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Einführung
Die
sächsische Stadt Weißwasser in der Oberlausitz, die zum Landkreis Görlitz
gehört, zählt nach Hoyerswerda zu den am stärksten
schrumpfenden Städte in
Sachsen. Im Gegensatz zu anderen Städten besitzt
Weißwasser keinen bedeutsamen Altstadtkern, sondern ist durch
Plattenbausiedlungen gekennzeichnet. Angesichts des geplanten
Kohleausstiegs zeichnet sich ein erneuter Strukturwandel ab.
Damit stellt sich die Frage, ob dieser Strukturwandel
erfolgreicher verlaufen wird als jener in der Nachwendezeit.
In dieser Bibliografie steht deshalb diese Entwicklung und
deren Folgen im Mittelpunkt.
Übersicht: Die Bevölkerungsentwicklung der Stadt
Weißwasser 1990 - 2018
Tabelle:
Die Bevölkerungsentwicklung in der Stadt Weißwasser |
Jahr |
Weißwasser
(Stadt) |
Bevölkerungs-
stand
(31.12.) |
Bevölkerungsentwicklung
zum Vorjahr
(in Prozent) |
Anzahl
Lebendgeborene |
1990 |
35.430 |
|
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1991 |
|
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1992 |
|
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1993 |
|
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1994 |
|
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1995 |
31.049 |
|
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1996 |
|
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1997 |
|
|
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1998 |
|
|
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1999 |
|
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2000 |
26.107 |
|
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2001 |
24.815 |
- 1.292 (- 4,9 %) |
|
2002 |
23.862 |
- 953 (- 3,8 %) |
|
2003 |
22.966 |
- 896 (- 3,8 %) |
|
2004 |
22.218 |
- 748 (- 3,3 %) |
|
2005 |
21.498 |
- 720 (- 3,2 %) |
|
2006 |
20.823 |
- 675 (- 3,1 %) |
|
2007 |
20.298 |
- 525 (- 2,5 %) |
|
2008 |
19.927 |
- 371 (- 1,9 %) |
|
2009 |
19.615 |
- 312 (- 1,6 %) |
|
2010 |
19.055 |
- 560 (- 2,9 %) |
137 |
2011 |
17.887** |
- 1.168 (- 6,1
%)** |
|
2012 |
17.541 |
- 346 (- 1,9 %) |
|
2013 |
17.288 |
- 253 (- 1,4 %) |
|
2014 |
17.074 |
- 214 (- 1,2 %) |
|
2015 |
16.851 |
- 223 (-
1,3 %) |
116 |
2016 |
16.660 |
- 191 (- 1,1 %) |
|
2017 |
16.348 |
- 312 (- 1,9 %) |
|
2018 |
16.130 |
- 218 (- 1,3 %) |
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Quelle:
weisswasser.de (bis 2006); Statistische Berichte des Statistischen Landesamts
Sachsen; Sozialstrukturatlas
Landkreis Görlitz; ** zensuskorrigierte Zahlen ab 2011;
eigene Berechnungen |
Kommentierte Bibliografie (2004 - 2019)
2004
KABISCH, Sigrun/BERNT, Matthias/PETER, Andreas (2004): Stadtumbau
unter Schrumpfungsbedingungen. Eine sozialwissenschaftliche
Fallstudie, Springer VS
Im Mittelpunkt der Fallstudie
steht das Plattenbauviertel
Weißwasser-Süd.
BISKY, Jens (2004):
Wo liegt der tiefste Punkt?
Ankunft in
der Katastrophe:
Vom Schrumpfen der Städte,
in: Süddeutsche Zeitung v. 24.08.
Jens BISKY empfiehlt die
Fallstudie
Stadtumbau unter Schrumpfungsbedingungen:
"Die Studie, die erste ihrer
Art, ist ein knapper, gut lesbarer Roman ostdeutschen Abstiegs
geworden, erzählt am Beispiel der Stadt Weißwasser, jenem Dorf
inmitten der Muskauer Heide (Sachsen), aus dem durch zwei
Industrialisierungswellen, eine um 1900 und eine zu DDR-Zeiten,
eine Industriestadt wurde. Glaserzeugung, Braunkohleabbau und
das nahe gelegene Kraftwerk Boxberg nährten die Einwohner: 1987
waren es 37.400. 67 Prozent von ihnen lebten im Stadtteil
Weißwasser-Süd, in Wohnvierteln, die ausschließlich in
Plattenbauweise errichtet wurden.
