sein wohl ambitioniertestes Projekt in Gang gesetzt - doch kann
man damit sparen?
in:
Neues Deutschland v.
29.06.
LABERENZ, Lennart (2016): Netzland oder
Wattland?
Utopismus: Eine Studie liest
aus den unspektakulären Städten und Regionen der Gegenwart
unsere abenteuerliche Zukunft,
in:
Freitag Nr.26 v.
30.06.
Lennart
LABERERNZ will uns ein Buch über Zukunftsszenarien schmackhaft
machen, die uns 3 unterschiedliche Entwicklungen vorstellen:
Netzland, Integralland, Wattland. Dumm nur, dass diese
ökonomisch-ökologische Entwicklungen fest mit
sozio-demografischen Entwicklungen verkettet werden (vgl.
Judith LEMBKE in der FAS). Dies suggeriert
Alternativlosigkeit. Warum sollte Bevölkerungswachstum bzw.
-schrumpfung nicht mit allen drei ökonomisch-ökologischen
Entwicklungen einhergehen können? Hier werden uns also nicht
alle möglichen Kombinationen vorgestellt, sondern lediglich
normative Konzepte.
Fazit: Bunte Bildchen
brauchen wir nicht, und schon gar nicht vom Umwelt- und
Bauministerium finanziert! Man hätte uns das besser als
PDF-Datei bereitgestellt, statt dafür auch noch 39 Euro zu
verlangen.
GÜLL, Reinhard (2016): Im
Blickpunkt: Die Stadt Furtwangen im Schwarzwald,
in:
Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg, Heft
7
Reinhard GÜLL stellt uns die Baden-Württembergische
Kleinstadt
Furtwangen im Schwarzwald-Baar-Kreis vor, die durch ihre
Hochschule die Stadt mit dem höchsten Studentenanteil in
Deutschland ist, aber nicht einmal einen Bahnanschluss besitzt.
Furtwangen gehört zu den schrumpfenden Gemeinden. Es dominiert
das Produzierende Gewerbe und der Tourismus.
FRITZSCHE, Andreas
(2016): Kreisreform verlässt die Talsohle.
Brandenburg: Die Linke in Cottbus zeigt
sich inzwischen dem Projekt gegenüber wieder aufgeschlossen,
in:
Neues Deutschland v.
01.07.
NEIßE, Wilfried
(2016): Der Speckgürtel könnte dicker sein.
Brandenburg: Wohnungsunternehmen schlagen
vor, aus Fürstenwalde nach Berlin zu pendeln,
in:
Neues Deutschland v.
13.07.
FRITSCHE,
Andreas (2016): Jetzt geht es an die Kreisgrenzen.
Möglichst bis zum Jahresende
soll die neue politische Landkarte Brandenburgs gezeichnet sein,
in:
Neues Deutschland v.
13.07.
NEIßE, Wilfried
(2016): Kommunalreform beschlossen.
Brandenburg: SPD, Linke und Grüne sehen die
Notwendigkeit von Veränderungen,
in:
Neues Deutschland v.
14.07.
DPA/ND (2016): Weimar verhängt
Haushaltssperre.
Thüringischer Stadt droht
Millionen-Defizit - am Nein zur Gebietsreform hält man fest,
in: Neues Deutschland
v. 15.07.
SCHÖNBACH, Miriam (2016): Sieben
Jahre Görlitz-Experiment.
Sachsen: Mit kostenlosem Probewohnen
sollten Neubürger gewonnen werden - der Erfolg ist mäßig,
in:
Neues Deutschland v.
27.07.
FRITSCHE, Andreas (2016): Die verhinderte Großstadt.
ND-Serie Industriestandorte:
Singer-Nähmaschinenwerke machten kleine Orte zu Metropolen - nur
Wittenberge nicht,
in:
Neues Deutschland v. 01.08.
WERNER, Uwe
(2016): Aufbruch am Unteruckersee.
ND-Serie Industriestandorte:
Prenzlau hat endlich sein Potenzial entdeckt,
in:
Neues Deutschland v. 08.08.
EISENRING, Christoph
(2016): In Deutschlands "Schwarmstädten".
Etwa dreissig Wohnorte sind bei
jungen Erwachsenen besonders gefragt,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 09.08.
FREYTAG, Bernd (2016): Alle auf einen
Haufen.
Die Deutschen rotten sich
zusammen - die Jungen in Hochschulstädten, die Alten am Meer.
Darunter leidet nicht nur das flache Land, auch unbeliebte
Städte verarmen,
in:
Frankfurter Allgemeine
Zeitung v. 10.08.
Nachdem
bereits gestern die NZZ
über die Studie Schwarmstädte in
Deutschland von Harald SIMONS & Lukas WEIDEN berichtete,
greift nun Bernd FREYTAG das Thema in der Reihe "Ungleichheit"
ebenfalls auf.
HAHN, Thomas (2016): Von wegen.
Mecklenburg-Vorpommern wirkt
an manchen Stellen wie leergefegt. Der Bürgermeister von
Bollewick hat den Stall ausmisten lassen und wirbt mit der
Stille. Und siehe da: es hilft,
in:
Süddeutsche Zeitung v.
10.08.
Thomas HAHN
berichtet anhand der Dörfer
Bollewick und
Wredenhagen im dünn besiedelten Mecklenburg-Vorpommern über
den demografischen Wandel im ländlichen Raum. Einzig ein Experte
des berüchtigten privaten Berlin-Instituts für Bevölkerung und
Entwicklung wird erwähnt.
NEIßE,
Wilfried (2016): Offerte vom Land an Reformkritiker.
Brandenburg: Finanzrahmen für
Kreisreform vorgestellt - Entschuldungspläne sollen Lasten
mildern,
in:
Neues Deutschland v.
12.08.
KRAUß, Matthias
(2016): Abends gratis ein Feuerwerk.
ND-Serie Industriestandorte:
Hennigsdorf hat sich als Industriestadt bis heute behauptet,
in:
Neues Deutschland v. 16.08.
FABRICIUS, Michael (2016): Berlin ist
out, es lebe die Lausitz.
Geld: Der Immobilienboom
verlagert sich von den Großstädten und ihren Speckgürteln in den
Provinz. Hauskäufer beleben den Markt in den Kleinstädten - und
gehen damit oft erhebliche Risiken ein,
in:
Welt am Sonntag kompakt
v. 21.08.
In der
WamS heißt die Schlagzeile des Artikels:
Häuserjagd in der Provinz.
"Anders als erwartet,
liegen in der Rangliste mit den höchsten Preisanstiegen nun
nicht mehr die Top-Metropolen Berlin, Hamburg oder München
an der Spitze. Sondern Städte wie
Lübbenau im Landkreis Oderspreewald-Lausitz. Oder Eichstätt in Oberbayern. Und
eben Cottbus. Empirica zufolge stiegen die Preise für
aktuelle Kaufangebote in der zweitgrößten Stadt Brandenburgs
binnen zwölf Monaten um stattliche 21 Prozent."
Das
Marktforschungsunternehmen habe den Preisanstieg vom 1.
Halbjahr 2015 bis zum 1. Halbjahr 2016 exklusiv für die
WamS für Wohnungen, Ein- und Zweifamilienhäuser ermittelt.
