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Kommentierte Bibliografie

 
       
   

Sachsen im demografischen Wandel

 
       
   

Von der einstigen CDU-Hochburg zum ersten AfD-regierten Bundesland? (Teil 1)

 
       
     
   
     
 

Einführung

Sachsen kann als neoliberales Musterland mit all seinen daraus resultierenden Konsequenzen der Demografisierung gesellschaftlicher Probleme bezeichnet werden. Kurt BIEDENKOPF, sächsischer Ministerpräsident, herrschte von 1990 bis 2002 mit einer CDU-Alleinregierung. Seit dem Abgang von BIEDENKOPF haben seine Nachfolger Georg MILBRADT (2002-2008) und Stanislaw TILLICH (2008-2017) bei den Landtagswahlen keine CDU-Alleinregierung mehr aufrechterhalten können, sondern mussten mit wechselnden Koalitionspartnern regieren (SPD und FDP). Bei der Landtagswahl 2014 flog die FDP aus dem Landtag, stattdessen zog die AfD erstmals in den Landtag eines Flächenlandes ein und erzielte fast 10 Prozent der Stimmen. Bei der Bundestagswahl 2017 wurde die AfD in Sachsen erstmals stärkste Partei in einem Flächenland. Nach diesem Desaster trat TILLICH zurück und Michael KRETSCHMER, der sein Direktmandat an einen bis dahin unbekannten AfD-Kandidat verlor, wurde neuer Ministerpräsident. Vor diesem Hintergrund ist es nicht unwahrscheinlich, dass Sachsen das erste Flächenland sein könnte, in dem die AfD bei einer Landtagswahl die stärkste Partei wird und damit Anspruch auf den Ministerpräsidentenposten erheben kann. Aus diesem Grund wird in dieser Bibliografie die öffentliche Debatte um den demografischen Wandel im Zusammenhang mit der Neoliberalisierung Sachsens und den daraus entstandenen Problemen beleuchtet.

Im Mittelpunkt dieser Bibliografie steht die Demografisierung gesellschaftlicher Probleme, die exemplarisch an Sachsen aufgezeigt wird. Als ein Vordenker dieser Politik gilt Meinhard MIEGEL, der von 1973 bis 1977 Mitarbeiter des CDU-Generalsekretärs BIEDENKOPF war, mit dem er 1977 den neoliberalen Think Tank IWG Bonn gründete. MIEGEL war u.a. 1995 bis 1997 Vorsitzender der von BIEDENKOPF initiierten Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen. Die heutigen Probleme des Freistaats Sachsen resultieren aus einer neoliberalen Politik, die auf die Stärkungen der Starken setzte und die regionale Ungleichheit damit zusätzlich verschärfte. Die Politik des schlanken Staats führte zum Rückzug aus der Fläche und die Prioritätensetzung auf den Abbau von Schulden zur Vernachlässigung von Investitionen in die Infrastruktur. Die Thesen vom "programmierten Niedergang" (Reiner KLINGHOLZ) durch den demografischen Wandel und die Rede von der deformierten Gesellschaft (MIEGEL) erklärte die Neoliberalisierung zur alternativlosen Politik. Die Kollateralschäden einer solchen Sichtweise lassen sich nun in Sachsen erkennen.

Die Bibliografie Der ländliche Raum und Mittelstädte im demografischen Wandel widmet sich dem Thema anhand bundesweiter Beispiele und befasst sich mit der grundlegenden Frage der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse.

Ein Hinweis zu den Rankings zur Zukunftsfähigkeit der Landkreise, kreisfreien Städte und Gemeinden

In Deutschland gibt es mehrere neoliberale Organisationen, die seit 2004 die Zukunftsfähigkeit Deutschlands mittels Rankings bewerten und dadurch das Bild von Bundesländern, Kreisen und Gemeinden prägen. Das Berlin-Institut, das früher den Zusatz "für Weltbevölkerung und globale Entwicklung" trug und sich heute "für Bevölkerung und Entwicklung" nennt, hat sich in den Nullerjahren wie die Prognos AG auf die Erstellung eines Zukunftsindex für Kreise und kreisfreie Städte spezialisiert, während die Privatstiftung Bertelsmann mit seinem Wegweiser Kommune beansprucht die Zukunftsfähigkeit aller Gemeinden über 5.000 Einwohner zu bewerten. Solche Rankings prägen das Image aufgrund ihrer hohen medialen Präsenz und können dadurch bestehende regionale Ungleichheiten verschärfen, insbesondere wenn sich Politiken auf die Stärkung der Starken beschränken und ganze Regionen abgehängt werden wie das in den letzten Jahren verstärkt der Fall war.

Die Aussagekraft solcher Rankings ist einerseits stark abhängig von der Indexbildung, d.h. der Auswahl und der Gewichtung der einzelnen Indikatoren, und andererseits von Änderungen der Indexbildung über die Zeit, die zudem wie in Sachsen auf die Änderung bei der Abgrenzung von Gebieten treffen kann. Daraus ergeben sich teils gravierende Einschränkungen bei der Vergleichbarkeit der Rankings über einen längeren Zeitraum. Die hier aufgelisteten Rankings sollen deshalb kritisch hinterfragt werden. Zum einen stellen sich Fragen hinsichtlich des tatsächlichen Einflusses des demografischen Wandels auf die Entwicklung von Kreisen, kreisfreien Städten und Gemeinden. Zum anderen stellt sich die Frage inwieweit Kreisreformen die Bewertung der Zukunftsfähigkeit verändern, ohne dass dem reale Veränderungen entsprechen. Die in dieser Bibliografie aufgelisteten Rankings sind der folgenden Tabelle zu entnehmen:

Tabelle: Liste der Rankings zur Zukunftsfähigkeit der Landkreise, kreisfreien Städte und Gemeinden in Sachsen
Organisation Publikation Jahr Anzahl
Untersuchungs-einheiten
(Sachsen)
Untersuchungsebene 
Berlin-Institut Deutschland 2020 - Die demografische Zukunft der Nation 2004 440 Landkreise und kreisfreie Städte
Die demografische Lage der Nation 2006 439 Landkreise und kreisfreie Städte
Bertelsmann-Stiftung Wegweiser Kommune
(Bevölkerungsprognose 2020)
2006 2.959 Gemeinden über 5.000 Einwohner
Wegweiser Kommune
(Bevölkerungsprognose 2006-2025)
2008 2.959
Wegweiser Kommune
(Bevölkerungsprognose 2012-2030)
2015 2.944 (178)
Prognos AG Zukunftsatlas 2004 439 Landkreise und kreisfreie Städte
2007 439
2010 412
2013 412
2016 402

Eine detaillierte Analyse der Aussagekraft der Rankings wird zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. Dies ist in erster Linie eine Bestandsaufnahme.

Städterankings zur Zukunftsfähigkeit, zur Entwicklung des Immobilienmarkts und anderen Themen

Rankings sind Ausdruck der Demografisierung gesellschaftlicher Probleme im neoliberalen Standortwettbewerb. Durch die mediale Verbreitung entsteht eine Städtehierarchie, die sich im Bewusstsein festsetzt. Die Indikatorenbildung ist nicht wertfrei, sondern ist interessengeleitet. Dadurch, dass bestimmte Indikatoren immer wieder in unterschiedlichen Kontexten maßgeblich die Bewertungen von Städten bestimmen, erhalten sie im Laufe der Zeit den Rang einer unhinterfragbaren Selbstverständlichkeit.

Bewertungen von städtischen Immobilienmärkten führen nicht nur zu einer Hierarchie der Städte, sondern führen auch zu einer innerstädtischen Hierarchie, die zwischen sozialen Brennpunkten, Szenevierteln, Trendvierteln oder Toplagen unterscheiden. In der folgenden Liste sind einige der Städterankings aufgeführt, die in Zeitschriften in regelmäßigen Abständen wiederholt werden:

Tabelle: Liste diverser Städterankings bzw. Stadtviertelrankings in Zeitschriften
Zeitschrift Typus Erstes Ranking
(Jahr)
Weitere
Rankings
(Jahr)
Abstand zwischen
den Rankings
Rankingebene Zielgruppe
Capital Immobilien-Kompass     jährlich Stadtviertel in ausgewählten Großstädten Investoren
Euro Immobilienatlas     jährlich Stadtviertel in Großstädten und Städte ab 20.000 Einwohner Investoren
Focus Großstadtranking von HWWI / Berenberg Bank 2008   zwei- bis dreijährlich Zukunftsfähigkeit bzw. Wirtschaftsstärke der 30 einwohnerstärksten Großstädte  
Focus Regionenranking   2015
2016
2018
  Wirtschaftsstärke und Lebensqualität in den Kreisen und kreisfreien Städten  
Handelsblatt Trendviertel
- Dresden
- Leipzig
2011 Dresden:
2016
2017

Leipzig:
2014
2016
2017

jährlich Stadtviertel, in denen die Preise im Dreijahreszeitraum überdurchschnittlich gestiegen sind Investoren
WirtschaftsWoche Großstadtranking 2004   jährlich Zukunftsfähigkeit bzw. Wirtschaftsstärke der 50 einwohnerstärksten Großstädte oder der kreisfreien Großstädte  
WirtschaftsWoche Immobilienatlas     jährlich 50 einwohnerstärkste Großstädte Investoren

Übersicht: Gliederung des Freistaats Sachsen in Landkreise und kreisfreie Städte

Tabelle: Die zehn Landkreise und drei kreisfreien Städte sowie 50 Große Kreisstädte im Sachsen des Jahres 2018
Die kreisfreien Städte und Landkreise in Sachsen Landkreise und kreisfreie Städte, die bei früheren Kreisreformen eingegliedert wurden Große Kreisstädte
Bautzen (Landkreis) Bautzen (Landkreis 1994-2008) Bautzen
  Bischofswerda
Hoyerswerda (kreisfreie Stadt 1996-2008) Hoyerswerda
Kamenz (Landkreis 1996-2008); Kamenz
  Radeberg
Chemnitz (kreisfreie Stadt)
Dresden (kreisfreie Stadt)
Erzgebirgskreis (Landkreis) Annaberg (Landkreis 1994-2008) Annaberg-Buchholz
Aue-Schwarzenberg (Landkreis 1994-2008) Aue
Schwarzenberg
Mittlerer Erzgebirgskreis (Landkreis 1994-2008) Marienberg
Zschopau
Stollberg (Landkreis bis 2008) Stollberg
Görlitz (Landkreis) Görlitz (kreisfreie Stadt bis 2008) Görlitz
Löbau-Zittau (Landkreis 1994-2008) Löbau
Zittau
Niederschlesischer Oberlausitzkreis (Landkreis 1994-2008) Niesky
Weißwasser
Leipzig (kreisfreie Stadt)
Leipzig (Landkreis) Leipziger Land (Landkreis 1994-2008) Borna
Markkleeberg
Muldentalkreis (1994-2008) Grimma
Wurzen
Meißen (Landkreis) Meißen (Landkreis 1996-2008); Coswig
Meißen
Radebeul
Riesa-Großenhain (Landkreis 1994-2008) Großenhain
Riesa
Mittelsachsen (Landkreis) Döbeln (Landkreis 1990-2008) Döbeln
Freiberg (Landkreis 1994-2008) Brand-Erbisdorf
Flöha
Freiberg
Mittweida (Landkreis 1994-2008) Mittweida
Rochlitz
Nordsachsen (Landkreis) Delitzsch (Landkreis 1994-2008) Delitzsch
Eilenburg
Schkeuditz
Torgau-Oschatz (Landkreis 1994-2008) Orschatz
Torgau
Sächsische Schweiz-Osterzgebirge (Landkreis) Sächsische Schweiz (Landkreis 1994-2008) Pirna
Sebnitz
Weißeritzkreis (Landkreis 1994-2008) Dippoldiswalde
Freital
Vogtlandkreis (Landkreis) Plauen (kreisfreie Stadt bis 2008) Plauen
Vogtlandkreis (Landkreis 1996-2008) Auerbach
Oelsnitz
Reichenbach
Zwickau (Landkreis) Chemnitzer Land (Landkreis 1994-2008) Glauchau
Hohenstein-Ernstthal
Limbach-Oberfrohna
Zwickau (kreisfreie Stadt bis 2008) Zwickau
Zwickauer Land (1994-2008) Crimmitschau
Werdau

Übersicht: Reportagen über sächsische Städte und Gemeinden in der überregionalen Presseberichterstattung

Übersicht: Bevölkerungsentwicklung und Anteil der über 65-Jährigen in den Landkreisen und kreisfreien Städten des Freistaats Sachen

Tabelle: Bevölkerungsentwicklung 2000 - 2015 in den sächsischen Landkreisen und kreisfreien Städten
Landkreis bzw. kreisfreie Stadt Bevölkerungsverluste
bzw. - Gewinne
2000-2015 (in %)
Bevölkerungsanteil der
über-65 Jährige (in %)
Bautzen (Landkreis) - 15,20 % 25,88 %
Chemnitz (kreisfreie Stadt) - 16,20 % 26,69 %
Dresden (kreisfreie Stadt) 15,27 % 21,57 %
Erzgebirgskreis (Landkreis) - 16,20 % 26,83 %
Görlitz (Landkreis) - 18,79 % 27,96 %
Leipzig (kreisfreie Stadt) 16,20 % 20,86 %
Leipzig (Landkreis) - 10,39 % 25,13 %
Meißen (Landkreis) - 10,12 % 25,90 %
Mittelsachsen (Landkreis) - 14,80 % 26,52 %
Nordsachsen (Landkreis) - 13,34 % 24,37 %
Sächsische Schweiz-Osterzgebirge (Landkreis) - 8,48 % 26,04 %
Vogtlandkreis (Landkreis) - 14,79 % 28,29 %
Zwickau (Landkreis) - 13,90 % 27,70 %
Quelle: BBSR 22.05.2017 Übersicht für alle 405 Landkreise und kreisfreien Städte in Deutschland

Übersicht: Sachsen im Ranking des Berlin-Instituts für Weltbevölkerung und globale Entwicklung aus dem Jahr 2004 und 2006 

Tabelle: Ranking der 23 Landkreise und 6 kreisfreien Städte in Sachsen: Ein Vergleich der Jahre 2004 und 2006   
Rang Note Rang Note Landkreis bzw. kreisfreie Stadt
(Jahr 2004/2006)
Zugehörigkeit seit 2008