Heute gehört Weißwasser zu den zahn am stärksten vom
Bevölkerungsrückgang betroffenen Städten Ostdeutschland. Ein
Drittel der Weißwasseraner ist schon fort. Jedes Jahr suchen
vier Prozent der Bewohner das Weite (...). Die Geburtenrate
bleibt niedriger als durchschnittlich in Sachsen. Die
Arbeitslosenquote lag zur Jahrtausendwende bei rund 22 Prozent.
Man kann hier den Teufelskreis studieren (...). Alle Akteure
scheinen tendenziell überfordert.
Im Jahr 2000 begann man mit dem Abriss. (...).
Junge Familien fehlen, jene, die heute in Rente sind, verfügen
über ein vergleichsweise gutes Einkommen. Aber ihnen werden
demnächst Kohorten ärmerer Rentner folgen (...). Man fragt sich,
ob der Begriff der Schrumpfung (...) nicht beschönigt. Im Falle
Weißwassers handelt es sich um den Zusammenbruch einer Welt.
(...). Abriss muss daher mit Verbesserungen in den
Lebensbedingungen und mit einer Aktivierung der Bewohner
einhergehen.
Schließlich hat sich auch der Charakter der Viertel gewandelt:
»Plattenbauviertel,
die ursprünglich die Funktion einer Schlafstadt für
vollzeitbeschäftigte Männer und Frauen hatten, werden nun (...)
Lebensmittelpunkt.« (...). Es ist unbekannt, ob und wann
Weißwasser den Tiefpunkt erreicht und sich zu stabilisieren
beginnt."
KIRBACH, Roland (2004): Die letzten Kinder.
23.000 Menschen leben in Weißwasser in Sachsen. Jedes Jahr verlassen 1.000 Bewohner
den Ort. Auch der 19-jährige Paul überlegt, ob es an der Zeit
ist zu gehen,
in: Die ZEIT Nr.41 v. 30.09.
Während die Schlagzeile
behauptet, dass jedes Jahr 1000 Bewohner den Ort verlassen, heißt es
im Text dagegen, dass der Ort jedes Jahr ca. 1000 Einwohner verliert.
Das ist aber ein Unterschied: ob 1000 Bewohner wegziehen oder 1000
Bewohner durch Bevölkerungsbewegungen (Geburten, Sterbefälle,
Zuwanderungen und Abwanderungen) verloren werden. Die Homepage der
Stadt
Weißwasser nennt lediglich die folgende Entwicklung der
Einwohnerzahlen:
Jahr |
Einwohner |
Differenz zum
Vorjahr |
2000 |
26.107 |
|
2001 |
24.815 |
-
1.292 |
2002 |
23.862 |
-
953 |
2003 |
22.966 |
-
896 |
2004 |
22.218 |
-
748 |
2005 |
21.498 |
-
720 |
2006 |
20.823 |
-
675 |
2007 |
20.298 |
-
525 |
2008 |
19.906 |
-
392 |
2009 |
19.615 |
-
291 |
2010 |
19.055 |
-
560 |
2011 |
17.887 |
-
1.168 |
2012 |
17.541 |
-
346 |
2013 |
17.288 |
-
253 |
Quelle:
http://www.weisswasser.de/zahlen_fakten (Stand: 04.06.2015)
und eigene Berechnungen |
Betrachtet man diese
Entwicklung, dann war die Aussage, dass der Ort jedes Jahr 1000
Einwohner verliert, bereits in der Tendenz irreführend, weil die
Verluste bereits seit dem Jahr 2001 zurückgingen. Die hohen Verluste
der Jahre 2010/2011 sind durch Bereinigungen der Statistik im
Zusammenhang mit dem Zensus 2011 verursacht.
Nähme man die Aussagen von
Roland KIRBACH ernst, dass der Ort jedes Jahr 1000 Einwohner verliert,
dann hätte Weißwasser im Jahr 2013 nur noch 13.000 Einwohner zählen
dürfen. Tatsächlich haben sich die Verluste weiter minimiert. Warum,
das lässt sich an diesen Zahlen nicht ablesen.
Roland KIRCHBACH widmet sich
vor allem dem Niedergang der Plattenbausiedlung Wießwasser-Süd:
"Viele Wohnblocks stehen halb
oder ganz leer, etliche Häuser sind bereits verschwunden. Auf einer
Länge von fast fünf Kilometern werden derzeit Plattenbauten
abgerissen. Insgesamt 5.000 Wohnungen wollen die beiden örtlichen
Wohnungsbaugesellschaften bis zum Jahr 2010 abräumen. (...).