"Je abgelegener eine
Stadt liegt, desto geringer ist die Chance, später einmal
einen Käufer zu finden, wenn es darauf ankommt",
lautet das momentane
neoliberale Credo. Solche Credos haben meist nur eine kurze
Lebensdauer, denn sie stellen Trends der Vergangenheit dar,
die linear in die Zukunft verlängert werden. Niemand weiß
jedoch wie die Lage in 30 oder gar 50 Jahren aussieht. Selbst
die Demografie hält sich selten an die Annahmen der
Statistiker, die Verhaltensänderungen der Bürger genauso wenig
in Betracht ziehen wie Änderungen des Arbeitsmarktes.
Gegensteuern war einmal der Anspruch von fortschrittlicher
Politik. Der Neoliberalismus predigt dagegen: Laufen lassen,
denn der Markt regelt alles bestens. Der Markt jedoch ist
keine Naturgewalt, sondern die Interessen von Investoren und
Wirtschaft. Deren Interessenlage unterliegt jedoch eher
kurzlebigen als langlebigen Moden. Noch Anfang des
Jahrtausends wurde das Schrumpfen der Großstädte propagiert,
nun will man die Provinz aussterben lassen. Man wird sehen,
was davon in 20, 30 und mehr Jahren übrig bleiben wird. Die
Großstädte könnten z.B. zu unwirtlichen Slums werden, ein
Szenario, das keiner auf dem Schirm hat. Niemand weiß das!
Hinzu kommt: Uns wird
verschwiegen, welche Datenbasis zur Erstellung der Rangliste,
die uns eine Tabelle zeigt, verwendet wurde. Was ist Provinz
und was ist Großstadt und Metropole? Heidelberg z.B. ist eine
Großstadt, wenn man die amtliche Definition einer Großstadt
mit mehr als 100.000 Einwohnern nimmt. Landkreiszahlen und
Zahlen kreisfreier Städte werden zudem miteinander vermischt.
Wurde uns von Ökonomen
meist erklärt, dass Investoren ihr Geld meist rationeller
anlegen als Privatanleger, so erklärt uns FABRICIUS, dass
Selbstnutzer risikoärmer investieren würden als Investoren,
die nicht mehr wüssten wohin mit ihrem Geld.
Teltow im Berliner
Speckgürtel wird uns als schnell wachsende Stadt vorgestellt,
die im Trend liege:
"Aus dem
Urbanisierungstrend wird ein Sub-Urbanisierungstrend."
Dabei streiten
Stadtforscher immer noch darüber, ob es überhaupt eine
Renaissance der Städte gebe. Als C-Städte werden jene
Wohnstandorte von Reiner BRAUN bezeichnet, die uns
umgangssprachlich zur "Provinz" erklärt werden. Aber die
Tabelle beinhaltet auch B-Städte wie Heidelberg. Des Rätsels
Lösung dürften wohl statistische Ausreißer sein:
"Wenn der
Preisdurchschnitt zuletzt sehr niedrig war, genügen wenige
einzelne Kauffälle, um den Schnitt anzuheben."
Eine seriöse Auswertung
sollte solche Ausreißer eigentlich benennen können,
stattdessen werden sie benutzt, um eine reißerische Story
daraus zu stricken!
KLEMT,
Henry-Martin (2016): Was blinkt, verkauft sich besser.
ND-Serie Industriestandorte
(5): Eisenhüttenstadt, das ist EKO-Stahl? Höchste Zeit, sich neu
zu erfinden,
in:
Neues Deutschland v.
22.08.
KUNTZ,
Michael (2016): Umzug ins Ungewisse.
Manche Senioren
suchen im Ruhestand ihr Glück in der Ferne. Sie gehen ins
Ausland oder in Gegenden, wo schon viele Gleichaltrige leben.
Die mobilen Alten - ihre Hoffnungen, ihre Enttäuschungen,
in: Süddeutsche
Zeitung v. 25.08.
ÖFINGER, Hans-Gerd (2016): In 50 Jahren von der Karte getilgt.
Die Stadt Pirmasens gilt als
"Armenhaus" von Rheinland-Pfalz,
in:
Neues Deutschland v. 26.08.
|
Pirmasens,
Foto: Bernd Kittlaus 2018 |
GIERSBERG, Georg (2016):
Ballungszentren verlieren ihre Bedeutung.
Mitarbeiter ziehen wieder auf
das Land. Firmenzentralen verwaisen. Der Grund: Sinkende
Transportkosten,
in:
Frankfurter Allgemeine
Zeitung v. 29.08.
Georg
GIERSBERG ist schockiert über die Ergebnisse der Studie
Spatial Economics: The Declining Cost of Distance der
Managementberatung Bain & Companye.
Diese widersprechen allen linearen Fortschreibungen der
Gegenwart in die Zukunft, die uns fast tagtäglich vorgebetet
werden. Und sie widersprechen den Prophezeiungen von Reiner
KLINGHOLZ vom Aussterben des ländlichen Raums.
GASSER, Florian/HAMANN, Götz/PAUSACKL, Christina/ROHRBECK,
Felix/SCHULZ, Bettina
(2016): Rettet die Provinz!
In ganz Europa werden abgelegene
Landstriche vernachlässigt. Nun ballt sich in den verödeten
Regionen Österreichs, Großbritanniens, Frankreichs und
Deutschlands die Rechte zusammen und fordert die etablierten
Parteien heraus - so wie jetzt bei den Wahlen in
Mecklenburg-Vorpommern,
in:
Die ZEIT Nr.37 v. 01.09.
Die Wochenzeitung für die
großstädtische Mittelschicht entdeckt nun im Wahlkampfmodus die
Provinz! Bislang sorgte sie sich nur um die Renaissance der
Großstädte und forderte die Abschaffung der Gleichwertigkeit der
Lebensverhältnisse. Das Berlin-Institut forderte gar unverfroren
die Aufgabe von Dörfern, weil sich diese aus neoliberaler Sicht
nicht mehr rentieren würde. Man solle die Bewohner lieber
deportieren. Natürlich wurde das schönfärberisch dargestellt.
Die AfD hat nun das geschafft,
was ohne sie nie möglich gewesen wäre. Die ZEIT entdeckt
die Provinz, zumindest bis der Landtagswahlkampf am Sonntag
überstanden ist.
"Die Geschichte vom
schrumpfenden Osten ist oft erzählt worden, als Folge der Wende
und des Zusammenbruchs der alten DDR-Industrie, als historischer
Sonderfall eben. Aber inzwischen stellt sich heraus: Es ist kein
Sonderfall.
Landflucht ist ein europäisches Phänomen",
verharmlosen GASSER u.a. das
Problem, indem sie es relativieren und verzerren:
"Ganze Landstriche entleeren
sich. Junge ziehen fort - und sogar Rentner wandern in die Stadt
ab: Ein Bevölkerungsminus von bis zu 20 Prozent muss die Gegend
rund um den Harz aushalten, dei Pfalz, die Rhön, das
Fichtelgebirge und den Hundsrück, in Mittel- und Nordhessen -
und natürlich in Ostdeutschland. Aber selbst in
Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, den
bevölkerungsreichsten Bundesländern, schrumpfen mehrere Kreise.
Im Kleinen ist dort zu erkennen, was sich im Großen
zusammenballt."