Jahr 2004

Jahr 2006

1 3,68 8 3,86 Muldentalkreis (Landkreis) Leipzig (Landkreis)
2 3,33 Weißeritzkreis (Landkreis) Sächsische Schweiz-Osterzgebirge (Landkreis)
3 3,73 4 3,74 Sächsische Schweiz (Landkreis) Sächsische Schweiz-Osterzgebirge (Landkreis)
4 3,77 1 3,19 Dresden (kreisfreie Stadt)
5 3,86 3 3,66 Kamenz (Landkreis) Bautzen (Landkreis)
6 3,90 6 3,83 Meißen-Radebeul
(gemeint ist: Landkreis Meißen)
Meißen (Landkreis)
7 3,95 17 4,05 Delitzsch (Landkreis) Nordsachsen (Landkreis)
8 4,05 10 3,94 Chemnitzer Land (Landkreis) Zwickau (Landkreis)
5 3,75 Freiberg (Landkreis) Mittelsachsen (Landkreis)
24 4,25 Leipziger Land (Landkreis) Leipzig (Landkreis)
11 4,10 9 3,88 Torgau-Oschatz (Landkreis) Nordsachsen (Landkreis)
12 4,14 21 4,18 Stollberg (Landkreis) Erzgebirgskreis (Landkreis)
  4,21     Freistaat Sachsen  
13 4,23 14 3,99 Annaberg (Landkreis) Erzgebirgskreis (Landkreis)
20 4,11 Bautzen (Landkreis) Bautzen (Landkreis)
7 3,85 Zwickau (kreisfreie Stadt) Zwickau (Landkreis)
16 4,27 13 3,96 Mittweida (Landkreis) Mittelsachsen (Landkreis)
17 4,32 10 3,94 Plauen (kreisfreie Stadt) Vogtlandkreis (Landkreis)
15 4,00 Vogtlandkreis (Landkreis) Vogtlandkreis (Landkreis)
22 4,23 Zwickauer Land (Landkreis) Zwickau (Landkreis)
20 4,36 10 3,94 Leipzig (kreisfreie Stadt)
22 4,23 Niederschlesischer Oberlausitzkreis (Landkreis) Görlitz (Landkreis)
22 4,41 25 4,30 Döbeln (Landkreis) Mittelsachsen (Landkreis)
19 4,09 Riesa-Großenhain (Landkreis) Meißen (Landkreis)
24 4,45 16 4,02 Chemnitz (kreisfreie Stadt)
17 4,05 Mittlerer Erzgebirgskreis (Landkreis) Erzgebirgskreis (Landkreis)
26 4,59 29 4,60 Hoyerswerda (kreisfreie Stadt) Bautzen (Landkreis)
27 4,64 27 4,40 Aue-Schwarzenberg (Landkreis) Erzgebirgskreis (Landkreis)
26 4,34 Görlitz (kreisfreie Stadt) Görlitz (Landkreis)
29 4,82 28 4,51 Löbau-Zittau (Landkreis) Görlitz (Landkreis)
Quelle: Geo-Beilage Heft 5, 2004, S.29; Die demografische Lage der Nation 2006, S.98f. 

Übersicht: Die 35 sächsischen Gemeinden des Demographietyps 4, die gemäß der BertelsmannStiftung zwischen 2005 und 2020 mehr als 15 Prozent der Bevölkerung verlieren werden

Tabelle: Sächsische Gemeinden mit einem prognostizierten Bevölkerungsverlust von mehr als 15 Prozent zwischen 2005 und 2020
Rang Gemeinden des Demographietyps 4 Bevölkerung
(31.12.2005)
Bevölkerungsverlust
(in %)
1 Hoyerswerda (Landkreis Bautzen) 42.607 36,79 %
2 Weißwasser O.L. (Landkreis Görlitz) 21.498 33,11 %
3 Johanngeorgenstadt (Erzgebirgskreis) 5.408 32,91 %
4 Wilthen (Landkreis Bautzen) 6.176 29,19 %
5 Ebersbach/Sa.; Eingemeindung in Ebersbach-Neugersdorf
(Landkreis Görlitz)
8.832 28,68 %
6 Altenberg (Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge) 6.007 26,99 %
7 Rochlitz (Landkreis Mittelsachsen) 6.712 26,36 %
8 Olbersdorf (Landkreis Görlitz) 5.854 25,57 %
9 Brand-Erbisdorf (Landkreis Mittelsachsen) 11.213 24,74 %
10 Klingenthal/Sa.; Eingemeindung in Klingenthal (Vogtlandkreis) 8.960 23,96 %
11 Großschönau (Landkreis Görlitz) 6.590 22,53 %
12 Kitzscher (Landkreis Leipzig) 6.053 22,39 %
13 Colditz (Landkreis Leipzig) 5.188 22,24 %
14 Zeithain (Landkreis Meißen) 6.622 21,70 %
15 Kirchberg (Landkreis Zwickau) 9.401 21,50 %
16 Sebnitz (Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge) 9.049 21,46 %
17 Hartha (Landkreis Mittelsachsen) 8.367 21,26 %
18 Schönheide (Erzgebirgskreis) 5.316 20,32 %
19 Coswig (Landkreis Meißen) 22.305 19,78 %
20 Lunzenau (Landkreis Mittelsachsen) 5.123 19,11 %
21 Lugau (Erzgebirgskreis) 7.622 19,08 %
22 Döbeln (Landkreis Mittelsachsen) 21.236 18,84 %
23 Görlitz (Landkreis Görlitz) 57.629 18,78 %
24 Hainichen (Landkreis Mittelsachsen) 9.502 18,66 %
25 Leisnig (Landkreis Mittelsachsen) 6.963 18,63 %
26 Niesky (Landkreis Görlitz) 10.981 18,39 %
27 Werdau (Landkreis Zwickau) 24.290 17,95 %
28 Schwarzenberg (Erzgebirgskreis) 18.406 17,76 %
29 Lößnitz (Erzgebirgskreis) 10.374 17,64 %
30 Riesa (Landkreis Meißen) 36.561 17,41 %
31 Zittau (Landkreis Görlitz) 25.277 16,38 %
32 Bad Schlema (Erzgebirgskreis) 5.493 15,82 %
33 Neustadt in Sachsen (Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge) 10.227 15,79 %
34 Roßwein (Landkreis Mittelsachsen) 7.444 15,26 %
35 Lauta (Landkreis Bautzen) 8.503 15,07 %
Quelle: Regional-Report Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen 2008, S.103ff.; DESTATIS (2018): Bevölkerungstand in den Gemeinden in Sachsen (Seitenabruf: 27.05.2018)

 Kommentierte Bibliografie (Teil 1: 2001 - 2009)

2001

KECKE, Anita (2001): Sachsen hat inzwischen älteste Bevölkerung aller Bundesländer.
Freistaat verlor von 1991 bis 1999 mit 146.000 Wegzügen eine Großstadt an den Westen. Vor allem Geburtenrückgang lässt Einwohnerzahl schrumpfen,
in: Leipziger Volkszeitung v. 27.04.

Anita KECKE nennt für Sachsen ein Durchschnittsalter von 42,1 Jahren.

CARSTENS, Peter (2001): Geburtenrückgang und wachsende Mobilität in Sachsen.
Der Bevölkerungsrückgang ist nur bedingt auf die Abwanderung in die alten Bundesländer zurückzuführen,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 02.06.

Bericht über eine Untersuchung zu den Ursachen des Bevölkerungsrückgangs in Sachsen:

"Wesentlich für den Bevölkerungsrückgang ist die Tatsache, dass in Sachsen weniger Kinder zur Welt kommen als früher, die Geburtenrate liegt bei 1,2, im Westen beträgt sie etwa 1,5".

Was in der familienpolitischen Debatte immer verschwiegen wird: der wiedervereinigungsbedingte Geburtenausfall in den neuen Bundesländern drückt die gesamtdeutsche Geburtenrate. Das ganze Ausmaß ist auch hier nicht sichtbar, sondern nur in einem Vergleich über die Jahre von 1989 bis heute. Eine Familienpolitik, die diesen Aspekt ausblendet, muss scheitern.

"Von der Verschlechterung der Verhältnisse (...) sind (...) verschiedene Regionen Sachsens sehr unterschiedlich betroffen. Als Beispiel nennt das Innenministerium die Städte Leipzig, wohin fast so viele Menschen zuziehen, wie von dort weggehen, und Görlitz, das nur halb so viele neue Einwohner bekommt, wie es alte verliert. In manchen Orten Sachsens beträgt der Verlust im vergangenen Jahr fünf Prozent der Bevölkerung - etwa in Hoyerswerda, einem ehemaligen Bergbauort in der Oberlausitz. (...).
Bis 2015 werde die Bevölkerung um zwölf bis sechzehn Prozent zurückgehen, besonders die Zahl der zwischen sechzehn und dreißig Jahre alten Bewohner des Freistaates werde sinken, nämlich um bis zu 32 Prozent,"

werden uns von Peter CARSTENS Bevölkerungsentwicklungen in Sachsen genannt. 

HONNIGFORT, Bernhard & Franz SCHMIDER (2001): Zur Arbeit ohne Rückfahrkarte.
Eine ostdeutsche Familie: Der Vater jobbt in Bayern, die Mutter in Sachsen und die Töchter in Baden-Württemberg,
in: Frankfurter Rundschau v. 07.06.

"Living apart together" nannte sich Anfang der 1990er Jahre die freiwillige Bindungsform der "Aristokraten der Liebe" (Matthias HORX), heutzutage stehen dagegen die berufsbedingten Formen der "Spagatfamilie" (Ulrich BECK), "Commuter-Ehe" (Rüdiger PEUCKERT) oder "Fernliebe" im Brennpunkt.

Die Romantisierung der Familienpolitik - wie sie z.B. im Imagewandel der Grünen zum Ausdruck kommt (siehe taz vom 07.06.2001) - verkennt die Realitäten in Deutschland. Fehlende Arbeitsplätze und damit verbundene Abwanderungsprozesse führen genauso zum Bevölkerungsrückgang wie die Hoffnungslosigkeit der Daheimgebliebenen:

"was Tochter Nicole in Lörrach auffiel (...): 'Man sieht hier so viele Kinder überall.' Im letzten Jahr vor der Wende wurden in den ostdeutschen Ländern noch 220 000 Kinder geboren. 1994 waren es gerade noch 79 000, im vergangenen Jahr 104 000. Nirgendwo sonst auf der Welt werden weniger Kinder geboren als in Ostdeutschland: 1,1 pro Frau (...). Die fünf ostdeutschen Länder haben in den vergangenen zehn Jahren eine Million Einwohner verloren. Hält der Trend an, wird die Bevölkerungszahl bis 2020 noch einmal um eine halbe Million sinken. Europaweit haben Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen die höchsten Abwanderungsraten. Nur die portugiesische Armenregion Alentejo weist vergleichbare Zahlen auf. Noch schmerzlicher als die reine Zahl ist, dass vor allem die hoch qualifizierten und jungen Menschen den Osten verlassen."

AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE-Thema: Neue Bundesländer - Gesellschaftlicher Wandel

WERZ, Nikolaus (2001): Abwanderung aus den neuen Bundesländern 1989 bis 2000,
in:
Aus Politik und Zeitgeschichte Nr.39-40, S.23-31

"Auf dem Gebiet des heutigen Freistaates Sachsen lebten 1989 noch 5,03 Millionen Menschen, Ende 1999 hatte Sachsen nur noch 4,46 Millionen Einwohner. Es bleibt dennoch das bevölkerungsreichste und am dichtesten besiedelte der fünf neuen Länder. In zehn Jahren hat der Freistaat rund 570 000 Einwohner verloren, das sind 11,3 Prozent. Die Zahl der ausländischen Mitbürger erhöhte sich um rund 29 000 auf 105 000, was 1999 einem Bevölkerungsanteil von 2,4 Prozent entsprach. In dem genannten Zeitraum schritt die Alterung der Bevölkerung voran, und zwar als Folge der rapiden Abnahme der Zahl der Jüngeren durch niedrigere Geburtenzahlen und Wanderungsverluste. Der Anteil der Bevölkerung unter 20 Jahren sank von 24,6 Prozent 1988 auf 19,7 Prozent 1999",

charakterisiert Nikolaus WERZ die Bevölkerungsentwicklung in Sachsen.

SAB (2001): Monitoring Wohnungswirtschaft 2001. Perspektiven und Trends der Entwicklung der sächsischen Wohnungsmärkte, herausgegeben von der Sächsischen Aufbaubank

"Das Sächsische Staatsministerium des Innern hat das Projekt Monitoring Wohnungswirtschaft im Jahre 1997 ins Leben gerufen und unterstützt die Weiterführung des Projekts durch die SAB GmbH. (...).
Seit einiger Zeit sind wir mit einem stetig anwachsenden Wohnungsüberhang konfrontiert. Eine schrumpfende Bevölkerung aufgrund einer niedrigen Geburtenrate, arbeitsplatzbedingte Wanderungen, eine anhaltende Neubautätigkeit, nicht zuletzt aufgrund veränderter Wohnwünsche, sind – weiterwirkende – Ursachen für diese Entwicklung. (...). Seit dem Jahr 2000 fördert der Freistaat Sachsen den Rückbau von Wohnraum als notwendige Stadtumbaumaßnahme im Rahmen integrierter Stadtentwicklungskonzepte. Die Aufwertung der langfristig zu erhaltenden Wohnungsbestände wird weiter unterstützt. (...).Der jährlich erstellte Monitoring-Bericht bietet den Entscheidungsträgern die Möglichkeit, Entwicklungen auf dem sächsischen Wohnungsmarkt zu analysieren und ihre Entscheidungen dementsprechend auszurichten",

heißt es im Vorwort zum Wohnungsbaumonitoringbericht zur Entwicklung des Immobilienmarkts in Sachsen und der Zielsetzung des Berichts.

KOCHINKE, Jürgen (2001): In naher Zukunft herrscht im Freistaat Frauenmangel.
Statistiker aus Kamenz legen Jahrbuch 2001 vor. Sachsen werden immer älter und heiraten später,
in: Dresdner Neueste Nachrichten v. 07.12.

Ab 2008, prophezeit das Statistische Landesamt, seien in Sachsen die Männer nicht nur im mittleren Alter, sondern in allen Altersstufen in der Überzahl, weil im Jahr 2000 der Frauenüberschuss nur noch 136.000 betrug, während er 1990 noch bei 275.608 in Sachsen lag.

LVZ (2001): Leipzig spitze bei Singles, letzter Platz bei Familien.
Neue Statistik für Sachsen. Nur in Plauen mehr Ein-Personen-Haushalte,
in: Leipziger Volkszeitung v. 07.12.

2002

BARTSCH, Michael (2002): Der Osten altert schneller.
Generationen in Ostdeutschland: Abwanderung, demografische Falle und Generationenkonflikt wurden von zwei Studien untersucht,
in: Freitag Nr.51 v. 13.12.

Michael BARTSCH berichtet über die erste sächsische Wanderungsanalyse, bei der 2.238 Abwanderer aller Altersstufen befragt wurden, von denen jedoch 53 % jünger als 30 Jahre waren. Mit 37 % seien es überproportional Höhergebildete mit Hochschulreife, die in den Westen flüchten. BARTSCH spricht von einer dritten "Republikflucht"-Welle, bei der nur der "doofe Rest" zurückbleibe. Sorgen bereit - neben der Abwanderung selbst - zu allererst der dadurch verursachte Geburtenschwund:

"Sachsen verlässt man überwiegend allein stehend, aber ein Viertel dieser jungen Singles geht bald nach dem Umzug eine feste Bindung ein. Bis zum Alter von 21 Jahren überwiegt der Anteil junger Frauen. Damit wird die Zahl potenzieller Mütter weiter eingeschränkt. In Sachsen wurden im Vorjahr 3,6 Prozent weniger Kinder als im Jahr 2000 geboren."

