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Demografische Mobilmachung
Die Autoren Jens KERSTEN,
Claudia NEU und Berthold VOGEL möchten mit ihrem Buch
Demografie und Demokratie die Politisierung des
Wohlfahrtsstaates vorantreiben. Ihnen geht die mediale,
wissenschaftliche und politische Sichtbarkeit des demografischen
Wandels nicht weit genug, weshalb sie für weitreichende - über
die bereits erfolgten politischen Weichenstellungen -
hinausgehende Gesetzesänderungen plädieren. Im Folgenden soll
deshalb aufgezeigt werden, dass die Autoren eine einzige
mögliche ferne Zukunft zum Ausgangspunkt einer Politik machen,
die gravierende Folgen für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes
haben kann, weil sie Alternativen gar nicht erst in Betracht zieht.
Ausgangspunkt dieses
Denkens ist die 11. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung
des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2006
. Zur
Zeit der Drucklegung des Buches war diese
Bevölkerungsvorausberechnung bereits durch die 12. koordinierte
Bevölkerungsvorausberechnung aus dem Jahr 2009 ersetzt worden.
Lassen wir das erst einmal beiseite und nehmen wir die 70
Millionen Menschen, die angeblich 2050 in Deutschland leben und
damit unsere Demokratie bedrohen sollen:
Demografie und
Demokratie
"Niedergangsszenarien
und
Beruhigungsformeln verdecken eine zentrale Frage:
Gefährdet die demografische Entwicklung unsere Demokratie?
Nur auf den ersten Blick erscheint das Verhältnis von
Demografie und Demokratie problemlos. Sicherlich können
sich die 70 Millionen Bürgerinnen und Bürger, die
voraussichtlich 2050 in der Bundesrepublik leben werden,
ebenso demokratisch selbst bestimmen wie die 80 Millionen
gegenwärtig in Deutschland leben. Doch diese
vordergründige Rechnung verkennt entscheidende Aspekte des
politischen Spannungsverhältnisses, in das Demografie und
Demokratie aufgrund der Bevölkerungsentwicklung geraten
sind. Sie reduziert das Verständnis von Demokratie auf
Abstimmungen".
(2012, S.7)
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Die 11. koordinierte
Bevölkerungsvorausberechnung wurde in 12 Varianten berechnet.
Die mittleren Varianten reichten von 68,7 Millionen
(Untergrenze) bis 74 Millionen (Obergrenze). Nach der Variante 4
- W2 könnten im Jahr 2050 sogar 80 Millionen Menschen leben,
d.h. der Bevölkerungsrückgang würde demnach so gut wie
ausfallen. Dazu wären lediglich ein Wanderungsüberschuss von
200.000 Menschen jährlich vonnöten, eine Geburtenrate von 1,6 ab
2025 sowie eine weiter steigende Lebenserwartung. Von einem
Bevölkerungsrückgang von 10 Millionen Menschen bis 2050
auszugehen, wie ihn die Autoren suggerieren, ist also kein
irgendwie zu rechtfertigender Sachzwang, sondern kommt einem
Denkverbot gleich.
Nach der 12. koordinierten
Bevölkerungsvorausberechnung, die 2009 veröffentlicht wurde,
würden in den mittleren Varianten im Jahr 2050 sogar 69,4
Millionen (Untergrenze) bis 73,6 Millionen (Obergrenze) leben.
Bei der Variante 4 - W2 wären es immer noch 78,7 Millionen
Menschen. Wie wir jedoch inzwischen wissen, war diese
Bevölkerungsvorausberechnung zum einen zu optimistisch (der
Zensus 2011 stellte fest, dass wir 1,5 Millionen Menschen
weniger sind als von der Bevölkerungsfortschreibung angenommen)
und zum anderen viel zu pessimistisch, weil Deutschland
mittlerweile im dritten Jahr wächst - statt wie prognostiziert -
zu schrumpfen. Unter den gegenwärtigen Wachstumsbedingungen wäre
dem Buch quasi die Ausgangslage entzogen, denn die Autoren
denken Deutschland nur als stark schrumpfende Gesellschaft und
nur auf diese Situation sind ihre Vorstellungen zu
Gesetzesänderungen ausgerichtet. Da die Schrumpfungsideologie
jedoch - trotz alledem - weiterhin untergründig wirkmächtig ist, muss das
Buch als Ausdruck des gegenwärtigen Mainstreams ernst genommen
werden.
Deutschland wächst, trotz fataler
Denkverbote
Im Juni 2013 verfassten
Andreas RINKE & Christian SCHWÄGERL die Titelgeschichte
Die
100-Millionen-Chance. Im Editorial über den großen Irrtum
schreibt Christoph SCHWENNIKE:
Der große
Irrtum
"Zu
den Grundannahmen dieses Landes gehörte bislang:
Deutschland schrumpft. Wir sind ein 80-Millionen-Volk und
müssen eher fürchten, auf die 60 Millionen zu fallen, als
die 100-Millionen-Marke anzupeilen. Alle Politik gründet
auf dieser Annahme, alle Steuerprognosen, alle
Berechnungen der Entwicklung unserer sozialen
Sicherungssysteme, alle Überlegungen der Regierung: »Wenn
wir auf Deutschland schauen, ungeachtet möglicher
Zuwanderungsraten, dann wissen wir, dass wir insgesamt
weniger werden«, sagte Angela Merkel Ende April vor dem
Deutschen Ethikrat. (...). Einspruch Kanzlerin! (...).
Deutschland wächst, es wächst signifikant. Das
wirtschaftlich solide Land zieht vor allem junge, gut
ausgebildete Europäer an, die ihre Zukunft bei uns suchen
und finden.
Fünf Teile Zuwanderung, ein Teil Hoffnung auf mehr Kinder,
etwa in diesem Verhältnis setzt sich der neue deutsche
Bevölkerungsboom zusammen."
(Cicero Juni 2013)
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Seit 2011 wächst die
Bevölkerung in Deutschland - gegen jegliche Prognose - und es
ist ausgerechnet der Wanderungssaldo und nicht die
Geburtenentwicklung, die dafür verantwortlich ist. Der
Wissenschaftsjournalist Björn SCHWENTKER schreibt deshalb in
seinem Demografieblog:
Da waren's
plötzlich noch mehr
"Wieder
nichts: Deutschland will einfach nicht schrumpfen –
obwohl das doch immer wieder vorausgesagt wird. Gerade
hat das Statistische Bundesamt (Destatis) neue
Schätzungen bekannt gegeben: 2013 sind wir wieder
300.000 mehr geworden. Damit lägen wir bei 80,8
Millionen Einwohnern.
Und damit hätte die Wirklichkeit
die letzte Bevölkerungsprognose der amtlichen Statistiker
nach nur fünf Jahren um mehr als 1,2 Millionen Einwohner
übertroffen. (...)(Die) Daten (...) werfen die Frage auf:
Sind Bevölkerungsprognosen angesichts solcher Fehler
überhaupt noch sinnvoll?"