Das Ruhrgebiet galt bereits im
Westdeutschland der 1980er Jahre als schrumpfende Region und die westdeutsche Stadtforschung entdeckte schrumpfende Städte als
Problem. Nur wurde das damals nicht als demografischer Wandel,
sondern als struktureller Wandel und seine verheerenden Folgen
beschrieben. Die Demografisierung gesellschaftlicher Probleme
führt nun dazu, dass Schrumpfen auf Demografie reduziert wird,
obwohl es weiterhin in erster Linie auf verfehlte
Wirtschaftspolitik zurückzuführen ist. Nicht mehr Gegensteuern zu
Fehlentwicklungen, sondern Beschleunigen der Fehlentwicklung in
strukturschwachen Gebieten heißt heute das Motto des
Neoliberalismus.
Die Rentner sollen gefälligst
die Provinz retten, statt sich in die Stadt abzusetzen (was die
Autoren nicht einmal belegen!). Rentner wird inzwischen
unverhohlen empfohlen sich ihren Wohnsitz in Gegenden mit
niedrigen Lebenshaltungskosten zu suchen. Die gegenwärtige
Rentendebatte befördert solche Lösungsvorschläge durch die
neoliberale Preisgabe des Ziels einer lebensstandardsichernden
gesetzliche Rente seit der Riester-Reform im Jahr 2001.
"Die politischen Folgen wird
man bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern sehen - und
einen Monat später in Österreich. Die abgehängten Regionen
driften nach rechts",
belehren uns die Autoren. Wo
bitte war die ZEIT zur Jahrtausendwende, als diese
Entwicklungen bereits eingeleitet wurden? Jetzt nachdem die
neoliberale Demografisierung gesellschaftlicher Probleme ihre
sichtbaren Ergebnisse zeitigt, ist das Heulen nur noch verlogen!
Jetzt werden uns die Schuldenböcke dieser Misere folgendermaßen
präsentiert:
"22 Milliarden Euro, die Zahl
hat das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft in
Köln in die Welt gesetzt als Antwort auf die Frage, wie viel der
Staat 2016 für Flüchtlinge ausgeben muss. Es war eine Schätzung.
Aber seither entfaltet die Zahl ihre Wirkung, weil Menschen,
auch in Adamshoffnung, sie mit den Beobachtungen aus ihrem
Alltag vergleichen. (...).
Adamshoffnung liegt in Mecklenburg-Vorpommern, einem der ärmsten
Bundesländer, seit Jahren wird an öffentlichen Leistungen im
Landkreis gespart. Der Bus? Fährt nur noch für Schüler. Die
Südbahn? Teilweise stillgelegt. Die Reparatur am Dach der
Kindertagsstätte frisst den Jahresetat der Gemeinde. In
Adamshoffnung hatte sie sich arrangiert - bis diese 22
Milliarden Euro auftauchten."
Die Steigerung von
Mecklenburg-Vorpommern heißt Österreich, erklären uns die Autoren.
Österreich nicht der Neoliberalismus und seine Kollateralschäden
wird uns als Horrorszenario präsentiert:
"die heutige Abwanderung ist
folgenreicher, sie ist fatal, weil es die jungen Frauen sind,
die aufbrechen. Landflucht in Österreich ist weiblich, und
zurück bleiben die Dörfer, in denen bis zu 40 Prozent mehr
Männer als Frauen im Alter zwischen 20 bis 29 Prozent leben.
Männer, die nur schwer eine Partnerin finden."
Man könnte das als Variante der
seit Jahren bei neoliberalen Journalisten zunehmend beliebteren
youth bulge-These betrachten, die in Deutschland mit dem Namen
Gunnar HEINSOHN verknüpft ist. Es mag eine Ironie des Schicksals
sein, dass HEINSOHN damit an seine - mittlerweile als falsch
erwiesene, aber äußerst populären Hexenverfolgungs-These anknüpfen
kann. In gewisser Weise erfüllt die youth bulge-These geradezu die
gleiche Funktion wie die Hexenverfolgungs-These. Nur dass die
Opferrolle von den Frauen zu den Männern übergegangen ist, genauso
wie der Zeitgeist nicht mehr auf Emanzipation, sondern auf
Antifeminismus gedreht ist. HEINSOHN ist eine Art Trüffelschwein,
wenn es um solche Zeitgeistmoden geht.
Leider bleibt der Artikel
folgenlos. Er ist Wohlfühlpalaver für unsere Elite, die sich im
Selbstmitleid suhlen darf. Jedes Phänomen, das ihre Ruhe stört und
sie aus ihren bequemen Schreibtischstühlen aufschreckt, kann
entweder den Alten oder den Rechten zugeschrieben werden. Damit
kann ruhigen Gewissen der Neoliberalismus weiter bis zum Exzess
praktiziert werden. Umdenken? Wir doch nicht! Oder doch?
"Doch ein Grund wurde
hartnäckig übersehen, vielleicht weil diejenigen, die öffentlich
darüber reden, ihn nicht sehen wollen, nicht sehen können - denn
sie leben in der Stadt.
Die Menschen in der Provinz abzuhängen ist demografiegefährdent.
Wer diesen Prozess beschleunigt, für den wird es
brandgefährlich",
erklären uns die Autoren, als
ob eine solche Erkenntnis plötzlich vom Himmel gefallen wäre!
Tatsächlich diskutiert die Demokratiegefährdung durch die
Stadt-Landunterschiede bereits im Jahr 2012 das Buch
Demografie und Demokratie - und zwar auf ganz fatale
Weise. Die Autoren wollen nun vorschlagen Provinzpolitik als
Rhetorikwechsel zu veranstalten:
"Stünde die Provinz (...)
weniger fürs Abgehängtsein als für Freiheit, das wäre etwas".
Die Umdefinition von
Abgehängtsein in Freiheit! Darauf muss man erst einmal kommen.
Dass der Staat die Haushaltsmehreinnahmen für Investitionen in als
aussterbende Dörfer bezeichnete Gegenden steckt, das ist wohl mehr
als unwahrscheinlich. Mehr als Sonntagsreden wie dieser Artikel
wird es nicht geben. Oder würden die Hamburger dafür auf ihren
Wohlstand verzichten, um ihn mit schrumpfenden Dörfern zu teilen?
Wie wäre es, wenn die ZEIT ihre Redaktion nach
Mecklenburg-Vorpommern verlegen würde? Sie könnte sich dann als
Vorbild der "Landlust-Elite" präsentieren. Ab nach
Adamshoffnung.
ACKERET, Markus
(2016): Politik im luftleeren Raum.
In Mecklenburg-Vorpommern
dreht sich der Wahlkampf um die Flüchtlingspolitik und den
Vertrauensverlust der Bürger,
in:
Neue Zürcher Zeitung
v. 02.09.
"Kurz vor dem Wahltag an
diesem Sonntag zeigen neueste Umfragen die AfD mit 23
Prozent an zweiter Stelle, hinter der SPD (28 Prozent) und
vor der CDU (20 Prozent). Für Caffier, aber auch für die
gesamte Bundespartei und Merkel wäre das ein Desaster. Die
Linkspartei würde ebenfalls verlieren. Sollte es nicht mehr
zur grossen Koalition reichen, käme sie aber vielleicht doch
zum Zug",
erklärt uns Markus ACKERET
die Verhältnisse in Mecklenburg-Vorpommern, wo gerade einmal
rund 1,6 Millionen Bürger leben.