Heute müssen selbst diejenigen umziehen, die eigentlich bleiben
wollen. Mieter aus den Wohnbehältnissen am Rand werden in leer
stehende Gebäude in der Mitte des Stadtteils umgesiedelt. Denn
Weißwasser-Süd soll von den Rändern her schrumpfen. Ausgerechnet die
neueren Wohnungen, die mit der besten Ausstattung, die mit Blick in
den angrenzenden Kiefernwald werden auf diese Weise abgerissen. (...).
Aus der Stadt der Jungen ist eine Stadt der Alten geworden, aus der
Stadt der Zuwanderer eine Stadt der Abwanderer. Und sie wird auch bald
eine Stadt der Armen sein, wenn die heute Arbeitslosen ins Rentenalter
kommen. (...) Dabei liegen die Einkommen schon heute unter dem
sächsischen und weit unter dem Bundesdurchschnitt, wie eine soeben
veröffentlichte sozialwissenschaftliche
Fallstudie (...) über
Weißwasser ergab."
Dieses Klima stärkt
Rechtsaußen-Parteien:
"Die meisten Menschen haben die
Hoffnung auf Besserung aufgegeben und kein Zutrauen mehr zur Politik.
Zur Kommunalwahl im Juni gingen nur noch 29 Prozent der
Wahlberechtigten. Und bei der Landtagswahl vor zwei Wochen lag die
Wahlbeteiligung zehn Prozent unter dem sächsischen Durchschnitt. 9,3
Prozent von ihnen wählten auch hier NPD".
2005
BERG, Stefan u.a.(2005):
Permanente Revolution.
Spiegel-Serie Wege aus der Krise: Die Parteien drücken sich im
Wahlkampf um das Thema Aufbau Ost - aus gutem Grund: Viele
Programme sind gescheitert, die Milliarden fließen weiter, aber
die Menschen wandern ab. Experten fordern, ganze Landstriche
aufzugeben, um wenigstens zukunftsträchtige Zentren noch mehr zu
fördern,
in: Spiegel Nr.36 v. 05.09.
Der
Spiegel beschreibt die Hoffnungslosigkeit im Osten am
Beispiel der sächsischen Lausitz-Städte Weißwasser und
Hoyerswerda:
"Teile der
Lausitz (...) wurden inzwischen aufgegeben. Das sächsische
Weißwasser liegt hier – von dort ist man schneller im polnischen
Nowe Czaple als in Dresden. Und der Westen, der ist ganz weit
weg.
Als der Kanzler im Februar das Elend besichtigte, wurde ihm das
Abbruchkonzept für die Lausitz-Stadt vorgestellt. Bis zum Jahr
2012 werden massenhaft Wohnblöcke platt gemacht – knapp 4.400
Wohnungen. Beschönigend heißt jenes Programm »Stadtumbau Ost«.
Ähnlich hätte Erich Honecker den Abriss auch getauft. Von über
37.000 Einwohnern vor der Wende sind noch 22.000 in der Stadt.
In 15 Jahren, so prognostizieren es die Demografen, werden es
nur 19.000 sein. Die meisten sind in den Westen gezogen, vor
allem die Jungen. Zurück blieben die Alten – in einer
Geisterstadt, deren Rückbau 32 Millionen Euro kosten wird.
Zukunft haben hier nur noch Altenheime."
2006
BÖLSCHE, Jochen (2006): Polinnen als letzte Hoffnung.
Verlassenes Land, verlorenes Land: Auf der Suche nach einem
guten Job oder einer guten Partie fliehen junge Frauen
massenhaft vom Land in die Städte. Zurück bleiben Männer, die
sich in Fernsehsucht, Suff und Fremdenhass flüchten. Politiker
erwägen bereits, Ausländerinnen für die Frustrierten anzuwerben
- ein fragwürdiges Konzept,
in: Spiegel online v. 16.03.
Als Folgen der
geschlechtsspezifischen Abwanderung wird das Gefühl des
Abgehängtseins und die Stärkung des Rechtsextremismus
beschworen:
"Als
Sozialwissenschaftler die Schrumpfungsfolgen in der
sächsischen Stadt Weißwasser analysierten, die seit 1990 ein
Drittel ihrer Einwohnerschaft verloren hat, stießen sie in
der Restbevölkerung vor allem auf Apathie und
Trostlosigkeit. Auf die lokale Arbeitslosenquote von 22
Prozent reagierten die ehemals werktätigen
Plattenbau-Bewohner, die in der DDR immerhin noch verbal als
»führende
Klasse«
hofiert worden waren, mit
»kognitiver
Einigelung«.
Typische Äußerungen:
»Die
ganze Gegend ist heute schon an den Westen verraten und
verkauft worden.«
- »Die
deutsche Einheit wird es wohl nie geben. Hass zwischen Ossis
und Wessis.«
- »Ein
Staat gegen die kleinen Leute, schlimmer als bei Honecker.