2003

SAB (2003): Monitoring Wohnungswirtschaft 2002, herausgegeben von der Sächsischen Aufbaubank

STEINBERGER, Karin (2003): Stillleben mit Schwein und Graupen.
Armes Deutschland (IV): Die Jungen ziehen der Arbeit nach, die Alten beißen sich durch - wie man in einem Ort bei Leipzig die Kluft zwischen den Generationen studieren kann,
in: Süddeutsche Zeitung v. 28.01.

Karin STEINBERGER berichtet aus dem sächsischen Dorf Heuersdorf im Landkreis Leipzig (2003: Leipziger Land), das seit 2004 zur Gemeinde Regis-Breitingen gehört. Die letzten Bewohner wurden 2009 ausgesiedelt, weil der Ort dem Braunkohletagebau zum Opfer fiel. STEINBERGER sieht in dem Ort jedoch nur ein Sinnbild für das "vergreisende Europa":

"Das Durchschnittsalter in Heuersdorf liegt nach all den Wegzügen mittlerweile bei 48,9 Jahren. So gesehen leben sie hier bereits in der Zukunft. Europa wird im Jahr 2050 erst bei einem Durchschnittsalter von 47,4 Jahren angekommen sein."

Der Bürgermeister beschreibt den sächsischen "König" Kurt BIEDENKOPF als Teufel, weil der sich zu wenig um die Kollateralschäden des Braunkohletagebaus kümmert.

"Arbeitsplätze gibt es so gut wie keine mehr. Und so macht sich die Jugend davon. Richtung Arbeit, Richtung Geld, und lässt sie hier allein, die Alten, mit ihren Löchern und Schaufelradbaggern, mit ihren Krankheiten und Todesängsten, mit der Abrissbirne überm Haus und einer Kneipe vor der Tür, die schon vor Jahren zugesperrt hat, weil man von Rentnern allein nicht leben kann. Den Jugendclub gibt es nicht mehr, ihm mangelt's an Mitgliedern.
Den Alten macht das nichts aus. Hier vernimmt man ohne Verständnis, dass sie im Bundespräsidialamt den über 100-Jährigen das Geschenk von 150 auf 125 Euro gesenkt haben, weil's so viele sind. 2.333 Uralten hat der Bundespräsident 1995 gratuliert zum 100ten, 105en oder 110ten. Letztes Jahr waren's bereits 3.883. Und wegen so was wackelt dann gleich der Generationenvertrag",

erzählt uns STEINBERGER, die uns dann mit dem Entwicklungspsychologen Leopold ROSENMAYR kommt, der die Alten von Heuersdorf als "Spätlebemenschen" diffamiert, die in der Aktivierungsgesellschaft als "passiver Typus" gelten. Dieser "wohlverdiente Ruheständler" begreift die "gewonnen Jahre" nicht etwa als Chance, sondern jammert nur!

"Seit 1970 hat sich die mittlere Lebenserwartung um fünf Jahre verlängert. Jedes Jahr kommen für die über 60-Jährigen eineinhalb Jahre dazu. Und die Alten werden immer gesünder",

jammert deshalb STEINBERGER, die zwar das Wort vom Generationenkrieg ablehnt, aber Generationenkämpfe und Verteilungskämpfe beschwört, von denen man in Heuersdorf nichts wissen will:

"Die Jungen zahlen's in die Rentenkasse ein und bekommen's aus Papas Rentenkasse zurück. Nicht nur bei Eißners. 2000 Euro gehen im Durchschnitt pro Jahr von den Eltern an die Kinder. Und die meisten haben auch noch die Zwangsvorstellung, etwas vererben zu müssen. Und da kommen sie ihm (...) mit dem Generationenkonflikt, mit Ausdrücken wie Altenbombe, Kukident-Generation, Langlebigkeitsrisiko und all diesen Unverschämtheiten",

schildert STEINBERGER diese Perspektive der Leugner, die von den Metaphern der Mainstreammedien nichts wissen wollen, nur weil der "private Generationenvertrag" noch immer funktioniert.

"221 Euro Rente bekommt die Frau. »Wenn sie allein wäre, würde sie verhungern.« Über die Renten der Männer erfährt man nichts. Bergbaurente. »Nicht viel, aber für uns reicht's.«",

erklärt uns STEINBERGER, was wohl im Kontext der Reportage heißen soll: Das ist ja geradezu üppig, hört auf zu jammern! Noch betrogener als die Bergbaufamilien fühlen sich nur die Bauern:

"»Zu DDR-Zeiten hat man sich über das Alter keinen Kopf gemacht, über die Rente schon gar nicht. War doch alles sicher.« Und jetzt, alles teurer, alles in Frage gestellt. Und die Jungen sind so verwöhnt."

Typisch Ossi-Mentalität eben, denkt sich da der westdeutsche Leser. Welche Verletzungen solche Darstellungen ausgelöst haben, das wird sich erst ein, zwei Jahrzehnte später zeigen. 

MELLE, Stefan (2003): Wiederbelebungsversuch.
Wo es an Arbeit fehlt, schrumpfen die Städte. Die Kultur soll neue Impulse geben,
in: Berliner Zeitung v. 22.02.

Für Sozialpopulisten wie Meinhard MIEGEL oder Hermann ADRIAN ist die Sache klar: Der demographische Wandel bzw. Kinderlose sind schuld an allen Problemen unserer Gesellschaft, also auch an schrumpfenden Städten. Tatsache ist jedoch: Die Bevölkerung wächst dort, wo Arbeitsplätze entstehen, die Menschen ernähren können. Diesen Ansatz stellt Stefan MELLE vor:

"In den meisten Häusern, die in Ostdeutschland abgerissen werden, hätten noch lange Leute wohnen können. Aber sie ziehen weg aus Leinefelde, Schwedt oder Suhl - wie die Industrie, die sie ernährte. Die leeren Häuser verfallen und kosten Geld. Also beseitigen Bund, Länder und Kommunen sie für viel Geld als unerwünschte Ruinen.
Aber der Abriss ist für die Städte keine Dauerlösung, und er vergeudet Ressourcen. Daher will die Bundeskulturstiftung jetzt die kulturellen Folgen für schrumpfende Städte international untersuchen. Denn seit 1950 büßten 136 Großstädte aller Kontinente jeweils mehr als 100 000 Einwohner ein. In Afghanistan eher durch Kriege. Im Osten der USA oder in Großbritannien aber wie in Ostdeutschland durch den Umbau der Wirtschaft.
            Das Projekt vergleicht die US-Autostadt Detroit sowie Liverpool und Manchester, die alle rund die Hälfte der Bewohner verloren - mehr als die Region Halle/Leipzig, die in dem Projekt besonders beleuchtet wird."

AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE-Thema: Städtepolitik

HAHNEMANN, Christine (2003): Schrumpfende Städte in Ostdeutschland - Ursachen und Folgen einer Stadtentwicklung ohne Wirtschaftswachstum,
in:
Aus Politik und Zeitgeschichte Nr.28 v. 07.07.

Hoyerswerda ist überall, meint Christine HANNEMANN. Geprägt wird die Debatte um den Stadtumbau durch das Denken in Abwärtsspiralen, das aus der folgenden Grafik hervorgeht:

Quelle: Christine Hannemann, 2003, S.20

Es wäre also zu klären inwiefern solche Dynamiken überhaupt typisch sind für schrumpfende Städte in Deutschland und ob die Dynamiken nicht politisch verstärkt werden.

Der Punkt "schlechtes Image" ist auch eine Frage nach der medialen Berichterstattung über den demografischen Wandel. Hoyerswerda wurde Anfang der 1990er Jahre  international bekannt durch Ausländerfeindlichkeit. Inwiefern trug z.B. dieser Imageschaden zu den heutigen Problemen bei? Welche Rolle spielen überzogene Wachstumserwartungen nach der Wiedervereinigung für die heutigen Probleme?

Das Bild der Abwärtsspirale zeigt, dass nicht unbedingt der demografische Wandel Ursache der Entwicklung ist, sondern eher die Folge bzw. Begleiterscheinung wirtschaftlicher Entwicklungen, politischer Fehlentscheidungen bzw. medialer Berichterstattung.

Abwärtsspiralen wären also eine empirisch zu beantwortende Frage. Wer diese jedoch zum Ausgangspunkt von globalen Handlungsstrategien macht, der trägt zu einer Blickverengung oder gar Denkverboten bei, die gegenteilige Entwicklungen vernachlässigt bzw. die Chance des selektiven Gegensteuerns vergibt. Bevölkerungsprognosen geben für ein solches Denken den Takt vor:

"Folgt man den amtlichen Bevölkerungsprognosen, so wird (die)(...) »Umverteilung« der Bevölkerung und der Flächen in den nächsten Jahrzehnten weiter voranschreiten: Bis zum Jahr 2025 – so die Schätzung – werden die ostdeutschen Städte bis zu 25 Prozent ihrer Bevölkerung verlieren."

HANNEMANN sieht deshalb in den schrumpfenden Städten den neuen Normalfall der Stadtentwicklung in Deutschland:

"Vielfach wird noch versucht, Schrumpfung auf den demographischen Faktor zu reduzieren. Im Falle Ostdeutschlands konzentriert sich die politische Debatte um »schrumpfende Städte« jedoch aktuell auf das von der Bundesregierung aufgelegte Programm »Stadtumbau Ost«, in dessen Kontext 262 Kommunen integrierte Stadtentwicklungskonzepte als Voraussetzung zur Förderung von Rückbau und Abriss erarbeitet haben. Das Bund-Länder-Programm ist der erste Versuch, die anspruchsvolle gesellschaftliche Aufgabe der Gestaltung von Schrumpfungsprozessen zu instrumentieren",

erläutert HANNEMANN und kritisiert gleichzeitig, dass dieses Programm lediglich ein Rettungsplan für die Wohnungswirtschaft ist und damit der Großteil des Problemspektrums vernachlässigt wird:

"Nicht nur der prognostizierte absolute Bevölkerungsrückgang, sondern auch die Zusammensetzung der Bevölkerung und die Haushaltsstrukturen signalisieren mittel- und langfristig Handlungsbedarf. Zudem geriert die Verschiebung der Altersstruktur einen dramatischen Wandel der städtischen Bevölkerung; der Altersdurchschnitt der StadtbewohnerInnen wird sich deutlich erhöhen, wie es demographische Hochrechnungen nahe legen. Durch den Geburtenrückgang ist von immer weniger familiären Unterstützungssystemen für ältere Menschen auszugehen."

Das Denken in Abwärtsspiralen kann als Gegenpol zu den überzogenen Wachstumshoffnungen der frühen 1990er Jahre gesehen werden. Mit seinem Dogma der Unumkehrbarkeit läuft es Gefahr zeitweilige Phasen zu verabsolutieren. Stattdessen gilt es jene Punkte ausfindig zu machen, die Wendepunkte markieren. Hier besteht Forschungsbedarf.

TIEFENSEE, Wolfgang (2003): Stadtentwicklung zwischen Schrumpfung und Wachstum,
in:
Aus Politik und Zeitgeschichte Nr.28 v. 07.07.

KIL, Wolfgang/DOEHLER, Marta/BRÄUER, Michael (2003): Zukunft der Städte und Stadtquartiere Ostdeutschlands,
in:
Aus Politik und Zeitgeschichte Nr.28 v. 07.07.

SAB (2003): Monitoring Wohnungswirtschaft 2003, herausgegeben von der Sächsischen Aufbaubank

2004

HERRMANN, Ulrike (2004): Wo Deutschland jung ist.
In religiös geprägten Gegenden kommen viele Kinder zur Welt. Bald öd und leer: Gelsenkirchen und Löbau-Zittau
in: TAZ v. 23.04.

"Wer um seine demografische Zukunft fürchtet, sollte nicht in das Altenburger Land in Thüringen ziehen. Und auch nicht nach Bremerhaven, Gelsenkirchen oder ins sächsische Löbau-Zittau. Diese Industriegebiete überaltern", erklärt uns Ulrike HERRMANN anlässlich der Vorstellung einer Studie..

GRASSMANN, Philip (2004): Forscher sehen Deutschland auf dem Weg in die zweite Liga.
Studie über Folgen der Überalterung und des Wegzugs junger Menschen. Schlechte Zukunftschancen für den Osten, aber auch für einige Regionen im Westen/Bayern und Baden-Württemberg am besten gerüstet,
in: Süddeutsche Zeitung v. 23.04.

Philip GRASSMANN weist darauf hin, dass die 5 Landkreise mit der schlechtesten Zukunftsfähigkeit allesamt Leidtragende des Zusammenbruchs traditioneller Industrien seien: "Altenburger Land (Braunkohletagebau), Wismar und Bremerhaven (Schiffbau), Gelsenkirchen (Kohle), Löbau-Zittau (Textilwirtschaft)."

SCHWÄGERL, Christian (2004): Im alten Land.
Raum ohne Volk: Zwischen Usedom und Fichtelgebirge wird man schon im Jahr 2020 kaum noch Menschen begegnen,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23.04.

BÄUMLISBERGER, B/BEHREND, T./FUHRER, A./HEISSMEYER, A./SCHWAB, F. (2004): Die geteilte Republik.
Bis zum Jahr 2020 öffnet sich eine Riesenkluft zwischen Boomregionen und Landschaften, die veröden. Der Abstieg trifft nicht nur den Osten, sondern auch Teile des Westens,
in: Focus Nr.18 v. 26.04.

GEO-Titelgeschichte: Deutschlands Zukunft.
Wie werden wir leben? Wo werden wir leben? Welche Aussichten hat unsere Gesellschaft?

SPARMANN, Anke (2004): "Vielleicht irgendwann...".
Geburtenreichtum und -armut sind ungleich verteilt. Im Kreis Cloppenburg bekommen Frauen doppelt so viele Kinder wie in Heidelberg. In Hoyerswerda leben viele Männer ohne Aussicht auf eine eigene Familie. Liegt das am Geld oder am Glauben? An Beruf, Bildung oder Beziehungen? Die Suche nach den Ursachen hat überraschende Einsichten zutage gebracht - wenn auch keine einfachen Antworten,
in: GEO. Das neue Bild der Erde, Mai

MICHAL, Wolfgang (2004): Region der Zukunft.
...haben Raumplaner die entvölkerten Gebiete in Deutschlands Mitte genannt. Weil es hier schon heute aussieht wie bald vielerorts auf dem Land: verlassen. Ein Teufelskreis aus Landflucht, Alterung und wegbrechenden Steuereinnahmen, dem Politiker ohnmächtig gegenüberstehen. Schulen, Geschäfte und Bahnhöfe machen dicht. Zurück bleibt demographisches Ödland, zu schwach für einen Neuanfang,
in: GEO. Das neue Bild der Erde, Mai

GEO -Extrabeilage: Kreise und Städte im Test.
Der demographische Wandel: Daten, Trends und Analysen

GEO -Extrabeilage: Kreise und Städte im Test. Der demographische Wandel: Daten, Trends und Analysen

Die Beilage macht viele Worte, hat jedoch nur wenig Fakten zur regionalen Bevölkerungsentwicklung zu bieten. Die Fakten werden durch Noten verschleiert, die viel Spielraum für Spekulation lassen.