OCHS, Birgit (2016): Zufluchtsort Land?
Deutschland ist ein
Musterbeispiel für ein durchs Stadtleben geprägtes Land,
in:
Frankfurter Allgemeine
Zeitung v. 12.09.
PERGANDE, Frank
(2016): Schuld ist die Demographie.
Beispiel
Mecklenburg-Vorpommern: Wie Bevölkerungsschwund zu
Politikverdrossenheit führt,
in:
Frankfurter Allgemeine
Zeitung v. 12.09.
Frank PERGANDE verteidigt die
neoliberale Politik, die den ländlichen Raum veröden lässt statt
gegenzusteuern. Nicht die Demographie ist das Problem, sondern
die neoliberale Standortpolitik. Inzwischen zeigen sich die
fatalen Folgen auch in den Metropolen, was bei Birgit OCHS
nachzulesen ist. Stattdessen singt PERGANDE ein Loblied auf die
Austeritätspolitik. Die Menschen sind für PERGANDE einfach nur
zu dumm, um die Vorteile dieser Politik zu begreifen, weshalb er
ihnen mehr politische Bildung verabreichen will.
MÜLLER, Benedikt
(2016): Wo
der Boom nur ein Traum ist.
Regierungsforscher warnen vor
einem Verfall der Hauspreise auf dem Land. Bundesweit stehen
mehr Wohnungen leer,
in:
Süddeutsche
Zeitung v. 14.09.
HENKEL, Gerhard
(2016): Rettet das Dorf!
Was jetzt zu tun ist, München: Dtv Verlag
HÖLL,
Susanne (2016): Bleibt bei uns!
Hessen: Willkommen im hessischen
Landreis Werra-Meißner, in einer Region mitten in Deutschland,
die ums Überleben kämpft. Niedrige Löhne und leere
Gemeindekassen prägen das Bild. Die Jungen suchen ihr Glück
anderswo, zurückbleiben die Alten - und mutige Menschen, die
sich selbständig machen,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 24.09.
LOCKE, Stefan (2016): Wie man Bürger gegen
sich aufbringt.
Gebietsreformen bringen kaum
Einsparungen, sind aber mit hohen politischen Kosten verbunden,
in:
Frankfurter Allgemeine
Zeitung v. 28.09.
Stefan
LOCKE präsentiert eine Studie von Felix RÖSEL vom Dresdner
Ifo-Institut, die in Gebietsreformen kein Mittel der
Kostenreduzierung sieht, sondern hohe politische Kosten.
"In ganz Ostdeutschland
gibt es von einest 215 Landkreisen und kreisfreien Städten
nach zahlreichen Gebietsreformen heute noch 76. (...). Von
im Jahr 1990 knapp 8000 selbständigen Städten und Gemeinden
im Osten sind heute noch gut 2000 übrig, die meisten davon
in Thüringen (849) und Brandenburg (417), wo derzeit
ebenfalls heftig über eine deutliche Verringerung der
Gemeinden und Kreise gestritten wird",
erläutert LOCKE die
Situation in Ostdeutschland. Diesen Gebietsreformen schreibt
LOCKE die Politikverdrossenheit der Ostdeutschen und den
Zulauf zur AfD zu.
HAAK,
Sebastian (2016): Suhl will Rekordsumme vom Land.
Noch nie hat eine Thüringer
Kommune 17 Millionen Euro als Bedarfszuweisung vom Land erbeten
oder gar erhalten,
in:
Neues Deutschland v.
28.09.
LEITHOLD, Iris (2016): Die Familie und
das liebe Geld.
In Mecklenburg-Vorpommern gibt
es die erfolgreiche Gemeinde-Klage gegen die Kreisumlage,
in:
Neues Deutschland v.
29.09.
Bericht über
die Klage der Gemeinde
Perlin mit 386 Einwohnern im Landkreis Nordwestmecklenburg
gegen die Kreisumlage.
MAYR, Markus (2016): Es lebe das Land.
Bayern: Niedrige Mieten, keine Staus
und Natur vor der Tür: Immer mehr Menschen kehren den Metropolen
den Rücken. Marktredwitz in der Oberpfalz hat nach schweren
Jahren so den Umschwung geschafft,
in:
Süddeutsche Zeitung v.
01.10.
"Der
Niedergang von Marktredwitz, einer Kleinstadt im
Fichtelgebirge ist endlich gestoppt. Nach der Grenzöffnung
war in den Neunzigerjahren die heimische Textilindustrie
mitsamt Tausender Arbeitsplätze nach Osten verschwunden,
zurück blieben Brachen und leere Häuser. Doch seit zwei
Jahren hat sich der Trend umgekehrt. Marktredwitz wächst
wieder, die Zahl der Arbeitsplätze steigt",
erklärt uns Markus MAYR,
der ein Loblied auf die neue Landlust singt.
"Würzburg zum Beispiel
ist tatsächlich geschrumpft. In den vergangenen fünf Jahren
hat die Großstadt beinahe 20.000 Einwohner verloren, fast
sieben Prozent",
behauptet MAYR, der ganz
offensichtlich die Zensusberichtigung 2011, bei der die
Einwohnerzahl von
Würzburg um 9.500 Einwohner nach unten korrigiert wurde,
mit dem realen Wanderungsgeschehen vermengt hat. Lediglich im
Jahr 2014 hat die Stadt ca. 500 Einwohner verloren, im Jahr
2015 ist die Zahl jedoch um ca. 3.000 auf
127.243 Einwohner gestiegen. Von einer Qualitätszeitung
müsste man eine bessere Recherche erwarten können.
FRITSCHE, Andreas (2016): Über eine
Landkarte gebeugt.
Brandenburg: Opposition und
Oberbürgermeister kritisieren Entwurf für Neuzuschnitt der
Landkreise,
in:
Neues Deutschland v.
07.10.
"Brandenburg will (...) von 18 auf neun Landkreise
heruntergehen und von vier kreisfreien Städten auf nur noch
eine, nämlich Potsdam",
berichtet
Andreas
FRITSCHE über die Vorstellungen der Landesregierung zur
geplanten Gebietsreform in Brandenburg. Vor allem die CDU
wendet sich gegen die Reform von SPD und Linkspartei.
WEBER, Hannes (2016): Demographie als
Problem - und als Lösung.
Seit mehr als vierzig Jahren
ist die Geburtenrate in Deutschland eine der niedrigsten der
Welt. da liegt es nahe, die vermeintlich negative
Bevölkerungsentwicklung zum Sündenbock für dieses und jenes zu
machen: Von der Verödung ländlicher Räume über die Rentenpolitik
bis zum Mangel an Fachkräften und zur Notwendigkeit von
Einwanderung - für alles muss die Demographie herhalten. Ein
großer Irrtum,
in:
Frankfurter Allgemeine
Zeitung v. 10.10.
HAAK,
Sebastian (2016): Nur noch halb so viele Landkreise.
Thüringens Innenminister legt
Gebietsreform-Plan vor - Änderung nahezu ausgeschlossen,
in:
Neues Deutschland v. 12.10.
