|
Einführung
Die Stadt
Görlitz im heutigen Landkreis Görlitz war bis 2008 eine
kreisfreie Stadt. Seit 1998 bildet Görlitz zusammen mit
Zgorzelic eine
deutsch-polnische Europastadt. Im Zeichen der
Demografisierung gesellschaftlicher Probleme in den Nuller
Jahren wurde Görlitz zur ewig schrumpfenden Stadt erklärt.
Neoliberale Organisationen vom Berlin-Institut bis zur
Bertelsmann-Stiftung verpassten ihr ein Negativimage. Bei der
Bundestagswahl 2017 gewann die AfD den Wahlkreis 157 Görlitz.
Der damalige sächsische Generalsekretär der CDU Michael
KRETSCHMER, der nach der Wahl sächsischer Ministerpräsident
wurde, unterlag in diesem Wahlkreis dem bis dahin unbekannten
AfD-Kandidaten.
Diese
Bibliografie soll die Entwicklung der Stadt anhand der
öffentlichen Debatte und anhand statistischer Daten
nachvollziehbar machen. Kann sich die Stadt, die gerne als
Pensionopolis bezeichnet wird, dem Negativtrend von Image und
demografischer Prognosen dauerhaft entziehen, ist eine der
Fragen, der nachgegangen werden soll.
Übersicht:
Einwohnerwachstum durch Eingemeindungen 1990 - 2000
Tabelle:
Eingemeindungen in Görlitz 1990 - 2000 |
Zeitpunkt |
Eingemeindete Gemeinde |
1994 |
Deutsch Ossig,
Hagenwerder/Tauchritz, Schlauroth |
1999 |
Gebietsteile der
Gemeinde Schöpstal, Kunnerwitz/Klein Neundorf,
Ludwigsdorf/Ober-Neundorf |
|
Quelle:
Statistisches Jahrbuch Görlitz 2015, S.12 |
Übersicht:
Die Bevölkerungsentwicklung der Stadt Görlitz und im Landkreis
Görlitz 1990 - 2018
Tabelle: Die
Bevölkerungsentwicklung in der Stadt Görlitz und im
Landkreis Görlitz |
Jahr |
Görlitz
(Stadt) |
Görlitz
(Landkreis)* |
Bevölkerungs-
stand
(31.12.) |
Bevölkerungs-
entwicklung
zum Vorjahr
(in Prozent) |
Anzahl
Lebend-
geborene |
Bevölkerungs-
stand
(31.12.) |
1990 |
72.237 |
|
795 |
367.115 |
1991 |
70.488 |
1.749 (- 2,5 %) |
542 |
|
1992 |
68.851 |
1.637 (- 2,3 %) |
391 |
|
1993 |
67.647 |
- 1.204 (- 1,7 %) |
375 |
347.707 |
1994 |
67.755 |
+ 108 (+ 0,2 %) |
348 |
|
1995 |
66.118 |
- 1.637 (- 2,4 %) |
369 |
343.077 |
1996 |
64.518 |
- 1.600 (- 2,4 %) |
450 |
|
1997 |
63.301 |
- 1.217 (- 1,9 %) |
419 |
337.576 |
1998 |
62.076 |
- 1.225 (- 1,9 %) |
465 |
|
1999 |
62.871 |
+ 795 (+ 1,3 %) |
404 |
328.438 |
2000 |
61.599 |
- 1.272 (- 2,0 %) |
457 |
323.025 |
2001 |
60.264 |
- 1.335 (- 2,2 %) |
400 |
316.037 |
2002 |
59.284 |
- 980 (- 1,6 %) |
424 |
310.927 |
2003 |
58.518 |
- 766 (- 1,3 %) |
448 |
306.408 |
2004 |
58.154 |
- 364 (- 0,6 %) |
441 |
302.540 |
2005 |
57.629 |
- 525 (- 0,9 %) |
461 |
297.785 |
2006 |
57.111 |
- 518 (- 0,9 %) |
434 |
292.843 |
2007 |
56.724 |
- 387 (- 0,7 %) |
470 |
288.735 |
2008 |
56.461 |
- 263 (- 0,5 %) |
437 |
284.790 |
2009 |
55.957 |
- 504 (- 0,9 %) |
522 |
281.076 |
2010 |
55.596 |
- 361 (- 0,6 %) |
501 |
276.924 |
2011 |
55.350
54.283** |
- 246 |
489 |
273.511
267.815** |
2012 |
55.170
54.114** |
-180 |
486 |
270.307
264.673** |
2013 |
54.042 |
- 72 (- 0,3 %) |
421 |
262.168 |
2014 |
54.193 |
+ 151 (- 0,1 %) |
475 |
260.188 |
2015 |
55.255 |
+ 1.062 (+ 2,0 %) |
491 |
260.000 |
2016 |
55.904 |
+ 649 (+ 1,2 %) |
515 |
258.337 |
2017 |
56.391 |
+ 487 (+ 0,9 %) |
|
256.587 |
2018 |
56.324 |
- 67 |
|
254.894 |
|
Quelle:
Statistische Berichte des Statistischen Landesamts
Sachsen; Sozialstrukturatlas
Landkreis Görlitz;
Statistische Jahrbücher Görlitz;
Anmerkungen: * Der Landkreis Görlitz setzte sich von
1994 bis 2007 aus den Landkreisen
Löbau-Zittau und dem Niederschlesischen Oberlausitzkreis
sowie der kreisfreien Stadt
Görlitz zusammen; ** zensuskorrigierte Zahlen |
Übersicht: Die Bevölkerungsentwicklung 2001 bis 2007 in den
ehemaligen Kreisgebieten
Tabelle: Die
Bevölkerungsentwicklung 2001 - 2007 in den ehemaligen
Kreisgebieten |
Jahr |
Görlitz
(Stadt) |
Löbau-Zittau
(Landkreis) |
Niederschlesischer
Oberlausitzkreis
(Landkreis) |
Görlitz
(Landkreis) |
Bevölkerungsstand
(31.12.) |
2001 |
60.264 |
152.304 |
103.469 |
316.037 |
2002 |
59.284 |
150.031 |
101.612 |
310.927 |
2003 |
58.518 |
147.847 |
100.043 |
306.408 |
2004 |
58.154 |
145.995 |
98.391 |
302.540 |
2005 |
57.629 |
143.383 |
96.773 |
297.785 |
2006 |
57.111 |
140.982 |
94.750 |
292.843 |
2007 |
56.724 |
138.772 |
93,238 |
288.735 |
|
Quelle:
Statistische Berichte des Statistischen Landesamts
Sachsen;
Statistische Jahrbücher Görlitz;
Anmerkungen: * Der Landkreis Görlitz setzte sich von
1994 bis 2007 aus den Landkreisen
Löbau-Zittau und dem Niederschlesischen Oberlausitzkreis
sowie der kreisfreien Stadt
Görlitz zusammen |
Kommentierte Bibliografie (2001 - 2018)
2001
KIL, Wolfgang (2001): Das große Plattensterben.
Montag
reist der Kanzler wieder in den Osten – in teils entvölkerte
Städte. Die ehemalige Industrieregion ist ökonomisch und
städtebaulich auf dem Weg ins 18. Jahrhundert,
in: TAZ
v. 10.08.
"Alarmierende Zahlen in aller Munde: Eine Million leere
Wohnungen in Ostdeutschland, Tendenz unaufhaltsam steigend;
Spitzenreiter sind Leipzig (35 Prozent Leerstand), Görlitz (48
Prozent der Altstadt), Stendal (42 Prozent im Neubau) und
Halle-Altstadt (28 Prozent). Eine Regierungskommission hat die
Daten als sozialpolitische Zeitbombe an die Öffentlichkeit
gebracht und schlägt vor, bis zu 400.000 Wohnungen »vom Markt zu
nehmen«. Seitdem gehören Vokabeln wie »Rückbau«, »Abriss«,
»Plattensterben« zum alltäglichen Sprachgebrauch",
schreibt Wolfgang KIL über die Debatte um den Stadtumbau Ost.
RICHTER, Peter (2001):
Region erahnter Kindheitsmuster.
Schwermut Ost: Die schrumpfenden,
abrißbedrohten - und die malerischen Städte,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 29.09.
"»Sagen wir lieber Stadtumbau«, sagt Oswald Müller. Denn von
Abriß soll keine Rede sein. Und als Amtsleiter der Bauverwaltung
von Görlitz ist der Parteilose sehr gespannt, was aus dem
gleichnamigen Programm werden wird, das im nächsten Jahr
anlaufen soll (...).
Der gebräuchlichste Euphemismus lautet gegenwärtig »vom Markt zu
nehmen«. (...). Im Fernsehen gibt es hin und wieder
Plattenbauten zu sehen, denen schweres Gerät zu Leibe rückt.