Aussagen zur Bevölkerungsentwicklung von 2000 bis 2020:

"Zu den leidtragenden Gebieten zählen vor allem die Oberlausitz im Osten und das Erzgebirge im Südwesten. Im Kreis Löbau-Zittau etwa kamen zudem im Jahr 2001 in der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen auf 100 Männer nur noch knapp 80 Frauen, und 9,3 Prozent der Einwohner waren älter als 75 Jahre. Das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung sagt für die Region bis 2020 einen weiteren Bevölkerungsverlust von rund 15 Prozent voraus." (2004, S.13)

Das Länderprofil Sachsen wird folgendermaßen zusammengefasst:

"Abwanderung und Sterbeüberschuss sind keine neuen Phänomene, doch seit dem Kollaps der DDR-Industrien kann nur das Umland von Leipzig und Dresden noch auf stabile Einwohnerzahlen hoffen. Im Osten kehren schon die Wölfe zurück" (S.13) 

Für folgende Kreise und Städte in Sachsen werden starke Bevölkerungsverluste bzw. -zugewinne prognostiziert:

Tabelle: Bevölkerungsentwicklung der Landkreise und kreisfreien Städte in Sachsen im Zeitraum 2000-2020
Landkreise und Städte in Sachsen mit Bevölkerungsverlusten von 15 und mehr Prozent (Note 6) Landkreise und Städte in Sachsen mit Bevölkerungswachstum von 10 und mehr Prozent (Note 1)
Aue-Schwarzenberg Leipziger Land
Chemnitz Muldentalkreis
Görlitz Sächsische Schweiz
Löbau-Zittau Weißeritzkreis
Mittweida  
Riesa-Großenhain  
Quelle: Geo-Beilage Heft 5, 2004, S.22ff. 

PROGNOS (2004): Zukunftsatlas 2004.
Das Ranking zur Zukunftsfähigkeit der 439 Regionen in Deutschland,
in: Pressemitteilung der Prognos AG v. 21.07.

Der Zukunftsatlas 2004 unterscheidet zwischen 7 Regionstypen. Als Regionen mit sehr schlechten Zukunftsaussichten. Einzig bei Görlitz wird nicht zwischen kreisfreier Stadt und Landkreis unterschieden. Die Zukunftsfähigkeit der sächsischen Regionen ist aus der folgenden Übersicht ersichtlich:

Tabelle: Zukunftsfähigkeit der 439 Landkreise und kreisfreien Städte in Sachsen
Regionskategorien Anzahl der Kreise
und Städte
Einstufung der Landkreise und kreisfreien Städte in Sachsen
Rang
Gesamt-Index
Rang
Demografie-
Index
Name
Region mit Top-Zukunftschancen 6 (0) - - -
Region mit sehr hohen Zukunftschancen 17 (0) - - -
Region mit hohen Zukunftschancen 28 (0) - - -
Region mit Zukunftschancen 58 (0) - - -
Region mit ausgeglichenem Chancen- und Risikomix 211 (1) 110 (1) 82 (1) Dresden
Region mit Zukunftsrisiken 61 (15) 334 (2) 236 (2) Leipzig
340 (3) 370 (12) Mittweida
342 (4) 420 (25) Chemnitz
350 (5) 380 (15) Chemnitzer Land
351 (6) 356 (8) Freiberg
353 (7) 394 (19) Zwickauer Land
354 (8) 397 (20) Zwickau
363 (9) 354 (7) Meißen
368 (10) 334 (5) Muldentalkreis
373 (11) 359 (9) Bautzen
375 (12) 390 (17) Döbeln
376 (13) 402 (22) Vogtlandkreis
378 (14) 268 (3) Weißeritzkreis
379 (15) 409 (24) Riesa-Großenhain
381 (16) 365 (11) Stollberg
Region mit hohen Zukunftsrisiken 47 (9) 383 (17) 371 (13) Delitzsch
384 (18) 321 (4) Kamenz
391 (19) 393 (18) Sächsische Schweiz
401 (20) 400 (21) Aue-Schwarzenberg
406 (21) 385 (16) Torgau-Oschatz
408 (22) 353 (6) Annaberg
409 (23) 362 (10) Mittlerer Erzgebirgskreis
416 (24) 372 (14) Leipziger Land
420 (25) 404 (23) Löbau-Zittau
Region mit sehr hohen Zukunftsrisiken 11 (3) 431 (26) 428 (26) Görlitz
436 (27) 432 (27) Niederschlesiger-Oberlausitzkreis
439 (28) 439 (28) Hoyerswerda
Quelle: Prognos AG Zusammenfassung Zukunftsatlas 2004, S.15ff., eigene Berechnungen 
RHEINISCHER MERKUR-Spezial: Deutschland - Uneinig Vaterland.
Die Armut nimmt wieder zu. Neue Gegensätze spalten die Republik. Droht ein Klassenkampf wie in der Vergangenheit?

MEHLITZ, Johannes (2004): West gegen Ost.
RM-Spezial Deutschland - Uneinig Vaterland: Hoyerswerda blickt in eine blasse Zukunft,
in: Rheinischer Merkur Nr.32 v. 05.08.

OCHS, Birgit (2004): Wie schafft man eine lebenswerte Stadt für alle.
Gendermainstreaming im Städtebau, das ist bisher vor allem Theorie. Nun experimentieren Dessau und Pulheim, ob und wie sich die Interessen von Männern und Frauen in den Alltag kommunaler Stadtplanung übertragen lassen,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 22.08.

GEINITZ, Christian & Winand von PETERSDORFF (2004): "Der Osten wird dem Bund langsam lästig".
Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt über Berliner Phantasielosigkeit, den Frust mit Hartz IV und das Geld aus dem Westen,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 05.09.

"Wir werden die absolute Mehrheit nicht verlieren! Die wirtschaftspolitischen Konzepte der anderen Parteien sind nicht geeignet, Sachsen voranzubringen",

meint der westdeutsche Georg MILBRADT noch 14 Tage vor der Landtagswahl, bei der die CDU erstmals die absolute Mehrheit verliert und von 56,9 Prozent auf 41,1 Prozent abstürzt. Die NPD gewann fast 8 Prozent dazu und kam auf 9,2 Prozent. Die CDU muss seitdem mit einem Koalitionspartner regieren. 

MEHR, Max Thomas (2004): Wo den Parteien die Basis fehlt.
Bürgermeister kann man importieren, Mitglieder nicht. Am Beispiel Sebnitz: Blick in das politische Innenleben Ostdeutschlands,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 26.09.

"Sebnitz gehört zu den Orten in Sachsen, in denen die NPD bei der Landtagswahl am vergangenen Sonntag am meisten Stimmen gewonnen hat. Landesweit kamen die Rechtsradikalen auf mehr als neun Prozent. (...).
Sebnitz, Sächsische Schweiz (...). Dreimal soviel Stimmen wie die SPD. Die erreichte in Sebnitz gerade einmal 5,9 Prozent; die NPD: 15,8. Am stärksten freilich ist nach wie vor die CDU: 43,9 Prozent, gefolgt von der PDS mit 20,5 Prozent. (...). Bürgermeister Mike Rukh, CDU, kommt aus dem Baden-Württembergischen und ist schon bald elf Jahre im Amt. (...). Sebnitz und das tschechische Dolni Poustevna (Niedereinsiedel) gehen ineinander über. (...).
Das Problem der Stadt: Bei knapp 8.000 Wahlberechtigten findet sich kaum mehr als eine Handvoll, die politische Verantwortung übernehmen will - und das sind fast immer dieselben. Den Parteien fehlen die Ortsvereine, es fehlt die Basis. (...).
Die Schwäche der etablierten Parteien ist die Stärke der NPD", meint Max Thomas MÜLLER.   

KIRBACH, Roland (2004): Die letzten Kinder.
Weißwasser: 23.000 Menschen leben in Weißwasser in Sachsen. Jedes Jahr verlassen 1.000 Bewohner den Ort. Auch der 19-jährige Paul überlegt, ob es an der Zeit ist zu gehen,
in: Die ZEIT Nr.41 v. 30.09.

RHEINISCHER MERKUR-Spezial: Deutschland im Jahr 2020.
Geisterstädte und leere Landstriche – das Geburtendefizit wird unser Land radikal verändern. Blick in eine düstere Zukunft

KLINGHOLZ, Reiner (2004): Abstieg in die zweite Liga.
Einwohnerschwund nicht ausgleichen. Der wirtschaftliche Niedergang ist programmiert,
in: Rheinischer Merkur Nr.42 v. 14.10.

"Weil in keinem der 440 deutschen Landkreise und kreisfreien Städte die Kinderzahlen hoch genug sind, um eine gleich bleibende Bevölkerungszahl zu garantieren, können nur jene Regionen auf Stabilität hoffen oder gar wachsen, die anderswo Menschen abziehen. Dies tun sie aufgrund wirtschaftlicher Stärke, denn die Menschen siedeln sich dort an, wo sie Arbeitet und ein Auskommen finden. Der Niedergang beschleunigt sich somit in den Gegenden, die ohnehin schon in besonderem Maße unter Abwanderung, Überalterung und Arbeitsmangel leiden. Manche deutschen Kreise werden bis 2020 mehr als 20 Prozent ihrer Bevölkerung verlieren - vor allem in den neuen Bundesländern. In der sächsischen Stadt Hoyerswerda etwa leben heute bereits ein Drittel weniger Menschen als zu DDR-Zeiten",

erklärt uns Reiner KLINGHOLZ seine neoliberale Ideologie des programmierten Niedergangs, bei dem die Abwärtsspirale sozusagen naturgegeben ist. Eine solche Ideologie rechtfertigt dann die Demografisierung gesellschaftlicher Probleme. Doch was auf den ersten Blick möglicherweise einleuchtend erscheint, ist es nicht. Politisches Gegensteuern wäre eine Alternative zum Neoliberalismus.

HAMANN, Götz (2004): Wie schrumpft man eine Stadt?
Wir werden weniger (3):
Sachsen erlebt, was westliche Bundesländer noch vor sich haben: Verlassene Wohnungen und verfallende Viertel in fast jeder Kommune. Stadtplaner, Politiker und Bürger lernen allmählich, mit der neuen Leere umzugehen,
in: Die ZEIT Nr.45 v. 28.10.

"Es war eine Fahrt im September. Eine Fahrt (...) bis nach Görlitz, tiefer geht es nicht in den sächsischen Osten. (...).
Statt fünf Millionen Menschen wie zu Wendezeiten leben heute noch 4,3 Millionen in Sachsen, was bitter ist, der Region aber auch den Ruf eingetragen hat, dort ließe sich ein Blick in die gesamtdeutsche Zukunft werfen (...).
Sachsen (ist) dem Westen um mehrere Jahre voraus. Denn in all den Irrtümern, Rückschlägen und Erfolgen stecken Erfahrungen, die der Westen noch machen muss",

erklärt uns Götz HAMANN. Die Geschichte "Sachsen ist überall" ist eine Variation der "Hoyerswerda ist überall"-Geschichte, in der der demografische Niedergang zum Leitbild erhoben wird. Görlitz ist für HAMANN ein Sinnbild für fehlenden Mut, dem Untergang ins Gesicht zu sehen:

"Görlitz. Das Licht härtet an diesem Morgen auch die erdigsten Farben. Das Gelb und das Braun und die Sandtöne des Görlitzer Untermarktes erkalten mit jeder Minute mehr, was die Fassaden aus Barock und Renaissance noch stärker hervortreten lässt und die Häuser binnen Minuten in ein historisches Bühnenbild verwandelt. Wer im Vergleich dazu Fotos aus dem Jahr 1989 betrachtet, ahnt, warum es Lokalpolitikern und Stadtplanern bis heute misslingt, sich dem Schrumpfen zu widmen.
Zu Wendezeiten trug die Innenstadt Züge einer Ruine, die Baupolizei hatte viele Gebäude gesperrt, und nicht viel wäre vom Stadtkern geblieben, hätte er weiter vor sich hin rotten müssen. Seither wurden Laubengänge, Kaufmannshäuser, Speicher und Wohnstraßen, zusammen fast 4000 Baudenkmäler, saniert und mit immensen Zuschüssen von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz in ihren Urzustand versetzt. Gegen so viel Verfall anzugehen kostet Kraft. (...).
Von den 72000 Menschen, die im Jahr 1990 in der Stadt lebten, zogen Tausende auf der Suche nach Arbeit gen Westen. Geblieben sind 58000, was logischerweise dazu führt, dass der Leerstand am Stadtrand wie im Zentrum gestiegen ist. Und er dürfte weiter steigen, weil die Einwohnerzahl bis zum Jahr 2020 auf 46000 gesunken sein wird – so das Statistische Landesamt. Derzeit bleibt nahe des Untermarkts abends jede dritte Wohnung dunkel, und wo die Dunkelheit einmal nistet, breitet sie sich aus, weil Leerstand neuen Leerstand anzieht. Wer wohnt schon gern in halb verlassenen Straßen? Einem derartigen Schrumpfen der Bevölkerung allein mit einer Sanierungsstrategie zu begegnen, weil man auf künftiges Wachstum hofft, muss scheitern – und hat Folgen wie in Görlitz.
Längst ist der Immobilienmarkt in der Region aus dem Gleichgewicht geraten."

Sachsens Regierung will das Land schrumpfen, aber die Menschen zeigen sich widerspenstig:

"Die Görlitzer Stadtpolitik hat einen Trend verschärft, der weite Teile des Landes erfasst hat: Ministerpräsident Georg Milbradt rechnete auf einer Tagung vor, dass die Differenz zwischen denen, die sterben, und denen, die geboren werden, seit 1990 etwa 370000 Bürger betrage. Da in derselben Zeit viele Gemeinden rund um Dresden und Leipzig sogar noch gewachsen sind, weil sich überall im Land, aber vor allem dort, mehr als 90000 Sachsen ihren Traum vom Eigenheim erfüllten, selbst wenn es ein Musterhaustraum war, schrumpfte die Bevölkerung in mittelgroßen Städten und den Randlagen noch schneller."

Zwickau gilt dagegen als mustergültige Baupolitik per Abrissbirne:

"Zwickau. Eigentlich hilft nur der große Abriss. Auf einem Hügel nordöstlich des Stadtkerns von Zwickau wächst zwischen der Carl-Gördeler-Straße und der Moltkestraße ziemlich gewöhnliches Gras. (...) Es ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit. »Da standen überall Sechsgeschosser.« Pflug hat nach der Wende das Bauamt geleitet und wechselte dann zur Zwickauer Wohnungsbaugenossenschaft, deren Vorstandsvorsitzender er heute ist. Er ist einer, an den Staatssekretär Buttolo denkt, wenn er sagt: »Fahren Sie nach Zwickau. Sehen Sie sich das an! So viel kann man in fünf Jahren erreichen.« Auf dem Hügel im Stadtteil Eckersbach hat Pflug gemeinsam mit Jutta Giebner, der Chefin der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft, mehr als 3000 Wohnungen aus den eigenen Beständen abgerissen. Die Lasten haben die beiden geteilt, wozu die Stadt beitrug, indem sie die ersten Gespräche organisierte und den Rückbau gemeinsam mit den Wohnungsgesellschaften plante.
In Zwickau-Eckersbach gelang es auf diese Weise, ein Dilemma der Wohnungswirtschaft zu überwinden."