Alle Ostdeutschen haben Wut im Bauch.«
Politisch führt das allgegenwärtige Gefühl des Gekränkt- und
Abgehängtseins in Randregionen wie dem Erzgebirge
(Volksmund:
»Schmerzgebirge«)
teils zur ostalgischen Verklärung der SED-Staates, teils
geradewegs in den Rechtsradikalismus. Immer häufiger zielen
in den Zonen mit gestörter Sexualökonomie die Aggressionen
der alkoholisierten Zwangssingles auf Fremde - nicht zuletzt
wohl auch aus Angst, Eindringlinge könnten den Einheimischen
die ohnehin knapp gewordene Ressource Frau streitig machen",
erklärt uns BÖLSCHE, aber
mehr als eine Diagnose haben Neoliberale nicht zu bieten. Es
werden zwar die "fehlenden Abwehrkräfte" beklagt, aber
Neoliberalismus mit seiner Politik der Stärkung der Starken
hat keine Rezepte für den Umgang mit den anderen, außer sie
moralisch zu delegitimieren.
2008
BERTELSMANNSTIFTUNG (2008): Regionalreport Sachsen,
Sachsen-Anhalt und Thüringen. Differenzierung des
»Wegweisers Demographischer Wandel« für drei ostdeutsche
Bundesländer, August
Gemäß dem
Regionalreport gehört Weißwasser zu den
35 Gemeinden in Sachsen, die zwischen 2005 und 2020 um mehr
als 15 Prozent schrumpfen werden. Weißwasser belegt hinter
Hoyerswerda den zweiten Platz:
2014
ROST, Norbert (2014): Von Hoyerswerda lernen.
Aufstieg und Fall der
Lausitzer Braunkohle und ihrer Städte: Hoyerswerda und
Weisswasser mahnen, wie wacklig unsere fossile Industriekultur
sein kann,
in:
Telepolis v. 27.07.
Norbert ROST schildert
Aufstieg und Fall der Lausitzer Städte Hoyerswerda und
Weisswasser anhand der Entwicklung des Braunkohleabbaus:
"Anfang der 1950er lebten
in Weisswasser etwa 14.000 Einwohner und in Hoyerswerda
etwas mehr als 7.000. (...)(Es) begann ein beispielloser
Boom, der Hoyerswerdas Bevölkerungszahl (...) binnen 20
Jahren versiebenfachte. Von 1956 bis 1979 wuchs die
Bewohnerzahl Hoyerswerdas jährlich um 10%, eine
Wachstumsrate, die üblicherweise mit Schulterklopfen belohnt
wird. Die Kehrseite solch eines massiven Einwohnerzuwachses
wurde ab Mitte der 1980er sichtbar. Ab 1985 ließ sich die
Braunkohleförderung nicht mehr steigern und stagnierte bei
etwa 200.000 Tonnen jährlich (...). Schon vorher, nämlich
1982 erreichte die Bewohnerzahl Hoyerswerdas ihr Maximum bei
75.000 Einwohnern. Weisswasser (...) wuchs noch bis 1987 auf
37.000 Einwohner.
Mit dem Wende-Bruch brachen in der Region ganze Dämme: Die
Kohleförderung halbierte sich binnen 3 Jahren und bis 2010
(Hoyerswerda) bzw. 2011 (Weisswasser) halbierte sich in der
Folge auch die Einwohnerzahl der beiden Städte.
Die Dynamik dieses Prozesses ist extrem. Wurden seit den
1950ern in Hoyerswerda und Weisswasser noch ganze
Stadtviertel in Plattenbauweise aus dem Boden gestampft,
boomte nach der Wende vor allem die Abrissbranche. Tausende
Menschen, die zuvor in den Häusern gewohnt, in naheliegenden
Kindergärten und Schulen gelernt und ein Leben geführt
hatten, finden von ihrem einstigen Lebensmittelpunkt heute
kaum noch Spuren. Die Natur, die in der Lausitz stark von
Kiefernwäldern auf Sand geprägt wird, holt sich große Teile
dessen zurück, was ihr der Mensch einst abgetrotzt hatte."
2017
NIMZ,
Ulrike & Josef KELNBERGER (2017): Komm doch mal rüber.
Buch zwei: Protestwähler gab
es bei der Bundestagswahl in Ost und West. Aber treibt sie
wirklich das Gleiche? Die SZ hat zwei Reporter auf eine sehr
persönliche Erkundung in zwei AfD-Hochburgen geschickt: Eine
Sächsin sieht sich in Niederbayern um - ein Niederbayer in
Sachsen,
in:
Süddeutsche Zeitung v.