Darunter stehen dann aber Namen solcher ehemaliger
DDR-Industriezentren wie Schwedt. Görlitz hingegen gehörte unter
die Rubrik schöne alte Städte. (...). Das meiste ist mit einer
handwerklichen Qualität renoviert worden, die man in Berlin
ebenfalls nicht mehr findet. Eine ganze Menge steht aber auch
leer, verfällt, »gehört vom Markt genommen«. (...). Altbauten,
in denen Abertausende Urbaniten, die sich im Westen auf den
Füßen stehen, jede Menge Dielen abschleifen und hinterm Haus
sogar den eigenen Rucola anbauen könnten.
Doch Görlitz ist keine »Boomtown«, hat in den letzten zehn
Jahren siebzehn Prozent seiner Einwohner verloren und ist
überaltert. Die Jüngeren und die Zuzügler haben in der Altstadt
viel Platz, viele Ältere finden es in ihren kleinen
Plattenbauwohnungen am Stadtrand weiterhin bequemer, und für das
eher traditionelle Familienleben der mittleren Jahrgänge sind
noch weiter draußen die üblichen Eigenheime entstanden.
Alles dazwischen könnte eigentlich wegfallen und einem
Todesstreifen zwischen den Lebenskulturen Platz machen, wie ihn
Fachleute für die meisten ostdeutschen Städte vorhersagen",
berichtet
Peter RICHTER über die demografisch gerechtfertigte Sicht zur
Stadtentwicklung in Ostdeutschland, wobei Görlitz von RICHTER
als Ausnahme betrachtet wird. RICHTER ist der Meinung, dass
oftmals einfach die falschen Gebäude abgerissen werden:
"Oft sind es
(...) genau jene Häuser, die bereits die DDR sprengen wollte -
und der Protest gegen diese Pläne war elementarer Bestandteil
der Bürgerrechtsbewegung -, von Greifswald (...) bis nach
Görlitz, wo die Bürger eine Hauszeile mit ihren Leibern
schützten, als die Sprengladungen schon gelegt waren."
Neben Görlitz
kommt RICHTER auch auf
Halle und
Leipzig zu sprechen. RICHTER befürchtet eine Zersiedelung ("Sprawl")
in ostdeutschen Städten:
"In die
Innenstädte wird sich wohl ein amerikanischer »Sprawl«
hineinfressen - schon weil sich jedes innerstädtische Bauen von
Wohneigentum zu den ästhetischen Standards der Speckgürtel
hinabbemühen müßte, um im Preis konkurrenzfähig zu sein.
Hierauf attraktive und stadtverträgliche Antworten zu finden
könnte die spannendste und auch schwierigste architektonische
Aufgabe der nächsten Jahre sein. Denn wenn man aus den
wirtschaftlichen und demographischen Tendenzen und Prognosen
Schlüsse für die zukünftige Gestalt dieses Landstrichs zieht,
wird alles wehmütig und schmeckt nach Abschied."
Schrumpfende
Städte - und dagegen gibt es keinerlei Mittel - heißt für
RICHTER auf vielerlei weise Abschied zu nehmen:
"Zunächst mal
Abschied von der Jugend. Wenn die den Lockungen des
wirtschaftlich starken Südwestens folgt, dann werden die Städte,
bevölkert von denen, die auf DDR-Rentenniveau leben müssen, alt
und arm sein. Zwischen den Altbauten wird das Leben nicht
pulsieren, sondern schleichen. Erst recht kein Grund zu bleiben
oder gar hinzuziehen.
Abschied nehmen heißt es auch von der Vorstellung, daß Häuser
Werte darstellen. (...). Verabschieden muß sich endlich die
Baubranche (...) von der Eigenheimzulage und vom unsinnigen
Weiterbauen am Wohnungsüberhang. Und aufgeben muß man wohl auch
den (...) Glauben, daß Städte prinzipielle wachsen. Sie werden
aber schrumpfen."
RICHTER
erzählt uns noch einmal die Geschichte von den versprochenen
blühenden Landschaften und deren Folgen als sei ausblieben. Und
am Ende folgt dem Abriss der Plattenbausiedlungen der Abriss der
Altstädte:
"Den
industriellen Glücksversprechen, die die DDR auf den östlichen
Äckern zusammengeschraubt hatte, ist nur bereits passiert, was
jetzt den idyllischen Altstädten noch droht. Denn (...)(längst)
fordern Wirtschaftsliberale ein Ende der flächendeckenden
Subventionen. Wenn es gut läuft, wie in Jena oder Dresden, dann
läuft es eben, und wenn nicht, dann nicht. Schluß, aus,
Schrumpfen. Und am Ende paßt womöglich
Magdeburg, so wie nach der Völkerwanderung der Rest der
Stadt Arles in ihr Amphitheater paßte - dann paßt vielleicht
ganz Magdeburg in sein Fußballstadion, wo es 1974 den
Europapokal gewonnen hat."
RICHTER
vergleicht
brandenburgische Städte sogar mit Geisterstädten.
2002
KIL, Wolfgang (2002): Görlitz.
Die Stadt,
ihre Schönheit und der "Umbau Ost",
in: Deutsches Architektenblatt,
Heft 4
2003
BECKER, Franziska (2003): Ortsbezug und
Abwanderung. Kulturanthropologische Skizzen zum
Transformationsprozess in einer Stadt an der deutsch-polnischen
Grenze. In: Kristina Bauer-Volke & Ina Dietzsch (Hrsg.): Labor
Ostdeutschland. Kulturelle Praxis im Wandel, Projekt der
Kulturstiftung des Bundes, Berlin, S.256-267
2004
RICHTER, Peter (2004):
Frohen Osten!
Entvölkerte Städte, einstürzende
Platten und Brücken, über die niemand geht: Die ehemalige DDR
als ästhetische und künstlerische Herausforderung,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 11.04.
Peter RICHTER erklärt uns,
dass das "Kunstprojekt zur Erforschung urbanen Lebens in
schrumpfenden Städten" ein Mittel zum Besseren ist, denn
Hoyerswerda soll nicht überall sein:
"Wie man ausgedünnte
Stadtlandschaften wieder attraktiv machen könnte nach all den
Jahren des alteuropäischen Verdichtungsparadigmas im Städtebau.
Was für Konsequenzen die Dominanz der Rentner in den Städten
haben wird, wenn die Jüngeren weiterhin abwandern. Oder wie die
allgegenwärtigen Tankstellen als soziale Knotenpunkte ernst
nehmen und ausbauen könnte. (...). Es geht längst nicht mehr nur
um DDR-Platten, die einem egal sein können, wenn man tief im
Westen wohnt, sondern um den gesamtdeutschen Traditionsbestand
aus den Jahrhunderten vorher: In Altenburg in Thüringen sind
schon Häuser aus der Renaissance und dem Barock abgerissen
worden, und wenn Görlitz auf der Kippe steht, dann trifft es ein
östliches Heidelberg, mit Westgeld saniert, wunderschön, gähnend
leer.
So etwas darf den Westdeutschen, die das bezahlt haben, nicht
länger egal sein."
GEO
-Extrabeilage: Kreise und Städte im Test. Der demographische Wandel:
Daten, Trends und Analysen
Im
Ranking des Berlin-Instituts kommt die Stadt Görlitz in
Sachsen auf den vorletzten Platz. Den letzten Platz belegt der
Landkreis Löbau-Zittau, der ab 2008 zum Landkreis Görlitz
gehört.
