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Einführung
Die drei Landtagswahlen in
Brandenburg, Sachsen und Thüringen haben die politische
Landschaft in Ostdeutschland einschneidend verändert. Keine der
bisherigen Koalitionen kann so weitermachen wie bisher und in
allen Landtagen wurde die Alternative für Deutschland (AfD)
zweitstärkste Kraft im Parteiensystem. Nur die Parteien des
amtierenden Ministerpräsidenten waren in den drei Ländern
stärker. Aus der folgenden Übersicht sind die massiven
Verschiebungen im Parteiensystem ersichtlich.
Tabelle:
Amtliche Endergebnisse für Brandenburg, Sachsen und
Thüringen mit Gewinn/Verlusten gegenüber 2014 |
Rang |
Brandenburg |
Sachsen |
Thüringen |
Partei |
Stimmen-
anteil |
+/- |
Sitze
(+/-) |
Partei |
Stimmen-
anteil |
+/- |
Sitze |
Partei |
Stimmen-
anteil |
+/- |
Sitze |
1 |
SPD |
26,2 % |
-5,7 % |
25 (-5) |
CDU |
32,1 % |
-7,3 % |
45 (-14) |
Linke |
31,0 % |
+ 2,8 % |
29 (+1) |
2 |
AfD |
23,5 % |
+11,3 % |
23 (+12) |
AfD |
27,5 % |
+17,7 % |
38 (+24) |
AfD |
23,4 % |
+12,8 % |
22 (+11) |
3 |
CDU |
15,6 % |
-7,4 % |
15 (-6) |
Linke |
10,4 % |
-8,5 % |
14 (-13) |
CDU |
21,7 % |
- 11,8 % |
21 (-13) |
4 |
Grüne |
10,8 % |
+4,6 % |
10 (+4) |
Grüne |
8,6 % |
+2,9 % |
12 (+4) |
SPD |
8,2 % |
- 4,2 % |
8 (-4) |
5 |
Linke |
10.7 % |
-7,9 % |
10 (-7) |
SPD |
7,7 % |
- 4,6 % |
10 (-8) |
Grüne |
5,2 % |
-0,5 % |
5 (-1) |
6 |
BVB/
Freie Wähler |
5,0 % |
+2,3 % |
5 (+2) |
FDP |
4,5 % |
+0,7 % |
- |
FDP |
5,0 % |
+2,5 % |
5 (+5) |
7 |
FDP |
4,1 % |
+2,6 % |
- |
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Quellen:
wahlergebnisse.brandenburg.de;
wahlen.sachsen.de;
wahlen.thueringen.de |
In Brandenburg wird die
Koalition von SPD und Linkspartei voraussichtlich durch eine SPD/CDU/Grüne-Koalition
("Kenia") abgelöst. In
Sachsen wird die Koalition von CDU/SPD voraussichtlich ebenfalls durch eine
Kenia-Koalition abgelöst. In beiden Ländern steht jedoch noch
die Wiederwahl des amtierenden Ministerpräsidenten aus. In
Thüringen verlor die Regierungskoalition von Linkspartei, SPD
und Grünen ihre Mehrheit. Eine neue Regierungsbildung steht noch
aus. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dies der AfD zusätzlich
Auftrieb gibt. Hier soll deshalb gefragt werden, weshalb die
Wahlkampfstrategie der etablierten Parteien zwar einen
kurzfristigen Erfolg zeitigte, aber letztendlich ein Pyrrhussieg
sein könnte.
Jenseits von Rechts und Links?
Seit den 1980er Jahren
gilt den Kosmopoliten in Westdeutschland das alte
Rechts-Links-Schema als überholt. Unter dem Schlagwort "Indidvidualisierung"
(Ulrich BECK) wurde in den Sozialwissenschaften der aufkommende
Neoliberalismus sozialdemokratisiert. Lebensstile galten seitdem
als gesellschaftliche Basiseinheiten, denen politisch Rechnung
getragen werden sollte. Klassengegensätze galten in der
nivellierten Mittelstandsgesellschaft als überwunden. Die "neue
Mitte" galt den Volksparteien als Maß aller Dinge.
Die
Wiedervereinigung sorgte in Deutschland für den Siegeszug des
progressiven Neoliberalismus, der mit Rot-Grün im Bund ab 1998 seine Hochphase erlebte.
Bereits die Wiederwahl von Gerhard SCHRÖDER im Jahr 2002 brachte
jedoch besorgte Bürger des rechten Spektrums auf die Palme. Der erste
Wutbürger - lange bevor der Begriff geprägt wurde - war
Arnulf BARING, der die Bürger auf die Barrikaden rief. Es
drohten damals angeblich Weimarer Verhältnisse. Tatsächlich wurde damals
aber die Hartz-Gesellschaft und die arbeitsscheue Unterschicht
geboren. Geburtshelfer waren der Historiker Paul NOLTE und der
Soziologe Heinz BUDE, die sich als Generation Berlin
verstanden und die Bonner Republik endlich entsorgen wollten. Der Selbstunternehmer sollte als neue
Symbolfigur die kleinbürgerliche Arbeitnehmergesellschaft der
Bonner Republik ablösen. Damit war der Nährboden entstanden, der
die Verrohung der Sitten vorbereitete, die direkt zu Thilo SARRAZINs Deutschland schafft sich ab und zur
Radikalisierung des Wutbürgertums durch die AfD führte. Bereits
im Jahr 2003 wurde
auf dieser Website die Rückkehr der Klassengesellschaft
prognostiziert. Denn ein Wandel des Wertewandels zeichnete sich
damals bereits ab.
"Und wir
anderen gehen zur Tagesordnung über"
Lange Zeit galt die AfD
als kurzfristiges Intermezzo, die sich wie die rechtsextremen
Kleinparteien der Vergangenheit selbst zerlegen oder vom
Zeitgeist hinweggefegt werden. Die Vordenker der Berliner
Republik - allen voran Heinz BUDE - redeten noch im Februar 2015
davon, dass Pegida ein folgenloses Intermezzo sein wird und nur
wenige die AfD wählen werden. Die Kosmopoliten können dann
endlich wieder zur Tagesordnung übergehen:
Wer ist Pegida? Die Selbstgerechten, die Übergangenen und
die Verbitterten
"Aber
was wird aus den Leuten, die sich hier in
Dresden im Winter 2014/2015 Montag für Montag
versammelt haben (...)? Ich glaube, einige von
denen werden das tun, wozu sie immer schon
tendiert haben: die NPD wählen. Es wird auch ein
bestimmter Anteil die AfD wählen. Die
allermeisten jedoch werden, das ist jetzt keine
Erkenntnis, aber eine begründete Vermutung, ins
Lager der Nichtwähler zurücksinken. Und sie
werden es tun mit dem Gefühl eines verbitterten
Verstummens. Sie werden in ihren
Internet-Nischen recherchieren, sich böse Mails
schreiben und sich die empfundenen Wunden
lecken. Und wir anderen gehen zur Tagesordnung
über".
(Theater Heute, März 2015, S.35) |
Vier Jahre später werden
dann im Osten drei Landtagswahlen stattfinden, die diese
damalige begründete Vermutung gründlich widerlegen werden. Die
Landtagswahlen hatten für die etablierten Parteien in erster Linie ein einziges Ziel: zu
verhindern, dass die AfD stärkste Partei in einem der drei
Bundesländer wird. Jenseits von Rechts und Links, sollte es nun um die Rettung der liberalen Demokratie gehen.
Liberale
Demokratie gegen illiberale Volksherrschaft - eine
Wahlkampfstrategie mit starken Nebenwirkungen
Die Wahlkämpfe waren
gekennzeichnet durch Hyperpersonalisierung und ein "Anti-AfD-Bündnis"
der etablierten Parteien, das zur Verteidigung der Demokratie
gegen den Teufel in Person - Björn HÖCKE - antrat. HÖCKE trat
zwar nur in Thüringen als Direktkandidat an, aber Teufels
Statthalter hörten in Brandenburg auf den Namen Andreas KALBITZ
und in Sachsen auf den Namen
Jörg URBAN. Diese Dämonisierung des Spitzenpersonals sollte
die AfD kleinhalten.