04.11.
Sport statt Religion heißt
das Motto von Josef KELNBERGER für Weißwasser (AfD-Zweitstimmenanteil
bei der Bundestagswahl 2017: 27,8 %):
"Die Einwohnerschaft
Weißwassers ist um die Hälfte geschrumpft, in der einstmals
jüngsten Stadt der DDR geht es nun darum, Platz für
Rollatoren zu schaffen. Und doch werden gleichzeitig die
Kita-Plätze knapp, junge Leute kehren zurück. Dass nach dem
Untergang der Glasindustrie und trotz der Kohle-Krise wieder
Leben blüht in Wirtschaft und Kultur, ist auch dem
Oberbürgermeister Pötzsch zu verdanken",
erklärt uns KELNBERGER, nur
um dann zu drohen:
"Sollte eine
Jamaika-Regierung den Kohleausstieg in der Lausitz
beschließen, um das Weltklima zu retten, könnte das hier der
AfD Arbeitslose in Scharen zutreiben.
POLLMER, Cornelius (2017): Im Land der toten Augen.
Probleme durch Landflucht und eine
immer ältere Bevölkerung plagen gerade ostdeutsche Kommunen schon
länger - in Sachsen keimt nun mancherorts aber auch Hoffnung,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 06.11.
Für Cornelius POLLMER
repräsentiert Weißwasser die demografische Entwicklung im
schrumpfenden Sachsen:
"Zwar ist Weißwasser selbst ein
Sonderfall, weil es Einwohnerverluste von mehr als 50 Prozent zu
verkraften hatte. Auch da aber ist die Frage dieselbe, wie mit
solch einer Entwicklung umzugehen sei. Er habe sich mit dem
Schrumpfen zwar »abgefunden, ja, aber nicht den Kopf in den Sand
gesteckt«, sagt Oberbürgermeister Torsten Pötzsch. Er baggert über
Facebook an Abgewanderten, seit drei Jahren gibt es ein
»Rückkehrertelefon«. Von der Jobsuche bis zum Eigenheimplatz - die
Stadt hilft, wo sie kann »und wir kämpfen um jeden Einzelnen«,
sagt Pötzsch, der wegen der Schrumpfung ein fast gleichbleibendes
Aufgabenvolumen mit immer weniger Personal zu erledigen hat. Im
Ergebnis jedenfalls steht ein Mischgefühl mit rückschlagenden
Magenschwingern wie neulich, als eine überheftige
Gewerbesteuerrückzahlung ins Rathaus flatterte. »Wir waren
eigentlich schuldenfrei, jetzt überlegen wir, wann wir den
Tierpark schließen müssen«, sagt Pötzsch. Und dann gibt es wieder
Erlebnisse, die Hoffnung schenken, auch wenn sie zunächst wie ein
Problem aussehen. Pötzsch ist vor wenigen Tagen Vater geworden, in
den ersten beiden Kitas wurde er gleich wieder weggeschickt -
wegen erfreulicher Geburtenraten sind diese bereits voll belegt.
Der Oberbürgermeister sucht in seiner eigenen Stadt nun weiter
nach einem Platz für sein Kind."
POLLMER will entgegen einiger
Bürgermeister keine Wende in den sächsischen Kommunen erkennen.
BAUMGÄRTNER, Maik/DEGGERICH, Markus/HORNIG, Frank/WASSERMANN, Andreas
(2017): Der Riss.
Einheit: 28 Jahre nach dem
Mauerfall gibt es in diesem Jahr wenig zu feiern. Was sind die Gründe
für den Rechtsruck in Deutschland? Und wie kann er überwunden werden?
in:
Spiegel Nr.46 v. 11.11.
BAUMGÄRTNER/DEGGERICH/WASSERMANN
wollen dem ostdeutschen AfD-Wähler auf die Spur kommen, wobei sie
vor allem gegen die These von den wirtschaftlichen Verhältnissen als
Ursache angehen:
"Es sind die Reste einer
DDR-Plattenbausiedlung, die keiner mehr braucht. Weißwasser in der
Oberlausitz ist eine leere Stadt, viele haben das Weite gesucht,
und wer geblieben ist, kann sich als Verlierer der Einheit fühlen.
Knapp 28 Prozent von ihnen wählten bei der Bundestagswahl die AfD.