Tabelle:
Görlitz im Urteil des Berlin-Instituts anhand 22
Indikatoren |
Indikatoren-
bereich |
Indikator |
Note |
Merkmal (Zielmarke) |
Stadt/Landkreis
mit Bestnote
(Beispiel) |
Demographie |
Kinderzahl |
6 |
TFR unter 1,3
(2 und mehr) |
keine(r);
Cloppenburg
erreicht 2 |
Unter 20-Jährige |
5 |
18 - 20,99 %
(29 und mehr) |
keine(r);
Alb-Donaukreis erreicht 2 |
Frauenanteil |
4 |
88 - 91,99
(100 und mehr) |
Baden-Baden |
Wanderung |
6 |
weniger als - 9
(5 und mehr pro 1000 Einwohner) |
Baden-Baden |
natürliche Saldorate 2000-2020
(jährliche Differenz aus Geburtenzahlen und
Sterbefällen je 1000 Einwohner |
5 |
- 6 bis -4,1
(2 und mehr pro 1000 Einwohner |
Freising |
Bevölkerungsprognose 2020 |
6 |
Bevölkerungsverlust bis 2020 über 15 Prozent
(10 und mehr Prozent) |
Bodenseekreis |
Wirtschaft |
Kaufkraft (Nettoeinkünfte) |
6 |
Weniger als
13.000 Euro pro Kopf im Jahr 2003
(19.000 und mehr) |
Baden-Baden |
Bruttoinlandsprodukt (BIP in Euro je Erwerbstätigen;
Mittelwert 1999-2001 |
5 |
14.000 - 15.999
(40.000 und mehr) |
Heilbronn |
Gestaltungsquote (Verhältnis von Verschuldung der
Kommune zu Einnahmen) |
3 |
0,6 - 0,79
(weniger als 0,4) |
Biberach |
Erwerbstätigkeit (Prozentanteil
sozialversicherungspflichtiger Beschäftigter am
Wohnort 2001) |
6 |
weniger als 30,5
%
(36,5 % und mehr) |
Böblingen |
Arbeitslose & Sozialhilfeempfänger
(Summe je 1000 Einwohner 2001) |
5 |
56 - 69,9
(weniger als 16) |
Enzkreis |
Hochbetagte (Prozentanteil der über 75-Jährigen)
|
6 |
9 und mehr
(weniger als 5) |
Freising |
Wohnungsbau (neu fertiggestellte Wohnungen je
Bestandswohnungen; Mittelwert 1997-2001) |
5 |
5 bis 8,4
(19 und mehr) |
Erding |
Ausländer-
integration |
Bildungschancen (Bevölkerungsanteil der
10-18-jährigen Ausländer in Relation zu
ausländischen Gymnasiasten 2001) |
1 |
0,8 und mehr |
Amberg-Sulzbach |
Arbeitslosigkeit (Verhältnis der Arbeitslosigkeit
bei Ausländern und Deutschen 2001) |
3 |
1,40 bis 1,79
(weniger als 1) |
Sömmerda |
Bildung |
Schulabgänger (Prozentanteil der Jugendlichen ohne
Hauptschulabschluss unter allen Schulabgängern 2001 |
5 |
12,5 - 14,9
(weniger als 5) |
Bonn |
Berufsausbildung (Gesamtangebot an
Ausbildungsplätzen je 100 Ausbildungsplatzsuchenden
2001 |
6 |
weniger als 90
(100 und mehr) |
Baden-Baden |
Hochqualifizierte (Prozentanteil an allen
Sozialversicherungspflichtigen mit Hochschul-,
Fachhochschul- oder höherer Fachschule am Wohnort
2001 |
2 |
10 - 11,99
(12 und mehr) |
Böblingen |
Familien-freundlichkeit |
Single-Haushalte (Prozentanteil der
Single-Haushalte an allen Haushalten im Jahr 2000 |
5 |
40 - 44,9
(weniger als 25) |
Landkreis
Heilbronn |
Kindergärten (Krippen- und Kindergartenplätze 2002
je 100 Kinder unter 6 Jahren |
3 |
70 - 79,9
(90 und mehr) |
Böblingen |
Flächennutzung |
Freifläche (Wald, Gewässer, Naturschutzgebiete in qm
pro Einwohner im Jahr 2000 |
4 |
500 - 799
(1600 und mehr) |
Baden-Baden |
Fremdenverkehr (Übernachtungszahlen im
Fremdenverkehr je Einwohner; Mittelwert 1997-2001) |
5 |
1 bis 3,99
(20 und mehr) |
Berchtesgadener
Land |
|
Quelle:
Geo-Beilage Heft 5, 2004, S.19-21,
29 |
An der
Tatsache, dass NUR bei zwei Indikatoren aus dem Bereich
Demografie kein einziges Gebiet die Bestnote erreichen konnte,
lässt sich die Schieflage des Rankings erkennen. Ganz bewusst
wurde bei der Kinderzahl und dem Anteil der unter 20-Jährigen
unerreichbare Zielmarken gesetzt.
Eine Kinderzahl von 2,1 gilt Nationalkonservativen als Ideal,
obwohl dieses Ideal einer geschlossenen Gesellschaft entspricht
und nicht dem Ideal einer offenen und mobilen Gesellschaft.
Im
Ranking, das zwei Jahre später
durchgeführt wurde, wird dann auf die Verwendung
unrealistischer Zielmarken verwendet. Dort hießt es nun:
"Bei
gleichbleibender Lebenserwartung bleibt eine Gesellschaft
stabil, wenn jede Frau im Mittel 2,1 Kinder bekommt. Unterhalb
dieses Wertes würde eine Bevölkerung schrumpfen, es sei denn die
Lebenserwartung steigt oder Menschen aus dem Ausland wandern zu"
(2006, S.182)
Die Abkehr
vom nationalkonservativen Ideal drückt sich dementsprechend
dadurch aus, dass die Note 1 bereits ab 1,91 vergeben wird.
Diese hätte Cloppenburg in diesem Ranking erreicht. Im Ranking
des Jahres 2006 verfehlt jedoch Cloppenburg dieses Ziel.
Statistiker wie
Eckart BOMSDORF sind im Gegensatz zum Berlin-Institut davon
ausgegangen, dass eine Geburtenrate von 1,7 ausreichend ist, um
eine stabile Bevölkerungsentwicklung zu gewährleisten.
Auch der
Indikator der unter-20-Jährigen wurde im Jahr 2006 durch den
Indikator der unter 35-Jährigen ersetzt. Die Bestnote 43,01 und
mehr Prozent wurde von Cloppenburg mit 47,12 Prozent erreicht,
aber auch eine Stadt wie Jena konnte nun hier punkten. Begründet
wird das Maß damit, dass dadurch auf längere Sicht ausreichend
Erwerbsfähige und potenzielle Familiengründer vorhanden wären.
Am Beispiel des
Indikators Single-Haushalt lässt sich die Problematik solcher
Rankings besonders deutlich aufzeigen. Die Güte eines Indikators
kann daran gemessen werden, ob er überhaupt das misst, was er
messen soll. Im Ranking soll anhand der Anzahl der
Einpersonenhaushalte ("Single-Haushalte") die
Familienfreundlichkeit eines Kreises bzw. einer kreisfreien
Stadt bewertet werden. Zuerst stellt sich hier die Frage, ob der
Indikator nicht eher zum Bereich Demographie gehört, weil er
z.B. eher etwas mit der Altersstruktur einer Gesellschaft einer
Gesellschaft zu tun hat, denn Single-Haushalte sind vor allem
während der Ausbildung und beim Berufseinstieg sowie bei älteren
Menschen verbreitet. Der Indikator steht jedoch auch für ein
ganz bestimmtes Verständnis von Familie, nämlich die
Haushaltsfamilie, die in modernen Gesellschaften hauptsächlich
zwischen Familiengründung und Auszug der Kinder aus dem
Elternhaus verbreitet ist. Familienfreundlichkeit wird also auf
eine ganz spezielle Familienphase reduziert, statt die ganze
Bandbreite des Familienzusammenhangs zu betrachten. Dazu wäre
z.B. das Konzept der
multilokalen Mehrgenerationen-Familie angemessener gewesen.
Dies aber führt gleichzeitig zu einem Grundprinzip der
Konstruktion solcher Rankings: Sie bedürfen der breiten
Verfügbarkeit von Daten zu einem Indikator. Innovative Konzepte
sind deshalb eine Fehlanzeige. Stattdessen wird die
Zukunftsfähigkeit von Regionen mittels möglichst traditioneller
Konzepte gemessen. Eigentlich ein Widerspruch an sich.
Dementsprechend sind Rankings sehr selten innovativ, sondern ihr
zweites Prinzip heißt Anschlussfähigkeit an öffentliche
Debatten. Die Verwendung des Begriffs "Single-Haushalt" verweist
auf eine Debatte, die im Jahr 2004 ihren Zenit bereits
überschritten hat, nämlich die
Frage, ob wir auf dem
Weg in die Single-Gesellschaft sind. Diese Frage wurde in
den 1980er Jahren populär und in den 1990er Jahren sogar
dominant, während sie in den Nuller Jahren mehr und mehr aus dem
Fokus des Interesses rückte. Es ist deshalb kaum verwunderlich,
dass der Indikator bereits im Ranking des Jahres 2006 wieder
entsorgt wurde.
"Eine hohe
Rate an Single-Haushalten (...) geht häufig mit einer niedrigen
Geburtenrate und später Familiengründung einher" (S.21),
hieß es 2004
als Begründung für die Verwendung des Indikators. Warum wurde
also die Maßzahl Einpersonenhaushalt nicht auf die Bevölkerung
im gebärfähigen Alter beschränkt, sondern ein Bezug zur
Gesamtzahl hergestellt? Ein Indikator, der den Prozentanteil der
Einpersonenhaushalte an der Altersklasse der 15 - 45-Jährigen,
so jedenfalls die damalige Definition der Gebärfähigkeit durch
das Statistische Bundesamt, wäre also angemessener gewesen.
Wollte man die frühe Mutterschaft propagieren, dann wäre auch
eine Eingrenzung auf die Altersklassen der 15 - 25-Jährigen oder
20- bis 30-Jährigen denkbar gewesen. Im Jahr 2006 wird statt der
Einpersonenhaushalte die Zahl der "Personen je Wohnung"
verwendet. Die Begründung lautet nun:
"Eine geringe
Anzahl an Personen je Wohnung ist ein Hinweis auf viele
alleinstehende ältere und/oder jüngere Menschen, die ohne Kinder
oder Partner leben. Umgekehrt ist eine hohe Zahl von Personen je
Haushalt ein Zeichen für viele Familien und andere
Lebensgemeinschaften." (2006, S.187)
Die Stadt
Görlitz wird mit 1,83 Personen je Wohnung zum bundesdeutschen
Schlusslicht erklärt, während Cloppenburg mit 3,15 Personen je
Wohnung zum Mustergebiet erklärt wird. Wie dieser Indikator
jedoch genau berechnet wurde, das bleibt im Dunkeln.