Die Grünen wurden schon weit im Vorfeld der
ostdeutschen Landtagswahlen - nämlich nach der Bundestagswahl
2017 - zu natürlichen Gegenspielern der AfD stilisiert. Auf
dieser Website wurde jedoch frühzeitig darauf aufmerksam
gemacht, dass dieses Bild unstimmig ist. Zuletzt wurde auf
dieser Website
im Juli 2019 auf die Schwächen der Grünen hingewiesen. Erst nach der Wahl in
Thüringen, also nachdem die Grünen nur knapp an einer
Katastrophe vorbeischrammten, verwies der Leiter des
Parlamentsbüro der taz, Ulrich SCHULTE, darauf, dass dies
ein Fehlschluss sei:
Weniger inhaltliche Enge
"Die
Ökopartei sonnte sich zu lange in der
Gewissheit, der natürliche Gegenpart zu den
Rechtspopulisten zu sein. Habeck verweist gerne
auf eine neue Werteachse im Parteienspektrum:
nicht mehr verstaubtes links gegen rechts,
sondern liberal versus illiberal. (...).
Aber die Wahlen in Ostdeutschland haben dieses
Narrativ widerlegt, oder ihm zumindest eine neue
Ebene hinzugefügt. Der demokratische Antipode
zur AfD hieß in Brandenburg Dietmar Woidke, in
Sachsen Michael Kretschmer und in Thüringen Bodo
Ramelow. Wer ein Zeichen gegen die AfD setzen
wollte, wählte taktisch, nicht gesinnungsethisch
- nämlich den starken Ministerpräsidenten."
(taz v. 07.11.2019)
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Die Verteidiger der
liberalen Demokratie haben sich einige Sprachregelungen
zugelegt, um das schlechte Abschneiden in Ostdeutschland zu verharmlosen.
Wie die
dramatischen Verluste der etablierten Parteien in Ostdeutschland
verharmlost werden
Eine erste Strategie
verweist auf die zahlenlose Unbedeutsamkeit der drei Ostländer.
Bei Ulrich SCHULTE heißt es:
Weniger inhaltliche Enge
"Diese
Wahlen taugen nicht für zugespitzte Thesen. Aus
ihnen ein Ende des Höhenflugs im Bund
abzuleiten, wäre eine Überinterpretation. Alle
drei Ostländer haben zusammen nicht mal halb so
viele Einwohner wie Nordrhein-Westfalen. Und die
Grünen waren immer eine in Westdeutschland
verwurzelte Partei. Eineinhalb Jahre Habeck und
Baerbock machen aus einer grünen Diaspora nicht
Baden-Württemberg."
(taz v. 07.11.2019)
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Baden-Württemberg gilt
unter dem grünen Ministerpräsidenten Winfried KRETSCHMANN als
grüne Bastion. 2021 finden dort die nächsten Landtagswahlen
statt und KRETSCHMANN will wiedergewählt werden. Bei der
Bundestagswahl 2017 erreichte die AfD dort 12,2 %
(deutschlandweit: 12,6 %), was einer Verdopplung des
Wahlergebnisses von 2013 entsprach. Und es war zugleich das
zweitbeste Ergebnis in einem westdeutschen Bundesland. Im Jahr
2021 werden wir also wissen, ob Baden-Württemberg nicht das
zweite Thüringen wird.
Eine zweite Strategie
lautet: einfach zur Tagesordnung überzugehen und die AfD und
ihre Themen zu ignorieren. Dieser Strategie unterliegt eine
richtige Beobachtung, die Christoph HERWARTZ folgendermaßen
beschreibt:
Wie die AfD zu stoppen wäre
"Spieltheoretisch
betrachtet liegt eine (...) Erklärung nahe: Die
AfD-Wähler haben konkrete Anliegen und bekommen
ihren Willen selbst dann, wenn die AfD aus den
Regierungen herausgehalten wird. Vier Beispiele
verdeutlichen, wie das gelingt: Die AfD will
erstens eine restriktivere Ausländerpolitik,
zweitens eine stärkere soziale Absicherung,
drittens die Veränderungen gering halten, die
der Kampf gegen den Klimawandel mit sich bringt.
Und sie will viertens den Betrieb des (...)
politischen Systems zum Erliegen bringen. (...).
Jeder Wahlerfolg der AfD wirft in den Zentralen
der Volksparteien wieder die Frage auf, wie man
den eigenen Bedeutungsverlust aufhalten kann.
Und die Antwort lautet immer wieder: »Machen wir
Politik im Sinne der AfD-Wähler.«" Sage noch
einer, die AfD-Wähler hätten nicht verstanden,
was das Beste für sie ist! (...).
Wenn es die Rechtspopulisten schaffen, ihre
Themen in den Vordergrund zu stellen, werden sie
auch gewählt.
(Handelsblatt v. 04.11.2019)
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HERWARTZ ist der Meinung,
dass die politischen Parteien die Themen der AfD zu eigen machen
und damit die AfD stärken. Das wird in ähnlicher Weise auch hier
so gesehen. Doch irrt sich HERWARTZ, dass der AfD an einer
stärkeren sozialen Absicherung gelegen ist. Die AfD ist
sozialpolitisch gespalten und hält deswegen die sozialpolitische
Position in der Schwebe. Es ist gerade die Offenheit für ganz
unterschiedliche Strömungen, die von neoliberalen über
nationalkonservative bis zu völkischen Politiken reicht, die die
AfD für viele unterschiedliche Wähler attraktiv macht. Der
Markenkern der AfD ist jedoch nationalkonservativ. Diese Klammer
sorgt für die Anschlussfähigkeit der AfD bis in die Mitte der
Gesellschaft. Der Irrtum von HERWARTZ ist ein anderer: Er meint,
man könne einfach wieder zur Tagesordnung zurückkehren, wenn man
nicht mehr die Themen der AfD bedient.
Das aber verkennt die
strategische Absicht von großen Teilen der Parteistrategen: Es
geht um den Versuch der etablierten Parteien die AfD auf den
völkischen Flügel zu reduzieren, um die AfD dann entweder als
neoliberal-nationalkonservative Partei ins Parteiensystem zu
integrieren (eher die Absicht der CDU) oder aber als
faschistisch stigmatisieren zu können (eher die Absicht von
Grünen und Linkspartei). Erst dies sichert erstens die breite
Aufmerksamkeit zugunsten der AfD und zum zweiten sichert es
weiteren Zulauf, denn die etablierten Parteien stecken mitten in
einer Zwickmühle des permanenten Ausnahmezustandes ("Rettung der
Demokratie"), der
langfristig der AfD mehr nützt als den etablierten Parteien.
Solche Ausnahmezustände führen in der Regel schnell zu
Ermüdungserscheinungen, die eine Mobilisierung erschweren.
Die dritte Strategie der
Verharmlosung basiert auf der Zuschreibung als ostdeutsches
Problem, das entweder aus der DDR-Vergangenheit oder aus den
Nachwendeerfahrungen abgeleitet wird. Westdeutsche sind nach
dieser Ansicht im Grunde immun gegen eine rechtsextremistische
Partei wie die AfD. Tatsächlich sind die bisherigen Ergebnisse
im Osten höher als im Westen. Dies scheint den Verfechtern
dieser Richtung auf den ersten Blick Recht zu geben. Diese Sicht
wäre jedoch nur zutreffend, wenn die AfD nur für überzeugte
Rechtsextreme attraktiv wäre. Martin MACHOWECZ formuliert das
in der Zeit folgendermaßen:
Mehr Ramelow wagen
"Es herrschen jetzt klare
Verhältnisse. Höcke wählt man nicht aus Versehen. (...).
Wer in Thüringen für die AfD gestimmt hat, ist also entweder
ein so wütender Protestwähler, dass er Höcke in Kauf nimmt.
Oder er unterstützt ihn bewusst".
(Die ZEIT
Nr.45 v. 30.10.2019)
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Direkt gewählt wurde HÖCKE
aber nur im Wahlkreis
1 Eichsfeld I. Dazu schreibt Daniel DECKERS:
Eine grundsätzliche Wechselstimmung
"(Im) Eichsfeld (...) konnten die beiden
CDU-Direktkandidaten ihre Wahlkreise gewinnen, doch
wählten in der Katholikenhochburg schlechthin mehr als
zwanzig Prozent den AfD-Direktkandidaten Björn Höcke."
(FAZ v.
29.10.2019)
|
Das Eichsfeld umfasst zwei
Wahlkreise. Lediglich im Wahlkreis des CDU-Siegers Thadäus KÖNIG
wurde HÖCKE direkt gewählt. Mit 21,4 % der Stimmen blieb er nur
knapp unter dem Parteiergebnis des Wahlkreises von 21,9 %,
obwohl er als unbeliebtester AfD-Politiker gilt. HÖCKE stand
jedoch auf der Landesliste auf Platz 1, d.h. selbst wenn die AfD
nur 5,0 % der Stimmen erhalten hätte, wäre HÖCKE gewählt worden.