"Abrissblockade" nennt HAMANN es, wenn sich jemand dieser Schrumpfungseuphorie widersetzt. Um diese Abrissblockade aufzulösen setzt Sachsen auf die Subventionierung des Abrisses:

"Staatssekretär Albrecht Buttolo versucht gerade, ein Modellprojekt in der Stadt Wurzen zu starten. Dort will er die Anwohner dazu bewegen, Teile eines Gründerzeitviertels zu räumen, in dem viel leer steht. Das Angebot lautet: Wer abreißt, bekommt einen Zuschuss und verzichtet dafür auf sein Wohneigentum in diesem Viertel. Oder die Besitzer tauschen ihre leer stehenden Häuser gegen eine Wohnung der lokalen Wohnungsgesellschaft in einem Viertel, das stehen bleiben soll. Es ist immerhin ein Versuch."

Die Stadtentwicklung in Görlitz wird dagegen als Negativbeispiel vorgeführt:

"Lutz Penske ist von solchen Ideen weit entfernt. Der Leiter der Stadtplanung fährt in seinem Büro, das in einer alten Kaserne liegt, ruhig und präzise mit seinem Finger über einen Stadtplan. Er fährt um die rot gefärbte Innenstadt und die orangefarbenen Einkaufsstraßen aus der Gründerzeit, und dann zeigt er auf die äußerste Linie, die einen weiten Bogen bis hinter die Bahnlinie macht, im Süden an die Neiße stößt und dann zur Altstadt zurückführt. In diesem Gebiet will Penske alle Häuser erhalten, obwohl etwa die obere Hälfte der alten Prachtstraße hinauf zum Bahnhof völlig verwaist ist. Dort, wo bis zum Zweiten Weltkrieg die teuersten Geschäfte lagen, kleben heute ein paar letzte Nachrichten aus den neunziger Jahren in den Schaufenstern. Die guten handeln vom Umziehen, die anderen vom Aufgeben."

Die Idee, dass Görlitz für ältere Menschen so attraktiv werden könnte, dass dies die Erhaltung der Innenstadt rechtfertigt, hält HAMANN für verfehlt:

"Keine der vagen Ideen, die in der Stadt kursieren und die sich darum drehen, wie Görlitz wieder wachsen könnte, werden die Unterlassungen in Sachen Abriss auf absehbare Zeit kompensieren. Es sind einfach keine tausend neuen Arbeitsplätze in Sicht, kein Zuwandererstrom aus dem polnischen Zgorzelec absehbar, das auf der anderen Seite der Neiße liegt. Aber zumindest eine Perspektive gibt es, die das Schrumpfen mildern könnte: Stadtplaner Penske hofft, dass Görlitz für ältere Menschen aus den Ballungsräumen des Westens ein begehrter Altersruhesitz wird, wie die Bretagne und die Toskana. Görlitz, das "Pensionopolis"? (...).
(E)ine Tradition vom Ende des 19. Jahrhunderts aufleben (lassen), als deutsche Rentner schon einmal erkannt hatten, wie gut es sich an der Neiße leben lässt. Ein Teil der Gründerzeitviertel mit ihren Villen und mehrstöckigen Stadthäusern ist just in dieser Zeit entstanden, weil ehemalige Offiziere des Kaiserreichs, pensionierte Beamte aus Berlin sowie Unternehmer und Ärzte aus Schlesien beschlossen, ihr Vermögen an der Neiße zu investieren. Die Eichhorns sind zwei, zwei von ein paar hundert Rentnern. Nur – was sind sie gegen die vielen tausend, die gehen?"  

NEON-Titelgeschichte: Welche Stadt passt zu dir?
Ausgehen und Arbeiten: neun lebenswerte Umzugsziele von BERLIN bis FREIBURG

BUCHHOLZ, Simone (2004): Leipzig.
Für Macher,
in: Neon, November

RICHTER, Peter (2004): Dresden.
Für Neugierige,
in: Neon, November

Peter RICHTER stilisiert Dresden zum besseren Berlin, was später auch Leipzig widerfahren wird:

"Es ist (...) so, dass Dresden in letzter Zeit (...) eine Stimmung vermittelt, die dem saturierten Berlin irgendwie abhanden gekommen scheint: dass etwas aufbricht. Dass Dinge möglich werden, die man für ausgeschlossen hielt. Der Zuzug von Westdeutschen und, jawohl: Amerikanern (wegen der Mikrochip-Fabriken) hat viel bewegt, und auch, dass aus der Technischen Universität eine Volluni geworden ist. Wenn man nicht auf dem Überangebot Berlins besteht, wenn man lieber selber was reißen will - oder hin und wieder konzentriert ausrasten und hinterher aus schlechtem Gewissen auf ein paar Sandsteinfelsen klettern, oder einfach nur nicht so viel Miete bezahlen wie in Mitte: Dann gibt es einige gute Gründe, die für Dresden sprechen."

2005

DIENEL, Christiane (Hrsg.)(2005): Abwanderung, Geburtenrückgang und regionale Entwicklung. Ursachen und Folgen des Bevölkerungsrückgangs in Ostdeutschland, Verlag für Sozialwissenschaften

RÜHLE, Axel (2005): Bin ich jetzt rechtsextrem?
NPD? Die Probleme liegen viel tiefer. Ein Besuch in Sachsen,
in: Süddeutsche Zeitung  v. 05.02.

Axel RÜHLE fährt nach dem Wahlerfolg der NPD bei der Landtagswahl nach Chemnitz, um die rechte Jugendkultur zu inspizieren. Dabei fallen Begriffe wie "Skins" und "Stinos", die 10 Jahre später kaum noch jemand kennt.

"In Sachsen müssen wegen Schülermangels Schulen geschlossen werden. Wenn da jemand zugibt, dass er Probleme mit den Rechten hat, ist seine Schule quasi schon zu",

zitiert RÜHLE einen Linken.

"Soziologen sprechen (...) von langfristig gewachsenen Minderwertigkeitsgefühlen, fehlender Ich-Stärke, antizipatorischem Hospitalismus, der auf Hilfe von höheren Instanzen wartet",

behauptet RÜHLE. Das Vokabular entstammt jedoch der Persönlichkeits- bzw. Entwicklungspsychologie und nicht der Soziologie. Der Bericht ist typisch für die damalige Zeit und den Rechtsruck - nicht nur - im Osten.   

BURGER, Reiner (2005): Der trügerische Babyboom.
In Sachsen wurden 2004 so viele Kinder geboren wie lange nicht - und doch schrumpft der Freistaat,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung  v. 24.02.

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG-Serie: Grundkurs Demographie (Teil 9)

BIRG, Herwig (2005): Die innerdeutsche Migration.
Grundkurs Demographie - Neunte Lektion,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung  v. 03.03.

SAB (2005): Wohnungsbaumonitoring 2004/2005, herausgegeben von der Sächsischen Aufbaubank

taz-Serie: Deutschland - Räume ohne Volk und auseinanderklaffende Lebenswelten

KNIE, Andreas & Susanne SCHÖN (2005): Wenn der Staat schrumpft.
Die Daseinsvorsorge gehört zum Kernbestand des deutschen Staatswesens. Bisher. Angesichts dramatischer Bevölkerungswanderungen kann er gleichwertige Lebensbedingungen nicht mehr garantieren. Das eröffnet neue Freiheiten. Ein Essay,
in: TAZ v. 12.04.

Ist die taz nicht überflüssig, wenn Deutschland schrumpft? Diese Frage stellt sich die taz leider nicht. Was passiert eigentlich, wenn es keinen Bevölkerungsrückgang bis zum Jahr 2020 gibt? LBS-Research zweifelt die politisch korrekten Schrumpfungsszenarien aufgrund der Kluft zwischen Bevölkerungsvorausschätzungen und Bevölkerungsentwicklung nach 1989 an. Was in Deutschland fehlt, ist eine Debatte über die Angemessenheit der Vorausschätzungen. Aber hier herrscht einvernehmliches Stillschweigen.

BILLERBECK, Liane von (2005): Nichts wie weg.
Was ist weiblich? Warum mehr junge Frauen als Männer den Osten verlassen,
in: Die ZEIT Nr.17 v. 21.04.

In der Reportage von BILLERBECK werden ohne Reibungsverluste die Antworten der Sozialwissenschaftlerin Christiane DIENEL reportagemäßig umgesetzt. Das mag pädagogisch wertvoll, ganz sicher politisch korrekt sein, aber der Heterogenität der Lebensverhältnisse wird es sicher nicht gerecht.

BURGER, Rainer (2005): Silberbergwerke, Braunkohlebergbau, Brachland.
Demographie-Politik in Sachsen: "Modellregionen" sollen zeigen, wie es weitergeht, wenn kaum noch jemand weiß, wie es weitergehen soll,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.04.

IW Köln (2005): Deutsche Großstädte im Vergleich. Untersuchung für das Jahr 2004 und den Zeitraum von 1999 bis 2004 Im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und der Wirtschaftswoche, Mai

Das neoliberale Städte-Ranking wird seit 2004 zum 2. Mal durchgeführt und bewertet die 50 einwohnerstärksten Großstädte nach ihrer Wirtschaftsfreundlichkeit. Das Abschneiden der sächsischen Großstädte ist aus der nachfolgenden Übersicht ersichtlich:

Tabelle: Rang der sächsischen Großstädte unter den 50 einwohnerstärksten Städten
im INSM-Städtevergleich 2005
Großstadt Rang im Gesamtranking Rang im Niveauranking Rang im Dynamikranking
Dresden 30 32 25
Chemnitz 43 42 43
Leipzig 47 46 45
Quelle: IW Köln 2007, Tabellen S. 7, 9 und 10

Es wird nur der Rang betrachtet, weil die Punktewertung aufgrund der wechselnden Indikatorenbildung keine Aussagekraft besitzt.

SCHÄUBLE, Juliane (2005): Wild auf den Westen.
Junge Frauen kehren Ostdeutschland den Rücken. Zurück bleibt eine "männerlastige Bevölkerung",
in: Tagesspiegel v. 13.08.

"In ganz Ostdeutschland gibt es keine einzige Region mit einem Frauenüberschuss, dafür teilweise 20 Prozent weniger weibliche als männliche Einwohner", berichtet Juliane SCHÄUBLE über eine Studie von Torsten OBST.

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG-Serie: Der große Graben (Teil 3)

BISKY, Jens (2005): Ost gegen West.
Das Tabu, ängstlich gehütet: Die deutsche Einheit ist gescheitert,
in: Süddeutsche Zeitung v. 25.08.

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG-Serie: Der große Graben (Teil 7)

MANGOLD, Ijoma (2005): Stadt gegen Land.
Parasiten im Speckgürtel: Warum wir die City brauchen
Gigantische Pendlerströme fallen Tag für Tag in die Großstädte ein. Doch bislang wollten immer weniger Menschen in den Metropolen wohnen. Jetzt feiert die Stadt Renaissance,

in: Süddeutsche Zeitung v. 08.09.

2006

BERTELSMANNSTIFTUNG (2006): 50 Prozent aller deutschen Kommunen werden bis zum Jahr 2020 schrumpfen – alle Kommunen altern.
Bertelsmann Stiftung stellt Informations- und Frühwarnsystem für den demographischen Wandel ins Internet – Daten zur Situation in 2.959 Städten und 432 Landkreisen,
in: Pressemitteilung der BertelsmannStiftung v. 05.02.

GEINITZ, Christian (2006): Neues Leben in einer alten Industrieimmobilie.
Nach den gescheiterten Olympia-Plänen sollen in den Leipziger Buntgarnwerken neue Wohnungen am Wasser entstehen,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 26.02.

KRÖHNERT, Steffen/MEDICUS, Franziska/KLINGHOLZ, Reiner (2006): Die demographische Zukunft der Nation. Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen? München: Dtv, April

Für folgende Kreise und Städte werden starke Bevölkerungsverluste bzw. -zugewinne prognostiziert:

Tabelle: Vergleich der Bevölkerungsentwicklung der Landkreise und kreisfreien Städte im Zeitraum 2000-2020 und 2004-2020 (Die fettgedruckten Regionen wurden in beiden Prognosen mit der besten oder schlechtesten Note bewertet. Die  rot markierten Regionen verschlechterten sich um mindestens 2 Noten)
Landkreise und Städte mit Bevölkerungsverlusten
von 15 und mehr Prozent (Note 6)
Landkreise und Städte mit Bevölkerungswachstum von 10 und mehr Prozent (Note 1)
Aue-Schwarzenberg (Sachsen) Leipziger Land
Chemnitz Muldentalkreis
Görlitz Sächsische Schweiz; 2004: Nur noch max. 5 %
Löbau-Zittau Weißeritzkreis
Mittweida; 2004: Nur noch 10-15 %  
Riesa-Großenhain  
Döbeln  
Hoyerswerda  
Niederschlesischer Oberlausitzkreis  
Zwickau  
Quelle: Geo-Beilage Heft 5, 2004, S.22ff., Die demografische Lage der Nation, 2006, S.56ff. 

SAB (2006): Wohnungsbaumonitoring 2005/2006, herausgegeben von der Sächsischen Aufbaubank

KLOEPFER, Inge (2006): Deutschland 2020.
Demographischer Wandel: Gewinner und Verlierer,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 05.02.

Inge KLOEPFER stellt eine Analyse der Bertelsmann Stiftung vor. Jena ("Boom-Town des Ostens"), Hamburg ("Zukunft für Junge"), Ahrensfelde ("Aufstieg mit Berlin") werden als Gewinner porträtiert. Dagegen werden Gelsenkirchen ("Trauer auf Schalke"), Chemnitz ("Abstieg ohne Ende") und Mittenwald ("Berge ohne Kinder") als Verlierer beschrieben.

KLOEPFER, Inge (2006): Chemnitz.
Abstieg ohne Ende,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 05.02.

SCHRÖDER, Miriam (2006): Der Osten verliert, der Süden profitiert.
Eine aktuelle Studie zeigt: Große Teile Ostdeutschlands und manche Gebiete im Westen verlieren schon jetzt dramatisch viele Einwohner. In den nächsten 15 Jahren drohen ganze Landstriche auszubluten,
in: Spiegel Online v. 15.03.

BERLINER ZEITUNG-Serie: Volk mit Falten

ZYLKA, Regine (2006): Deutschlands Osten schrumpft,
in: Berliner Zeitung v. 16.03.