(demografieblog.de
14.01.2014) |
Bereits vor einem
Jahrzehnt hat der Statistiker Gerd BOSBACH im Zusammenhang mit
langfristigen Bevölkerungsvorausberechnungen von
Kaffeesatzleserei gesprochen
. Politiker gehen sogar so weit,
dass sie uns Modellrechnungen in Gesetzesform gießen wollen, als
ob sich demografische Entwicklungen bis hinter die Kommastelle
genau prognostizieren lassen. In einer Anhörung zum Rentenpaket
im Mai 2014 kritisiert der Statistiker Eckart BOMSDORF diese
Praxis
:
Zur Einführung
einer Demografiekomponente bei der Finanzierung der Ausgaben
zur Teilhabe
"Die demografische Entwicklung
einer bestimmten Altersgruppe bis 2050 in der benötigten Genauigkeit
vorherzusagen ist unmöglich. In der im Gesetzentwurf zu diesem
Paragraphen aufgeführten Tabelle wird offenbar die Möglichkeit einer
kurz- und evtl. mittelfristigen Fortschreibung der Bevölkerung mit
einer langfristigen – und zugleich unmöglichen – Vorhersage, um nicht
zu sagen mit Hellseherei verwechselt; letztere hat in einem Gesetz
sicher nichts zu suchen.
(...).
Die 12. koordinierte Bevölkerungsvorausschätzung des Statistischen
Bundesamtes kann hier nicht als Beleg für eine Aussage dieser Qualität
hinzugezogen werden. Sie stellt nämlich keine Prognose dar, sondern
liefert Modellrechnungen mit unterschiedlichen Varianten."
(Ausschussdrucksache
18(11)82, S.66) |
KERSTEN/NEU/VOGEL
kritisieren zwar die unreflektierte Vermischung von Politik,
Moral und Statistik, bleiben jedoch der
Demographisierung
gesellschaftlicher Probleme selber verhaftet bzw. wollen sie
sogar noch forcieren. Indem die Autoren vorab jeglicher Empirie
von harten Verteilungskämpfen aufgrund des demografischen
Wandels ausgehen, schränken sie den Blick auf die Zukunft
vorschnell ein. Dies wird bereits daran deutlich, dass sie ihre
Politik ganz auf STETE Schrumpfung und ANHALTENDE Alterung
ausrichten wollen und dabei der Einwanderung - im Gegensatz z.B.
zum Cicero-Artikel - keine große Bedeutung zuschreiben:
Demografie und
Demokratie
"Die
Einwanderungswellen der vergangenen fünfzig Jahre haben
(...) den Bevölkerungsrückgang abmildern können,
keinesfalls haben sie ihn in relevantem Maße gebremst. Die
zentralen verfassungs-, infra- und wohlfahrtsstrukturellen
Probleme, die der demografische Wandel in demokratischen
Gesellschaften auslöst, können nicht über die Steuerung
von Zuwanderung gelöst werden. (...) Daher konzentrieren
wir uns im Folgenden vor allen Dingen auf die
gesellschaftlichen Konsequenzen, die sich in
demografischer Hinsicht aus steter Schrumpfung und
anhaltender Alterung ergeben.
Dabei lassen wir uns von der zentralen Frage leiten, in
welcher Weise der demokratische Wohlfahrtsstaat auf die
»Wohlstandskonflikte« reagieren muss, die mit dem
demografischen Wandel einhergehen."
(2012, S.11)
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Wohlstandskonflikte hieß ein 2009 erschienenes Buch von
Berthold VOGEL, das überzeugend den Zusammenhang zwischen
Bildungsexpansion, Entwicklung des Wohlfahrtsstaates und dem
Expandieren und Schrumpfen der Mittelschicht in den Blick nahm
.
Der demografische Wandel, der im Buch Demografie und
Demokratie im Fokus steht, spielte dabei keine Rolle. Was aber verstehen die
Autoren unter dem demografischen Wandel?
Der demografische Wandel als
Ideologie
Der Politikwissenschaftler
Christian RADEMACHER hat in seinem Buch
Deutsche Kommunen im
Demographischen Wandel kritisiert, dass zwar viel über den
demografischen Wandel geschrieben wird, die Faktenlage dagegen
eher mangelhaft ist. KERSTEN/NEU/VOGEL machen sich jedoch erst gar
nicht die Mühe das Phänomen genauer zu beschreiben, sondern greifen
einfach auf den medialen Konsens zum demografischen Wandel
zurück. Im Rahmen dieser öffentlichen
Debatte positionieren sich die Autoren. Sie suggerieren einen nicht näher
begründeten Zusammenhang zwischen demografischem Wandel und dem,
was sie Wohlstandskonflikte nennen, d.h. sie gehen ganz
selbstverständlich davon aus, dass die von ihnen lediglich
behaupteten, aber nicht belegten Zusammenhänge, tatsächlich
existieren. In der Soziologie nennt man eine solche
Sichtweise, die Konflikte als demographisch erzeugt ansieht,
Demographisierung. Das Grundproblem besteht jedoch bereits
darin, dass die Autoren keine Theorie des demografischen Wandels
besitzen, sondern lediglich Spekulationen vortragen, die ihre
Plausibilität nur aus der ständigen Wiederholung in den Medien
beziehen. Zum Problem Massenarbeitslosigkeit schreiben die
Autoren:
Demografie und
Demokratie
"Massenarbeitslosigkeit
sei - so ein populäres Argument - in der schrumpfenden
Gesellschaft kein Problem mehr, weil dann jede Bürgerin
und jeder Bürger aufgrund des Bevölkerungsrückgangs einen
Arbeitsplatz finde. Doch Argumentationen wie diese
(...)(ziehen) nicht in Betracht
(...), dass die Bevölkerungsentwicklung die Bedingungen
des Arbeitsmarkts insgesamt so verändern könnte, dass
vollkommen neue soziale Friktionen und Ungleichheiten die
Arbeitswelt von morgen prägen: die Verschlechterung der
Bildungschancen, der Mangel an Fachkräften sowie der
Kollaps von regionalen Arbeitsmärkten sind drei
Stichwörter für eine nicht nur, aber auch
demografisch verursachten Wandel unserer Arbeitswelt, in
der Massenarbeitslosigkeit keineswegs ausgeschlossen ist."
(2012, S.12)
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Typisch für solche
Spekulationen ist, dass sie lediglich Argumente
aneinanderreihen, die genauso plausibel oder unplausibel sind,
wie jene Argumente, denen sie jegliche Erklärungskraft
absprechen. Warum sollten aber Arbeitsmarktprobleme bei langsam schrumpfenden
Bevölkerungen problematischer sein als z.B. bei schnell wachsender
Bevölkerung wie es in den 1970er Jahren der Fall war? Diese Frage beantworten die Autoren nicht, sondern
sie suggerieren lediglich, dass es so sei.
Vor kurzem hat die
Journalistin Inge KLOEPFER in der Frankfurter Allgemeinen
Sonntagszeitung einen Zusammenhang zwischen demografischer
und kommunaler Entwicklung hergestellt, der typisch ist für
unseriöse kommunale Vergleiche in Deutschland. KLOEPFER
wollte belegen, dass Mentalitätsunterschiede zwischen den
Gelsenkirchenern und den Eichstättern den Unterschied machen
(vgl. "Glanz und Elend, FAS 01.06.2014).