Neun Kilometer östlich, an der Neiße, liegt
Bad Muskau. Es gibt ein Schloss und einen Park, der für viele
Millionen Euro restauriert wurde und zum Unesco-Weltkulturerbe
zählt. Das Städtchen und seine Bewohner profitieren vom Tourismus,
Bad Muskau ist eine ostdeutsche Erfolgsgeschichte. Trotzdem
stimmte fast jeder Dritte bei der Bundestagswahl für die AfD. 3,6
Prozentpunkte mehr als in Weißwasser",
erklären uns die Spiegel-Autoren,
als ob das Belege dafür wären, dass die sozioökonomischen
Verhältnisse keine Rolle spielen würden. Die Gegenüberstellung sagt
eher etwas über das Milieu aus, dessen Vorstellungen über
sozioökonomische Verhältnisse die Berichterstattung in den
Mainstreamzeitungen prägt. In Bad Muskau (ca. 3.600 Einwohner)
erhielt die AfD 31,4 Prozent der Zweitstimmen und deklassierte damit
die herrschende CDU, die nur auf 29,4 % kam. Auch in dem ca. 16.8000
Einwohner zählenden Weißwasser (siehe auch SZ)
wurde die Sachsen-CDU deklassiert. Beide Gemeinden gehören zum
Wahlkreis 157 Görlitz, in dem ein ehemaliger CDU-Kollege, der zur
AfD gewechselt ist, dem designierten Ministerpräsidenten Michael
KRETSCHMER den Wahlkreis abjagte.
2018
LASCH, Hendrik
(2018): Willkommen in der Pampa.
Viele Städter träumen vom
Landleben. Oft bleibt es bei der Idee. Eine Initiative in der
Oberlausitz aber will Interessenten zum Schritt ins Dorf ermutigen -
und als "Raumpioniere" gewinnen,
in: Neues
Deutschland v. 03.11.
In Zeiten der
Massenarbeitslosigkeit wurde der Begriff der
"Zeitpioniere" erfunden, in Zeiten der Massenabwanderung soll
nun der Begriff "Raumpioniere" zum Leitbild erhoben werden, um das
Dorfleben cooler erscheinen zu lassen. Hendrik LASCH berichtet über
die Bemühungen von Matthias ROMPE ("Unser Projekt Bauernhof") und
von Jan HUFENBACH & Arielle KOHLSCHMIDT, die ein Webportal
"Raumpioniere" betreiben, um Zuzügler für die Oberlausitz zu
gewinnen, und Veranstaltungen organisieren, die in hippem Ambiente
stattfinden:
"Sie findet in der »Hafenbar«
statt, einem Kulturzentrum in Weißwasser, das in den Hallen eines
früheren Glaswerks eingerichtet wurde und mit seinem Fabrikschick
an ähnliche Lokalitäten in Szenekiezen wie Berlin-Kreuzberg oder
Leipzig-Connewitz erinnert. Die »Landebahn« ist (...) eine Art
Kontaktbörse, die Wege aufs Land bahnen soll. Großstädter, die vom
Dorfleben träumen, (...) sollen Menschen treffen, die den Sprung
gewagt haben: die eine Stadt hinter sich gelassen, ein altes Haus
gekauft haben und zu Dorfbewohnern geworden sind."
Das Projekt wendet sich also an
ein ganz anderes Klientel als jenes, das Gerhard MATZIG
heute
in der SZ ansprechen will. Denn mit Urbanität ist es mit der
Oberlausitz nicht weit her - und schon gar nicht im sächsischen
Teil.
"Kerstin Faber und Philipp
Oswalt (...) definieren Raumpioniere als jene Bewohner ländlicher
Regionen, die sich angesichts geschlossener Schulen und Läden oder
stillgelegter Bus- und Bahnlinien »um Fragen der Lebensqualität
selbst kümmern« und dabei »neue Kooperationen zwischen
Bürgergesellschaft und staatlichen Instanzen knüpfen«",
zitiert LASCH aus dem Buch
Raumpioniere in ländlichen Regionen. Anders formuliert: Es
werden Menschen gesucht, die die Defizite der Politik beseitigen
sollen, weshalb das Projekt auch von Sachsen gefördert wird, das
bekanntlich besondere Misswirtschaft in seinen ländlichen Räumen
betrieben hat und nun mit AfD-Erfolgen in diesen Gebieten zu kämpfen
hat.
"Vielleicht, so die Idee,
können Städter mit einem Faible für das Landleben die
Abwärtsspirale bremsen helfen - und sei es auch nur ein wenig",
erklärt uns LASCH. Ob auf diesen
Job viele Städter Lust haben, darf bezweifelt werden. Der "Urbanisierungshype"
sei vorbei, wird behauptet und stattdessen würden viele vom
Landleben träumen. Die Sehnsucht dürfte ziemlich schnell verfliegen,
weil die Realität nichts mit Landlust-Hochglanzbroschüren zu tun
hat. Der Begriff "Zweiheimische" zielt eher darauf ab, Großstädter
zu einem Urlaubsdomizil auf dem Lande zu verleiten. Die
Digitalisierung soll Wunder in ländlichen Räumen bewirken,
zuallererst ist sie nur eine Hoffnung. Und sich mit AfD-Nachbarn
arrangieren zu müssen, dürfte für die urbanen Kosmopoliten auch kein
Wunschtraum sein, sondern eher Idealisten erfordern.