SCHUH, Hans (2006): Systematischer Frauenklau.
Demografische Analysen zeigen: Städte ziehen junge Frauen an, im Osten droht regional der Niedergang,
in: Die ZEIT Nr.12 v. 16.03.

WAGNER, Richard (2006): Frohe Botschaft!
Die Strukturprobleme einer Gesellschaft sind primär ökonomisch und organisatorisch bedingt. Es gibt kein Nachwuchsproblem. Allen demographischen Krisenmeldungen zum Trotz: Die Lage ist besser als die Stimmung. Nachrichten aus einem guten Land,
in: TAZ v. 15.04.

RIECHELMANN, Cord (2006): Mythen in den Bevölkerungsdebatten.
Wer sagt eigentlich, wann ein Territorium über- oder unterbevölkert ist? Ein Blick auf die überholten Gegensätze in den Studien zur demografischen Lage der Nation,
in: TAZ v. 06.05.

AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE-Thema: Kommunen im Wandel

BOSE, Marc & Peter WIRTH (2006): Gesundschrumpfen oder Ausbluten?
Die Region um die Kleinstadt Johanngeorgenstadt in Sachsen zählt zu den deutschen Extremschrumpfungsgebieten. Wohnungsleerstand, die Schließung von Schulen und leere Kassen belasten die Kommunen. Gibt es auch die Möglichkeit, sich gesund zu schrumpfen?,
in:
Aus Politik und Zeitgeschichte Nr.21-22 v. 15.05.

BOSE & WIRTH bezeichnen die Region um Johanngeorgenstadt als "Extremschrumpfungsgebiet" und stellen die sächsische Strategie in Sachen Schrumpfung als avantgardistisch und vorbildlich vor:

"Johanngeorgenstadt schrumpft. 1990 hatte die Kleinstadt im Erzgebirge an der tschechischen Grenze 9.000 Einwohner. Ende 2004 waren es nur noch 5.600. Johanngeorgenstadt schrumpft also sehr schnell: Während der Freistaat Sachsen im selben Zeitraum nur 10 Prozent seiner Einwohner verloren hat, waren es in der ehemaligen Bergbaustadt 39 Prozent! Eine selbst erstellte Prognose geht von einer weiteren Abnahme auf 3.800 Einwohner bis zum Jahr 2016 aus. Damit gehört die Region Johanngeorgenstadt zu den Extremschrumpfungsgebieten in Ostdeutschland.
Während Wissenschaft und Politik die Folgen des »demographischen Wandels« erst seit Ende der neunziger Jahre offen diskutiert haben, war in Johanngeorgenstadt und den umgebenden Gemeinden bereits Mitte der neunziger Jahre klar, dass es abwärts gehen würde, und zwar nicht nur mit der Einwohnerzahl.
In anderen Regionen wurde zu dieser Zeit noch eine politische Diskussion darüber geführt, ob es legitim sei, leerstehende Gebäude abzureißen; in der Johanngeorgenstädter Region war der Abriss bereits in vollem Gange. Ein stagnierender Fremdenverkehr, der Zusammenbruch der größten Industriebetriebe und das Ausbleiben von Investoren runden das Bild von der schrumpfenden Region ab.
Die sächsische Landesplanung reagierte seinerzeit rasch auf das heranreifende Problem. Zunächst erstellte man mit staatlicher Förderung ein städtebauliches Entwicklungskonzept für Johanngeorgenstadt. Als klar wurde, dass dessen Umsetzung durch die im Zuge des Bergbaus entstandenen Umweltschäden nicht möglich sein würde, setzte sich die sächsische Landesplanung erfolgreich dafür ein, das Bundesmodellvorhaben »Sanierungs- und Entwicklungsgebiete« in der Region um Johanngeorgenstadt durchzuführen mit dem Ziel, die Entwicklungshindernisse zu überwinden und damit die Grundlage für eine nachhaltige Entwicklung zu schaffen. Bedingung war seinerzeit, dass sich die Städte und Gemeinden um Johanngeorgenstadt zu einem Kooperationsverbund zusammenschlössen. Dieser hat bis heute Bestand und firmiert unter dem Namen Zentrales Erzgebirge um Johanngeorgenstadt. Als dieses erste gemeinsame Vorhaben zu Tage brachte, dass die Region mit der Lösung der Probleme überfordert wäre, wurde ein weiteres Modellprojekt mit dem Namen »Umbau von Siedlungsstrukturen unter Schrumpfungsbedingungen« initiiert, das 2005 abgeschlossen wurde." (S.18)

Die Autoren betrachten die demografische Entwicklung nicht als Sonderfall, sondern als typisches Muster von "DDR-Entwicklungsstädten":

"Zu Beginn der staatlichen Intervention in der Mitte der neunziger Jahre war zunächst davon ausgegangen worden, bei Johanngeorgenstadt handele es sich um einen Sonderfall. (...). Heute - mit zehn Jahren Abstand - ist klar, dass es sich um die Spitze eines Eisberges handelte, dessen Ausmaße inzwischen sichtbar geworden sind. Johanngeorgenstadt erscheint nun eher als das Sinnbild so genannter DDR-Entwicklungsstädte, die im Sozialismus strategische Aufgaben - etwa in der Grundstoff- und Schwerindustrie - übernehmen mussten und entsprechend als Produktions- und Wohnstandorte ausgebaut wurden. Nach dem Ende der DDR und deren wirtschaftlichen Autarkiebestrebungen ging der Entwicklungsimpuls verloren. Als weitere Beispiele für diesen Stadttyp lassen sich Weißwasser (37), Hoyerswerda (36), Eisenhüttenstadt (29) und Schwedt (29) anführen (in Klammern der relative Bevölkerungsrückgang 1990 - 2004 in Prozent). Mehrere der aufgezählten Städte scheinen sogar wieder auf ihre ursprüngliche Größe zurückzufallen, Johanngeorgenstadt liegt bereits darunter. In den Medien wird für dieses Phänomen gelegentlich der Begriff »Gesundschrumpfen« verwendet." (S.19)

Der Begriff "DDR-Entwicklungsstädte" stammt aus dem Kommissionsbericht Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in den neuen Bundesländern aus dem Jahr 2000. Darin werden 3 Stadttypen (Altbaustädte, Doppelstädte und DDR-Entwicklungsstädte) in den 6 neuen Bundesländern unterschieden. In der Betrachtung wurden 140 Städte in diese Kategorien eingeteilt. 19 Städte fallen dabei in die Kategorie "DDR-Entwicklungsstädte":

"Die DDR-Entwicklungsstädte stellen mit 19 der 140 Städte die zweite Gruppe (Schwedt, Eisenhüttenstadt, Hoyerswerda, Suhl, Frankfurt/Oder). Von den 19 Entwicklungsstädten liegen 9 in Brandenburg, darunter 5 mit mehr als 80 % DDR-Wohnungsbau. Auch in Mecklenburg-Vorpommern ist nahezu jede dritte Stadt eine DDR-Entwicklungsstadt." (2000, S.22)

In einer Fußnote (S.44) werden folgende 19 DDR-Entwicklungsstädte (Stand: 1995) aufgezählt:

"Schwedt, Eisenhüttenstadt, Hoyerswerda, Neubrandenburg, Wolfen, Ludwigsfelde, Weißwasser, Sangershausen, Senftenberg, Strausberg, Cottbus, Bergen auf Rügen, Bad Salzungen, Suhl, Frankfurt/ Oder, Rostock, Greifswald, Guben, Hennigsdorf."

Die folgende Tabelle gibt die Verteilung der 19 DDR-Entwicklungsstädte gemäß Kommissionsbericht auf die einzelnen Bundesländer wieder:

DDR-Entwicklungsstadt Einwohner
31.12.2000
Einwohner
31.12.2018
Bundesland Landkreis
Cottbus 108.491 100.219 Brandenburg kreisfrei
Eisenhüttenstadt 41.493 24.633 Oder-Spree
Frankfurt/Oder 72.131 57.873 kreisfrei
Guben 25.245 16.933 Spree-Neiße
Henningsdorf 26.306 26.272 Oberhavel
Ludwigsfelde 23.031 26.112 Teltow-Fläming
Schwedt 39.683 29.920 Uckermark
Senftenberg 24.740 24.275 Oberspreewald-Lausitz
Strausberg 26.221 26.578 Märkisch-Oderland
Bergen auf Rügen 15.615 13.460 Mecklenburg-Vorpommern Vorpommern-Rügen
Greifswald 54.236 59.382 Vorpommern-Greifswald
Neubrandenburg 73.318 64.086 Mecklenburgische Seenplatte
Rostock 200.506 208.886 kreisfrei
Hoyerswerda 50.203 32.658 Sachsen Bautzen
Weißwasser 26.107 16.130 Görlitz
Sangerhausen 25.399 26.297 Sachsen-Anhalt Mansfeld-Südharz
Wolfen 31.025 16.449* Anhalt-Bitterfeld
Bad Salzungen 17.086 20.244 Thüringen Wartburgkreis
Suhl 48.025 36.955 kreisfrei

Die Stadt Wolfen wurde 2007 mit Bitterfeld zusammengelegt (* Einwohnerzahl 30.06.2017). Sechs der 19 DDR-Entwicklungsstädte haben - entgegen der Prognose - eine positive Bevölkerungsentwicklung.

Johanngeorgenstadt wird nicht als DDR-Entwicklungsstadt genannt, d.h. BOSE & WIRTH benutzen den Begriff abweichend vom Kommissionsbericht. Die Region um Johanngeorgenstadt wird als Modellregion "Zentrales Erzgebirge" bezeichnet. Dies entspricht dem "Sanierungs- und Entwicklungsgebiet Uranbergbau in Südsachsen" in einem IOER-Bericht von Peter WIRTH aus dem Jahr 2005. Dort heißt es:

"Das »Sanierungs- und Entwicklungsgebiet (SEG) Uranbergbau« umfasst die Stadt Johanngeorgenstadt, die Gemeinden Breitenbrunn, Erlabrunn, Pöhla, Raschau und Rittersgrün sowie die Ortsteile Erla und Grünstädtel der Stadt Schwarzenberg (...). Es liegt im Landkreis Aue-Schwarzenberg (Regierungsbezirk Chemnitz, Freistaat Sachsen) an der Grenze zur Tschechischen Republik. Auf einer Fläche von 131 km2 leben 19.990 Einwohner (2001), die durchschnittliche Bevölkerungsdichte beträgt 153 EW/km2. Damit zählt das Gebiet zu den dichter besiedelten Teilen des oberen Erzgebirges, allerdings ist die Einwohnerzahl seit 1990 um ca. 19 % zurückgegangen, die Bevölkerungsprognosen gehen von einem weiteren spürbaren überproportionalen Rückgang der Einwohnerzahl bis 2016 aus (Müller, Matern 2003)" (S.69)

Johanngeorgenstadt hatte Ende 2015 eine Einwohnerzahl von 4.135 und lag damit über den 3.800 prognostizierten Einwohnern. Die Stadt gehört seit der Gebietsreform 2008 zum Erzgebirgskreis. Nach der Wende gab es - im Gegensatz zu vielen anderen Gemeinden keine Eingemeindungen um den Bevölkerungsverlusten entgegenzuwirken.

Der Kommissionsbericht aus dem Jahr 2000 nahm hinsichtlich der Haushaltsentwicklung in den 140 Städten eine ab 2015 nicht mehr zu kompensierende Bevölkerungsschrumpfung an.

"Nach 2015 kann die Haushaltsverkleinerung die Bevölkerungsschrumpfung nicht mehr kompensieren. Die Zahl der Haushalte sinkt, langfristig und aller Voraussicht nach, dauerhaft. Im Jahr 2030 wird wieder die Haushaltszahl des Jahres 2000 erreicht." (S.39)

Die Ziele der Stadtentwicklungsplanung werden folgendermaßen beschrieben:

"Bei anhaltendem Bevölkerungsrückgang mit der Intensität wie in Johanngeorgenstadt ist eine kompakte Stadtstruktur - soweit sie nach dem Bergbau überhaupt noch vorhanden war - nicht mehr haltbar. Ein im Rahmen des Projektes entwickeltes städtebaulich-landschaftsplanerisches Konzept sieht deshalb vor, Johanngeorgenstadt als dezentralisierte Stadt mit neun Siedlungskernen zu entwickeln. Stabile Siedlungsteile (Kerne mit wertvollen städtebaulichen Strukturen und geringem Leerstand) sollen ergänzt, instabile Siedlungsteile (Stadtgebiete mit Bedeutungs- und Funktionsverlust sowie hohem Leerstand) wie Bergarbeitersiedlungen der vierziger und fünfziger Jahre und später entstandene Plattenbausiedlungen schrittweise zurückgebaut werden."

BOSE & WIRTH sehen bei solchen "Extremschrumpfungsgebieten" die Gefahr des Ausblutens:

"Wenn sich niedrige Geburtenraten und Wanderungsverluste zu einem extremen Bevölkerungsrückgang addieren, wenn zudem junge und aktive Bevölkerungsgruppen bevorzugt abwandern, wenn städtebauliche Strukturen rasch zerfallen, Infrastrukturen nicht mehr finanzierbar sind, Funktionen verloren gehen und negative individuelle Wahrnehmungen zur Passivität der Menschen führen, dann verdichten sich die Probleme in der Tat zu einer Gefahr des »Ausblutens«."

Es zeigt sich, dass die Entwicklung der DDR-Entwicklungsstädte sehr unterschiedlich verlief. Die Definition für solche Städte, die einen Anteil von mindestens 70 Prozent DDR-Wohnungsanteil umfassen, erscheint also unzureichend, um Schrumpfungsentwicklungen daran festzumachen, wie das bei BOSE & WIRTH geschieht.   

LOSSE, Bert (2006): 50 Städte im Test.
Wo gibt es in Deutschland die meisten Jobs, die höchste Wirtschaftskraft, die beste Lebensqualität? Wo ist die Dynamik am größten, sind die Zukunftsaussichten am besten?. Ein Exklusiv-Ranking mit den Stärken und Schwächen der 50 größten Städte,
in: WirtschaftsWoche Nr.27 v. 03.07.

Bert LOSSE präsentiert zum dritten Mal das jährliche Städteranking, das von den neoliberalen Lobbyorganisationen INSM und IW Köln gesponsert wird. Dresden wird als Aufsteiger des Jahres gefeiert (Rang 10 von 50 in der Gesamtwertung; Vorjahr Rang 30). Chemnitz  liegt auf Rang 38; Vorjahr: Rang 43) vor Leipzig (Rang 41; Vorjahr: Rang 47).

Beim Demografie-Index (Wachstum/Schrumpfung) liegt Dresden auf Rang 28 vor Leipzig (Rang 43) und Schlusslicht Chemnitz.

AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE-Thema: Ländlicher Raum

NEU, Claudia (2006): Territioriale Ungleichheit - Eine Erkundung,
in:
Aus Politik und Zeitgeschichte Nr.37 v. 11.09.

BARLÖSIUS, Eva (2006): Gleichwertig ist nicht gleich,
in:
Aus Politik und Zeitgeschichte Nr.37 v. 11.09.