So vergleicht KLOEPFER eine Kommune (Gelsenkirchen) mit einem
Landkreis (Eichstätt), also einem Konglomerat von Kommunen. Dies
ist keineswegs unüblich. Auch das private Berlin-Institut für
Bevölkerung und Entwicklung vergleicht Landkreise mit
Städten, obgleich solch ein Vorgehen mehr als fragwürdig ist.
Erklärbar ist diese Vorgehensweise nur dadurch, dass amtliche
Daten zu angeblich aussagekräftigen Indikatoren auf
Gemeindeebene nur für kreisfreie Städte und bis zur Kreisebene
existieren. Lediglich die Bertelsmann-Stiftung stellt Daten,
deren Transparenz jedoch nicht gegeben ist, für Gemeinden über
5.000 Einwohner bereit
. Bei genauer Betrachtung der 7 Kommunen
über 5000 Einwohner im Landkreis Eichstätt, zeigt sich, dass
erstens entgegen der Behauptung einer wachsenden Region eine
Kommune Bevölkerungsrückgänge zu verzeichnen hat. KLOEPFER
schreibt unterschiedliche Arbeitslosenzahlen unterschiedlichen
Mentalitäten zu. Jedoch gibt es selbst in der Boomregion
Eichstätt Kommunen die eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeit
haben wie andere Kommunen. Nicht der demografische Wandel in
Deutschland, sondern der Zufall, dass der Landkreis Eichstätt im
Einzugsbereich der Stadt Ingolstadt mit dem attraktiven
Automobilhersteller Audi liegt, erklärt den Boom der Region. Dieses
Beispiel zeigt deutlich, dass keineswegs der demografische
Wandel per se das Problem ist, sondern das regionale Umfeld
oftmals die Entwicklung von Kommunen entscheidend beeinflusst.
Der Politikwissenschaftler
Christian RADEMACHER plädiert deshalb dafür, dass Fragen zum
Zusammenhang von demografischer und kommunaler Entwicklung
empirisch zu klären sind. Seine Studie macht darauf aufmerksam,
dass die Datenlage zu deutschen Kommunen mehr als mangelhaft
ist. So werden Städterankings zur demografischen Lage der Nation
anhand intransparenter Indikatoren von privaten Organisationen
wie dem Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
bzw. der Bertelsmann-Stiftung in den Medien verbreitet,
deren Stichhaltigkeit selten überprüft werden. RADEMACHER hat
deshalb die Demographietypen der Bertelsmann-Stiftung einer
empirischen Untersuchung unterzogen. Er kommt zum Schluss, dass
kein direkter Zusammenhang zwischen demografischem Wandel und
dem Steueraufkommen von Kommunen besteht, sondern dass die
länderspezifischen Regelungen des kommunalen Finanzausgleichs
entscheidender für die Handlungsfähigkeit der deutschen Kommunen
sind als die Bevölkerungsentwicklung:
Deutsche
Kommunen im Demographischen Wandel
"Die
Demographietypen der Bertelsmann-Stiftung (2006)
berücksichtigen die lokale Steuerkraft (...) und
beschreiben damit eher die Zukunftsfähigkeit der
bundesländerspezifischen Regelungen des kommunalen
Finanzausgleiches (...) und weniger die Handlungsfähigkeit
einzelner Kommunen im Umgang mit Demographischem Wandel.
Die finanzpolitischen Regelungen der
»Äußeren Kommunalverfassung« sind kommunalem Handeln aber
weitgehend entzogen, weshalb Gemeinden diesen
Finanzausgleich eher
»erleiden«, als ihn gestalten zu können."
(2013, S. 271)
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Kurz gesagt: Abwärtsspiralen
aufgrund des demografischen Wandels wie sie auch von
KERSTEN/NEU/VOGEL
konstatiert werden, sind keineswegs ein typischer Fall
schrumpfender Gesellschaften, sondern sind ein Fall für genaue
empirische Analysen. Oftmals wird dem demografischen Wandel per
se negative Entwicklungen zugeschrieben, die jedoch bei
genauer Betrachtung eine andere Ursache haben. Es ist also genau
zu unterscheiden, ob beobachtete Phänomene des Niedergangs von
Kommunen nicht ökonomische (z.B. Firmenschließungen),
geografische (z.B. strukturschwache Regionen aufgrund peripherer
Lagen) oder politische Ursachen (z.B. Fehlprognosen, die die
Entwicklung hemmen; politische Fehlentscheidungen)
haben, wobei wir bei der entscheidenden Frage wären: Was ist der
demografische Wandel überhaupt und welche Effekte werden ihm
zugeschrieben?
Demografischer Wandel, Demographisierung und Demographismus
KERSTEN/NEU/VOGEL
beschreiben den demografischen Wandel folgendermaßen:
Demografie und
Demokratie
"(Der)
demografische Strukturwandel, verstanden als das
Zusammenspiel von Geburten und Sterbefällen sowie der
Wanderungsbewegungen innerhalb des Landes und über
Landesgrenzen hinweg, macht sich inzwischen nicht nur in
den sozialen Sicherungssystemen bemerkbar. Er verändert
die Generationen- und Familienbeziehungen, die Bedeutung
von Alter und Bildung in der Arbeitswelt, den sozialen
Raum von Städten, Regionen und Ländern, das Verständnis
von Infrastrukturen, die Chancen einer effektiven
Klimapolitik, die Wertbildung immobilen Eigentums."
(2012, S.9f.)
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Demografischer Wandel ist
gemäß der Sichtweise von
KERSTEN/NEU/VOGEL das "Zusammenspiel von Geburten und
Sterbefällen sowie der Wanderungsbewegungen innerhalb des Landes
und über Landesgrenzen hinweg". Einwanderungen klammern die
Autoren - wie weiter oben bereits angesprochen - aus, obwohl sie
derzeit für das Bevölkerungswachstum in Deutschland die
entscheidende Größe sind. Mit dieser Vorentscheidung kommen also
mögliche Politiken erst gar nicht in den Blick. Dem
demografischen Wandel schreiben die Autoren zudem eine Reihe von
negativ bewerteten Effekten zu, die durchaus umstritten sind.
RADEMACHER unterscheidet
aufgrund des vorherrschenden Nichtwissens verschiedene Typen von
Demographismen, d.h. Ideologien in der öffentlichen Debatte zum
demografischen Wandel. KERSTEN/NEU/VOGEL kann man dem
wohlfahrtsstaatlichen Demographismus zuordnen
, weil im Zentrum
ihres Ansatzes der Erhalt des Wohlfahrtsstaates (wenngleich
nicht in der jetzigen Form) steht, der
jedoch durch den demografischen Wandel bedroht erscheint:
Demografie und
Demokratie
"Das
Demokratieverständnis, das sich seit 1949 in der
Bundesrepublik entwickelt hat, (...) hat sich im
politischen Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger (...)
mit der Entwicklung des Sozialstaates zum Wohlfahrtsstaat
verbunden (...): Demokratische Freiheit und soziale
Teilhabe garantieren Zusammenhalt und legitimieren die
soziale Demokratie der Bundesrepublik."