Der CDU-Direktkandidat siegte jedoch mit fast absolutistischen
49,0 % der Stimmen. Der Politikwissenschaftler Wolfgang
SCHROEDER formuliert den Sachverhalt
in der taz dagegen etwas weniger mit dem Zeigefinger:
"Ein entscheidendes Kriterium ist die Handwerkerdichte"
"Ich gehe davon aus, dass die Hälfte der
AfD-Wähler in Thüringen wirklich rechtspopulistisch bis
rechtsextrem sind, die andere Hälfte sind eher
unzufriedene Protestwähler."
(taz v.
04.11.2019)
|
Die Zuschreibung, dass es sich bei
den AfD-Wählern entweder um Protestwähler oder rechtsextreme Überzeugungstäter handelt,
beeinflusst die Berichterstattung in den
Medien genauso wie die Parteistrategien und Wahlanalysen. Die
Wahlkampfberichterstattung folgte in Brandenburg und Sachsen
einem völlig anderen Skript als in Thüringen. Die Landtagswahlen
in den ersten beiden Bundesländern fanden zeitgleich am 1.
September statt, während die Wahl in Thüringen erst am 27.
Oktober stattfand. Gerd LÖWISCH bringt dies
in der taz auf folgenden Punkt:
Im
Labor wird's spannend
"Während im Sommer vor
den Wahlen in Brandenburg und Sachsen ein medialer
Countdown lief, ist von Thüringen kaum die Rede.
Das hat Gründe. (...). Ein wenig ist die rot-rot-grüne
Regierung (...) selbst schuld: Sie legte den Wahltermin
(...) so spät wie möglich (...). Das Kalkül: Nach dem
AfD-Schocker in Brandenburg und Sachsen profitieren wir
von der Gegenmobilisierung. Jetzt wirkt es aber so, als
wollten viele das Land (...) am liebsten wegschweigen".
(taz v.
24.10.2019)
|
Tatsächlich fand der
thüringische Wahlkampf in der Medienberichterstattung fast ausschließlich in
der Woche vor der Wahl statt und war auf die Spitzenkandidaten
von Linkspartei und CDU ausgerichtet. Die grüne
Spitzenkandidatin und Umweltministerin war auf Tauchstation,
während der SPD-Spitzenkandidat Wolfgang TIEFENSEE mit dem
Prestigeprojekt einer Batteriezellenfabrik in Arnstadt punkten
sollte. Neben TIEFENSEE stand nur der einzige mögliche
SPD-Direktkandidatensieg von Matthias HEY im Medienfokus. Das
Gegenteil hatte sich in Sachsen abgespielt, wo der
Landtagswahlkampfmarathon sozusagen kurz nach der Bundestagswahl
2017 mit der Ernennung von Michael KRETSCHMER zum
Ministerpräsidenten startete (mehr
hier).
Die Brandenburg-Berichterstattung boomte schon allein aufgrund
der Zugehörigkeit zur "Hauptstadtregion".
Neues Deutschland,
die Parteizeitung der Linkspartei, lässt die Unterschiede der
Wahlkampfberichterstattung besonders drastisch hervortreten.
Während über die Wahlkreise in Brandenburg und Sachsen relativ
ausführlich berichtet wurde, war die Berichterstattung über
Thüringen sporadisch und in erster Linie auf den
Ministerpräsidenten zugeschnitten. Tatsächlich ist hier der
Begriff vom Totschweigen nicht fehl am Platze. Die Anschläge in
Halle polarisierten die Endphase des Wahlkampfes in Thüringen
zusätzlich.
Eine vierte
Verharmlosungsstrategie zieht demografische Aspekte in die
Deutung der Wahlerfolge ein. Abwanderung und Alterung sowie
Schrumpfung gelten als Faktoren, die der AfD Wähler in die Arme
treibt. Diese Faktoren treffen in erster Linie für den
ländlichen Raum zu und kumulieren im Osten, der aufgrund der
De-Industrialsierung und der damit verbunden Abwanderung
insbesondere junger Frauen in den Nachwendejahren und Anfang des
Jahrtausends sozusagen ausblutete. Zurückblieben vor allem junge
Männer, die für den Rechtsextremismus anfällig waren. Im Westen
dagegen sind die Verhältnisse weniger krass, wodurch die AfD hier
(noch) weniger anschlussfähig ist. Diese Sicht wurde
lange Zeit mit der Sozialfigur des Abgehängten gleichgesetzt.
Doch dies greift zu kurz, denn in den abgehängten Regionen leben
keineswegs ausschließlich Abgehängte oder sich abgehängt
fühlende Menschen.
Hier könnten noch
mehr Verharmlosungsstrategien aufgezählt werden, doch solche
monokausalen Erklärungen des AfD-Erfolges greifen zu kurz, weil
sich der AfD-Erfolg aus sehr vielen Quellen speist. In
letzter Zeit sind Ansätze entstanden, die ein ganzes
Faktorenbündel umfassen. Der bislang facettenreichste Ansatz
stammt von Cornelia KOPPETSCH und wird im Buch
Die Gesellschaft
des Zorns ausgebreitet, das dieses Jahr erschienen ist.
Ein
"neues" Narrativ will die symbolischen Kämpfe um eine neue
Gesellschaftsordnung erklären
Lange galt die
Vorherrschaft des kosmopolitisch geprägten progressiven
Neoliberalismus als alternativlos. KOPPETSCH zeigt in ihrem Buch
Gesellschaft des Zorns jedoch auf, dass diese Vorherrschaft
durch eine - nicht nur nationale Gegenbewegung - bedroht ist.
Die Soziologin, Jahrgang 1967, die somit der Generation Golf
bzw. den
Babyboomern zugeordnet werden kann, bringt die heutigen
Kämpfe historisch mit den Werten von 1968 und 1989 in
Verbindung. KOPPETSCH sieht in den gegenwärtigen Konflikten,
deren Symptom die AfD ist, keinen schnell überwindbaren
Konflikt, sondern eine neue Epoche politischer Konflikte. Dies
wird folgendermaßen beschrieben:
Die Gesellschaft des Zorns
"Seit der
Parteigründung der Alternative für Deutschland (AfD) im
Jahre 2013 wurde in regelmäßigen Abständen deren nahender
Untergang vorausgesagt (...), weshalb man den Einzug der
AfD in den Bundestag im Jahr 2017 noch im Frühjahr
desselben Jahres für schlechterdings unmöglich gehalten
hatte. Indessen ist die AfD nicht nur kontinuierlich
stärker geworden, sondern ist in einigen Bundesländern zur
zweitstärksten Partei aufgestiegen und rangiert im
Frühjahr 2019 in Umfragen wenige Prozentpunkte hinter der
SPD. (...).
Der Aufstieg der neuen Rechtsparteien (...) widerlegt zum
einen die modernisierungstheoretischen
Gesellschaftserzählungen, die mehr oder weniger
unausgesprochen davon ausgegangen sind, dass wir mit der
Globalisierung in Bälde eine neue und letzte Stufe der
Erweiterung gesellschaftlicher Großkörper auf eine höhere
und inklusivere Einheit, d.h. auf die Ebene der
Weltgesellschaft, erreichen würden. (...).
Der Aufstieg der Rechtsparteien widerlegt aber auch solche
Gesellschaftsnarrative, die darauf hofften, dass eine neue
globale Arbeiter- oder linke Antiglobalisierungsbewegung
(zum Beispiel Occupy Wallstreet) dem über die Maßen
ausbeuterischen und gefräßigen Kapitalismus bald schon
einen Maulkorb verpassen könnte. Ganz im Gegenteil:
Soziale Ungleichheiten sind heute größer denn je in der
Geschichte der Bundesrepublik - gleichzeitig ist die
effektive Macht der global agierenden Unternehmen und der
Finanzindustrie ungebrochen.
Das utopische Denken selbst, das sich in Hoffnungen auf
eine Weltgesellschaft und eine Abkehr vom neoliberalen
Kapitalismus ausdrückte, scheint mit dem Aufstieg von
Rechtsparteien (...). lahmgelegt. So ist im politischen
Denken ein Vakuum entstanden. In allen politischen Lagern
kann demgegenüber eine kollektive Rückwärtsgewandtheit
beobachtet werden".
(2019,
S.10f.)
|
Es ist unschwer zu
erkennen, dass hier sowohl die Sicht des Dritten Weges von New
Labour, für den Soziologen wie Anthony GIDDENS und Ulrich BECK
stehen, und der eine kosmopolitische Weltinnenpolitik
phantasierte, als auch die Sicht der linken
Antiglobalisierungsbewegung aufgenommen werden. Das Narrativ,
das KOPPETSCH entwickelt, stellt einen neuen Rahmen für das
linksliberale Denken zur Verfügung, ist also keineswegs
wertfrei. Es wird versucht die bisherigen Illusionen des
linksliberalen Kosmopolitismus sichtbar zu machen und
gleichzeitig einer neuen progressiven Weltsicht zum Durchbruch
zu verhelfen. Dazu wird ein Koordinatensystem entwickelt, das
die - teils tabuisierten - Konflikte sichtbar machen soll. Bevor
dieser Ansatz ausführlicher vorgestellt wird, soll jedoch noch
einmal anhand der Wahlerfolge der AfD verdeutlicht werden, dass
nicht davon ausgegangen werden kann, dass die AfD nur eine
Eintagsfliege ist.