SCHIRRMACHER, Frank (2006): Nackte Aste.
Die neue soziale Basis der NPD ist eine demographische,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 20.09.

PAETZ, Berthold (2006): Sonderstudienpläne für Schwangere.
Menschenschwund und Back-Home-Bewegung: Gibt es einen Halt auf der schiefen Ebene der ostdeutschen Demografie?
in: Freitag Nr.52 v. 22.12.

2007

HORDYCH, Harald (2007): Häuserkampf.
Katastrophe mit großen Löchern: Wenn in Deutschland Städte schrumpfen. Eine Reise nach Duisburg und Leipzig,
in: Süddeutsche Zeitung v. 13.01.

Harald HORDYCH zeichnet zuerst ein deprimierendes Bild von Leipzig als sterbender Großstadt, die durch verfehlte Stadtentwicklungspolitik Sinnbild der perforierten Stadt wurde. Dann setzt jedoch ein Umdenken ein, weil die Stadt wieder wächst. Und inzwischen sind sogar die Anfänge der Gentrifizierung ("Pionierphase") in den Problemvierteln der Gründerzeit zu beobachten (mehr hier).

PROKLA-Thema: "Bevölkerung"
Kritik der Demographie

BARLÖSIUS, Eva & Claudia NEU (2007): "Gleichwertigkeit - Ade?"
Die Demographisierung und Peripherisierung entlegener ländlicher Räume,
in: Prokla 146, H.1, März

TUTT, Cordula (2007): Das große Schrumpfen, Berlin Verlag

PROGNOS (2007): Zukunftsatlas 2007.
Studie: Alle 439 Städte und Kreise im Test. Ostdeutschland holt auf Bayern und Baden-Württemberg deutschlandweit vorne,
in: Pressemitteilung der Prognos AG v. 26.03.

SAB (2007): Wohnungsbaumonitoring 2006/2007, herausgegeben von der Sächsischen Aufbaubank

DIETRICH, Stefan (2007): Männer in Not,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 31.05.

SCHWÄGERL, Christian (2007): Hilfe, wo sind all die Frauen hin?
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 31.05.

"Bernd Noack. Seit Mai 2005 ist er Bürgermeister von Ebersbach in Sachsen, einem siebenhundert Jahre alten Ort, in dem die offizielle Quelle der Spree liegt. Ohne dass er etwas dafür kann, zerbröselt die Stadt zwischen seinen Fingern. Dass sich die Einwohnerschaft von Ebersbach von früher vierzehntausend auf bald siebentausend halbiert (...) und dass es in seinem Ort viel zu wenige junge Menschen gibt, all das hat Noack bereits gewusst.
Neu ist ihm, dass in Ebersbach besonders die jungen Frauen fehlen. Eine »neue männliche Unterschicht« sieht das Berlin-Institut in Städten wie Ebersbach heranwachsen. (...). Noacks Amtszeit läuft bis zum Jahr 2012. Er wird tapfer sein müssen",

meint Christian SCHWÄGERL zur Broschüre Not am Mann. Dort heißt es:

"In den neuen Bundesländern gibt es knapp 60 Gemeinden mit mehr als 5.000 Einwohnern, in denen in der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen weniger als 80 Frauen je 100 Männer leben. Für unsere Feldforschung haben wir nicht einfach jene Gemeinden mit dem eklatantesten Frauenmangel ausgewählt (...). Wir haben vielmehr zwei Orte gesucht, die möglichst exemplarisch für die demografischen Probleme der peripheren Regionen in den neuen Bundesländern stehen. Deshalb sollte das zahlenmäßige Geschlechterverhältnis im gesamten umgebenden Landkreis ähnlich wie in dem Ort selbst ausfallen. Auch sollten die Orte (...) nicht zu klein sein (...). Unsere Wahl fiel auf die Städte Ebersbach, gelegen im Landkreis Löbau-Zittau in Ostsachsen, sowie auf Herzberg im Landkreis Elbe-Elster im südwestlichen Brandenburg. Sie sind (...) keine Negativ-, sondern Durchschnittsbeispiele für die Abwanderung, insbesondere junger Frauen, für die Bildungserosion und die flächenhaft hohe Arbeitslosigkeit in vielen Regionen der neuen Bundesländer." (2007, S.8)

Ebersbach wird als "Stadt ohne Zentrum" folgendermaßen beschrieben:

"Wer von der sächsischen Landeshauptstadt Dresden nach Osten fährt, gelangt nach etwa 70 Kilometern in (...) die Oberlausitz. In diesem Gebiet (...) liegt Ebersbach - unmittelbar an der Grenze zur Tschechischen Republik. Die Stadt mit knapp 9.000 Einwohnern gehört zum Landkreis Löbau-Zittau. (...). Ebersbach findet sich etwa in der Mitte zwischen jenen beiden größeren Städten wieder - Löbau und Zittau -, die dem Kreis seinen Namen geben. (...). Die Stadt zieht sich einer ringförmigen Straße um den Schlechteberg entlang (...). Der Ring (...) besteht aus sieben Ortsteilen. Im Westen liegt das Stadtzentrum, nördlich zieht sich die endlose Hauptstraße durch Unter- und Oberdorf. Im Süden dehnt sich das Plattenbaugebiet »Oberland« aus, das in den 1970er Jahren vor allem für die zahlreichen zuziehenden Arbeiter der Textilindustrie, aber auch für die Berufssoldaten des DDR-Militärstandortes Löbau gegründet wurde. Im Westen steht - direkt im Ort - der Grenzstein zur Tschechischen Republik. (...). Die wenigen Restaurants und Gaststätten Ebersbachs liegen verstreut über das Stadtgebiet, ein urbaner Mittelpunkt fehlt. (...).
Die »Lautex« hielt bis 1990 eine Art Arbeitsplatzmonopol in Ebersbach und bot mit rund 2.000 Arbeitsplätzen 80 Prozent aller Werktätigen in der Stadt ein Auskommen. Nach der Wiedervereinigung schloss der Betrieb. Die Kleinstadt verlor ihr wirtschaftliches Rückgrat - und ihren Mittelpunkt. (...).
Nach der Abwicklung der Textilfabrik kamen die Bagger (...). Vom Rathaus schaut man heute auf gepflegte Rasenflächen. Der benachbarte Bahnhof ist vernagelt (...). Der lokale Einzelhandel hat es schwer (...). Wer sparen will, kauft nicht auf deutscher Seite.
Die alten Wohngebiete von Ebersbach mit ihren teils denkmalgeschützten so genannten Umgebindehäusern (...) erschweren den Umbau nach modernen Wohnstandards.
(...) Ebersbach sind weniger als 9.000 der einst 12.000 Einwohner geblieben. Nur noch ein Viertel der Einwohner ist jünger als 30 Jahre (Bundesdurchschnitt: 32 Prozent). 35 Prozent haben die 60 überschritten (24 Prozent in ganz Deutschland). Die Arbeitslosenquote liegt im Kreis Löbau-Zittau bei mehr als 20 Prozent - selbst im Osten ein hoher Wert. Im Jahr 2005 kamen in Ebersbach 56 Kinder zur Welt, während 121 Menschen verstarben. Unterm Strich zogen 187 Personen fort. Die Einwohnerschaft des Städtchens ist so in einem einzigen Jahr, anderthalb Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung, um 2,7 Prozent geschrumpft. (...). Auswirkungen des sozialen Abstiegs (...) spürt (man)(...) dort, wo sich die Verlierer (...) aus städtebaulichen Gründen konzentrieren - in Ebersbach im Oberland. (...) Zunächst war der höhere Komfort der Plattenwohnungen begehrt. Zu Hoch-Zeiten wohnten hier 6.500 Ebersbacher. Doch nach der Wende begannen jene, die es sich leisten konnten, Häuser im Umland zu bauen. In frei werdenden Wohnungen wurden Aussiedler (...) einquartiert, worauf die verbliebene Mittelschicht begann, das Oberland zu verlassen. (...). Heute leben dort noch 3.000 Menschen. (...). Das Oberland ist zum sozialen Brennpunkt geworden." (2007, S.8f.)

Eine Tabelle weist zwischen 2001 und 2005 einen Bevölkerungsrückgang von 9.841 auf 8.832 Personen aus, was einen Rückgang von rund 10,3 Prozent entspricht. Seit 2011 ist der Ort nur noch ein Ortsteil der Stadt Ebersbach-Neugersdorf. Das Statistische Jahrbuch Sachsen weist letztmalig im Jahr 2009 die Bevölkerung von Ebersbach mit 8.108 Einwohnern aus:

Jahr (31.12.) 1990 1999 2001 2003 2004 2005 2006 2008 2009 2010 2017
Einwohner Ebersbach 12.592 10.519 9.841 9.232 9.082 8.832 8.630 8.321 8.108    
Einwohner Ebersbach-Neugersdorf                   13.817 12.072

"In Ebersbach herrschte im Jahr 2004 in der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen ein Frauenmangel von 27 (...) Prozent" (2007, S.12),

schreiben die Autoren. Eine Tabelle gibt dagegen für das Jahr 2005 nur noch einen Frauenmangel von 25 Prozent an (S.10). Ansonsten finden sich keine weiteren Angaben zum Frauenmangel in Ebersbach. Die Datenlage ist also mehr als dürftig. Dies gilt umso mehr, da sie eher eine Momentanaufnahme, statt eine Langzeitbetrachtung ist.

Ist aber Ebersbach überhaupt ein durchschnittlicher Ort in Sachsen oder gar Ostdeutschland? Eher nicht, denn die neoliberale Bertelsmann-Stiftung hat der Gemeinde einen Bevölkerungsverlust von fast 29 Prozent für die Jahre 2005 bis 2020 prognostiziert. Dies aber ist kein Durchschnitt, sondern ein Extremwert! Ebersbach wird in den Demographietyp 4 eingestuft, der nur einer von 15 Typen ist, und zudem nicht einmal 13 % aller Gemeinden zwischen 5.000 und 100.000 Einwohnern betrifft.

Fazit: Die Broschüre Not am Mann gehört in die Sparte demagogischer Literatur, die Ängste bezüglich des demografischen Wandels schürt, statt Aufklärung zu leisten. Die Studie will auf die Gefahr des Rechtsextremismus in abgehängten Regionen aufmerksam machen, doch ist sie nur gut gemeint, spielt jedoch den Rechten geradezu in die Hände. Statt der Ursachen, nämlich fehlende Zukunftsperspektiven in strukturschwachen Gebieten, die durch eine neoliberale Politik drastisch verschärft wurden, werden uns nur deren Folgen als Problem präsentiert. Diese Demografisierung gesellschaftlicher Probleme ist nicht die Lösung, sondern das Problem.

Plattenbausiedlungen sind im Übrigen nicht vorrangig das Problem von Landstädten, sondern von ostdeutschen Großstädten, was jedoch erst mehr als 10 Jahre später zum Thema wird.  

HONNIGFORT, Bernhard (2007): Frau = schlau = weg.
Sie geht, er bleibt. In Ostdeutschlands Dörfern leben zunehmend Problem-Männer,
in: Frankfurter Rundschau v. 31.05.

OSCHLIES, Renate & Andrea Beyerlein (2007): Junge Frauen verlassen den Osten.
Sozialstudie: 18- bis 29-Jährige suchen Jobs im Westen. Dramatischer Männerüberschuss in den neuen Ländern / Forscher warnen vor neuer Unterschicht und rechten Tendenzen,
in: Berliner Zeitung v. 31.05.

SCHLEGEL, Matthias (2007): Osten ohne Frauen,
Schwestern, zur Sonne...,
in: Tagesspiegel v. 31.05.

TRETBAR, Christian (2007): Junge Frauen verlassen den Osten.
Studie warnt vor "neuer männerdominierter Unterschicht". Grund ist unterschiedliches Bildungsniveau,
in: Tagesspiegel v. 31.05.

BURGER, Reiner (2007): Zurückgelassen in der Ödnis.
Die alleinstehenden Männer sind alles andere als Pioniere,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 08.06.

"Die Frauenmangelzone umfasst nicht nur Randgebiete wie die Oberlausitz, Uecker-Randow oder Parchim, sondern beginnt, wie das Beispiel Freital zeigt, gleich hinter der Stadtgrenze so blühender Städte wie Dresden. Die sächsische Landeshauptstadt konnte ihre Bevölkerung in den vergangenen Jahren ebenso wie Leipzig, die thüringische Städtekette von Erfurt über Jena nach Eisenach oder wie Potsdam vor allem dank des massiven Zuzugs aus dem Umland stabilisieren. Bald wird dieser Vorrat ausgeschöpft sein. Sogar die wenigen ostdeutschen Leuchttürme geraten also bald in Gefahr (...). Der demographische Wandel wird im Osten zum größten Wachstumshemmnis werden (...).
Dass unter den Abgewanderten besonders viele Frauen im gebärfähigen Alter sind, hat in der ersten ostdeutschen Abwanderungsanalyse schon Ende 2002 das Statistische Landesamt des Freistaats herausgearbeitet. (...).
Regionen mit Männerüberschuss (entstehen) heute nicht mehr etwa wie in der Kolonisierungsphase Amerikas oder auch während des Mittelalters bei der Besiedelung des Erzgebirges durch das Vordringen junger Pioniere, sondern durch das Zurückbleiben wenig gebildeter junger Männer, die keine Chance auf Arbeit und Partnerschaft haben. Diese zurückgelassenen Männer neigen im Osten zum Rechtsextremismus. Ein Teil dieser Unterschicht hat den Weillen zum sozialen Aufstieg längst verloren",

erklärt uns Reiner BURGER anlässlich der Broschüre Not am Mann. Bildung wird uns als neoliberale Wunderwaffe gepriesen, denn:

"ein in Stuttgart arbeitender Brandenburger (trägt) mehr zur volkswirtschaftlichen Wertschöpfung und zum eigenen Wohlbefinden bei als ein arbeitsloser Brandenburger in Cottbus". 

WEDEL, Mathias (2007): Not am Mann.
Dem Osten laufen die Frauen weg,
in: Freitag Nr.23 v. 08.06.

MARTENSTEIN, Harald (2007): Über den Frauenmangel,
in: Tagesspiegel v. 01.06.

"Ich bin für Emanzipation und all das. Gleichzeitig sehe ich, dass die Chancengleichheit den Karrieredruck auf uns Männer wahnsinnig erhöht. Einerseits haben wir jetzt all die ehrgeizigen Frauen als Konkurrentinnen, andererseits werden wir, wenn wir es nicht nach oben schaffen, dadurch zusätzlich bestraft, dass wir keine Partnerin finden oder sogar Nazis werden müssen. Es gibt wirklich sehr nette Fensterputzer!" meint Harald Martenstein zur Not am Mann.

GÜNTNER, Joachim (2007): Opfer einer Damenwahl,
in: Neue Zürcher Zeitung  v. 09.06.

"Noch lässt sich der ostdeutsche Mann in Not mit hängenden Schultern darstellen. Steht er bald stramm, wie es bereits heute einige tun, reckt den geschorenen Kopf und die Hand zum unheilvollen Gruss? Über Skinheads und Neonazis sang die Punkrock-Band «Die Ärzte» 1993 sinnig: «Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe / Deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit.»", fragt sich GÜNTNER angesichts der Studie Not am Mann, die von FAZ und Spiegel gehypt wird.