Der
Indikator "Personen je Wohnung" ist nicht identisch mit einem
Indikator "Personen je Haushalt".
Dass ein
enger Zusammenhang zwischen Geburtenrate und der Entwicklung der
Einpersonenhaushalten bzw. Haushaltsgröße nicht besteht, zeigt
sich daran, dass die Geburtenrate in Deutschland steigt, obwohl
die Haushaltsgröße weiter schrumpft. So meldete das
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung für das Jahr 2016:
Gegenwärtig teilen sich in Deutschland 2,01 Menschen einen
gemeinsamen Haushalt. Im Jahr 1991 lag der Wert noch bei
durchschnittlich 2,27. Die
Geburtenrate liegt dagegen mit 1,59 im Jahr 2016 weit über
jener des Jahres 1991: 1,33.
Auch in
anderen Bereichen zeigt das Ranking Schieflagen, weil es ein
bestimmtes Ideal von einer erfolgreichen Stadt bzw. Landkreis
transportiert. Die Indikatoren sind nicht geeignet um die
vielfältigen Wege zum Erfolg abzubilden. Warum z.B. nur ein ganz
bestimmtes Maß an Hochqualifizierten für Erfolg bürgen soll,
bleibt ein Geheimnis. Nicht jede Stadt muss ein High-Tech- bzw.
Wissenschaftsstandort werden. Statt auf Vielfalt setzt das
Ranking auf eine Stadthierarchie, mit der eine ganz bestimmte
Vorstellung von Standortwettbewerb verbunden sind. Vom Ideal
abweichende Entwicklungspfade werden abgestraft.
Eine Kritik
des Stadtforschers Steffen MARETZKE an Rankings und der Auswahl
von Indikatoren, die auch beim Berlin-Institut beliebt sind,
findet sich
hier.
SMOLTCZYK, Alexander (2004): Die fremden Schwestern.
Das deutsche Görlitz bekam Millionen für den Neustart nach dem
Sozialismus, das polnische Zgorzelec fast nichts. Nun sollen die
beiden Städte links und rechts der Neiße zu einer
zusammenwachsen - dabei trennen sie Welten. Die eine hat, was
der anderen fehlt,
in: Spiegel Nr. 44 v. 25.10.
Der Artikel
von Alexander SMOLTCZYK weist bereits jene Konfliktlinien
zwischen den urbanen Kosmopoliten und den Kommunitaristen bzw.
Konservativen auf, die den
AfD-Erfolg
15 Jahre später begründen werden. Das polnische Zgorzelec
wird uns als das bessere Görlitz geschildert, amerikanischer
eben, oder im neoliberalen Slang: mehr Eigenverantwortung und
Selbstunternehmertum statt Vollkaskomentalität:
"Zgorzelec.
Das ist die ehemalige Görlitzer Kasernenvorstadt am anderen Ufer
der Neiße. Nur ein paar Schritte über die Stadtbrücke entfernt.
Manchmal ist das so weit wie zu den Antipoden.
Grenzstädte sind anders. Am einen Ufer liegt, was zu träge ist,
um weiter mitgerissen zu werden. Am anderen Ufer fängt sich, was
nicht mehr weiterdarf. Das macht die Doppelstädte im Osten so
verschieden. Frankfurt und Slubice, Guben und Gubin, Görlitz und
Zgorzelec. Es sind ungleiche Schwestern. Die eine hat, was der
anderen fehlt. Nirgendwo ist das deutlicher zu spüren als in
Görlitz-Zgorzelec.
Wer sich Görlitz über die A4 von Westen her nähert, durchquert
zur Einstimmung einen 85 Millionen Euro teuren Tunnel ohne Berg,
der gebaut wurde, um schützenswerte Hügelchen zu schonen,
passiert wenig später einen in sich ruhenden, subventionierten
Windmühlenpark und ist dann bereit für Görlitz.
Die Stadt steht da wie ein großes Missverständnis. Wie ein
versprengtes Stück Kultur, wie ein aus der Zeit gefallener Rest
Old Europe, mit Barockportalen im Dutzend, gotischen Fenstern,
einer Jugendstilpassage, Stadtvillen aus der Gründerzeit,
vergoldeten Flachreliefs, Säulchen, Zierleisten. Selbst
»Karstadt«
sitzt in Jugendstil, dem letzten erhaltenen Kaufhaus seiner Art
in Deutschland.
Eine halbe Milliarde Euro ist über die Altstadt von Görlitz
niedergegangen. Die Stadt hat das Herz hochbesteuerter Zahnärzte
gerührt. Fördermittel, Stiftungsgelder, Investitionszulagen,
Eigenkapitalien strömten an die Neiße, jede Ecke wurde mit
philatelistischer Sorgfalt restauriert, Regenrinnen aus Kupfer
verlegt, Innenanstrich nach Quark-Kalk-Rezeptur aus dem
Mittelalter angerührt. Nirgendwo sonst zeigte sich der Aufbau
Ost sorgfältiger und liebevoller als in Görlitz.
Jetzt ist die Kulisse fertig, und es gibt nur noch ein Problem:
die Menschen. Es ist keiner mehr da zum Bespielen. Die Fenster
bleiben abends dunkel. Die Stadt ist leer. Görlitz hatte zu
DDR-Zeiten 80.000 Einwohner. Ein Viertel der Bevölkerung ist
fortgezogen, vor allem die Jüngeren. Jetzt leben hier noch
60.000 Menschen, und sie sind nicht jung. 45 Jahre alt ist der
Görlitzer im Schnitt, zehn Jahre älter als der Zgorzelecer, nur
eine Flussbreite entfernt. (...).
Zgorzelec ist das Gegenteil von Görlitz. Eine gewucherte
Behelfsstadt, zwangsbesiedelt mit Fremden, denen die Angst vor
Vertreibung in den Knochen steckt. Die Welt am anderen Ufer ist
rauer. Es riecht nach Braunkohle wie früher überall. Die Kerle
sind kurz geschoren, die Blicke hungriger. Die Schritte der
Frauen sind schneller, die Gesichter geschminkter, die Hosen um
jene Nummer zu eng, die über Reiz oder Bequemlichkeit
entscheidet. Zgorzelec ist arm, und Armut ist direkt und laut.
Die Wohnungen sind eng, rationiert und schäbig. Die Straßen
belebt, der Verkehr dröhnend, auf dem Markt drängeln sich die
Leute, und die Arbeitslosenquote liegt bei 11 Prozent. Halb so
hoch wie auf der anderen Seite. (...).
In den letzten Jahren sind Tausende aus dem Umland nach
Zgorzelec gezogen. Sie eröffnen in irgendeinem Souterrain eine
Frisierstube, oder sie klappen einen Campingtisch an der
Warszawaska-Straße auf wie Sylwia, Maigorzata und Anna, packen
ihn voll mit schwedischen Duftwässerchen, zahlen zwei Zloty am
Tag oder auch nicht - und kommen über die Runden.
Inzwischen ist die Kriminalität an der Neiße nicht wesentlich
höher als anderswo. (...). Nur der raue Wind ist geblieben.
Zgorzelec ist amerikanischer, auf kuriose Art westlicher als
Görlitz.
Rolf Karbaum war in der DDR Professor für Schwachstromtechnik,
bevor er Oberbürgermeister von Görlitz wurde. (...). Die großen
Investoren sind weggeblieben - mit Ausnahme eines Callcenters,
das sich im alten Postamt angesiedelt hat, weil Görlitz eine
schlesische Stadt ist und die Menschen hier nicht sächseln.
Doch Karbaum ist risikofreudiger, als manchen Alteingesessenen
recht ist. Am liebsten würde er alle Grenzen abschaffen, den
Arbeitsmarkt öffnen, den Wohnungsmarkt, das Melderecht. Warum
sollen Polen nicht in leere Görlitzer Wohnungen ziehen? Warum
soll eine Druckerei keinen Polen einstellen dürfen, auch wenn
die Arbeitslosenquote in Görlitz bei 23 Prozent klebt? "Unsere
einzige Chance ist der Osten", sagt er. (...).
Karbaum fürchtet, dass nach dem Wegfall der Grenze die
Entwicklung über die beiden Städte hinwegspringen könnte. Dass
Görlitz vor allem hübsches Hinweisschild an der Autobahn bliebe,
auf dem Weg zwischen Dresden und Breslau. Es bleibt nicht mehr
viel Zeit.
Am Morgen hat die Deutsche Bahn bekannt gegeben, die letzten
beiden direkten Zugverbindungen von Dresden über Görlitz nach
Polen würden gekappt. (...).
Die Görlitzer sind stolz auf ihre Altstadt. Die Zgorzelecer auf
ihre Tankstellen.
In Polen ist das Ende des Sozialismus als Crashkurs absolviert
worden, ohne sozialstaatliche Abfederung, ohne Transfers aus
einer besseren Welt. Das hat die Menschen jenseits der Neiße arm
gemacht und illusionslos. Wer sich nicht selbst hilft, der kann
auf Hilfe lange warten. (...).