2019
LASCH, Hendrik
(2019): Statt der Kohlejobs kommt ein ICE-Halt.
Das sächsische Weißwasser hofft,
dass der Ausstieg aus der Braunkohle geordneter abläuft als die Zeit
nach 1990,
in: Neues
Deutschland v. 13.02.
"Im sächsischen Kreis Görlitz,
zu dem Weißwasser gehört, entfallen 16,2 Prozent der Wertschöpfung auf
den Energiesektor. Um den Ausstieg abzufedern, hat eine (...)
Kohlekommission ein 40 Milliarden Euro teures Paket von
Ausgleichsmaßnahmen geschnürt. (...) Projekt 122 betrifft die
Glasfachschule. Sie könne saniert und zum
»Standort für Verwaltung und
Bildung/Forschung und Entwicklung« werden. (...). Projekt 74 auf der
Liste ist die Sanierung des Bahnhofs Weißwasser samt Umbau zu
Touristeninformation, Ärztestandort und Begegnungsort. Halten könnten
dort künftig sogar ICE-Züge. Die Kommission rät, die über Weißwasser
führende Bahntrasse von Berlin nach Görlitz auszubauen, dass sie
»ICE-tauglich« wird",
beschreibt Hendrik LASCH die
Wünsche, die eine "Lausitzrunde" eingebracht hat, deren Sprecher der
Oberbürgermeister von Weißwasser, Torsten PÖTZSCH, ist.
"Weißwassers Einwohnerzahl sank
seit den späten 1980er Jahren von 38.000 auf unter 17.000. (...).
Derzeit, so schätzt Pötzsch, hingen in seiner Stadt noch 1.000
Menschen sowie deren Familien von Jobs beim Kohleförderer LEAG oder
dessen Zulieferern ab. An größeren Arbeitgebern gibt es daneben ein
letztes Glaswerk mit 350 Mitarbeitern - und das Krankenhaus. Ansonsten
besteht die örtliche Wirtschaft aus Klein- und Kleinstbetrieben.
Mancher fordere, das Ende der Kohle mit einer Großansiedlung zu
kompensieren (...). Pötzsch hielte es für sinnvoller, den örtlichen
Mittelstand so zu unterstützten, dass er 10 oder 15 Prozent mehr Jobs
schafft (...). Solche Arbeitsplätze seien zwar womöglich nicht so gut
bezahlt; es bestehe aber auch nicht die Gefahr, dass sie - so wie
viele Jobs in der Solarbranche - auf einen Schlag wieder
verschwänden",
wird die Sicht des
Oberbürgermeisters zitiert. Außerdem wird ein zukünftiger
Fachkräftemangel an die Wand gemalt. Zuletzt kommt das Projekt 141 -
das soziokulturelle Zentrum TELUX - noch zur Sprache.
SEIFERT, Sabine (2019): Was
kommt nach der Kohle?
Nahaufnahme: Die Oberlausitz soll
mit Milliarden für den Kohleausstieg entschädigt werden. Im
Braunkohle-Städtchen Weißwasser ist man über die Zusage der Politik
erleichtert - es gibt aber auch Ängste,
in:
TAZ v. 22.02.
"Weißwasser
in der Oberlausitz war in den ersten Jahrzehnten des 20.
Jahrhunderts weltweit führend in der Glasherstellung. Heute redet in
Weißwasser niemand mehr vom Glas. Alle reden von der Kohle. Die Stadt
im nördlichen Sachsen hat schon mehr als einen Strukturwandel erlebt.
(...).
Weißwasser ist eine der ärmsten Kommunen Sachsens.
Im Bahnhof soll später eine touristische Anlaufstelle für den nahen
Geopark Muskauer Faltenbogen entstehen. (...).
Heute leben nur noch 16.500 Menschen in Weißwasser, im Jahr 1989 waren
es 38.000 - eine Schrumpfung um fast 60 Prozent. Das ist mehr als ein
Wandel. Das ist eine Bedrohung. (...).
Erst 1935 erlangte Weißwasser Stadtrecht, zwei zusammengewachsene
sorbische Heidedörfer. Keine spektakuläre Altstadt oder Kulisse wie
das nahe Görlitz, zu dessen Landkreis Weißwasser heute gehört.