KIRCHBACH, Roland (2007): Zum Dreinschlagen.
Der Frust Jugendlicher auf dem Dorf nimmt zu. TV und Internet zeigen ihnen eine unerreichbare Welt, sagt der Berliner Soziologe Hartmut Häußermann,
in:
Die ZEIT Nr.28 v. 05.07.

Im ZEIT-Dossier über die Samstagnacht auf dem Land, macht der 68er Hartmut HÄUßERMANN den Frauenmangel für Exzesse mitverantwortlich:

"Wenn man in einem so beschränkten Handlungskreis lebt, wie es ein Dorf darstellt, dann gibt es einen Energiestau, der sich irgendeinen Ausweg sucht – vor allem bei jungen Männern, Frauen sind davon ja kaum betroffen. Wahrscheinlich ist sogar der Frauenmangel mit ein Grund, warum sich solche Männlichkeitsrituale austoben können. Außerdem gibt es einen kollektiven Teilnahmezwang."

WELT-Serie: Besser Altern (Teil 3)

REENTS, Heino (2007): Hoffnungszeichen für Eigenheimbesitzer.
Warum der demografische Wandel nicht automatisch zum Preisverfall bei Wohnimmobilien führt,
in: Welt v. 01.08.

WELT-Serie: Besser Altern (Teil 6)

HOLLSTEIN, Miriam (2007): Ostdeutschland wird zum Rentnerparadies.
Der Osten entwickelt sich zu einem Ruhesitz für Westdeutsche. Während die einen sich über den Zuwachs freuen, fürchten die anderen, dass Städte wie Görlitz und Weimar in Zukunft ausschließlich als Altersresidenz angesehen werden könnten,
in: Welt v. 09.08.

Miriam HOLLSTEIN berichtet über die Altenwanderung nach Görlitz und Busfahrten nach Leipzig (mehr hier).

RATHENOW, Lutz (2007): Leben und trinken in der Trostlosigkeit.
Der Osten zerfällt: In den Städten herrscht der Erfolg, in der Provinz dagegen jugendlicher Stumpfsinn,
in:
Tagesspiegel v. 27.08.

"Den Dorftanz einiger Ortschaften galt es für Auswärtige zu meiden. »Unsere Hühner bumsen wir selber!« – ein Spruch, der Minderwertigkeitskomplexe verriet. Zu ausländerfeindlichen Auseinandersetzungen kam es damals nicht – in Ermangelung dieser. Auch heute wachsen Jugendliche heran, die einfach zu wenig Fremdes sehen und erleben, während sie medial mit dem Glamour einer Erlebniswelt gefüttert werden, die nach Wustrow oder Wurzen nie kommt", meint Lutz RATHENOW.

IW Köln (2007): Deutsche Großstädte im Vergleich. Untersuchung für das Jahr 2007 und den Zeitraum von 2001 bis 2006. Im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und der Wirtschaftswoche v. 09.09.

Das neoliberale Städte-Ranking wird seit 2004 zum 4. Mal durchgeführt und bewertet die 50 einwohnerstärksten Großstädte nach ihrer Wirtschaftsfreundlichkeit. Das Abschneiden der sächsischen Großstädte ist aus der nachfolgenden Übersicht ersichtlich:

Tabelle: Rang der sächsischen Großstädte unter den 50 einwohnerstärksten Städten
im INSM-Städtevergleich 2007
Großstadt Rang im Gesamtranking Rang im Niveauranking Rang im Dynamikranking
Dresden 8 25 1
Chemnitz 34 43 7
Leipzig 41 47 33
Quelle: IW Köln 2007, Tabellen S.9, 11 und13

Es wird nur der Rang betrachtet, weil die Punktewertung aufgrund der wechselnden Indikatorenbildung keine Aussagekraft besitzt.

TAGESSPIEGEL (2007): Not am Mann.
Zum Beispiel in Großharthau, Sachsen: Auf 100 Männer kommen hier nur 46 Frauen. "Die Mädels haben sich einfach fortgemacht", heißt es an vielen Orten Ostdeutschlands. Es entsteht eine Gesellschaft von Junggesellen, die sich oft als Versager fühlen, sagt eine Studie. Und manche driften in die rechte Szene ab,
in: Tagesspiegel v. 03.12.

Die unzähligen Presse-Geschichten über die Not am Mann gleichen sich wie ein Ei dem anderen: Sie spielen im Osten, sie handeln vom Männerüberschuss und sie bedienen die Angstlust des Lesers am (Rechts-)extremismus, die der Soziologe Gunnar HEINSOHN mit seinem Pamphlet Söhne und Weltmacht auf die Spitze getrieben hat.

Mit dieser Demografisierung gesellschaftlicher Probleme wird man jedoch dem Thema Menschen ohne Beziehungserfahrung nicht gerecht, denn gerade in Westdeutschland, wo durch die sexuelle Revolution Beziehungsunerfahrenheit zur Domäne von Jugendlichen unter 18 geworden ist, gibt es eine beachtliche Minderheit von Beziehungsunerfahrenen, die unfreiwillig bis Mitte zwanzig, seltener darüber hinaus partnerlos geblieben sind.

Wer dieses Problem auf spektakuläre Fälle im Osten reduziert, der verkennt, dass unfreiwillige Partnerlosigkeit weniger mit Ungleichgewichten auf dem Partnermarkt zu tun hat, sondern mit den Mechanismen des modernen Partnermarktes an sich.

2008

BERLINER ZEITUNG-Tagesthema: Demographischer Wandel

BÜCHNER, Gerold (2008): Gesund schrumpfen.
BERLINER ZEITUNG-Tagesthema Demographischer Wandel: Die Bundesregierung fördert Initiativen gegen den Bevölkerungsschwund. Zwei Gebiete wurden für Vorzeigeprojekte ausgewählt. Brandenburg entwickelt eigene Ansätze,
in: Berliner Zeitung v. 09.01.

BERTELSMANNSTIFTUNG (2008): Regionalreport Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.  Differenzierung des »Wegweisers Demographischer Wandel« für drei ostdeutsche Bundesländer, August

Thorsten WIECHMANN &, Ingo NEUMANN (TU Dresden) analysieren in dem Regionalreport in erster Linie die Kommunen des Demographietyps 4 "Schrumpfende und alternde Städte und Gemeinden mit hoher Abwanderung", zu denen in den drei Ländern die überwiegende Mehrheit der Städte und Gemeinden mit über 5.000 Einwohnern gehören. Bundesweit gehören 352 Kommunen zu diesem Typ. 228 (vgl. Tabelle 5, S.21) liegen in Sachsen (125 Kommunen), Sachsen-Anhalt (59 Kommunen) und Thüringen (44 Kommunen).

Für Sachsen wurden in 162 Kommunen mit 5.000 bis 100.000 Einwohnern 125 Kommunen dem Demographietyp 4 (77,1 %), 19 dem Typ 2 ("Suburbane Wohnorte mit hohen Wachstumserwartungen; 11,8 %), 10 dem Typ 6 ("Städte und Gemeinden im ländlichen Raum mit geringer Dynamik; 6,2 %). 2 der 8 Bertelsmann-Demographietypen gibt es in Sachsen gar nicht. 8 Kommunen verteilen sich auf die restlichen 3 Demographietypen.

Die Großstadt Chemnitz wird als "schrumpfende und alternde ostdeutsche Großstadt" klassifiziert (vgl. Tabelle 3, S.15). Dresden und Leipzig gelten dagegen als aufstrebende ostdeutsche Großstädte mit Wachstumspotenzialen.

"Charakteristisch für den Demographie-Typ 4 ist die Dominanz von Kommunen mit weniger als 25.000 Einwohnern, die in Sachsen (...) 83 Prozent dieses Typs ausmachen. Allerdings gibt es in den Altbundesländern mit Einbeck nur eine einzige Kommune mit mehr als 25.000 Einwohnern, die von den kumulierten Problemlagen der Alterung, Schrumpfung und ökonomischen Schwäche betroffen ist. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gehören dagegen 37 größere Kommunen mit über 25.000 Einwohnern zu diesem Demographie-Typ. Hierzu zählen beispielsweise die kreisfreien Städte Görlitz, Hoyerswerda, Plauen, Zwickau, Dessau und Suhl." (2008, S.19f.)

Die genannten vier sächsischen Städte Görlitz, Hoyerswerda Plauen und Zwickau haben ihren Status als kreisfreie Städte ab 2008 verloren.

Von den 53 Kommunen mit einem prognostizierten Bevölkerungsverlust von mehr als 15 Prozent zwischen 2005 und 2020 gehören 35 zu Sachsen, 10 zu Sachsen-Anhalt und 8 zu Thüringen. Der Spitzenreiter ist die Kommune Wolfen (43,2 %), die ab 2007 mit Bitterfeld zusammen die neue Gemeinde Bitterfeld-Wolfen bildet. 

LOSSE, Bert (2008): Im hellen Schein.
Wohlstand, Wachstum, Jobs, Zukunftsperspektiven. Der große Städtetest der WirtschaftsWoche sagt, wo es sich am besten arbeiten und leben lässt. Wo Politik und Verwaltung tüchtig arbeiten. Und wo sich Bürger und Unternehmen am wohlsten fühlen,
in: WirtschaftsWoche Nr.37 v. 08.09.

Bert LOSSE präsentiert das jährliche Städteranking, das von den neoliberalen Lobbyorganisationen INSM und IW Köln gesponsert wird. Dresden wird als dynamischste Stadt (Rang 9 von 50 in der Gesamtwertung; Vorjahr Rang 8), Chemnitz als billigste Stadt (Rang 27; Vorjahr: Rang 41 und damit Aufsteiger des Jahres!) vorgestellt, während Leipzig (Rang 23; Vorjahr: Rang 34) unerwähnt bleibt. 

HOLLSTEIN, Miriam (2008): Heitere Rückkehr der Frauen.
Viele junge hoch qualifizierte Frauen wollen Ostdeutschland nicht ungebildeten Männern überlassen. Sie ziehen zurück in ihre Heimat, um diese zu verändern,
in: Welt am Sonntag v. 05.10.

SAB (2008): Wohnungsbaumonitoring 2008. Perspektiven und Trends der Entwicklung auf dem sächsischen Wohnungsmarkt, herausgegeben von der Sächsischen Aufbaubank

Aufgrund der Kreisreform gibt es in Sachsen seit dem 1. August 2008 nur noch 10 Landkreise und 3 kreisfreie Städte statt der bislang 22 Landkreise und 7 kreisfreien Städte. Der Bericht verwendet jedoch noch die alte Kreisstruktur.

BERTELSMANNSTIFTUNG (2008): Deutschland wird immer älter.
Bertelsmann Stiftung veröffentlicht Bevölkerungsprognose 2025 – Daten und Fakten für rund 3.000 Kommunen im Internet abrufbar,
in:
Pressemitteilung der BertelsmannStiftung v. 08.12.

BERTELSMANNSTIFTUNG (2008): Sachsen ist 2025 das jüngste Ost-Bundesland.
Zahl der Senioren über 80 Jahre steigt dennoch stark an,
in:
Pressemitteilung der BertelsmannStiftung v. 08.12.

Eine Landkarte zur Pressemitteilung zeigt die prognostizierte Bevölkerungsentwicklung in Sachsen von 2006 bis 2025. 

HONNIGFORT, Bernhard (2008): Der Osten vergreist,
in:
Frankfurter Rundschau v. 09.12.

"Fünf Wolfsrudel leben heute in Ostsachsen, angeblich eines auch im Süden Brandenburgs. Der Mensch geht, der Wolf rückt nach und macht sich breit im Osten der Republik - eine neue Studie der Bertelsmann-Stiftung scheint es jetzt zu belegen.
(...). 2025 (...) werden die Städte mit den ältesten Einwohnern dann im Osten liegen: Hoyerswerda (15,3 Prozent) oder Suhl (12,7) werden die meisten über 80-Jährigen unter ihren Einwohnern haben. (...).
Besonders dramatisch wird sich der Bevölkerungswandel in Ostdeutschland vollziehen. Dort werden nur wenige Städte wie Dresden, Potsdam und Leipzig noch wachsen und in Zukunft mehr Einwohner haben. Städte wie Chemnitz, Halle, Magdeburg oder Rostock werden dagegen zwischen acht und 15 Prozent ihrer Einwohner verlieren",

erklärt uns Bernhard HONNIGFORT und zitiert den Ökonom Joachim RAGNITZ, der uns erklärt, dass wir das nur hinnehmen können!

2009

TIEFENSEE, Wolfgang (2009): Der Letzte macht das Licht aus.
Man soll schwach bevölkerte Regionen nur noch versorgen, nicht mehr fördern, meint Reiner Klingholz. So spricht die Wissenschaft. Die Politik kann sich das nicht leisten,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 04.07.

FISCHER, Konrad (2009): Kommunen im Wickelkrieg.
Aus Angst vor dem drohenden Einwohnerverlust liefern sich Städte und Gemeinden eine teure Werbeschlacht um junge und bauwillige Familien,
in: Wirtschaftswoche Nr.34 v. 17.08.

FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG-Serie: Modernes Bauen (Teil 3)

GEINITZ, Christian (2009): Das Fadenkreuz der Moderne.
Die Nibelungensiedlung in Leipzig zählt zu den spektakulärsten Bauprojekten der dreißiger Jahre. Der Architekt des "Rundlings" war zu modern für die gründerzeitverliebte Stadt und wurde weggegrault. Die Großanlage mit fast 1000 Wohnungen überstand vier Regime. Das gilt auch für manche Bewohner,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 23.08.

Christian GEINITZ stellt die Nibelungensiedlung in Leipzig-Lößnig im Süden der Großstadt vor (mehr hier).

IW Köln (2009): Deutsche Großstädte im Vergleich. Untersuchung für das Jahr 2008 und den Zeitraum von 2003 bis 2008. Im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und der Wirtschaftswoche v. 09.09.

Das neoliberale Städte-Ranking wird seit 2004 zum 6. Mal durchgeführt und bewertet die 50 einwohnerstärksten Großstädte nach ihrer Wirtschaftsfreundlichkeit. Das Abschneiden der sächsischen Großstädte ist aus der nachfolgenden Übersicht ersichtlich:

Tabelle: Rang der sächsischen Großstädte unter den 50 einwohnerstärksten Städten
im INSM-Städtevergleich 2009
Großstadt Rang im Gesamtranking Rang im Niveauranking Rang im Dynamikranking
Dresden 27 30 19
Chemnitz 35 42 14
Leipzig 43 49 5
Quelle: IW Köln 2009, Tabellen S.8, 11 und13

Es wird nur der Rang betrachtet, weil die Punktewertung aufgrund der wechselnden Indikatorenbildung keine Aussagekraft besitzt.

 
     
 
       
   

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webmaster@single-generation.de Erstellt: 27. Mai 2018
Update: 30. Januar 2020