Inzwischen leben viele Geschäfte der Görlitzer Innenstadt von
den Zgorzelecern, die in ständigem Strom mit ihren Einkaufstüten
über die Stadtbrücke kommen, um Kosmetika oder Markenartikel zu
kaufen. Früher waren nur die Warnschilder gegen Ladendiebstahl
auch in Polnisch. Inzwischen steht in den Kaufhäusern "Serdecznie
witamy! - Herzlich willkommen!" Ein Drittel seines Umsatzes
macht der Einzelhandel mit Kunden von drüben. Doch manchem fällt
es schwer, frohgestimmt über die Neiße zu schauen. (...).
Die urbanen
Kosmopoliten wohnen in der schmucken Altstadt, während die
"Konservativen" am Rande in der Plattenbausiedlung wohnen:
Es ist, als
ob ein weiterer Riss durch Görlitz ginge, quer zur Neiße. Eine
Kluft zwischen denen, die neugierig auf das andere Ufer sind,
und den anderen. Die alten Görlitzer haben sich nicht in die
renovierte Innenstadt locken lassen.
Sie wohnen draußen, in der Plattensiedlung Königshufen. Hier
kennt man sich, es gibt Parkplätze, Straßenbahn und einen
»täglich
billig!«-Supermarkt
in der Mitte. Königshufen ist Sozialismus plus Biotonne.
Außerdem hat man einen schönen Blick auf die Altstadt.
Da unten, in den Gründerzeitvillen, haben sich Neubürger
angesiedelt. (...). Bei der Stadtratswahl im Juni haben diese
»Bürger
für Görlitz«
die meisten Stimmen bekommen.
Vielleicht ist es falsch, auf die großen Investoren zu warten.
Vor gut hundert Jahren war Görlitz schon einmal eine
»Pensionopolis«
für preußische Rittmeister a. D. Es gibt Leute, die darüber
nachdenken, Görlitz in eine Art deutsches Palm Springs zu
verwandeln, eine Kultur- und Klinikstadt für Ruheständler. Ihnen
macht die Randlage nichts aus, und sie könnten sich von Pflegern
aus Zgorzelec betreuen lassen.
Vielleicht muss man ganz anders denken. Es sind nicht die großen
Institutionen, die eine Entwicklung bestimmen, sondern die
kleinen Bemühungen."
Was hier noch
als Mentalitätsunterschied daher kommt, wird sich zur
neuen politischen Konfliktlinie entwickeln. Ausgang offen!
KOCH,
Hannes (2004): Rückkehr nach Pensionopolis.
Görlitz im Osten
schrumpft. Gerade diese neue Übersichtlichkeit soll die Stadt
attraktiv für Ruheständler machen. Der Plan scheint zu
funktionieren,
in: TAZ v. 26.10.
"Die 60.000-Einwohner-Stadt
zeichnet sich aus durch wunderbare Wohnquartiere. Intakte
Straßenzüge aus der Gründerzeit wechseln mit großzügigen Alleen
des Jugendstils und mit noblen Stadtvillen - erste Adresse für
Filmproduktionen, die das Berlin oder Paris der 1920er-Jahre
suchen. Andererseits: Görlitz schrumpft rapide. Zu wenige Jobs,
die Jungen ziehen weg. Die Stadt ist heute nach Baden-Baden eine
der ältesten Deutschlands - nicht historisch, sondern am Alter
ihrer Bevölkerung gemessen. Knapp 22 Prozent der Einwohner sind
jenseits der 65. Hier kann man schon heute studieren, wie die
deutsche Gesellschaft in 30 Jahren aussehen wird. Wohin
entwickelt sich die Stadt Görlitz? Schon vor 100 Jahren trug die
Stadt den Beinamen »Pensionopolis«. Ausgediente Offiziere und
Beamte ließen sich hier nieder, viel Bildungsbürgertum. Die
Bürgermeister konnten ihre reiche Klientel mit Steuervorteilen
locken, man investierte in Kultur, Bibliotheken, Parks. Lässt
sich daran für die Zukunft anknüpfen? Ein paar Leute immerhin
gibt es, die ökonomische Funken aus der Überalterung zu schlagen
versuchen",
berichtet Hannes KOCH über
die Vergangenheit und Gegenwart von Görlitz. Die Stadtplaner
wollen eine perforierte Stadt verhindern und stattdessen die
Innenstadt fördern:
"»Die Stadt soll sich
zusammenziehen«, sagt er. Keine Tentakeln ausbilden, keine
Supermärkte auf der grünen Wiese, lieber Geschäfte in der
Innenstadt. Denn das sei gut für die alten Leute, die brauchen
dann nicht so weit zu fahren: eine funktionierende Stadt,
fußgängerfreundlich und mit kurzen Wegen als Standortvorteil.
Weil Görlitz mit seinen Jugendstiljuwelen locken kann, scheint
das auch einigermaßen zu funktionieren. Über seine Statistiken
gebeugt, macht Penske ein fröhliches Gesicht. Erstmals seit
langem habe in jüngster Zeit die Bevölkerung in manchen
Innenstadtquartieren nicht mehr ab-, sondern zugenommen.
Ruheständler aus Hamburg und Frankfurt seien zugezogen, aber
auch junge Familien, die sich ein Haus mit Garten zehn Minuten
vom Marktplatz leisten könnten."
Der Professor für Sozialwesen
Joachim SCHULZE sieht im Alter einen Wirtschaftsfaktor für die
Stadt.
HAMANN, Götz (2004): Wie schrumpft man eine
Stadt?
Wir werden weniger (3):
Sachsen erlebt, was westliche Bundesländer
noch vor sich haben: Verlassene Wohnungen und verfallende
Viertel in fast jeder Kommune. Stadtplaner, Politiker und Bürger
lernen allmählich, mit der neuen Leere umzugehen,
in: Die ZEIT Nr.45 v. 28.10.
"Es war eine
Fahrt im September. Eine Fahrt (...) bis nach Görlitz, tiefer
geht es nicht in den sächsischen Osten. (...).
Statt fünf Millionen Menschen wie zu Wendezeiten leben heute
noch 4,3 Millionen in Sachsen, was bitter ist, der Region aber
auch den Ruf eingetragen hat, dort ließe sich ein Blick in die
gesamtdeutsche Zukunft werfen (...).
Sachsen (ist) dem Westen um mehrere Jahre voraus. Denn in all
den Irrtümern, Rückschlägen und Erfolgen stecken Erfahrungen,
die der Westen noch machen muss",
erklärt uns
Götz HAMANN. Die Geschichte "Sachsen ist überall" ist eine
Variation der "Hoyerswerda ist überall"-Geschichte, in der der
demografische Niedergang zum Leitbild erhoben wird. Görlitz ist
für HAMANN ein Sinnbild für fehlenden Mut, dem Untergang ins
Gesicht zu sehen:
"Görlitz. Das
Licht härtet an diesem Morgen auch die erdigsten Farben. Das
Gelb und das Braun und die Sandtöne des Görlitzer Untermarktes
erkalten mit jeder Minute mehr, was die Fassaden aus Barock und
Renaissance noch stärker hervortreten lässt und die Häuser
binnen Minuten in ein historisches Bühnenbild verwandelt. Wer im
Vergleich dazu Fotos aus dem Jahr 1989 betrachtet, ahnt, warum
es Lokalpolitikern und Stadtplanern bis heute misslingt, sich
dem Schrumpfen zu widmen.
Zu Wendezeiten trug die Innenstadt Züge einer Ruine, die
Baupolizei hatte viele Gebäude gesperrt, und nicht viel wäre vom
Stadtkern geblieben, hätte er weiter vor sich hin rotten müssen.
Seither wurden Laubengänge, Kaufmannshäuser, Speicher und
Wohnstraßen, zusammen fast 4000 Baudenkmäler, saniert und mit
immensen Zuschüssen von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz in
ihren Urzustand versetzt. Gegen so viel Verfall anzugehen kostet
Kraft. (...).
Von den 72000 Menschen, die im Jahr 1990 in der Stadt lebten,
zogen Tausende auf der Suche nach Arbeit gen Westen. Geblieben
sind 58000, was logischerweise dazu führt, dass der Leerstand am
Stadtrand wie im Zentrum gestiegen ist. Und er dürfte weiter
steigen, weil die Einwohnerzahl bis zum Jahr 2020 auf 46000
gesunken sein wird – so das Statistische Landesamt. Derzeit
bleibt nahe des Untermarkts abends jede dritte Wohnung dunkel,
und wo die Dunkelheit einmal nistet, breitet sie sich aus, weil
Leerstand neuen Leerstand anzieht. Wer wohnt schon gern in halb
verlassenen Straßen? Einem derartigen Schrumpfen der Bevölkerung
allein mit einer Sanierungsstrategie zu begegnen, weil man auf
künftiges Wachstum hofft, muss scheitern – und hat Folgen wie in
Görlitz.
Längst ist der Immobilienmarkt in der Region aus dem
Gleichgewicht geraten."