(2012, S.7f.)
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Sinkende Geburtenziffern und
steigende Lebenserwartung entziehen nach Ansicht der Autoren dem
Wohlfahrtsstaat seine Grundlagen, weswegen Kinderlosigkeit und
Alterung als die zentralen Probleme unserer Gesellschaft
erscheinen.
Demographisierung betrifft
gemäß RADEMACHER die Wahrnehmung des demografischen Wandels und die Art
und Weise seiner Einschätzung, während der Demographismus die
Art der Problemlösung prägt. Die Autoren beurteilen den
demografischen Wandel ausschließlich als Gefahr, d.h. positive
Entwicklungen werden geleugnet (z.B. mögliche Verbesserungen auf
dem Arbeitsmarkt durch den demografischen Wandel) bzw. werden
erst gar nicht in Betracht gezogen, z.B. der Anstieg der
Geburtenrate, der sich bislang nur anhand der Kohortenfertilität
unterschiedlicher Frauenjahrgänge nachweisen lässt, nicht aber
anhand der zusammengefassten Geburtenziffer (TFR), die durch die
Zunahme der späten Mütter - vor allem im Akademikermilieu -
verfälscht wird
.
Den Autoren geht es darum die Ängste der Bürger vor dem
Bevölkerungsrückgang und der Alterung zu nutzen, um den
Wohlfahrtsstaat "demografiefest" zu machen. Warum sie steigende
Geburtenzahlen ignorieren begründen die Autoren mit dem
Schreckgespenst Gerontokratie, das sie mit dem ungebräuchlichen
Begriff "demografischer Wohlfahrtsstaat" umschreiben:
Demografie und
Demokratie
"Die
Entscheidungen demografischer Verteilungskonflikte werden
zum Teil mit dem Verweis auf (möglicherweise) steigende
Geburtenziffern legitimiert. Diese Legitimationsdiskurse
reflektieren zwar den aktuellen biopolitischen Trend zu
einer Demografisierung der Demokratie. Sie widersprechen
aber diametral der Verfassungsstruktur des Grundgesetzes.
Die Verteilungskonflikte der schrumpfenden und alternden
Gesellschaft drohen den demokratischen Wohlfahrtsstaat in
einen demografischen Wohlfahrtsstaat zu verwandeln. Die
strukturellen Altersmehrheiten und vor allem die
Generation der Babyboomer begreifen den unbegrenzten
Verbrauch von fiskalischen und ökologischen Ressourcen
seit jeher als ihr Geburts- und Naturrecht: zulasten
gegenwärtiger Minderheiten und künftiger Generationen."
(2012, S.15f.)
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Kurzgefasst: Vollständige
Demographisierung nennt Christian RADEMACHER eine politische
Lösung, wenn ein gesellschaftliches Problem, das als demographisch erzeugtes Problem
wahrgenommen wird (z.B. die
Pflege älterer Menschen), auch demographisch gelöst werden soll
(z.B. durch höhere Beiträge für Kinderlose in der Pflegeversicherung). Um
einen angeblich drohenden "demografischen Wohlfahrtsstaat" zu
verhindern, greifen
KERSTEN/NEU/VOGEL auf solche vollständigen Demographisierungen
zurück (Dazu gehört z.B. auch die Verankerung der
Generationengerechtigkeit im Grundgesetz oder
Beitragsstaffelungen nach Kinderzahl im Rentensystem).
Das Feindbild Babyboomer-Generation dient ihnen als
Rechtfertigung zu weitreichenden Gesetzesänderungen, an deren
Ende nicht die soziale Demokratie steht, sondern demografisch
begründete Sanktionen gegen Minderheiten wie z.B. lebenslang
Kinderlose, die gegenwärtig lediglich 20 % der Bevölkerung ausmachen.
Das
Pflegeurteil des Bundesverfassungsgericht aus dem Jahr 2001
wurde mittels weit überhöhter Schätzungen von Kinderlosen
gerechtfertigt Dieses Urteil wird jedoch von den Autoren als
wegweisend betrachtet, nicht etwa weil das Ausmaß der Kinderlosigkeit
dies erforderlich machen würde (was nach der Erfassung und nicht
nur der fehlerbehafteten Schätzung der Kinderlosigkeit seit 2008
schwerlich noch zu vertreten wäre), sondern weil die
Beitragsdifferenzierung Kinderlose diskriminiert und
stigmatisiert und somit angeblich gesellschaftsschädigende
Verhaltensweisen sichtbar macht. Natürlich verwenden die Autoren
euphemistische Umschreibungen, um diesen Sachverhalt
zu verschleiern (vgl.
KERSTEN/NEU/VOGEL
2012, S.43-47).
In dem Buch
Die verratene Generation der Babyboomerinnen Christina
BYLOW und Kristina VAILLANT beschreiben die Autorinnen die
Folgen einer rückständigen Familienpolitik für ihre Generation.
Denn in den 1980er und 1990er Jahren wurde nicht die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Form von ganztägiger
Kinderbetreuung auf die politische Agenda gesetzt, sondern in
dieser Sicht - im Gegenteil - Frauen entweder zur Hausfrauenehe
und Mutterschaft oder zur kinderlosen Vollzeitkarriere verdammt
.
Partnersuche und
Partnerschaftsstabilität als Voraussetzungen der
Familiengründung: Der blinde Fleck der Demographisierung
Auf dieser
Website werden alle Politiken abgelehnt, die nicht die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie in den Mittelpunkt stellen bzw. im Sinne eines
Familienlastenausgleichs arme Familien fördern, sondern
umgekehrt Singles bzw. Kinderlose (potenzielle Eltern) diskriminieren und
stigmatisieren wollen. Familiengründung fängt nicht erst mit der
Geburt des ersten Kindes an wie bevölkerungspolitische Maßnahmen
dies suggerieren, sondern erfordert in der Regel immer noch eine
Partnerschaft als Voraussetzung, will man nicht das
Alleinerziehen zum Familienleitbild erheben. In dem Buch
Grenzen der Bevölkerungspolitik von Diana AUTH & Barbara
HOLLAND-CUNZ werden solche und weitere Probleme der
Bevölkerungspolitik diskutiert
.
Bereits die Partnersuche und erst Recht die Aufrechterhaltung
von Partnerschaften - also die Paarbildung - ist in unserer
Gesellschaft aufgrund der Mobilitätsanforderungen der Wirtschaft
und der Hartz IV-Gesetzgebung gefährdet
.