Die
Rasanz des Aufstiegs der AfD sollte zu denken geben
Eine erfolgreiche
Etablierung einer neuen Partei in Bund und Ländern ist in der
deutschen Nachkriegszeit eher die Ausnahme gewesen. In den
1980er Jahren schafften dies die Grünen, die das linksliberale
Spektrum erweiterten. Der Vergleich mit den Grünen zeigt
deutlich, dass die AfD in viel kürzerer Zeit Wähler hinzugewann.
Die Parteigründung der Grünen erfolgte im Januar 1980. Der
Einzug in den Bundestag im gleichen Jahr wurde verpasst. Erst im
Jahr 1983 kamen die Grünen mit 5,6 % knapp über die
5-Prozent-Hürde im Bundestag. Lediglich im Jahr 2009 erreichten
die Grünen im Bund knapp ein zweistelliges Ergebnis (10,7 %).
Dagegen wurde die AfD - nur 4 Jahre nach ihrer Gründung - im
Jahr 2017 mit 12,6 % drittstärkste Partei im Bundestag. Auf
Landesebene traten die Grünen erstmals 1985 - also 5 Jahre nach
ihrer Gründung - in eine Koalition auf Landesebene ein - und
zwar in Hessen. Die Grünen hatten zudem mit Rückschlägen zu
kämpfen. So verfehlten sie 1990 den Einzug in den Bundestag
durch eigenes Verschulden. Die etablierten Parteien werden nicht
müde, die Wahlerfolge der AfD kleinzureden. Die folgenden
Tabelle zeigt die Entwicklung von Grünen und AfD bei zwei
Bundestagswahlen und den ersten fünf Landtagswahlen seit
Parteigründung:
Wahlen
in Bund und Ländern |
Grüne |
AfD |
Parteigründung |
1980 |
2013 |
Erste
Landtagswahl |
1980:
5,3 % (Baden-Württemberg) |
2013:
4,1 % (Hessen) |
Zweite
Landtagswahl |
1980:
2,9 % (Saarland) |
2013:
Nichtteilnahme in Bayern |
Dritte
Landtagswahl |
1980:
3,0 % (Nordrhein-Westfalen) |
2014:
9,7 % (Sachsen) |
Erste Bundestagswahl |
1980:
1,5 % |
2013:
4,7 % |
Vierte
Landtagswahl |
1981:
7,2 % (Abgeordnetenhaus Berlin) |
2014:
12,2 % (Brandenburg) |
Fünfte
Landtagswahl |
1982:
6,5 % (Niedersachsen) |
2014:
10,6 % (Thüringen) |
Zweite Bundestagswahl |
1983:
5,6 % |
2017:
12,6 % |
Bereits dieser kurze
Abriss zeigt, dass linksliberale Parteien mit größeren
strukturellen Problemen bei der Wählermobilisierung zu kämpfen
haben als Parteien aus dem rechten Spektrum. Die Rückschläge in
der Parteiengeschichte der Grünen zeigen zudem, dass Aufstiege
nicht geradlinig verlaufen müssen. Wenn die etablierten Parteien
nun herausstreichen, dass die AfD hinter die Ergebnisse früherer
Wahlen zurückgefallen ist, dann ist das eine Verharmlosung der
bundesweiten Tendenzen, die aus der folgenden Tabelle
ersichtlich sind:
Bundesland |
Bundestag
2013 |
Europa
2014 |
LTW
2015 |
LTW
2016 |
LTW
2017 |
Bundestag
2017 |
LTW
2018 |
Europa
2019 |
LTW
2019 |
Sachsen |
6,8 % |
10,1 % |
|
|
|
27,0 % |
|
25,3 % |
27,5 % |
Thüringen |
6,2 % |
7,4 % |
|
|
|
22,7 % |
|
22,5 % |
23,4 % |
Brandenburg |
6,0 % |
8,5 % |
|
|
|
20,2 % |
|
19,9 % |
23,5 % |
Sachsen-Anhalt |
4,2 % |
6,3 % |
|
24,3 % |
|
19,6 % |
|
20,4 % |
|
Mecklenburg-Vorpommern |
5,6 % |
7,0 % |
|
20,8 % |
|
18,6 % |
|
17,7 % |
|
Deutschland |
4,7 % |
7,1 % |
|
|
|
12,6 % |
|
11,0 % |
|
Bayern |
4,3% |
8,1 % |
|
|
|
12,4 % |
10,2 % |
8,5 % |
|
Baden-Württemberg |
5,2 % |
7,9 % |
|
15,1 % |
|
12,2 % |
|
10,0 % |
|
Berlin |
4,9 % |
7,9 % |
|
14,2 % |
|
12,0 % |
|
9,9 % |
|
Hessen |
5,6 % |
9,1 % |
|
|
|
11,9 % |
13,1 % |
9,9 % |
|
Rheinland-Pfalz |
4,8 % |
6,7 % |
|
12,6 % |
|
11,2 % |
|
9,8 % |
|
Saarland |
5,2 % |
6,8 % |
|
|
6,2 % |
10,1 % |
|
9,6 % |
|
Bremen |
3,7 % |
5,8 % |
5,5 % |
|
|
10,0 % |
|
7,7 % |
|
Nordrhein-Westfalen |
3,9 % |
5,4 % |
|
|
7,4 % |
9,4 % |
|
8,5 % |
|
Niedersachsen |
3,7 % |
5,4 % |
|
|
6,2 % |
9,1 % |
|
7,9 % |
|
Schleswig-Holstein |
4,6 % |
6,8 % |
|
|
5,9 % |
8,2 % |
|
7,5 % |
|
Hamburg |
4,2 % |
6,0 % |
6,1 % |
|
|
7,8 % |
|
6,5 % |
|
Die Abkürzung LTW steht
für Landtagswahlen bzw. Bürgerschaftswahlen (Bremen, Hamburg)
und Wahlen zum Abgeordnetenhaus in Berlin. Bei den drei
Landtagswahlen in diesem Jahr erzielte die AfD jeweils ihr
bestes Ergebnis in diesen Bundesländern. Dass die AfD bei der
Europawahl 2019 schlechter abschnitt als bei der Bundestagswahl
2017 kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es bislang einen
ungebrochenen Aufwärtstrend gibt.
Die AfD konnte zudem in
Thüringen genauso viele Wahlkreise gewinnen wie die Linkspartei,
die stärkste Partei wurde und den Ministerpräsidenten stellte.
Trotz massiver Anti-AfD-Kampagnen konnte die AfD ein Viertel der
Mandate erringen (11 von 44). Die beiden Websites, die Prognosen
bereitstellten, sahen die Linkspartei dagegen vor den Wahlen bei doppelt so vielen
Mandaten wie die folgenden Tabelle zeigt:
Tabelle:
Vergleich von Wahlkreisprognosen mit Endergebnis |
|
In
Brandenburg siegte die AfD sogar in 15 der 44 Wahlkreise.
Die SPD, die dort den Ministerpräsidenten stellte, kam auf 25
Mandate. In
Sachsen kam die AfD ebenfalls auf 15 Mandate. Jedoch gab es
dort 60 Wahlkreise. Die CDU, die den Ministerpräsidenten
stellte, kam auf 41 Mandate. In allen drei Bundesländern
zusammen holten CDU (64) und AfD (41) fast 71 % aller
Direktmandate. Das zeigt eine eklatante Schwäche der
linksliberalen Parteien an. SPD (26) Linke (15) und Grüne (4)
holten zusammen nur 45 Mandate. Das sind kaum mehr als die AfD.
Die
gesellschaftliche Neuordnung des sozialen Positionsgefüges durch
den kosmopolitisch geprägten progressiven Neoliberalismus
KOPPETSCH geht im Buch
Die Gesellschaft des Zorns von einem
Epochenbruch aus, dessen Kumulationspunkt in Deutschland der
Mauerfall von 1989 war und den Aufstieg der AfD begünstigte.