Sachsens
Regierung will das Land schrumpfen, aber die Menschen zeigen
sich widerspenstig:
"Die
Görlitzer Stadtpolitik hat einen Trend verschärft, der weite
Teile des Landes erfasst hat: Ministerpräsident Georg Milbradt
rechnete auf einer Tagung vor, dass die Differenz zwischen
denen, die sterben, und denen, die geboren werden, seit 1990
etwa 370000 Bürger betrage. Da in derselben Zeit viele Gemeinden
rund um Dresden und Leipzig sogar noch gewachsen sind, weil sich
überall im Land, aber vor allem dort, mehr als 90000 Sachsen
ihren Traum vom Eigenheim erfüllten, selbst wenn es ein
Musterhaustraum war, schrumpfte die Bevölkerung in mittelgroßen
Städten und den Randlagen noch schneller."
Zwickau gilt
dagegen als mustergültige Baupolitik per Abrissbirne:
"Zwickau.
Eigentlich hilft nur der große Abriss. Auf einem Hügel
nordöstlich des Stadtkerns von Zwickau wächst zwischen der
Carl-Gördeler-Straße und der Moltkestraße ziemlich gewöhnliches
Gras. (...) Es ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit. »Da standen
überall Sechsgeschosser.« Pflug hat nach der Wende das Bauamt
geleitet und wechselte dann zur Zwickauer
Wohnungsbaugenossenschaft, deren Vorstandsvorsitzender er heute
ist. Er ist einer, an den Staatssekretär Buttolo denkt, wenn er
sagt: »Fahren Sie nach Zwickau. Sehen Sie sich das an! So viel
kann man in fünf Jahren erreichen.« Auf dem Hügel im Stadtteil
Eckersbach hat Pflug gemeinsam mit Jutta Giebner, der Chefin der
kommunalen Wohnungsbaugesellschaft, mehr als 3000 Wohnungen aus
den eigenen Beständen abgerissen. Die Lasten haben die beiden
geteilt, wozu die Stadt beitrug, indem sie die ersten Gespräche
organisierte und den Rückbau gemeinsam mit den
Wohnungsgesellschaften plante.
In Zwickau-Eckersbach gelang es auf diese Weise, ein Dilemma der
Wohnungswirtschaft zu überwinden."
"Abrissblockade" nennt HAMANN es, wenn sich jemand dieser
Schrumpfungseuphorie widersetzt. Um diese Abrissblockade
aufzulösen setzt Sachsen auf die Subventionierung des Abrisses:
"Staatssekretär Albrecht Buttolo versucht gerade, ein
Modellprojekt in der Stadt Wurzen zu starten. Dort will er die
Anwohner dazu bewegen, Teile eines Gründerzeitviertels zu
räumen, in dem viel leer steht. Das Angebot lautet: Wer abreißt,
bekommt einen Zuschuss und verzichtet dafür auf sein
Wohneigentum in diesem Viertel. Oder die Besitzer tauschen ihre
leer stehenden Häuser gegen eine Wohnung der lokalen
Wohnungsgesellschaft in einem Viertel, das stehen bleiben soll.
Es ist immerhin ein Versuch."
Die
Stadtentwicklung in Görlitz wird dagegen als Negativbeispiel
vorgeführt:
"Lutz Penske
ist von solchen Ideen weit entfernt. Der Leiter der Stadtplanung
fährt in seinem Büro, das in einer alten Kaserne liegt, ruhig
und präzise mit seinem Finger über einen Stadtplan. Er fährt um
die rot gefärbte Innenstadt und die orangefarbenen
Einkaufsstraßen aus der Gründerzeit, und dann zeigt er auf die
äußerste Linie, die einen weiten Bogen bis hinter die Bahnlinie
macht, im Süden an die Neiße stößt und dann zur Altstadt
zurückführt. In diesem Gebiet will Penske alle Häuser erhalten,
obwohl etwa die obere Hälfte der alten Prachtstraße hinauf zum
Bahnhof völlig verwaist ist. Dort, wo bis zum Zweiten Weltkrieg
die teuersten Geschäfte lagen, kleben heute ein paar letzte
Nachrichten aus den neunziger Jahren in den Schaufenstern. Die
guten handeln vom Umziehen, die anderen vom Aufgeben."
Die Idee,
dass Görlitz für ältere Menschen so attraktiv werden könnte,
dass dies die Erhaltung der Innenstadt rechtfertigt, hält HAMANN
für verfehlt:
"Keine der
vagen Ideen, die in der Stadt kursieren und die sich darum
drehen, wie Görlitz wieder wachsen könnte, werden die
Unterlassungen in Sachen Abriss auf absehbare Zeit kompensieren.
Es sind einfach keine tausend neuen Arbeitsplätze in Sicht, kein
Zuwandererstrom aus dem polnischen Zgorzelec absehbar, das auf
der anderen Seite der Neiße liegt. Aber zumindest eine
Perspektive gibt es, die das Schrumpfen mildern könnte:
Stadtplaner Penske hofft, dass Görlitz für ältere Menschen aus
den Ballungsräumen des Westens ein begehrter Altersruhesitz
wird, wie die Bretagne und die Toskana. Görlitz, das "Pensionopolis"?
(...).
(E)ine Tradition vom Ende des 19. Jahrhunderts aufleben
(lassen), als deutsche Rentner schon einmal erkannt hatten, wie
gut es sich an der Neiße leben lässt. Ein Teil der
Gründerzeitviertel mit ihren Villen und mehrstöckigen
Stadthäusern ist just in dieser Zeit entstanden, weil ehemalige
Offiziere des Kaiserreichs, pensionierte Beamte aus Berlin sowie
Unternehmer und Ärzte aus Schlesien beschlossen, ihr Vermögen an
der Neiße zu investieren. Die Eichhorns sind zwei, zwei von ein
paar hundert Rentnern. Nur – was sind sie gegen die vielen
tausend, die gehen?"
2005
BECKER, Franziska (2005): Ortsidentitäten
im "Europa der Regionen". Das Beispiel einer schrumpfenden
Stadt an der deutsch-polnischen Grenze. In: Beate Binder, Silke
Göttsch, Wolfgang Kaschuba, Konrad Vanja (Hrsg.) Ort. Arbeit.
Körper. Ethnografie Europäischer Modernen. 34. Kongress der
Deutschen Volkskunde, Berlin 2003, Waxmann
BERG, Stefan u.a.(2005):
Permanente Revolution.
Spiegel-Serie Wege aus der Krise: Die Parteien drücken sich im
Wahlkampf um das Thema Aufbau Ost - aus gutem Grund: Viele
Programme sind gescheitert, die Milliarden fließen weiter, aber
die Menschen wandern ab. Experten fordern, ganze Landstriche
aufzugeben, um wenigstens zukunftsträchtige Zentren noch mehr zu
fördern,
in: Spiegel Nr.36 v. 05.09.
Für den
Spiegel zeigt uns Görlitz die Zukunft des Ostens:
"Die Zukunft
ist in Städten wie Görlitz schon heute zu sehen. Die
Renaissance- Stadt an der Neiße ist mit Millionen
Städtebau-Fördermitteln zu einem architektonischen Kleinod
aufgehübscht worden. Das bewohnen nun auch Rentner aus dem
Westen, die sich mitten in der City prächtige Altbauwohnungen zu
kleinen Mieten leisten können. Für die Jungen, sofern sie nicht
bei Pflegediensten arbeiten, bietet die Stadt hingegen kaum eine
Perspektive. Sie ziehen weg, wie vielerorts im Osten, oder
pendeln – teils mehrere hundert Kilometer – zu Arbeits- und
Ausbildungsplätzen."
2006
BÖLSCHE,
Jochen
(2006): Polinnen als letzte Hoffnung.
Verlassenes Land, verlorenes Land: Auf der Suche nach einem
guten Job oder einer guten Partie fliehen junge Frauen
massenhaft vom Land in die Städte. Zurück bleiben Männer, die
sich in Fernsehsucht, Suff und Fremdenhass flüchten. Politiker
erwägen bereits, Ausländerinnen für die Frustrierten anzuwerben
- ein fragwürdiges Konzept,
in: Spiegel online v. 16.03.
KRÖHNERT,
Steffen/MEDICUS, Franziska/KLINGHOLZ, Reiner (2006): Die
demographische Zukunft der Nation. Wie zukunftsfähig sind
Deutschlands Regionen? München: Dtv, April
"Für die 15 kreisfreien
Städte, die seit 1995 die größten Bevölkerungsverluste
vermelden, werden bis 2020 weitere prognostiziert. Wer so viel
verloren hat, wird weiter verlieren" (S.42),
erklären KRÖHNERT/MEDICUSKLINGHOLZ.
Zu diesen Städten gehört auch Görlitz.
Das große
Schrumpfen (Cornelia TUTT) scheint unabwendbar.
Die Abwärtsspirale als Erklärungsmuster hat Hochkonjunktur.
Görlitz wird als bundesweites
Schlusslicht beim Familienfreundlichkeits-Indikator "Personen je
Wohnung" geführt. Eine Kritik des
Familienfreundlichkeitsindikators und ein Vergleich mit dem
Ranking 2004 findet sich
hier.