FABRICIUS, Michael (2016): Immobilienboom
erreicht die ostdeutsche Provinz.
Investoren haben plötzlich
Städte wie Freiberg oder Nauen auf dem Radar,
in:
Welt v. 13.10.
Anlässlich
des
Wohnungsmarktbericht Ostdeutschland 2016 eines
Immobilienunternehmens berichtet Michael FABRICIUS unkritisch
über deren Sichtweise.
Lediglich
27 ostdeutsche Groß- und Mittelstädte wurden überhaupt
betrachtet. Der Begriff "Mittelstadt" wird nicht definiert.
Nimmt man die Wikipedia-Definition von 20.000 bis 100.000
Einwohner, dann gab es
2015 in Ostdeutschland neben 9 Großstädten allein 96
Mittelstädte. Der Wohnungsmarktbericht umfasst also
lediglich ca. 20 % der Mittelstädte in Ostdeutschland. Das
Auswahlkriterium "Interesse" deutet darauf hin, dass die
Auswahl nicht repräsentativ für Ostdeutschland ist, sondern
die Selektivität der Immobilienfirma widerspiegelt.
Als
Investoreninteresse - was wohl mit dem Auswahlkriterium
weitgehend identisch ist - werden uns von FABRICIUS folgende
vier Faktoren genannt:
1) Starke Erhöhung der Kaufpreise
2) Hohe Renditen
3) Kein Einwohnerrückgang in den letzten Jahren
4) Verbesserung der Arbeitsmarktlage und damit Anstieg der
Kaufkraft
WIETERSHEIM, Stefanie von, (2016):
Das Schwein, der Mercedes und die Kultur.
Niedersachsen: Das Landleben hat mit der
Landlust der Städter nichts zu tun. Ein Besuch im Vorharz,
in:
Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung v. 16.10.
Stefanie
von WIETERSHEIM macht PR für ihren Wohnort: das
niedersächsische Liebenburg:
"Ein 2000-Einwohner-Dorf
am Rande des Nordharzes, Landkreis Goslar. Der hat in den
vergangenen Jahren kontinuierlich an Einwohnern verloren.
Die Statistiker rechnen mit einem Minus von 8,8 Prozent in
den Jahren 2007 bis 2020. Allein Liebenburg wird bis zum
Jahr 2017 sogar 12 Prozent seiner Einwohner einbüßen. Auch
hier stimmt, was Forscher vom Bundsinstitut für Bau-, Stadt-
und Raumforschung unlängst feststellten: Überall auf dem
Land fallen die Hauspreise, die Kluft zur Stadt wird immer
größer. Große oder sanierungsbedürftige Häuser finden nur
scher Käufer, auch wenn das lange so reiche Wolfsburg nur 65
Kilometer, Braunschweig 35 Kilometer und Wolfenbüttel nur 25
Kilometer entfernt liegen.
Dabei hat Liebenburg im Vergleich zu anderen Dörfern einiges
zu bieten: Kindergarten, Grundschule, Oberschule, Freibad,
Sportverein."
Liebenburg ist jedoch nicht
nur ein 2000-Einwohner-Dorf, sondern Teil der Gemeinde
Liebenburg mit ca. 8.000 Einwohnern, was uns WIETERSHEIM
jedoch verschweigt.
CHILLA, Tobias/KÜHNE, Olaf/NEUFELD,
Markus (2016): Regionalentwicklung, UTB
CHILLA/KÜHNE/NEUFELD
präsentieren folgendes Indikatorensystem, mit dem die
Lebensverhältnisse von Regionen betrachtet werden kann:
Dimensionen |
Indikatoren |
Demographie |
-
Bevölkerungsentwicklung (%)
- Lebenserwartung der Männer (Jahre)
- unter 15-Jährige (% der Gesamtbevölkerung) |
Wirtschaft |
- BIP
(je Erwerbstätigen)
- Beschäftigte in wissensintensiven Dienstleistungen (%)
- FuE-Beschäftigte (%) |
Arbeitsmarkt |
-
Arbeitslosenquote (%)
- Pendeldistanz vom Wohnort zur Arbeitsstätte (Minuten)
- Erwerbstätigenbesatz (Erwerbstätige am Arbeitsort in
Relation zur Einwohnerzahl zwischen 15 bis unter 65
Jahren)
- Ausbildungsplatzquote (Relation von Ausbildungsplätzen
zu Bewerbern) |
Wohlstand |
-
Schuldenquote von Privatpersonen (%)
- unter 15-jährige, die in Bedarfsgemeinschaften leben (%)
- verfügbares Pro-Kopf-Einkommen (Euro)
- Langzeitarbeitslose im Verhältnis zu allen Arbeitslosen
(%) |
Infrastruktur |
-
Einwohnerdichte (Einwohner/Quadratkilometer)
- Pkw-Reisezeit zu Ober- und Mittelzentrum (Minuten)
- Soziale Infrasturktur:
- Plätze in
Kinderbetreuungseinrichtungen
- Ärzte-Einwohner-Relation
- Betten für stationäre Pflege (je Einwohner über 65
Jahren)
- Grundschulnetzdichte (Grundschulen/Quadratkilometer)
- Technische
Infrastruktur:
- Erreichbarkeit
von Autobahnen, Fernverkehrsanschlüssen, Flughäfen
(Pkw-Reisezeit in Minuten)
- Breitbandversorgung (% der Haushalte)
|
Wohnungsmarkt |
-
Hauspreis-Einkommensrelation für Standard-Familienhäuser
- Leerstandsquote (%) |
Rupert KAWKA hat
2015 in seinem Aufsatz Gleichwertigkeit messen ein
Indikatorensystem entwickelt, das
Mindeststandards zur Bewertung der Gleichwertigkeit der
Lebensverhältnisse enthält und damit über diese Auflistung
hinausgeht. Es werden zudem andere Schwerpunkte gesetzt.
Die Autoren schränken zudem
den Begriff "demographischer Wandel" auf seine angeblichen
Problemdimensionen Alterung, Bevölkerungsrückgang und
Heterogenisierung der Haushaltsstruktur ein (vgl. 2016,
S.207ff.). Demografischer Wandel bezeichnet jedoch jegliche
Änderung der Bevölkerungszusammensetzung und nicht nur jene
Aspekte, die derzeit als Problem betrachtet werden. Dadurch wird
das Potenzial des Begriffs auf eine normative Sicht
eingeschränkt, statt das empirische Potenzial auszunutzen. In
diesem Sinne kritisiert der Politikwissenschaftler
Christian RADEMACHER den Begriff "Demographischer Wandel" zu
Recht als politische Ideologie.
MORGENSTERN,
Tomas (2016): Unmut über Fusionspläne im Speckgürtel.
Brandenburg: Im Streit um die
Kreisgebietsreform verteidigt der Landkreis Dahme-Spreewald den
Wunsch nach Eigenständigkeit,
in:
Neues Deutschland v.
20.10.
LOBENSTEIN, Caterina (2016): Der Zug ist
abgefahren.
Deutschlands teuerste Bahnstrecke
wird nach 25 Jahren fertig. Sie sollte das Land einen - und hat es
geteilt,
in:
Die ZEIT Nr.44 v. 20.10.