Dieser Epochenbruch steht deshalb im Mittelpunkt des Buches:
Die Gesellschaft des Zorns
"Rechtspopulismus
zeigt gewissermaßen einen »Strukturwandel« und
einen »Mentalitätswandel« an,
die durch einen politisch und gesellschaftlich bislang
unbewältigten Epochenbruch ausgelöst worden sind. Diesen
Wandel, der sich nicht plötzlich vollzogen, sondern etwa
dreißig Jahre lang angebahnt und im Auftauchen des
Rechtspopulismus lediglich einen vorläufigen Höhepunkt
erfahren hat, aufzuspüren und zu erklären, ist die
Zielstellung dieses Buches. (...).
Bei diesem Umbruch handelt es sich um die im Mauerfall
kulminierende Neuausrichtung westlicher Gesellschaften von
einer im nationalen Rahmen verankerten Industriemoderne
hin zu einer Ordnung, die in diesem Buch als globale
Moderne bezeichnet wird und die kulturell durch das
Regime des progressiven Neoliberalismus abgestützt
wird (Fraser 2017).
(2019,
S.12ff.)
|
Mit dem Aufstieg des
globalen Finanzkapitalismus und der Standortkonkurrenz als
Druckmittel des Kapitals ist für KOPPETSCH zugleich der Aufstieg
von global cities als kosmopolitische Machtzentren und der
Abstieg der Peripherie verbunden:
Die Gesellschaft des Zorns
"Ein (...)
Strukturmerkmal der globalen Moderne stellt der Aufstieg
der global cities zu transnationalen
Steuerungszentren dar (...). Diese sind Knotenpunkte einer
neuen Geografie der Macht. (...). In der globalen
Stadtlandschaft von Amsterdam bis Tokio, Frankfurt bis
Paris, Philadelphia bis Rio de Janeiro ballt sich der
gesellschaftliche Wandel in räumlicher Form. In diesen
global miteinander vernetzten urbanen Zentren konzentriert
sich die postindustrielle Gesellschaft der globalen
Moderne in verdichteter Form, denn hier verschränken sich
die globalen Dienstleistungszentren, die polarisierte
Sozialstruktur von neuer transnationaler Mittelklasse und
neuer Unterklasse sowie die Politik der internationalen
Wettbewerbsfähigkeit. In den großen Städten konzentriert
sich ein Großteil hochqualifizierter Dienstleistungsarbeit
(...). Gleichzeitig konzentriert sich hier auch ein
Großteil der einfachen Dienstleistungsarbeit sowie der
unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen. Die so
aufgewerteten modernen Großstädte, besonders ihre
Innenstädte, werden dabei zu Bühnen des neuen
multikulturellen Urbanismus (...). Hier ist die ethnische
Durchmischung Teil einer kosmopolitischen Kultur (...).
Spiegelbildlich zum Aufstieg metropolitaner Zentren ist es
zur Entleerung und Verödung ganzer Landstriche in
ländlichen Regionen, d.h. zur Herausbildung neuer
Peripherien inmitten Europas, gekommen.
Aus den deindustrialisierten Gebieten etwa in
Ostdeutschland und vielen Regionen Osteuropas sind immer
größere Teile der aktiven Bevölkerung abgewandert -
Arztpraxen, Schulen, Kindergärten und Geschäfte mussten
schließen. Eine ähnliche Verödung von ländlichen Regionen
zeigt sich auch in Frankreich in der größer werdenden
Kluft zwischen den Metropolen und la France périphérique.
Diese Trennlinien zwischen prosperierenden globalen
Städten und schrumpfenden Peripherien haben Auswirkungen
auf das kulturelle Selbstverständnis: Während sich die
(...) Bewohner der global cities häufig schon (...)
als postnationale Kosmopoliten begreifen, empfinden die
Bewohner der schrumpfenden Regionen gerade die
kosmopolitischen Werte (...) als Bedrohung. (...). In den
entvölkerten Dörfern, aus denen junge Familien fortziehen
und in den Läden und Infrastrukturen zunehmend
verschwinden, wird der Zustrom durch Migranten daher nicht
als Trost empfungen. Die Ankunft von Migranten verstärkt
die demografische Melancholie in diesen Regionen und das
Bedürfnis, zu den Strukturen des Industriezeitalters
zurückzukehren."
(2019,
S.16ff.)
|
Der geografischen Kluft
zwischen Metropole und Peripherie entspricht eine zunehmende
Kluft zwischen Arm und Reich. KOPPETSCH spricht hier von einer
"Transnationalisierung sozialer Ungleichheitsverhältnisse". Die
nationale "Klassengesellschaft" wird in dieser Sicht um eine
globale Oberschicht ("globales Oben") und eine globale
Unterschicht ("globales Unten") in den urbanen Zentren
erweitert. Das "transnationale Unten" beschreibt KOPPETSCH so:
Die Gesellschaft des Zorns
"Transnationalisierung
ist (...) nicht mit Migration identisch (...).
Transnational ist diese Klasse, weil sie faktisch nicht
mehr unter dem Dach der nationalen Volkswirtschaft
angesiedelt ist, auch wenn ein Teil ihrer Mitglieder alle
Rechte der Staatsbürgerschaft genießt. Dieses
transnationale Unten hat die traditionelle Arbeiterklasse
abgelöst und ist weitaus heterogener, als diese es war.
Es umfasst sowohl unterschiedliche geringqualifizierte bis
gut ausgebildete Migranten wie auch gering- und
de-qualifizierte einheimische Arbeitnehmer und setzt sich
aus einfachen Dienstleistern, Randbelegschaften im
industriellen Sektor, Arbeitslosen und
Sozialhilfeempfängern zusammen."
(2019,
S.19)
|
Im transnationalen Unten
treffen aufwärtsmobile Migranten aus der Mittelschicht des
globalen Süden auf abwärtsmobile einheimische Geringverdiener,
was den Sprengstoff in dieser Unterschicht aufzeigt. Zwischen
dem transnationalen Oben und Unten verortet KOPPETSCH die
auseinanderdriftenden, nationalen Mittelschichten. Dies
beschreibt die Soziologin folgendermaßen:
Die Gesellschaft des Zorns
"Zwischen dem
transnationalen Oben und dem transnationalen Unten
befinden sich nun die noch in den nationalen Wirtschafts-
und Wohlfahrtsraum eingebundenen Mittelschichten, deren
Wohlstandsniveau nach wie vor umfassend von
innerstaatlichen und nationalen Institutionen geprägt
wird. Allerdings verlieren diese Gruppen zunehmend ihren
gesellschaftlichen Einfluss. Über Lebenschancen und
Ressourcenzuteilungen entscheiden immer weniger die
klassischen Anwälte der Mitte, wie etwa die Gewerkschaften
oder die Volksparteien, sondern globale
Wirtschaftsverflechtungen sowie supra- oder transnationale
Einrichtungen (...). Es zeichnet sich somit immer
deutlicher eine zentrale Spaltungsachse innerhalb der
Mittelschicht ab: Die akademisch ausgebildete urbane
Mittelschicht wird zunehmend in die globale Oberschicht
integriert, während die in den Regionen und Kleinstädten
angesiedelte mittlere und untere Mittelsicht zunehmen in
die Defensive gerät (...). Dies traditionellen
Mittelschichtfraktionen können gewissermaßen als die
unmittelbaren Nachfahren der »nivellierten
Mittelschicht« der Industriemoderne gesehen werden."
(2019,
S.20)
|
Diese Neuformierung des
gesellschaftlichen Positionsgefüges bietet für die AfD nach
Ansicht von KOPPETSCH ein Wählerpotenzial, das mobilisierbar
ist:
Die Gesellschaft des Zorns
"Ehemals
Privilegierte (...) sollen symbolisch entschädigt und von
Neuem mit Macht und Einfluss ausgestattet werden.
Angesprochen werden Gruppen und Individuen mit sehr
unterschiedlichen Deklassierungserfahrungen: entmachtete
Eliten, enttäuschte Familienväter, Ostdeutsche mit
entwertenden Biografien oder ganz allgemein
marginalsisierte Belegschaften und Berufsgruppen. Die
unterschiedlichen Adressaten können dabei keiner einzigen
Klassenlage zugeordnet werden, sie bilden vielmehr ein
vertikales Bündnis unterschiedlicher zurückgefallener
Gruppen. Allerdings sind nicht alle Deklassierten
gleichermaßen durch Rechtsparteien mobilisierbar.
Neben einer Abstiegs- oder Verlusterfahrung muss als eine
weitere Bedingung auch eine kulturelle Entfremdung
vorliegen: Die Anhänger der Rechtsparteien rekrutieren
sich schwerpunktmäßig aus den konservativen Fraktionen in
Ober-, Unter- und Mittelschichten, deren
Wertorientierungen und Lebensformen durch den Aufstieg des
Kulturkosmopolitismus an den Rand gedrängt worden sind."