Der Demografische Wandel ist kein temporär
auftretendes Phänomen, sondern eine Rahmenbedingung jeglicher
Gesellschaft
Absurd wird es wenn
KERSTEN/NEU/VOGEL von "Zeiten des demografischen Wandels"
sprechen (vgl. 2012, S.128), als ob es Zeiten ohne
demografischen Wandel geben könnte. Demografischer Wandel ist
ein Phänomen, das jegliche Gesellschaft begleitet und in
unterschiedlichen Konstellationen andere Herausforderungen
darstellt. Geburtenstarke Jahrgänge stellen andere Probleme dar
als geburtenschwache Jahrgänge, steigende Geburtenzahlen andere
als fallende usw. Wer von Zeiten des demografischen Wandels
spricht, der setzt bereits Wertungen voraus, welche
demografischen Phänomene für eine Gesellschaft günstiger oder
ungünstiger sind. Darüber herrscht jedoch Uneinigkeit. Als z.B. die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge auf den Arbeitsmarkt drängten, führte das
zu Massenarbeitslosigkeit. Jugendarbeitslosigkeit war ein
Begriff Mitte der 1970er Jahre, während Anfang der 1980er Jahre
von Akademikerarbeitslosigkeit gesprochen wurde. Der
demografische Wandel ist eine gesellschaftliche Rahmenbedingung.
Und wie damit umgegangen wird, sind politische Entscheidungen
und keine Sachzwänge.
Der demografische Wandel ist kein
eindimensionaler, sondern ein multidimensionaler Prozess
Generationengerechtigkeit
setzt eindimensionale, lineare Prozesse voraus, die Christian
RADEMACHER als naturalisierende Modelle kritisiert.
Bevölkerungen können zwar ab- oder zunehmen, der demografische
Wandel setzt sich jedoch zumindest aus Geburtenentwicklung,
Wanderungen und Sterblichkeit/Lebenserwartung zusammen. Diese
drei Prozesse können sich gegenseitig kompensieren oder
verstärken und verändern dadurch auch die
Bevölkerungszusammensetzung (z.B. in den Dimensionen Alter,
Geschlecht, Nationalität oder Lebensform). Der demografische
Wandel ist also multidimensional. Denken in Abwärtsspiralen geht
von zeitlich linear verlaufenden Prozessen aus, die alle in eine
Richtung weisen - eher ein unwahrscheinlicher Fall. Christian
RADEMACHER kritisiert deshalb das lineare Fortschrittsdenken:
Deutsche
Kommunen im Demographischen Wandel
"Wenn
Wachstum oder Schrumpfung mehrdimensional sind, ist es
äußerst unwahrscheinlich, dass diese Prozesse zeitlich
linear ablaufen. Es gibt empirische Belege (...) dafür,
dass sich demographische Größen im Zeitablauf zyklisch und
wellenförmig verändern. (...). Studien, die Schrumpfung
als mehrdimensionale, zirkuläre Prozesse der
Stadtentwicklung auffassen, bilden (...) noch eine
Minderheit (z.B.
Milbert 2011,
Gatzweiler/Milbert 2009 oder
Rink/Haase/Bernt 2009)."
(2013, S. 29)
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Brüche oder zyklische Phänomene
widersetzen sich der Berücksichtigung in Form der
Generationengerechtigkeit. Nach
welchen Kriterien sollten die Belange zukünftiger Generationen
berücksichtigt werden, wenn die Zukunft offen ist statt
vorherbestimmt wie es uns Bevölkerungsprognosen vorgaukeln? Wenn
überhaupt Generationengerechtigkeit sinnvoll ist, dann nur im
Sinne von Politiken, die jederzeit reversibel sind - gerade
davor scheut die Politik zurück. Dies zeigt sich z. B. darin,
dass mit Nachhaltigkeitsfaktor und Riester-Faktor Formeln in das
Rentensystem eingefügt wurden, die Automatismen installieren,
die völlig aus dem Ruder laufen können. Wer schützt uns also vor
solchen Automatismen im Namen der Generationengerechtigkeit? War
nicht die Banken- und Finanzkrise ein Warnsignal, dass Systeme selbstzerstörerische Wirkungen entfalten können?
Schrumpfologien haben fatale Folgen, weil sie Wachstum
bremsen können
Was aber passiert, wenn
Deutschland nicht schrumpft, wie es unsere Ideologen des
richtigen Schrumpfens glauben? Eine Politik, die den
Bevölkerungsrückgang zum Ausgangspunkt des politischen Handelns
(hier als Schrumpfologien bezeichnet, kurz für:
Schrumpfungs-Ideologien) macht, könnte gerade dadurch mit einem unvorhergesehenen
Bevölkerungswachstum vollkommen überfordert sein. Nach Ansicht
von
KERSTEN/NEU/VOGEL steht uns folgendes Szenario in Deutschland bevor:
Demografie und
Demokratie
"Daseinsvorsorge
und Infrastruktur brechen weg. Öffentliche Einrichtungen
veralten. Medizinische Versorgung ist nicht mehr
gesichert. Schulen werden geschlossen. Kulturlandschaften
verwildern. Vom »Implosionsrisiko« ganzer Regionen ist die
Rede, von der »Gefahr regionaler Abwärtsspiralen«, von
»Wüstungen«, vom »Regionaldarwinismus«, von »verblühenden
Landschaften«.
Angesichts dieser sozialräumlichen Entwicklung ist das
verfassungsrechtliche Leitbild der Gleichwertigkeit der
Lebensverhältnisse nicht mehr in der Lage, die soziale,
wirtschaftliche und infrastrukturelle Teilhabe der
Bürgerinnen und Bürger normativ zu steuern. Dieser
normative Bedeutungsverlust wird auch durch den
konzeptionellen Wandel reflektiert, den das
Gleichwertigkeitsprinzip in den letzten zehn Jahren
durchlaufen hat: Aus dem Gleichwertigkeitsgrundsatz (...)
ist die Beschreibung des infrastrukturellen Minimums
unserer Gesellschaft geworden."
(2012, S.49)
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Ihre Horrorszenarien beziehen
KERSTEN/NEU/VOGEL aus Problemen in ländlichen Gebieten. In den
1970er Jahren nannte man solche Gebiete einfach strukturschwach,
womit klar war, dass es dort wirtschaftliche Probleme aufgrund
des Strukturwandels gibt. Kann der ländliche Raum
Vorbildcharakter für ganz Deutschland haben wie die Autoren das
suggerieren oder müssen für solche Ausnahmegebiete nicht
Ausnahmeregelungen geschaffen werden?
Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt als Musterregionen der
schrumpfenden Gesellschaft?
Den Autoren gelten
Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt als Musterbeispiele
des Schrumpfens. Im Mai 2004 veröffentlichte das Berlin-Institut für
Bevölkerung und Entwicklung
ein erstes Ranking zum demografischen Wandel. Darin heißt es zu
Sachsen-Anhalt:
Kreise und
Städte im Test
"Schon
zu DDR-Zeiten bestand im heutigen Sachsen-Anhalt - wenn
auch in geringerem Maße - das Problem des
Bevölkerungsrückgangs: 1945 war das letzte Jahr, in dem
die Einwohnerzahl wuchs. Zur Jahrtausendwende war es das
am schnellsten schrumpfende Bundesland. Seit der Wende
haben die Städte Dessau und Magdeburg mehr als 15 Prozent
der Einwohner verloren, Halle sogar mehr als 20 Prozent -
wovon immerhin einige Landkreise im Umland profitieren:
Der Trend führt heraus aus maroden Innenstädten und
Plattenbauten, hinein in Neubauten auf der grünen Wiese."