2007
STEINERT, Erika & Norbert ZILLICH (2007)(Hrsg.): Perspektive
Pensionopolis! Anfragen an eine alternde Gesellschaft am
Beispiel der Europastadt Görlitz/Zgorzelec in der Euroregion
Neiße, Frankfurt am Main: Lang
"Vergleichende Analysen zur demografischen Alterung und
Situation alter Menschen, innovative Praxisprojekte zur
Versorgung älterer Bürgerinnen und Bürger sowie politische
Artikulationen aus polnischer, tschechischer und deutscher Sicht
zusammenzuführen, war Anliegen einer Fachtagung,
durchgeführt vom Fachbereich Sozialwesen der Hochschule
Zittau/Görlitz, dem Hochschul-Institut für Transformation,
Wohnen und soziale Raumordnung (TRAWOS) sowie dem Verein
für grenzüberschreitende soziale Arbeit (GÜSA e.V.). Die
Tagungsbeiträge sind überwiegend in diesem Band
zusammengestellt. Gemeinsam ist ihnen eine
ressourcenorientierte Sicht auf ältere Menschen. Deutlich
wird dabei, dass der demografische Wandel eine produktive
Kraft für Innovationen, ein Motor regionalwirtschaftlicher
Entwicklung – »Pensionopolis« eine Chance für die
Entwicklung der Europastadt Görlitz/Zgorzelec sein kann",
heißt es im Klappentext.
WELT-Serie: Besser Altern (Teil 6) |
HOLLSTEIN, Miriam (2007): Ostdeutschland wird zum
Rentnerparadies.
WELT-Serie Besser
altern: Der Osten entwickelt sich zu einem Ruhesitz für
Westdeutsche. Während die einen sich über den Zuwachs freuen,
fürchten die anderen, dass Städte wie Görlitz und Weimar in
Zukunft ausschließlich als Altersresidenz angesehen werden
könnten,
in: Welt v. 09.08.
STEINERT, Erika & Norbert ZILLICH (2007): Perspektive
Pensionopolis! Anfragen an eine alternde Gesellschaft am
Beispiel der Europastadt Görlitz/Zgorzelec in der Euroregion
Neiße, Görlitzer Beiträge zu regionalen
Transformationsprozessen, Band 1
2008
RHEINISCHER MERKUR-Spezial:
"Die neue Angst -
Arm im Alter.
Gerät unser
Rentensystem in die Krise oder sind kritische Prognosen nur
Panikmache? Walter Riester verteidigt die private Vorsorge.
|
CHEMNITZ, Peter
(2008): Der Osten lockt.
Wohnen I:
Wie Görlitz und andere Kommunen um Senioren aus den alten
Bundesländern werben. Die Lebenshaltungskosten sind dort
günstiger, der Freizeitwert stimmt auch,
in: Rheinischer Merkur Nr.5 v. 31.01.
BERTELSMANNSTIFTUNG (2008): Regionalreport Sachsen,
Sachsen-Anhalt und Thüringen. Differenzierung des
»Wegweisers Demographischer Wandel« für drei ostdeutsche
Bundesländer, August
2010
SCHLÄCHTER, Luise (2010): Ruhestand im Niemandsland.
Sanierte Altbauten,
niedrige Preise und viel Kultur: Westdeutsche Rentner zieht es
nach Görlitz,
In: Welt v. 02.11.
Louise
SCHLÄCHTER berichtet über die gescheiterte Bewerbung von Görlitz
für die Kulturhauptstadt 2010. Dennoch will die Stadt davon
profitieren:
"Mit dem
Slogan »From the middle of nowhere to the Heart of Europe«
gingen Görlitz und die polnische Nachbarstadt Zgorzelec ins
Rennen um den Titel »Kulturhauptstadt 2010«. Sie scheiterten
knapp - Essen gewann. Der Wahlspruch macht trotzdem deutlich:
Görlitz, die Stadt am östlichsten Zipfel Deutschlands, will
heraus aus dem Niemandsland der Grenzregion und europäischer
Mittelpunkt für interkulturelle Begegnung werden."
Die
Wiedervereinigung wird als Wende für Görlitz, das "Tal der
Ahnungslosen", beschrieben, Die Innenstadt war verödet
»Vor der
Wende war Görlitz das Tal der Ahnungslosen. Hier war das Ende
der Versorgung«, sagt Oberbürgermeister Joachim Paulick. »Wir
waren abgeschnitten von der Außenwelt, Westfernsehen war selbst
bei günstigen Wetterlagen nicht zu empfangen.« Als dunkle,
verfallene Stadt beschreibt er das damalige Görlitz, das vor der
Wende 75 000 Einwohner hatte. »Die Altstadt und Innenstadt waren
die unbeliebtesten Gebiete, weil sie nicht mehr bewohnbar
waren.« Stattdessen zog jeder, der Geld hatte, in die neuen
Plattenbausiedlungen Weinhübel, Rauschwald und Königshufen am
Rande der Stadt."
Joachim
PAULICK, Oberbürgermeister von 2005 bis 2012, wird als Gegner
der Marke "Pensionopolis" beschrieben:
"Eine
gezielte Werbekampagne von Senioren existiere nicht, auch wenn
es Vorschläge gegeben habe, Görlitz in ein deutsches »Sun City«,
eine Rentnerstadt, zu verwandeln und mit der Marke »Pensionopolis«
auf den Markt zu gehen. »Aber dagegen habe ich mich vehement
gewehrt«, sagt Oberbürgermeister Paulick. »Das impliziert, dass
nur noch Alte und Gebrechliche hier rumlaufen und die Parkplätze
alle doppelt so groß sind - aber die Stadt hat doch viel mehr
Potenzial.«"
Als Pluspunkt
werden die niedrigen Lebenshaltungskosten geschildert, aber der
Handel in der Innenstadt liegt danieder und die
Arbeitslosenquote ist hoch ("18,9 Prozent"). Die jungen Menschen
ziehen zum Studieren und zum Arbeiten weg.
2014
BEUTLER, Sebastian & Sebastian KOSITZ (2014): Wo sind die jungen
Frauen hin?
Im Landkreis
Görlitz gibt es einen Männerüberschuss. Europaweit ist das
einmalig. Von Sebastian Beutler und Sebastian Kositz,
In: Sächsische Zeitung Online v. 22.01.
"Im Schnitt
kommen im Kreis Görlitz in der Altersgruppe der 18- bis
30-Jährigen auf 100 Männer nur 86 Frauen. Das ist zwar besser
als im Landkreis Bautzen, der mit nur 80 Frauen auf 100 Männer
europaweit ein einmaliges Phänomen aufweist, aber Dresden ist
mit 94 Frauen auf 100 Männer doch noch deutlich ausgeglichener
besetzt als der Kreis Görlitz. Hier sind es vor allem die
Extreme, die auffallen. So kommen in Mücka nur 52 junge Frauen
auf 100 junge Männer, auch im benachbarten Kreba-Neudorf und in
Beiersdorf im Süden des Kreises liegt die Quote unter 60
Prozent. Dagegen haben Görlitz und Berthelsdorf einen
Frauenüberschuss. Und Jonsdorf ist die Gemeinde im Landkreis, wo
junge Frauen und Männer den Forschern zufolge exakt im
Verhältnis eins zu eins leben",
berichten
BEUTLER & KOSITZ. Sieben Jahre nach der Studie Not am Mann
soll sich das Phänomen des Frauenmangels bzw. Männerüberschusses
im Kreis Görlitz noch verschlimmert haben. Dazu werden
namentlich ungenannte Statistiker des Statistischen Landesamts
in Kamenz und Wissenschaftler vom Leipziger Leibnitz-Institut
zitiert.
2016
HONNIGFORT, Bernhard (2016): Geh doch einfach rüber.
Görlitz zieht westdeutsche Rentner an,
in:
Frankfurter Rundschau
v. 21.05.
Görlitz
statt Mallorca oder Teneriffa preist uns Bernhard HONNIGFORT
als Rentnerparadies an.
"Immer mehr Rentner
ziehen in Deutschland um, hat das Statistische Bundesamt
herausgefunden. 2013 waren es 260.000, 50.000 mehr als
1995",
behauptet HONNIGFORT anhand
von Zahlen, die das gar nicht belegen können, denn dazu wären
Prozentzahlen notwendig und keine absoluten Zahlen. Es könnten
genauso gut weniger Rentner geworden sein, die noch umziehen,
weil die Anzahl an Rentnern von 1995 bis 2013 um mehr als
50.000 gestiegen ist. Es ist schlechter Journalismus, wenn wir
mit Zahlen abgespeist werden, die nicht das nachvollziehen
lassen, was uns der Journalist mit Worten erzählt. Als Leser
hat man dann nur die Wahl das zu glauben oder zeitaufwändig
selber zu recherchieren. Und dann soll man für einen solch
schlampig recherchierten Text auch noch bezahlen?