(2019,
S.24f.)
|
Der
Glaubwürdigkeitsverlust der liberalen Demokratie als Nährboden
der rechten Protestbewegungen
Anschließend an die
politische Soziologie des französischen Ungleichheitsforschers
Pierre BOURDIEU entwirft KOPPETSCH das Bild des kulturell
entfremdeten Deklassierten, für den die politischen Angebote der AfD
besonders attraktiv sind. KOPPETSCH beansprucht für ihre
Sichtweise eine Distanzierung von der üblichen Gleichsetzung des
kosmopolitischen Lebensstils mit dem einzig richtigen
Lebensmodell, das sich als "moderner" bzw. "fortschrittlicher"
inszeniert. Wer die früheren Äußerungen von KOPPETSCH kennt, der
weiß, dass sie sich insbesondere zur kulturalistischen
Sichtweise von Andreas RECKWITZ ("Die
Gesellschaft der Singularitäten", 2017) abgegrenzt hat. Eine frühe Darlegung des
Ansatzes findet sich im Artikel
Aufstand der Etablierten? (Soziopolis v.
12.04.2017). Eine Abgrenzung zu RECKWITZ findet sich dagegen im
Artikel Eine Welle der Nostalgie:
Eine Welle der Nostalgie. Die akademische Mittelschicht
und die illiberale Gesellschaft
"Wenn (...)
Andreas Reckwitz die Trägergruppen des Rechtspopulismus
als Kulturalisierungsverlierer schildert, bedient er ein
(...) dichotomes Muster der Welterklärung. Die Hinwendung
zu partikularen Gemeinschaften erklärt sich für ihn vor
allem daraus, dass diese in den spätmodernen Wettbewerben
um Besonderheit zu kurz gekommen seien, weil sie über zu
geringe Ressourcen verfügten, ihr Leben zu »kuratieren«
(...) und infolge von Kränkungserfahrungen nun Zuflucht in
identitären Gesellschaftsbildern suchen. In diese
Betrachtung eingemeißelt ist die naturalisierende Bejahung
einer hyperkulturellen Gesellschaftsordnung und die
unverbrüchliche Überzeugung, dass liberale Politik- und
Kulturmuster besser und fortschrittlicher seien."
(Merkur
Nr. 832, September 2018, S.54) |
Buchlesern wird diese
Auseinandersetzung vorenthalten, sodass der Eindruck entstehen
könnte, dass KOPPETSCH sich inzwischen dieser Sichtweise
angenähert hat, ohne dies offenlegen zu wollen. Bei der
Verleihung des Bayerischen Buchpreises hat dies - wegen
Plagiatsvorwürfen - zu einem Eklat geführt, den sich KOPPETSCH
auch selber zuzuschreiben hat.
Als Angehörige der
dominanten Klasse fällt eine Distanzierung natürlich schwer,
weshalb hier auch die größten Defizite der Erzählung liegen.
Nichtsdestotrotz werden einige Illusionen dieses Milieus
aufgezeigt, statt den kosmopolitischen Lebensstil nur zu
idealisieren. KOPPETSCH argumentiert nicht jenseits von Rechts
und Links, sondern stellt das Rechts-Links-Schema in den
Mittelpunkt der Analyse:
Die Gesellschaft des Zorns
"Die Anhänger
rechter Bewegungen rekrutieren sich überwiegend aus
sozial absteigenden Gruppen, deren Blick, anders als
der sozial aufsteigender Gruppen, nicht primär nach oben,
in Richtung der beneideten Eliten, sondern eher nach
unten, in Richtung der aufholenden Neuankömmlinge
gerichtet ist, deren tatsächliche oder vermeintliche
Konkurrenz als illegitim empfunden wird. Demgegenüber
rekrutieren linke Protestbewegungen ihre Klientele eher
aus aufstiegsorientierten, aber im Aufstieg blockierten
Gruppen und entzünden sich, konträr zu rechten
Protestbewegungen, nicht an der Verteidigung bereits
etablierter Rechte und Privilegien, sondern gegen
die Etablierten Partei für die Neuankömmlinge.(...).
Charakteristisch für linke Protestbewegungen (...) ist der
Protest aufstrebender unterprivilegierter Gruppen
gegen Benachteiligungen oder Ausbeutungsverhältnisse durch
herrschende Gruppen."
(2019,
S.44)
|
Hier zeigt sich aber eine
Unschärfe der Analyse, denn linke/rechte Parteien sind
keineswegs identisch mit Protestbewegungen. Die Analyse stimmt
also lediglich für die erste Phase, nämlich die
Gründungsintentionen linker/rechter Parteien. Die
Protestbewegungen der 1968er mündeten in die Gründung der Grünen
als Reaktion auf die Unbeweglichkeit der SPD. Die
Protestbewegung der 1989er mündeten dagegen in die Gründung der
Partei AfD als Reaktion auf die Unbeweglichkeit der CDU/CSU.
Die
Sicht von KOPPETSCH kann außerdem die Entstehung der Linkspartei
und ihre Entwicklung nicht angemessen einordnen. Sie müsste
sozusagen als Reaktion auf die Agenda 2010 und die Hartz-Gesellschaft als rechte Protestpartei gelten, da sie ihre
Klientel aus abstiegsbedrohten Wählern rekrutierte, wird jedoch
allgemein als links eingeordnet. In diesem Punkt macht es
sich also KOPPETSCH zu einfach. Außerdem wird die liberale
"Postpolitik" als implizit rechte Politik eingestuft:
Die Gesellschaft des Zorns
"Auch das
Politische (...) befindet sich auf dem Rückzug. Die Idee
der reflexiven Gestaltung des Sozialen (...) wurde
zunächst aus dem Alltagsleben getilgt und schließlich auch
in den politischen Institutionen durch eine Politik der
Alternativlosigkeit zurückgedrängt. So (...) werden
politische Entscheidungen mit großer
Selbstverständlichkeit politischen Debatten entzogen,
indem man sie mit wissenschaftlichem Expertenwissen
begründet. Eine besonders ausgeprägte Form einer solchen »Postpolitik« zeigt
sich in den Entscheidungsroutinen des Europaparlamentes,
die sich fast vollständig den öffentlichen Blicken
entziehen, weshalb die Europäische Union nicht ohne Grund
oftmals auch als »Elitenprojekt« bezeichnet wird. An die
Stelle demokratischer Entscheidungsfindung tritt also
zunehmend eine primär auf Wissenschaft gestützte, welche
Akademiker privilegiert und akademische Bildung zur
Voraussetzung politischer Partizipation macht (...). Die
daraus entstandenen Mentalitäten sind zwar nicht explizit
rechts, doch enthalten sie eine spezifische
Grundbotschaft: Die Gesellschaftsordnung ist nicht
verhandelbar und verlangt unbedingte Anpassung und
Unterordnung. Dies hat zu einem Glaubwürdigkeitsverlust
liberaler Demokratien geführt und die Gesellschaft mit
performativen Selbstwidersprüchen durchsetzt"
(...).
Rechts sind also nicht nur die rechtspopulistischen
Parteien und Bewegungen (...), rechts sind auch die
gesellschaftlichen Tendenzen der Verhärtung, die eine
Abwendung von der Idee der Gesellschaft und des
Politischen implizieren. Diese sind nicht explizit,
sondern implizit rechts und haben zur inneren Aushöhlung
der liberalen Demokratie beigetragen."
(2019,
S.56 und 59)
|
Für KOPPETSCH ist eine
doppelte Repräsentationslücke im deutschen Parteiensystem
entstanden, wobei die Grünen zur Partei der Kosmopoliten par
excellence stilisiert werden:
Die Gesellschaft des Zorns
"Von ihrer
einstigen Systemopposition ist (...) nicht mehr viel übrig
geblieben. (...). Zudem profitieren die Grünen vom
Aufstieg der AfD, deren direkte Antipode sie sind, da sie
in keiner Weise Gefahr laufen, deren Themen zu übernehmen,
sondern die Gruppe der kosmopolitisch-akademischen
Mittelschicht in Reinform vertreten. Dessen ungeachtet
zeigt sich, dass auch die Grünen (...) den Kampf gegen
wachsende ökonomische Ungleichheiten kaum aufnehmen.
Sichtbar wird damit eine doppelte Repräsentationslücke im
politischen Raum des bürgerlichen Parteiensystems: Zum
einen haben sich die etablierten Parteien durch Übernahme
wirtschaftsliberaler und kulturliberaler Positionen
einander angeglichen (...) und zum anderen haben sie auch
die soziale Frage, d.h. die Problematik wachsender
sozialer Spaltungen, vernachlässigt. Statt Solidarität mit
breiten Bevölkerungsschichten wie der Arbeiterschaft oder
den traditionellen Mittelschichten herzustellen,
konzentrieren sie sich zunehmend auf wirtschafts- und
bildungsbürgerliche Eliten. Die sich dadurch öffnenden
Flanken werden nun durch die Rechtspopulisten, die ihre
Wähler sowohl in den sozial deprivierten unteren wie auch
in den konservativen mittleren und oberen Schichten
finden, besetzt."