(Geo-Heftbeilage 2004, S.14)
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Steigende Geburtenraten,
hohe Einwanderungszahlen und Fehlprognosen zu Binnenwanderungen könnten eine auf Schrumpfung
eingestellte Gesellschaft auf dem falschen Fuß erwischen. 9
Jahre nachdem Halle mit 20 Prozent Einwohnerrückgang zum
Sinnbild der schrumpfenden Stadt wurde, beschreiben RINKE
& SCHWÄGERL in ihrem Cicero-Artikel anhand
der Stadt Halle, die entgegen den Prognosen nicht geschrumpft,
sondern gewachsen ist, welche fatalen Folgen falsche Prognosen
entwickeln können:
Die
100-Millionen-Chance
"233
000
Hallenser gibt es heute, über 2000 mehr als noch vor vier Jahren.
(...). Den offiziellen Prognosen zufolge müssten schon heute nur
noch 225 000 Menschen in Halle leben, im Jahr 2025 gar 206 000.
»Alle Bevölkerungsprognosen gingen von einer anhaltenden
Schrumpfung der Bevölkerungszahl in Halle aus«, sagt Uwe Stäglin,
der Dezernent für Stadtentwicklung.
Ihn freut der Aufschwung: »Das Ausmaß der positiven Entwicklung
war bis vor wenigen Jahren nicht absehbar, nun wollen wir
erreichen, dass das Wachstum weitergeht«, sagt er. Doch
ausgerechnet die Landesregierung durchkreuzt dieses Vorhaben. Die
Stadtoberen und die Universitätsleitung bekommen von ihr weiterhin
die veralteten Bevölkerungsprognosen als unabwendbares Schicksal
präsentiert. Wird an den Hochschulen gespart, dürfte es
tatsächlich wieder bergab gehen. Das Beispiel Halle zeigt vor
allem eins: dass Demografie in hohem Maß flexibel und gestaltbar
ist - und dass Prognosen eine eigene potenziell fatale Kraft
entfalten können, weil sie flexibles Denken und Planen behindern."
(Cicero Juni 2013)
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Schon jetzt hinkt z.B. der
Ausbau der Kinderbetreuung der Nachfrage hinterher, weil durch
eine Politik der Gießkanne Kitas nicht dort entstehen, wo sie
gebraucht werden, sondern gemäß politischer Willkür. Deutschland
ist auf einen Anstieg der Geburtenrate nicht vorbereitet, obwohl
man inzwischen genau weiß, dass die Geburtenzahl der in den
1970er Jahren geborenen Frauen höher ist als diejenige der in
den 1960er Jahren Geborenen.
Unvorhergesehene Wanderungsströme statt Geburtenentwicklung als
Hauptproblem des demografischen Wandels
Während das
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung vor 10
Jahren noch vollmundig erklärte, dass die Zukunft jenseits der
Städte liegt, haben wir heutzutage das Problem, dass die Zukunft
in den Städten liegt. Auf dieser Website wurde bereits zur
Jahrtausendwende auf die neue Gruppe der Family-Gentrifier
hingewiesen, die seit damals
den Wandel der Städte vorantreibt (zusammen mit der Zunahme der
Studierenden und der neuen Einwanderungswellen). Der Berliner
Stadtteil Prenzlauer Berg gilt als Symbol dieses Wandels.
In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schreibt
Ralph BOLLMANN über diesen Wandel:
Wir lassen
keinen mehr in unsere Stadt
"Der
Wandel fällt umso stärker auf, als bis vor kurzem
genau das Gegenteil zu hören war. Ständig sprachen
Politiker und Stadtplaner in typisch deutschem
Pessimismus vom Rückgang der Bevölkerung, entwickelten
Strategien gegen die Schrumpfung und legten
Förderprogramme für den Abriss von Wohnungen auf. Das
bleibt auch weiterhin aktuell. Aber nur für weite
Gebiete des ländlichen Raums und einen Teil der
mittleren Großstädte.
Erst in den letzten Jahren hat sich durchgesetzt: In
den meisten Ballungsräumen ist es genau anders herum.
(...).
Neu ist, dass selbst Städte wie Leipzig oder Dresden
trotz fehlender Arbeitsplätze Zuwächse verzeichnen.
Und dass die Leute um jeden Preis in die Kernstädte
wollen, nicht mehr in die Vororte."
(Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom
01.06.2014
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Defensive Ignoranz werfen
KERSTEN/NEU/VOGEL Kommunen vor, die sich ihrem
Schrumpfungsdiktat nicht unterwerfen wollen. Vielleicht ist es
jedoch keine defensive Ignoranz, sondern lediglich Skepsis
gegenüber Prognosen, die dann doch nicht so kommen wie
vorhergesagt. Mit Verweis auf das private
Berlin-Institut für
Bevölkerung und Entwicklung
schreiben die Autoren:
Demografie und
Demokratie
"Seit
dem Jahr 2000 geht die Bevölkerung in zwei Drittel der
ländlichen Gemeinden der Bundesrepublik zurück; in
Ostdeutschland gehörten in den Jahren 2005 bis 2010 sogar
90 % der Gemeinden zu den beiden Kategorien »schrumpfend«
und »stark schrumpfend«. Bevölkerungswachstum können
allein die Metropolregionen (...) verzeichnen. Doch die
demografischen Verwerfungen reichen bis ins Herz dieser
Metropolregionen".
(2012, S.69)
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2010 war das letzte Jahr,
in dem in Deutschland die Bevölkerung zurückging, seitdem wächst
Deutschland. Eine Entwicklung, die von den Autoren vollkommen
ignoriert wird. Was haben aber z.B. Binnenwanderungsströme, die
in erster Linie Folge von ökonomischen und politischen
Standortentscheidungen sind mit dem demografischen Wandel zu
tun? Ist die unterschiedliche Alterung von Bevölkerungsteilen
aufgrund von Zu- und Wegzügen nicht ein konstitutives Merkmal
unseres ökonomischen und politischen Systems? Es war z.B. politischer Wille, dass junge
Familien zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie in die
innenstadtnahen Wohngebiete ziehen sollten. Nun tun es zumindest
diejenigen, die es sich leisten können, und
plötzlich haben wir es mit Polarisierungstendenzen zu tun, deren
Nebenwirkungen unvorhergesehene (Prognosen schreiben nur die
Vergangenheit fort) Wanderungsströme nach sich ziehen. Die Autoren
konstruieren Konflikte, die sich nur unter ganz
bestimmten Bedingungen ergeben, aber gemäß den Autoren als
Automatismen des demografischen Wandels erscheinen:
Demografie und
Demokratie
"Stadtteile,
die einst überwiegend von jungen Familien bewohnt waren,
altern nun gemeinsam, ohne dass entsprechend Zuzug junger
Menschen zu verzeichnen wäre.