Caterina LOBENSTEIN, Jahrgang 1983, klagt uns,
dass Deutschland durch die Deutsche Bahn zweigeteilt ist in
Großstadtmenschen, die immer schneller vorankommen und "große Teile
der Provinz", die sich völlig abgehängt fühlen. Wer diese
Entwicklung jetzt erst kritisiert, der muss wohl die letzten 20
Jahre im Tiefschlaf verbracht haben. Diese Zweiteilung ist keine
Neuigkeit, sondern Folge der missglückten Bahnprivatisierung.
"Um München und Berlin in
Rekordzeit zu verbinden, werden etwa die thüringischen Städte Weimar
und Jena vom Fernverkehr abgeknapst. Keine schrumpfenden Käffer,
sondern wichtige Zentren des Ostens, in denen Bevölkerung und
Wirtschaft wachsen. Sie gehören demnächst zu jenen mittelgroßen
Städten, in denen fast nur Bummelzüge halten. So wie Chemnitz
(250.000 Einwohner), Krefeld (220.000) oder Zwickau (100.000)",
jammert uns LOBENSTEIN vor, die offenbar nicht
weiß, wovon sie redet, denn Großstädte sind Städte über 100.000
Einwohner, während in Mittelstädten zwischen 20.000 und 100.000
Einwohner leben. Nach dieser Klassifikation wäre lediglich Weimar
eine Mittelstadt und damit Provinz. Dass die Bahn dagegen
Millionenstädte bevorzugt, hat auch mit dem Neoliberalismus und
dessen Standortideologie zu tun.
Gäbe es die AfD nicht, der ZEIT wäre das
offenbar völlig egal, so muss man den Artikel interpretieren. Die
AfD darf sich also für die Hilfe dieses Blattes bedanken, das sie
derart hofiert und noch zu mehr Aufmerksamkeit verhilft. Es ist noch
nicht lange her, da tönte es ganz anders. Reiner KLINGHOLZ und sein
Privatinstitut forderten die Dörfer aktiv beim Veröden zu
unterstützen. Claudia NEU, die uns als Erfinderin des Begriffs
"territoriale Ungleichheit" präsentiert wird, gehört zu
jenen, die diese Ungleichheit mittels Demografisierung
gesellschaftlicher Probleme noch weiter befördern wollen.
Jeden Bahnfahrer wird es grausen,
wenn uns die Autorin erklärt, dass die Bahn mit "besser getakteten
Anschlüssen" die Strecken beschleunigen will. Kürzere Umsteigezeiten
führen bei den krassen Bahnverspätungen dazu, dass noch mehr
Bahnreisende jenseits der Großstädte, die durch Direktverbindungen
verknüpft sind, länger unterwegs sein werden.
Fazit: Ohne AfD - und das ist das
wahre Problem dieser Art von Neuorientierung der politischen
Rhetorik - gäbe es diesen Artikel nicht. Und das sollte zu denken
geben!
NEIßE,
Wilfried (2016): Kreisreformgegner formieren sich.
Brandenburg: Mit einer Volksinitiative
wollen Oppositionspolitiker das rot-rote Reformprojekt stoppen,
in:
Neues Deutschland v.
21.10.
RUSSEW, Georg-Stefan &
Winfried WAGNER
(2016): Leben in Deutschland, arbeiten in Polen.
Brandenburg: Das Uckermark-Dörfchen
Mescherin ist auf ganz besondere Weise mit dem Nachbarland
verbunden - jeder fünfte Bewohner stammt von dort,
in:
Neues Deutschland v.
25.10.
STAHL, Antje
(2016): Schaut auf dieses Dorf!
Bayern: Alle reden über die Stadt,
dabei entscheidet sich unsere Zukunft auch auf dem Land: Zum
Beispiel in Gundelsheim,
in:
Frankfurter Allgemeine
Zeitung
v. 02.11.
Antje STAHL
präsentiert uns Gundelsheim als bayerisches Leuchtturmprojekt,
das mit dem Sonderprogramm Leerstand nutzen - Lebensraum
schaffen großzügig gesponsert wird. Solche Symbolpolitik
- mehr kann ein solches überteuertes Projekt nicht sein -
schafft in erster Linie Neid. Denn Leuchtturmprojekte dienen
nicht der Bewältigung von Problemen, sondern sind Statussymbole,
die Probleme nur vergrößern. Andere Dörfer dürfen sich zu Recht
benachteiligt fühlen, weil sie nicht auf die gleiche
Großzügigkeit der Förderung hoffen dürfen. Die Absurdität, einen
Stararchitekten für die Neugestaltung einer ehemaligen
Schleckerfiliale zu gewinnen, als ob nun jedes Dorf seine
Elbphilharmonie bekommen könnte, zeigt wie unsensibel unsere
Eliten inzwischen geworden sind.
NEIßE,
Wilfried (2016): "Scheitern der Länderfusion ist kein
Menetekel".
Brandenburg: Linke und SPD halten geplante
Kreisreform für realisierbar - Gegner wollen Projekt mit
Volksinitiative stoppen,
in:
Neues Deutschland v.
02.11.
METZNER, Thorsten
(2016): Brandenburgs Karte wird neu gemischt.
Aus 18 sollen zehn Landkreise
werden: Nun werden Unterschriften gegen die Kreisreform
gesammelt,
in:
Tagesspiegel v. 02.11.
HENKEL, Gerhard (2016): Geschichte und Gegenwart des Dorfes,
in:
Aus Politik und Zeitgeschichte
Nr.46-47 v. 14.11.
Gerhard HENKEL kritisiert
die deutsche Regionalpolitik als Zerstörung der lokalen
Selbstbestimmung:
"Vor allem mit den
kommunalen Gebietsreformen von 1965 bis 1975 und teilweise
auch in den neuen Ländern ab 1990 wurde das
Zentrale-Orte-Konzept in die Praxis umgesetzt. Durch
gesetzlich festgelegte Eingemeindungen in neue Großgemeinden
verloren die weitaus meisten deutschen Dörfer ihre lokale
Selbstbestimmung, das heißt ihren Bürgermeister und
Gemeinderat. Über 300.000 ehrenamtlich tätige
Kommunalpolitiker wurden auf dem Land »beseitigt« und gingen
damit den Dörfern auf Dauer verloren. Dies zeigt den großen
Demokratie- und Kompetenzverlust durch die kommunalen
Gebietsreformen auf dem Land. Im Schul-, Polizei-, Post- und
Bahnbereich folgten Reformen nach den gleichen Prinzipien
mit dem Ergebnis, dass in Jahrzehnten aufgebaute und
funktionsfähige Einrichtungen in Dörfern und Kleinstädten
beseitigt wurden. Das Zentrale-Orte-Muster wurde zu einer
Politik der Zuordnungen, der Normsetzungen, der
Fernsteuerung, generell einer demokratiefeindlichen Politik
von oben nach unten."
NEU, Claudia (2016): Neue Ländlichkeit. Eine kritische
Betrachtung,
in:
Aus Politik und
Zeitgeschichte Nr.46-47 v. 14.11.
"Die Gleichwertigkeit der
Lebensverhältnisse ist aufgegeben – entgegen anderslautender
politischer Beschwörungen. Die Solidarität zwischen
prosperierenden Metropolen und darniederliegenden Regionen
sinkt. Entlegene ländliche Räume werden ihrem Schicksal
überlassen. Und die Kanzlerin lässt das »gute Leben« suchen.
Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr, dass der
allmähliche Abbau von Infrastrukturen, die schleichende
Akzeptanz von Versorgungsengpässen oder die Abwertung des
öffentlichen Raums zu regionalen und kulturellen Eigenheiten
umgedeutet werden. Verödete Räume werden in Kreativzonen
umbenannt, Raumpioniere sollen sterbenden Dörfern neues
Leben einhauchen, Dorfläden und Bürgerbusse müssen lokale
Defizite ausgleichen. Die soziale Frage nach Gleichheit und
Zusammenhalt wird auf der Suche nach dem »guten Leben«
emotional individualisiert. Diese Fragmentierung der
sozialen Frage in Teilaspekte des »guten Lebens«, in private
oder regionale Wohlfühlfaktoren, ist insofern
besorgniserregend, da der Wert der gleichen
Lebensverhältnisse ein zentrales, normatives und
strukturelles Prinzip des sozialen Rechtsstaates der
demokratischen Wohlfahrtsgesellschaft und des sozialen
Zusammenhalts repräsentiert. Es reicht nicht, dass urbane
Mittelschichten sich mithilfe von Bastelbögen,
Strickanleitung und Tomatensamen das Dorf in die Stadt
holen, während andernorts Dörfer veröden",
kritisiert Claudia NEU. Sie
sieht in Begriffen wie sorgender Gemeinschaft ("caring
communities") einen Rückzug des Wohlfahrtsstaates aus der
Fläche:
"Mit dem Rückzug des
Wohlfahrtsstaates aus einzelnen Bereichen der
Daseinsvorsorge, besonders aber aus der Fläche, geht eine
verstärkte Suche nach Kooperationspartnern und Allianzen mit
Unternehmen und Bürgern einher. Gerade in ländlichen Räumen
wird gerne an die »ureigenen Kräfte« wie Nachbarschaftshilfe
und bürgerschaftliches Engagement appelliert, um die Bürger
auf ihre neuen »Aufgaben«, wie etwa die Unterstützung von
pflegebedürftigen Nachbarn, vorzubereiten. Die heimeligen
Begriffe »Nachbarschaftshilfe«, »Solidarität« und
»Gemeinschaft« verschleiern aber letztlich nur, dass die
Kosten für die wegbrechenden sozialen und kulturellen
Daseinsvorsorgeleistungen mehr und mehr privatisiert werden,
während die Anforderungen an die individuellen
Bewältigungskompetenzen steigen. War es ein
wohlfahrtstaatlicher Gewinn, dass im Notfall Hilfe- und
Unterstützungsleistungen zuverlässig zu erwarten waren, so
schwindet diese Sicherheit mehr und mehr. Mit dem Hinweis
auf das genuin Dörfliche wird Solidarität re-familialisiert
und mithin wieder Angelegenheit lieber Verwandter und
wohlmeinender Nachbarn."
Tatsächlich triefen die
Artikeln in Mainstreamzeitungen dieses Jahrtausends von einer
Anrufung der Zivilgesellschaft bzw. Familie als letztem
Strohhalm zur Rettung vor Verödung und Überalterung. Hardliner
wie Reiner KLINGHOLZ predigen sogar die Beschleunigung der
Aufgabe von Dörfern und Landstrichen, wenn sie nicht als Made
im Speck der Ballungsgebiete gelegen sind, sondern bereits per
neoliberaler Politik abgehängt worden sind. Als Ko-Autorin des
Buchs
Demografie und Demokratie hat Claudia NEU selber an
dieser Demografisierung gesellschaftlicher Probleme und der
Spaltung unserer Gesellschaft mitgewirkt.
Nicht die Demografie ist
unser Problem, sondern die neoliberale Politik der
Marktabsicherung, die bestehende Ungleichheiten zusätzlich
verschärft und dann die Folgen der Demografie zuschreibt. In
dieser Sicht werden Bevölkerungsgruppen gegeneinander
ausgespielt. Die Probleme unserer Klassengesellschaft, in der
sich die obere Mittelschicht mit der Oberschicht zu Lasten der
restlichen Gesellschaft verbündet hat, werden zu einem
Generationenkrieg und einem demografiebedingten Sachzwang
stilisiert. Die dahinter stehenden Interessen des
Establishments können damit gut ausgeblendet werden.
BEEGER, Britta
(2016):
Städter besonders von Armut bedroht.
Das Ost-West-Gefälle schrumpft
hingegen, wenn man die unterschiedlichen Preisniveaus
berücksichtigt, zeigt eine neue Studie,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung
v. 06.12.
Bericht über die
Pressemitteilung
Auf die Preise kommt es an des IW Köln.
RITZER, Uwe
(2016): Reicher Süden, armer Osten.
Eine Kaufkraft-Studie zeigt,
dass ein Starnberger im Schnitt fast doppelt so viel Geld zur
Verfügung hat wie ein Görlitzer,
in: Süddeutsche
Zeitung
v. 07.12.
Uwe RITZER verbreitet die
PR eines kriselnden Marktforschungsinstituts. Eine
kritische - aber unzutreffende - Anmerkung folgt ganz zum
Schluss:
"Die durchschnittliche
Kaufkraft einer Region sagt alleine noch nichts über die
Schere von Arm und Reich aus. Anders formuliert: Auch in
Starnberg leben arme Menschen. Nur eben weniger."
Dies aber muss nicht
stimmen. Die Marktforscher rechnen mit Durchschnittseinkommen
statt mit Medianeinkommen, die in der Regel niedriger sind,
weil sie nicht durch sehr hohe Einkommen verzerrt werden
können. Wenn am Starnberger See eine hohe Millionärsdichte
herrscht, dann könnten dort viele Arme leben - sogar mehr als
in anderen kaufkraftstarken Regionen, in denen die Kaufkraft
jedoch gleichmäßiger verteilt ist.
HOFFMANN, Catherine
(2016):
Stadt, Land, Kluft.
Regionalpolitik: Deutschland
braucht urbane Zentren, will es auch in Zukunft innovativ sein,
in:
Süddeutsche Zeitung
v. 08.12.
Catherine HOFFMANN
rechtfertigt mit Richard FLORIDA und Reiner KLINGHOLZ, dass
das Land gegenüber den Ballungszentren noch weiter abgehängt
wird. Städte sollen um die kreative Klasse werben. Der neue
Standortwettbewerb wird nicht mehr um Unternehmen, sondern um
die Ansiedlung von Talenten geführt, so will es die
Elitentheorie von HOFFMANN. Das Land soll deshalb zum Reservat
alter Menschen werden, während die lernende und arbeitende
Bevölkerung in urbane Räume zieht. Die Aufgabe einer
Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse führt dazu, dass
das Land nur dann weiterhin attraktiv ist, wenn es zum einen
verkehrsmäßig nicht abgehängt ist und zum anderen der
städtischen Elite einen Mehrwert verschafft (Erholung und
Biokost)
"Orte in
verkehrsgünstiger Lage unweit von städtischen Zentren haben
es am einfachsten - sie bieten schon heute günstige und
grüne Rückzugsbereiche für Städter. Oder Erholungsraum für
Touristen. Auch der Trend zu regionalen Produkten bietet
Chancen".