(2019,
S.79f.)
|
Weiter oben wurde
bereits angedeutet, dass es nicht reicht, dass die Grünen sich
als "Antipode" positionieren. Dies gilt umso mehr, wenn soziale
Themen für die Wähler wichtiger sind als Öko-Themen.
Hyperpersonalisierung und Polarisierung nützen nicht den Grünen,
sondern den Parteien, die den Ministerpräsidenten stellen.
Dieses taktische Verhalten der kosmopolitischen Milieus trifft
dann besonders die kleineren Parteien.
Die
akademische Mittelschicht als Teil des Problems
Die linke, akademische
Globalisierungskritik ist für KOPPETSCH blind für die eigene
privilegierte Position und ihre Schlüsselstellung bei der
Aufrechterhaltung des progressiven Neoliberalismus. Akademiker
werden als Komplizen der herrschenden Ordnung beschrieben. Dies
deckt sich mit der Sicht, die auf dieser Website bereits in den
Nuller Jahren aufgezeigt wurde, wobei hier nicht von
"akademischer", sondern von "oberer" Mittelschicht gesprochen
wurde, denn schließlich haben nicht alle Akademiker eine
Stellung in der obersten Führungsebene bzw. sind als "Sinn- und
Kulturvermittler" tätig. Die Verteidigung der Privilegien durch
Abgrenzung nach unten durch das "neue Bürgertum" wurde
ausführlich beschrieben. KOPPETSCH formuliert das so:
Die Gesellschaft des Zorns
"Ein erhöhter
Anpassungs- und Konformitätsdruck sowie ein verschärfter
Zwang zur Selbstdisziplinierung sind der Preis, den die
neue Mittelklasse für das Aufschließen in die herrschenden
bürgerlichen Schichten zu zahlen hat. Doch wurde diese
Anstrengung zuweilen von einem Klassenselbstbewusstsein
begleitet, das erstens darin besteht, besser zu
sein als die anderen - besser etwa als die
kulturkonformistischen »Kleinbürger«, die
»einfachen« Arbeitnehmer oder auch die »korrupten«
Kapitalisten aus dem Finanzadel -, und zweitens
impliziert, immer noch besser werden zu wollen
(...). Wesentliche Teile der akademischen Mittelschicht
avancierten zum
neuen Bürgertum und wurden im Zuge der
charismatierenden Selbstveredelung zum zentralen Agenten
auch einer durch exklusive Lebensstile und hochpreisige
Stadtquartiere forcierten sozialen Schließung, während die
traditionelle untere Mittelschicht zunehmend in die
Defensive gerät."
(2019,
S.82)
|
Ein anderer Aspekt im
Rahmen des progressiven Neoliberalismus ist die Herausbildung
eines Elitenfeminismus, bei dem die Doppel-Karriere-Familie zum
Maß der Dinge wurde, obwohl lediglich in der oberen
Mittelschicht die dafür notwendigen Ressourcen vorhanden sind.
Der ressourcenarme Doppelverdiener-Haushalt war jedoch alles
andere als ein feministischer Fortschritt. Und die
Doppel-Karriere-Familie erforderte zudem eine Dienerschaft bzw.
soziale Infrastruktur, die uns von
Gösta
ESPING-ANDERSEN als
Errungenschaft eines neu verstandenen Sozialstaatsverständnisses
gepriesen wurde. Bei KOPPETSCH liest sich das so:
Die Gesellschaft des Zorns
"Unter der Ägide
poststrukturalistischer Gender Studies (...)
transformierte sich der Feminismus zunehmend in einen
»bürgerlichen«
Postfeminismus,
der (...) allem die Frauen der akademischen Mittelschicht
anspricht (...). So wird zum Beispiel der
Doppelverdiener-Haushalt als feministischer Fortschritt
präsentiert, doch bedeutet er für viele weniger
privilegierte Frauen schwindende soziale und
Arbeitsplatzsicherheiten. Denn eine wachsende Zahl
»emanzipierter« Frauen ist nun bemüht,
Haus- und
Sorgearbeit auf andere Frauen, vor allem auf unterbezahlte
Migrantinnen, abzuwälzen. Dies vergrößert die soziale
Kluft zwischen Frauen unterschiedlicher Klassen und ihre
unterschiedlichen Lagen treten umso schärfer hervor. Es
bildet sich ein neuer Geschlechtervertrag, der die
Bereitschaft zur Teilnahme am neoliberalen Marktregime als
eine Art Feminismus-Ersatz versteht, dabei allerdings
ausschließlich den Frauen aus den privilegierten,
gebildeten Schichten nützt."
(2019,
S.89)
|
Die Komplizenschaft von
oberer Mittelschicht und Oberschicht bei der Vormachtstellung
des progressiven Neoliberalismus und der Elitenfeminismus haben
zur Vertiefung der Kluft in Sachen sozialer Ungleichheit
beigetragen. Bereits im Buch
Die
Single-Lüge
von Bernd KITTLAUS aus dem Jahr 2006 wird diese Problematik
unter dem Stichwort einer Ökonomisierung des Sozialen gefasst.
Es geht dabei um die Konturen der neuen Klassengesellschaft:
Die Single-Lüge
"4 Die Konturen
der neuen Klassengesellschaft
In diesem Kapital stehen nun die Konsequenzen der
beschriebenen Trends im Mittelpunkt. Wohin treibt unsere
Gesellschaft? Zwei Eliten mit unterschiedlichen
Vorstellungen über die Gesellschaftsordnung haben in der
Vergangenheit die Entwicklung geprägt. Während die
»neue Mitte« den Trend zur Ökonomisierung des Sozialen
vorangetrieben hat, zielt die »alte Mitte« auf die
Biologisierung des Sozialen. Mit den neuen Werteeliten
wird die treibende Kraft vorgestellt, die gegenwärtig eine
neuen historischen Kompromiss anstrebt, der zu Lasten der
Normalos geht. Und nicht zuletzt hat der flexible
Kapitalismus mit seinen neuen Mobilitätsanforderungen
Auswirkungen auf die Lebensformen.
4.1 Die Ökonomisierung des Sozialen
Mit der Ökonomisierung des Sozialen sind Strategien zur
Vereinbarkeit von Beruf und Leben gemeint. Hier geht es um
die Konsequenzen des postfeministischen
Geschlechterarrangements, um die Frage, wer welche
Dienstleistungen herstellt und bezahlt, und nicht zuletzt
darum, welche Rolle dem Sozialstaat zukommt."
(2006, S.217)
|
Die angesprochenen beiden
Werteeliten sind identisch mit jenen, die bei KOPPETSCH als
Kontrahenten im Kulturkampf zwischen Kosmopoliten und
Konservativen beschrieben werden. Im Buch Die Single-Lüge
werden die Nationalkonservativen, also jener Teil, der in der
AfD dominiert, als Verfechter einer Biologisierung des Sozialen
beschrieben. Im Kapitel 4.1.1 wird die Auslagerung der
Hausarbeit im Mitte-Milieu behandelt (vgl. 2006, S.217). Der
Originalartikel ist
hier zu lesen. Wenn von einem historischen Kompromiss der
zwei Werteeliten gesprochen wird, dann bedarf dies einer
Erläuterung, die zurückführt ins Jahr 2006.
Exkurs: 2006 - Das Jahr in dem die kulturelle
Spaltung der Mittelschicht sichtbar wurde
Das Buch Die Single-Lüge
erschien im Mai 2006, doch die Idee der Bilanz entstand
angesichts der geplanten ersten Großen Koalition, die inzwischen
nach rund 14 Jahren deutliche Erschöpfungsspuren zeigt. Diese
damalige Situation ist zum einen
hier anhand eines Tagebuchs der Buchveröffentlichung
nachzulesen und zum anderen als
Jahresrückblick. Im März 2006 erschien das Buch Minimum von
Frank SCHIRRMACHER. Darin verteidigte der FAZ-Herausgeber
die traditionelle Familie am Donnerpass und beschwor die Familie
als Schicksalsgemeinschaft, die durch den progressiven
Neoliberalismus dem Untergang geweiht sein sollte.