Dieses gleichzeitige Schrumpfen und Altern führt
einerseits zu einer Infrastrukturkonkurrenz (Seniorenheime
versus Kindergärten) und andererseits - vor allem in
ländlichen Regionen - zu einer demografischen
De-Infrastrukturalisierung, deren technische, finanzielle,
administrative, soziale und politische Dimension sich
gegenseitig verstärkten."
(2012, S.70)
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Man hätte statt solcher
Spekulationen der Autoren lieber repräsentative Aussagen zur
Entwicklung von Kommunen in Deutschland gelesen. Damit können
die Autoren aufgrund der mangelhaften Datenlage zur Lage von
Kommunen in Deutschland, die in dem Buch Deutsche Kommunen im
Demographischen Wandel von Christian RADEMACHER überzeugend
herausgearbeitet wurde, nicht dienen
.
Unseriöses und publicityorientiertes Ranking
eines Privatinstituts
KERSTEN/NEU/VOGEL beziehen
sich in ihren Aussagen zum Niedergang deutscher Kommunen unter
anderem auf das
Berlin-Institut für
Bevölkerung und Entwicklung. Die
zitierte Studie
Die Zukunft der Dörfer (vgl. 2012, Fußnote
85, S.69)
hat lediglich zwei Landkreise in den Bundsländern Hessen und
Thüringen bis auf die Ebene der Ortschaften untersucht:
Die Zukunft
der Dörfer
"Ziel
der vorliegenden Studie ist es, Kriterien für Stabilität
oder Niedergang im ländlichen Raum zu ermitteln. Dazu
haben wir bundesweit auf Ebene der Kreise die
demografische Entwicklung mit verschiedenen,
möglicherweise beeinflussenden Faktoren verglichen.
Zusätzlich haben wir zwei Landkreise in Hessen und in
Thüringen flächendeckend auf der Ebene der Gemeinden
untersucht, um Zusammenhänge zwischen einer großen Zahl an
Einflussmöglichkeiten und der Zukunftsfähigkeit kleinerer
Orte zu ermitteln."
(2011, S.8)
|
Die Studie ist also nur für die beiden
untersuchten Landkreise in Hessen und Thüringen aussagekräftig und
weder repräsentativ für die beiden Bundesländer und erst recht
nicht für
Deutschland, weil die zwei Landkreise nicht nach dem
Zufallsprinzip, sondern ganz gezielt gemäß den politischen
Interessen des privaten Instituts ausgewählt wurden:
Die Zukunft
der Dörfer
"Sowohl
der hessische Vogelsbergkreis als auch der thüringische
Kreis Greiz gehören zu den demografisch am stärksten
schrumpfenden Kreisen West- respektive Ostdeutschlands. Im
Vogelsbergkreis hat im betrachteten Zeitraum mehr als ein
Viertel aller Dörfer mit weniger als 500 Einwohnern
zwischen 10 und 22 Prozent der Bevölkerung verloren."
(2011, S.8)
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Von daher ist bereits der
Titel der Studie eine Frechheit, suggeriert er doch Aussagen
über die Zukunft der Dörfer in ganz Deutschland machen zu
können. Angeblich hatte Deutschland gemäß der Broschüre Die
Zukunft der Dörfer im Jahr 2010 nur 4664
Gemeinden (2011, S.16). Das
Gemeindeverzeichnis des Statistischen Bundesamtes weist
dagegen für Deutschland im Jahr 2010 mehr als die doppelte
Anzahl von Gemeinden aus, nämlich 11.442. In Hessen hat das
Institut den
Vogelsbergkreis ("Peripherie eines reichen
Bundeslandes") und in Thüringen den Landkreis Greiz ("Enorme
Bevölkerungsverluste durch den Niedergang von Bergbau und
Textilindustrie") untersucht. Allein die Umschreibungen weisen
darauf hin, dass nicht der demografische Wandel, sondern
umgekehrt die wirtschaftliche Struktur und das regionale Umfeld
die Ursache für den demografischen Wandel ist. Die
Gemeindestruktur Thüringens wird folgendermaßen beschrieben:
Die Zukunft
der Dörfer
"Thüringen
besteht nach der Gemeindedatenbank des
Bundesinstitutes
für Bau-, Stadt- und Raumforschung aus drei Großstädten
(Gera, Erfurt und Jena), 19 Mittelstädten, 42 Kleinstädten
und 180 ländlichen Gemeinden. Die drei Großstädte haben
zwischen 2003 und 2008 im Durchschnitt lediglich 1,3
Prozent ihrer Einwohner verloren. Erfurt und Jena sind
leicht gewachsen, lediglich Gera schrumpfte deutlich. Die
Mittelstädte hingegen verloren im Schnitt 4,8, die
Kleinstädte 5,6 und ländliche Gemeinden gar 5,7 Prozent
ihrer Einwohner. Für das demografisch stark schrumpfende
Thüringen gilt also, dass Gemeinden tendenziell umso
stärker Bevölkerung verlieren, je kleiner sie sind."
(2011, S.8)
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Das
Privatinstitut legt also nicht Gemeinden im Sinne von
politischen Kommunen, sondern im Sinne einer geografischen
Raumbeobachtung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und
Raumforschung (BBSR) zugrunde, während KERSTEN/NEU/VOGEL in
ihrem Buch beanspruchen die politische Dimension des Problems in
den Mittelpunkt zu stellen und damit die politischen Gemeinden
die Grundlage von Untersuchungen sein müssten. Daraus folgt,
dass allein durch diese unterschiedlichen Definitionen von
Gemeinden Verzerrungen entstehen, die zu Fehleinschätzungen
führen können. Das Gemeindeverzeichnis weist für Thüringen 126
Städte (einschließlich 6 kreisfreier Städte) aus, während die
Raumbeobachtung lediglich 64 Städte auflistet. Das heißt, dass
fast 50 % der Städte in Thüringen unberücksichtigt bleiben. Noch
krasser sieht es bei den Gemeinden aus: lediglich 180 ländliche
Gemeinden von 816 Gemeinden in Thüringen werden untersucht. Das
sind gerade einmal 22 % aller Kommunen. Die Studie von Christian
RADEMACHER zeigt, dass ein solches Vorgehen keineswegs unüblich,
sondern gängige Praxis - auch in der seriösen Wissenschaft - ist
.
Das
Kategoriensystem des Privatinstituts (vgl. 2011, S.30) verzerrt
das Bild des demografischen Wandels deutscher Gemeinden
ebenfalls, weil es zwar zwischen 3 Schrumpfungsmaßen
differenziert (sehr stark schrumpfend: mehr als 14 %; stark
schrumpfend: 8 - 14 %; schrumpfend: 2 - 8 %), aber nur ein statt
3 Wachstumsmaße aufweist (Wachsend: mehr als + 2 Prozent).
Stabilität deckt den Bereich des Schrumpfens und Wachsens ab (-
2 % bis + 2 %). Die Wahl dieser Maße wird nicht begründet,
sondern es wird gar noch verwirrender, denn die Bewertung von
Bevölkerungsrückgängen hält sich nicht an dieses
Kategoriensystem (vgl. 2011, S.47), sondern vergibt für stabile
und fast alle schrumpfenden Gemeinden 0 Punkte (Die Grenze liegt
nicht bei 8 %, sondern bei 7 %). Die Punktverteilung von 1 - 5
lässt sich nicht einmal mehr durch das Zusammenfassen der
Schrumpfungsmaße nachvollziehen. Erklärungen dazu gibt es nicht,
was in einer wissenschaftlichen Studie als unseriöse Praktik
gelten würde.