Am Beispiel eines
73-jährigen Kölner wird die Attraktivität der Stadt Görlitz im
Sinne eines Stadtmarketings angepriesen: Die Kaufkraft sei
vergleichsweise hoch. Gegenüber Chemnitz, das den städtischen
Altenrekord in ganz Europa hält (wann diese Erhebung
stattgefunden hat, wird jedoch verschwiegen!), wird die
Schönheit der Stadt hervorgehoben. Der Einzelfall des
73-jährigen Kölner wird dann zum Trend stilisiert, wenn
HONNIGFORT schreibt:
"1200 gut betuchte
West-Rentner sind in den vergangen Jahren in die
ostsächsische Stadt an der Neiße gezogen, eine Menge, denn
Görlitz hat insgesamt nur 56 211 Einwohner."
Was heißt vergangene
Jahren? 5 Jahre oder seit 1991? Und wie viele sind weggezogen?
Ein Vergleich mit Chemnitz wäre aussagekräftiger, denn dann
könnte sich der Leser selber ein Bild davon machen.
Zuletzt wird die positive
Bevölkerungsentwicklung in Görlitz hervorgehoben:
"Görlitz wachse wieder,
erzählt Eva Wittig, die Sprecherin der Stadt. Seit 2014 gehe
es wieder bergauf, nachdem jahrzehntelang die Zahlen in den
Keller gingen, weil junge Familien wegzogen, nach Westen,
der Arbeit hinterher. Nun geht es andersherum – und nicht
nur die gut gelaunten Westrentner kommen. Es kommen Junge,
um zu studieren, es kommen Polen aus der Nachbarstadt
Zgorzelec, die einmal eins war mit Görlitz und nur durch den
Grenzfluss Neiße getrennt ist. In Polen ist bezahlbarer
Wohnraum knapp, in Görlitz kein Problem."
EMPIRICA (2016): Schwarmverhalten in
Sachsen. Eine Untersuchung zu Umfang, Ursache,
Nachhaltigkeit und Folgen der neuen Wanderungsmuster im Auftrag
der Sächsischen Aufbaubank, des Verbands der Wohnungs- und
Immobilienwirtschaft in Sachsen, und des Verbands sächsischer
Wohnungsgenossenschaften. Endbericht
Empirica sieht in der Altenwanderung (60 - 74 Jahre) eine Chance
für folgende Städte:
Tabelle: Die
20 größten Gewinner der Altenwanderung 2009 - 2014 |
Rang (KWR) |
Stadt bzw.
Gemeinde |
Einwohner
(Ende 2014) |
1 |
Rathmannsdorf |
977 |
2 |
Oybin
(Landkreis Görlitz) |
1.457 |
3 |
Meißen |
27.273 |
Oderwitz |
5.257 |
5 |
Weißkeißel |
1.266 |
6 |
Görlitz |
54.193 |
Niederdorf |
1.192 |
Niederwürschnitz |
2.667 |
Weinböhla |
10.165 |
10 |
Bad Muskau |
3.661 |
Pirna |
37.768 |
12 |
Bernstadt a. d.
Eigen |
3.469 |
Freital |
39.547 |
Groß Düben |
1.086 |
Hartmannsdorf bei
Kirchberg |
1.372 |
Otterwisch |
1.403 |
Tharandt |
5.346 |
18 |
Bad Elster |
3.616 |
Großröhrsdorf |
6.619 |
Crinitzberg |
2.015 |
|
Quelle:
Empirica 2016, S.34 |
SCHÖNBACH, Miriam (2016): Sieben
Jahre Görlitz-Experiment.
Mit kostenlosem Probewohnen
sollten Neubürger gewonnen werden - der Erfolg ist mäßig,
in:
Neues Deutschland v.
27.07.
Miriam
SCHÖNBACH schildert uns Görlitz als sterbende Stadt:
"Ein knappes Viertel der
etwa 4000 Baudenkmäler aus Romantik, Barock, Renaissance und
Gründerzeit ist unbewohnt. In den vergangenen 25 Jahren sank
die Bevölkerungszahl der Stadt von 72.000 auf 54.000
Einwohner. In ihrer Blütezeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts
lebten 81.000 Menschen in der »Perle der Oberlausitz«".
In Westzeitungen wird uns
dagegen Görlitz als Rentnerparadies verkauft, die Westdeutsche
besonders anzieht, so z.B. HONNIGFORT in der FR.
Dass dies verzweifelten Werbemaßnahmen entsprungen ist, das
wurde uns Westlern dagegen verschwiegen:
"Görlitzer Probewohnen
(...). Zwei Drittel der Bewerber waren zwischen 60 und 69
Jahre oder älter. Auch bei den vorherigen Aktionen fühlten
sich besonders Senioren angesprochen. Die meisten Bewerber
kamen aus Nordrhein-Westfalen, Berlin, Sachsen und
Baden-Württemberg.
Wissenschaftliche begleitet wird das Projekt durch das
Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung in
Dresden",
klärt uns SCHÖNBACH über
das Probewohnen-Projekt der Kommwohnen Service GmbH auf, das
2009 gestartet wurde und bislang mit drei Aufrufen (zuletzt im
Juli 2015) ein "Zeichen gegen den Leerstand in ihrer Stadt" zu
setzen versuchte. Das Ergebnis:
"Acht Haushalte konnten
mit dem Probewohnen bislang gewonnen werden (...). Dazu sind
am 1. Juli zwei weitere Einwohner gekommen."
KUNTZ, Michael (2016): Umzug ins
Ungewisse.
Manche Senioren
suchen im Ruhestand ihr Glück in der Ferne. Sie gehen ins
Ausland oder in Gegenden, wo schon viele Gleichaltrige leben.
Die mobilen Alten - ihre Hoffnungen, ihre Enttäuschungen,
in:
Süddeutsche
Zeitung v. 25.08.
Michael
KUNTZ nimmt -
wie schon Catrin KAHLWEIT - eine
Pressemeldung der Deutschen Rentenversicherung Bund zu den
Auslandsrenten im Jahr 2015 zum Anlass, um diese seltene
Spezies (ca. 1 Prozent der Rentner) als Rahmen für jene
Rentner zu nehmen, die im Alter noch umziehen, wobei KUNTZ
sich zum einen auf die Luxusvariante (Tegernsee, Baden-Baden)
und zum anderen auf die Billigvariante (Wilhelmshaven,
Nordhessen) konzentriert, während ihm der Normalo zu
uninteressant ist.
Schon Gerhard MATZIG hat Benachteiligten das Wohnen in
attraktiven Städten abgesprochen. Bei KUNTZ wird dieses
Prinzip auf die Rentner angewandt:
"Auch wenn das oft anders
gesehen wird, aber ein Anspruch darauf, dort im Alter wohnen
zu bleiben, wo man gearbeitet hat und sich nun den Ruhestand
nicht mehr leisten kann - einen solchen Anspruch mag es
politisch geben, rechtlich gibt es ihn jedenfalls nicht.
Also wird mancher Umzug schlicht uns spaßfrei der Senkung
der Kosten für die Lebenshaltung dienen."
Das Stadtmarketing von Görlitz hat auch in KUNTZ einen Fan,
wobei die Verzweifelung deutlich wird, wenn familienlosen
Singles die östliche Grenzstadt folgendermaßen schmackhaft
gemacht werden soll:
"Da immer mehr Singles
alt werden, spielt es bei der Ortswahl auch keine so große
Rolle mehr wie früher, ob die Familie in der Nähe wohnt. Wo
Angehörige sich nicht besuchen, ist letztlich egal."
SCHULZ, Matthias (2016): Alles umsonst.
Denkmalschutz: Die Sanierung
von Görlitz kostete Abermillionen. Doch viele der historischen
Prachtbauten stehen leer. Mit ungewöhnlichen Mitteln lockt die
Stadt jetzt Neubürger an,
in: Spiegel
Nr.48
v. 26.11.
"Eigentlich könnte also
alles gut sein, zumal sich nach der Wende ein Füllhorn an
Steuergeldern und Bausubventionen über die marode Kommune
ergoss. Sie gilt heute als »größtes zusammenhängendes
nationales Flächendenkmal«.
Doch leider hat Görlitz noch einen weiteren Rekord zu
vermelden. Der Ort ist auch der leerstehendste. Es fehlt an
Menschen.
Zwar gelang es, mit den Fördergeldern und Spenden bislang 75
Prozent der Innenstadt zu sanieren. Im Umkehrschluss
bedeutet das aber: Jedes vierte Haus gammelt noch immer vor
sich hin",
berichtet Matthias
SCHULZ, der Görlitz als schrumpfende Stadt beschreibt:
"Nach der
Wiedervereinigung folgte der industrielle Kahlschlag. Von
den verbliebenen 77.000 Einwohnern zogen 17.000 weg. (...).
Und die »Perle der Oberlausitz« schrumpfte weiter.
Vor zwei
Jahren lebten noch 54.000 Menschen dort. Für 2020 hat
das Statistische Landesamt einen weiteren dramatischen
Rückgang prognostiziert."
RITZER, Uwe (2016): Reicher Süden, armer Osten.
Eine Kaufkraft-Studie zeigt,
dass ein Starnberger im Schnitt fast doppelt so viel Geld zur
Verfügung hat wie ein Görlitzer,
in:
Süddeutsche Zeitung
v. 07.12.
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