In dieser Elitentheorie
droht das überflüssige Land zur Abstellkammer für die
unproduktiven Teile der Bevölkerung zu werden: Alte und
Arbeitslose, die sich ein Leben in den urbanen Räumen nicht
mehr leisten können.
HAAK, Sebastian
(2016): In
verschiedenen Welten.
Thüringer Landkreistag geht
auf Konfrontationskurs zur rot-rot-grünen Regierung, vor allem
wegen der Gebietsreform,
in: Neues
Deutschland
v. 09.12.
MÜLLER, Benedikt (2016): Der Regionalexpress treibt die Preise.
Viele Familien ziehen aus teuren
Metropolen ins Umland. Das führt zu einer beispiellosen Teuerung bei
Immobilien,
in: Süddeutsche
Zeitung
v. 13.12.
Benedikt MÜLLER berichtet über ein
Ranking der Immowelt, in dem die Preise von Häusern und Wohnungen in
allen Städten mit 50.000 bis 100.000 Einwohner verglichen wurden.
Die teuersten 10 Städte waren 2016: (1) Konstanz, (2) Tübingen, (3)
Rosenheim, (4) Landshut, (5) Bad Homburg, (6) Baden-Baden, (7)
Friedrichshafen, (8) Meerbusch, (9) Bamberg und (10) Waiblingen.
HALLMANN, Barbara (2016): Zweifelhafter Luxus der Leere.
Sachsen-Anhalt: Trotz massivem Leerstand
finden Interessenten keine Immobilien,
in:
Neue Zürcher Zeitung
v. 27.12.
ACKERET, Markus (2016): Rückzug in Raten.
In Mecklenburg-Vorpommern
werden die Verwaltungsgebiete immer grösser - das belastet das
Verhältnis der Bürger zum Staat,
in:
Neue Zürcher Zeitung
v. 28.12.
Der Bericht über das
CDU-regierte Demmin im rot-schwarzen Mecklenburg-Vorpommern,
das von dem Sozialdemokraten Erwin SELLERING geführt wird,
ähnelt eher einem Stadtmarketing als einer Aufklärung über die
Probleme im größten Landkreis Deutschlands: der
Mecklenburgischen Seenplatte.
"Als Handelszentrum hat
Demmin, wie viele der bis weit ins Binnenland verstreuten
Hansestädte, lange schon ausgedient. Die Altstadt fiel einem
Grossbrand beim Kriegsende zum Opfer, ein Racheakt der Roten
Armee, die an der Peene nicht weiterkam. Seit der Wende
kämpft der Ort auch gegen den wirtschaftlichen und
demografischen Strukturwandel an. (...).
17 Jahre lang war Demmin nach der Wiedervereinigung Hauptort
eines Landkreises gewesen. Die historische Bedeutung der
Stadt, aber auch deren geografische Lage machen sie zu einem
natürlichen regionalen Zentrum. Die pommerschen Küstenstädte
Stralsund und Greifswald sind 40 bis 60 Kilometer entfernt,
die weiter südlich gelegenen Neubrandenburg und Neustrelitz
50 bis 80 Kilometer. Doch 2011 beendete die sogenannte
Kreisgebietsreform die Eigenständigkeit Demmins als
Kreisstadt.
Die Entscheidung, künftig nördlichster Vorposten des aus
Neubrandenburg gesteuerten neuen Grosskreises
Mecklenburgische Seenplatte zu werden und sich nicht dem
historisch näherliegenden Greifswald-Vorpommern
anzuschliessen, fiel mit hauchdünner Mehrheit. (...). Seit
der Gerichtsreform 2015 ist auch das Amtsgericht nur noch
mit einer Zweigstelle in Demmin vertreten, im kurz davor
noch erstellten Neubau hinter dem zugenagelten historischen
Gerichtsgebäude. (...). Über 400 Mitarbeiter beschäftigte
die Kreisverwaltung früher in Demmin. Heute sind es noch
knapp 100",
erklärt uns Markus ACKERET
die Entwicklung in Demmin. Während die Politikwissenschaftler
Daniel TREPSDORF und Jan KÖNIG aus Ludwigslust von
"Demokratie-Entleerung" im ländlichen Raum sprechen, hebt
Kathrin NEPPERSCHMIDT aus Neubrandenburg das ehrenamtliche
Engagement der Mecklenburger hervor. Obwohl sie alle
Mitarbeiter des
Regionalzentrums für demokratische Kultur Mecklenburgische
Seenplatte sind, variieren ihre Ansichten nach der
Entfernung ihres Standortes zum Epizentrum des AfD-Bebens in
Mecklenburg-Vorpommern: Je näher dran, desto mehr Verdrängung
des Problems.
Weil es in Demmin
hauptsächlich nur Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor des
Dienstleistungsbereichs gibt, hebt der Bürgermeister ein
Leuchtturmprojekt hervor. Die Bevölkerungszahl stagniert -
auch wegen dem Zuzug Älterer, die Neoliberalen eigentlich ein
Ärgernis sind, denn sie wollen immer nur kaufkräftige Familien
gewinnen:
"Zwar hat sich in Demmin
die Bevölkerungszahl fast stabilisiert nach Jahren der
Abwanderung. Doch geblieben sind tendenziell die Älteren.
Koch beobachtet zudem, dass vermehrt Rentner ihre
Liegenschaften in den Dörfern aufgeben und ins regionale
Zentrum ziehen. Die Arbeiterwohlfahrt baut derzeit
Wohneinheiten für Pflegebedürftige, und die städtische
Wohnungsbaugesellschaft errichtet einen Neubau mit
altersgerechten Wohnungen. Im sozialen Bereich schafft das
auch Arbeitsplätze. Die Arbeitslosigkeit ist mit rund 16
Prozent jedoch immer noch hoch."
Auch Asylbewerber sind bei
Neoliberalen wenig angesehen, denn sie setzen in erster Linie
auf den Zuzug ausländischer Fachkräfte, weshalb sie
Asylbewerber gerne ziehen lassen. Die Politik setzt in erster
Linie auf Symbolpolitik:
"Zahlreiche Stiftungen
sind in Mecklenburg-Vorpommern aktiv und haben die Region zu
einem Laboratorium für die Folgen demografischer Umwälzungen
ausgerufen",
erzählt uns ACKERET. Die
Mecklenburger Anstiftung sieht das
auf ihrer Website dagegen ganz anders:
"In MV gibt es erst ca.
160 selbstständige Stiftungen, während z. B. in Hamburg weit
über 1000 existieren."
Das Ehrenamt gilt aus
neoliberaler Sicht der Demografisierung gesellschaftlicher
Probleme als kostengünstiger Ersatz des Sozialstaats. Dumm
nur, dass dies mit einem anderen Eckpfeiler des
Neoliberalismus kollidiert: der geografischen Mobilität:
"Gerade das Ehrenamt ist
von der demografischen Entwicklung besonders betroffen. Rund
80 000 Personen, die ihren Hauptwohnsitz in
Mecklenburg-Vorpommern haben, pendeln laut Trepsdorf jede
Woche nach Berlin oder in den Grossraum Hamburg. Für
Engagement in Vereinen bleibt für sie kaum noch Zeit."