Solche
Rankings halten also wissenschaftlichen Kriterien nicht Stand,
sondern zielen auf mediale Aufmerksamkeit. Keine Zeitung lässt
sich die bunten Bildchen zum demografischen Wandel entgehen, die
Privatinstitute in Umlauf bringen. Aufgrund ihrer
Öffentlichkeitswirksamkeit und des großen Einflusses der Wahl von
Indikatoren auf das Ergebnis fordert Steffen MARETZKE deshalb
Transparenz in Sachen Daten:
Regionale
Rankings - ein geeignetes Instrument für eine vergleichende
Bewertung regionaler Lebensverhältnisse?
"Aufgrund ihrer
großen Öffentlichkeitswirksamkeit können Rankings den
Diskussionsprozess um regionale Stärken und Schwächen
forcieren und die erforderlichen Verändungsprozesse nach
außen kommunizieren.
Rankings sollten aber stets hinterfragt werden, denn ihr
»Produzent« hat viel Einfluss auf die letztendlichen
Ergebnisse. Dies ist auch ein Grund dafür, dass man die
den Rankings zugrunde liegende Informationen offen legen
und dem potenziellen Nutzer verfügbar machen sollte, damit
dieser seine eigenen Abwägungen treffen kann."
[mehr]
(2006, S.335)
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Wer wie
KERSTEN/NEU/VOGEL die Sichtbarkeit des demografischen Wandels
zum obersten politischen Prinzip erhebt, der schreckt auch nicht
davor zurück unseriöse Publikationen von Privatorganisationen
zur Politisierung zu missbrauchen. Es geht dann darum die
Stimmungen im Lande mittels der Medien derart zu beeinflussen,
dass politische Gesetzesvorhaben ohne Widerstand durchsetzbar
sind. Um diesen Missbrauch zu verhindern wird auf dieser Website
viel Wert auf die Überprüfbarkeit von Angaben bzw. die
Überprüfung von Aussagen zum demografischen Wandel gelegt, indem
- so weit möglich - auf die Originalquellen verlinkt wird. Da es
jedoch keine Transparenzpflicht gibt, bleiben viele Daten, die
im öffentlichen Interesse sind, unter Verschluss. Aus diesem
Grunde ist eine solche Transparenzpflicht zu fordern - und zwar
nicht nur für Behörden, sondern auch für Privatinstitute, die
sich in öffentliche Belange einmischen und damit als
Lobbygruppen eingestuft werden müssen.
Fazit: Die Demographisierung der
gesellschaftlichen Probleme könnte fatale Folgen für die
zukünftige Entwicklung Deutschlands haben
Anhand des
Buches Demografie und Demokratie von KERSTEN/NEU/VOGEL wurde
gezeigt, dass langfristige Bevölkerungsvorausberechnungen fatale
Folgen haben können, wenn sie als Richtschnur politischen Handelns
gesehen werden. Selbsterfüllende Prophezeiungen nennt man in der
Sozialpsychologie solche Muster, bei denen erst die Handlung
jenes Übel herbeiführt, das verhindert werden soll. Zudem wird
selbst in der Wissenschaft auf unseriöse Rankings von
Privatinstituten wie dem
Berlin-Institut für
Bevölkerung und Entwicklung
oder der Bertelsmann-Stiftung zurückgegriffen, obwohl
solche Rankings in erster Linie auf die Medien abzielen und
damit der Ökonomie der Aufmerksamkeit unterliegen. Statt
Spekulationen und ein Denken in Abwärtsspiralen, das Christian
RADEMACHER auf eine geschichtskonservative Tradition der
Stadtforschung zurückführt
,
wären also verstärkte empirische Forschungen und eine
Verbesserung der Datenlage angesagt.
Als das Buch
Demografie und Demokratie im Jahr 2012 erschien, wurde es bereits von dem seit 2011
anhaltenden Bevölkerungswachstum Lügen gestraft.
Nichtsdestotrotz ist davon auszugehen, dass die
Politisierung des Wohlfahrtsstaates unvermindert weiter betrieben wird, weil
ihre Protagonisten sich von den Realitäten keineswegs
beeindrucken lassen und Empirie nicht ihre Sache ist. Die
Vielzahl der langfristigen Bevölkerungsvorausberechnungen zeigt,
dass deren Aussagen in der Regel bereits nach 5 oder sogar noch
weniger Jahren überholt
sind und durch neue Berechnungen ersetzt werden müssen. Je
kleiner die Territorien sind, für die
Bevölkerungsvorausberechnungen erstellt werden, desto schneller
veralten diese. Das Beispiel Halle zeigt, dass Trendumkehren
aufgrund der Konservativität von Bevölkerungsprognosen wie ein
Blitz aus heiterem Himmel erscheinen. Meist werden mehrere
Varianten der Bevölkerungsvorausberechnungen berechnet, die -
wie gezeigt - sehr stark
divergieren können. Annahmen, die z.B. die Entwicklung der
Geburtenzahl von Frauenjahrgängen (CFT) ignorieren und
stattdessen lediglich die verzerrte Geburtenrate (TFR)
berücksichtigen, spiegeln ein falsches Bild der Zukunft wieder.
Die
Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland in den nächsten Jahrzehnten
- trotz Wanderungsüberschüssen - schrumpfen wird, ist groß. Ein
starkes Schrumpfen jedoch wie es im Buch von KERSTEN/NEU/VOGEL
suggeriert wird, ist eher unwahrscheinlich. Dagegen spricht
allein schon der Geburtenanstieg bei den in den 1970er Jahren
geborenen Frauen und die positive Entwicklung des Wanderungssaldos
(wobei Wirtschaftsrezessionen zu zeitlich begrenzten Einbrüchen
führen können).
Inwiefern jedoch langsames Schrumpfen überhaupt ein Problem ist,
darüber schweigen die Autoren aufgrund ihrer Blickverengung, die
auf starkes Schrumpfen ausgerichtet ist.
Deutschland
könnte seine Zukunftsfähigkeit gerade deshalb verloren gehen,
weil die Blickverengung durch Schrumpfologien die politische
Handlungsfähigkeit der deutschen Kommunen einschränkt und
Wachstumsmöglichkeiten dadurch verschenkt werden. Wer auf
schrumpfende Gemeinden und Städte fixiert ist, der ist schnell
von gegenteiligen Entwicklungen völlig überfordert. Dies zeigt
sich am unvorhergesehenen Boom von Städten, auf die unsere
Schrumpfologen eine vernünftige Antwort schuldig bleiben.
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