Viele der Plattenbauten wurden bereits von sechs auf vier Geschosse
zurückgebaut, ganze Riegel abgerissen. Die einstige »Skyline«, wie
Weißwasseraner die fünf einstigen Hochhäuser selbst liebevoll nannten,
gibt es heute nicht mehr. »Wir mussten die Stadt von außen nach innen
zurückbauen«, erklärt Pötzsch; wo sich früher die Südstadt befand,
steht heute nur noch das Einkaufszentrum auf einer grünen Wiese. Der
kommunale Wohnungsbestand wurde im Laufe der Jahre von 8.000 auf 4.000
Wohnungen reduziert, um den Leerstand zu kompensieren. (...). Der
Sport schafft Identifikation mit Weißwasser: Ein Kino oder Theater hat
die Stadt nicht. (...).
Pötzsch, 2017 mit knapper Mehrheit im Amt bestätigt, tritt für die
lokale Wählervereinigung Klartext an. (...). 6 der 22 Sitze im
Stadtrat hat Klartext inne, gleichauf mit der CDU; Linke und SPD sind
mit 4 bzw. 2 Mandaten vertreten, ein Ex-NPDler ist dabei, zwei weitere
lokale Wahlbündnisse.
Die AfD unterhält ein Büro in der Stadt und wird mit Sicherheit bei
den Kommunalwahlen im Mai in Stadtrat und Kreistag einziehen",
beschreibt Sabine SEIFERT die
Situation im sächsischen Weißwasser. Die Grünen sind dort chancenlos.
Die sozio-ökonomische Lage skizziert SEIFERT folgendermaßen:
"Der Jugendanteil beträgt nur 12
Prozent, umgekehrt sind rund 30 Prozent der Bevölkerung 65 Jahre und
älter. Die Arbeitslosenrate liegt mit 9,5 Prozent weit über dem
Bundes- und Landesdurchschnitt. Die Kaufkraft beträgt knapp 80 Prozent
des Bundesdurchschnitts - und ist damit die niedrigste in der BRD."
Das soziokulturelle Zentrum
Hafenbar darf in der kosmopolitischen Berichterstattung nicht fehlen.
Nicht nur die Schrumpfung belastet die Haushaltslage in Weißwasser,
sondern auch Rückzahlungen in Millionenhöhe an Vattenfall wegen dem
Atomausstieg.
Bei der Kommunalwahl 2019 errang
die AfD 5 Sitze (insgesamt: 21) und wurde damit hinter Klartext (7
Sitze) die zweitstärkste Fraktion im Stadtrat. Die Grünen sind
weiterhin nicht vertreten.
POLLMER, Cornelius (2019): Das gezeichnete Land.
Der Tagebau in der Lausitz geht zu
Ende. Jetzt träumen viele von einem Neuanfang, den es so noch nicht
gegeben hat,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 23.02.
"Seit mehr als acht Jahren
ist (Torsten) Pötzsch, 47, Oberbürgermeister von Weißwasser, einer
Stadt wie aus dem Lehrbuch. Leider ist das Lehrbuch eines für
Statistiker und die Stadt eine Kommune vom Typ 9: stark schrumpfend,
hoher Anpassungsdruck.
Vor 150 Jahren war Weißwasser mal ein kleines Heidedorf mit 700
Einwohnern. Dann wurde die Eisenbahn gebaut, Industrien entstanden.
Heute leben 16.500 Menschen in der Stadt. Das ist viel, verglichen mit
dem Beginn - und es ist wenig, gemessen an den 38.000, die hier kurz
vor der Wende wohnten. Inzwischen, sagt Pötzsch, sei der
Wanderungssaldo so gut wie ausgeglichen, es gebe wieder mehr Kinder in
der Stadt. Wie geht es weiter?",
fragt Cornelius POLLMER, aber es
ist eine rhetorische Frage. Mit dem Bürgermeister teilt er die
Bewohner von Weißwasser in Verhinderer, Nörgler, jene, denen die
Region komplett egal sind, und jene, die hier etwas nach vorne bringen
wollen. Es ist ganz klar, dass dem Bürgermeister nur letztere
gebrauchen kann.
Als Vorzeigeprojekt wird uns das
soziokulturelle Zentrum Hafenstube vorgestellt. Natürlich darf auch
Michael KRETSCHMER und seine AfD-getriebene Liebe zum ländlichen Raum
nicht fehlen. Da wird z.B. eine "ICE-Trasse über Görlitz und
Weißwasser weiter nach Berlin" geträumt.
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