Deutschland stand
sozusagen am Abgrund und im Spiegel erschien damals
die letzte große, aber gleichzeitig heftig umstrittene
Titelgeschichte unter
Matthias MATUSSEK, der sich unter Wölfen sah. Die Biografie
von MATUSSEK liest sich ab 2006 wie ein
Deklassierungsgeschichte. Bis 2008 war er noch Leiter des
Kulturressorts des Print-Spiegels, aber bereits ab 2006
verlegten sich seine Aktivitäten immer mehr ins Internet. Eine
letzte Heimat war dann die Springer-Presse. Selbst dort wurde er
2015 dann abserviert.
Frank SCHIRRMACHER, der nie ein Vordenker war, aber ein
Gespür davon hatte, wann es sich lohnte auf die fahrenden
Debattenzüge aufzuspringen, um einen Bestseller zu landen,
beendete mit Minimum seinen Ausflug in die Debatte um den
demografischen Wandel und das einzig wahre Familienmodell. Erst
3 Jahre später erschien das Buch Payback, das sich mit
dem Internet beschäftigte. Mit dem Tod von SCHIRRMACHER im Jahr
2014 verlor das FAZ-Feuilleton endgültig seine Bedeutung
für die politischen Debatten der Gegenwart.
Auch die große Zeit des
nationalkonservativen Bevölkerungswissenschaftler Herwig BIRG
ging 2006 zu Ende. Mit seinem Buch
Die demographische Zeitenwende (2001) war er in aller
Munde. Das letzte breit aufgegriffene Buch war Die
ausgefallene Generation (2005), das auf einem 10teiligen
Grundkurs Demographie im SCHIRRMACHER-Feuilleton des selben
Jahres basierte. Mit der Elterngeldreform, die im Juni 2006 vom
Bundestag beschlossen wurde und Anfang 2007 in Kraft trat, war
das letzte große Gefecht der alten Mitte gegen das neue
Familienleitbild der Doppel-Karriere-Familie geschlagen. Die
seit 2008 durchgeführten Mikrozensus-Erhebungen zur
Kinderlosigkeit in Deutschland entzogen zudem der populistischen
Propaganda à la BIRG den Boden. Heute ist BIRG der Säulenheilige
der nationalkonservativen und völkischen Strömung in der AfD.
Der aktuelle Wikipedia-Eintrag zu
Herwig BIRG zeugt von seiner krassen Deklassierung, die
praktisch einem medialen Tod gleichkommt. Zu seinen
Debattenbeiträgen heißt es dort kurz zusammengefasst: "Im Rahmen
seiner Debattenbeiträge zur demografischen Entwicklung in
Deutschland warf Björn Schwentker Birg vor, in seiner
Interpretation des demografischen Wandels zur Dramatisierung zu
neigen." Dazu wird auf den
ZEIT-Beitrag
von Björn SCHWENTKER vom 8. Juni 2006 verwiesen.
In der Welt
polemisierte deren nimmermüder Chefkorrespondent und Kolumnist
Konrad ADAM gegen den progressiven Neoliberalismus und
verteidigte mit Herwig BIRG die traditionelle Familie. 2007 war
dort die Karriere des ehemaligen Feuilletonredakteurs der FAZ
zu Ende. Mit seiner nationalkonservativen Gesinnung gehörte er
dann 2013 zu den Gründungsmitgliedern der AfD. Solche
Deklassierungsgeschichten in den Mitte-Medien zeigen den
Bedeutungsverlust der konservativen Werteelite und deren
Bedeutung für die Entstehung und Erfolgsgeschichte der AfD.
Wenn RECKWITZ also die alte
Mittelschicht als Kulturalisierungsverlierer beschreibt, dann
spielt das Jahr 2006 die entscheidende Rolle. Damals gewannen
die Verfechter einer Vereinbarung von Beruf und Familie die
entscheidende Schlacht um die Neubestimmung der Familie in der
Gesellschaftsordnung. Statt eines historischen Kompromisses der
beiden Werteeliten, fand dann zuerst eine Kompromisslösung Light
statt und schließlich die Auswanderung der deklassierten
Werteelite zum Rechtspopulismus.
Kompromisslösung Light
bedeutete, dass die Konservativen der CDU ihre letzte Bastion in
der CSU fanden. Die heftige Debatte um die Einführung eines
Betreuungsgeldes, die im Jahr 2013 stattfand, zeugt von dieser
Phase. Die Einkassierung des Gesetzes durch das
Bundesverfassungsgericht im Jahr 2015 zeigt, dass der
progressive Neoliberalismus seine Hegemonie nutzte, um das neue
Familienleitbild erfolgreich zu verteidigen.
Zusammenfassend lässt sich
also sagen, dass der Kulturkampf, der hier auf dem Felde des
Familienleitbildes dargestellt wurde, und im größeren Kontext
des demografischen Wandels zu sehen ist (Steigerung der
Geburtenrate einheimischer Frauen contra Zuwanderung), zu einer
kulturellen Spaltung zwischen neuer und alter Mittelschicht
führte. Durch die von da an in Gang gesetzte Verdrängung der
alten Mittelschicht mitsamt ihrer Werteeliten aus der
politischen Debatte entstand eine
zunehmende Repräsentationslücke im
politischen System, die den Deklassierten ihrer
Stimme beraubt hat. Die AfD kann deshalb aus diesem Wählerreservoir
schöpfen.
Der linksliberale Mainstream in der
Wissenschaft und seine Selbstgerechtigkeiten
Die Zeitdiagnose von
KOPPETSCH ("Die Gesellschafts des Zorns") konkurriert mit dem
kulturalistischen Ansatz von RECKWITZ
("Die Gesellschaft der Singularitäten") um die
Deutungshoheit zum Stellenwert der akademischen Mittelschicht in
der neuen Klassengesellschaft. Beide Gesellschaftsdeutungen
setzen auf breite wissenschaftliche Anschlussfähigkeit. Sie
beanspruchen die Erbschaft der
Individualisierungsthese von Ulrich BECK in härteren Zeiten
anzutreten. Im Buch
Das Ende der Illusionen versucht RECKWITZ genauso wie KOPPETSCH
eine Antwort auf den Rechtspopulismus der AfD zu geben, das der
neuen, kosmopolitisch geprägten Mittelschicht die weitere
Deutungshoheit sichern soll. Dabei berufen sich beide Autoren
auf die Klassentheorie von Pierre BOURDIEU.
Doch wie bereits weiter oben
angedeutet, gibt es dabei entscheidende Differenzen. RECKWITZ
beschreibt ein "Drei-plus-eins-Klassen"-Modell, das den Rahmen
für die klassischen Milieu- und Lebensstilvorstellungen bilden
soll. Im Jahr 2004
wurde auf dieser Website bereits die Unzulänglichkeit dieser
klassischen Milieu- und Lebensstilforschung angesichts der
Hartz-Gesellschaft aufgezeigt. Dies ist auch in dem 2006
erschienenen Buch Die Single-Lüge nachzulesen (vgl.
Kapitel 1.2.3 Eine Festschrift gegen den Strich gelesen,
S.47ff.). Was bei RECKWITZ also als neuer Ansatz präsentiert
wird, nämlich die Einhegung der Milieu- und Lebensstilmodelle
durch eine Klassentheorie, kommt reichlich spät. RECKWITZ
beschreibt diese Einhegung folgendermaßen:
Das Ende der Illusionen
"(Es) existiert
innerhalb dieser Klasse eine erhebliche Bandbreite
zwischen (...) Einkommen und Vermögen (...). Vor diesem
Hintergrund dieser Bandbreite der Einkommen ist es
vielmehr die Quantität und Qualität des kulturellen
Kapitals, die der Lebensführung (...). ihre spezifische
Form geben."
(2019,
S.90f.)
|
RECKWITZ dreht sozusagen die
soziale Frage um: Nicht die Verteilungsfrage (Einkommen und
Vermögen) der traditionellen Klassentheorien, sondern der
Habitus (BOURDIEU) der Lebensführung stellt die entscheidende
Differenz der neuen Klassengesellschaft dar. Der Habitus wird
für RECKWITZ in erster Linie durch das kulturelle Kapital
bestimmt. Innerhalb des kulturellen Kapitals sieht er zudem den
formellen Bildungsabschluss als entscheidend an. Eine solche
Sicht schmeichelt zwar der Akademikerklasse, die er als neue
Mittelschicht bezeichnet, aber die gesellschaftlichen Realitäten
trifft das eher nicht. Diese extreme Kulturalisierung der
sozialen Frage bricht an manchen Stellen auch bei KOPPETSCH
durch, aber bei RECKWITZ macht sie den entscheidenden
Unterschied einer Überhöhung der Kosmopoliten. RECKWITZ benutzt statt der Fahrstuhlmetapher
(Ulrich BECK) eine Paternostermetapher, um die Dynamik der
Klassenstrukturverschiebung zu beschreiben:
Das Ende der Illusionen
"An ihre Stelle
(Anm.: nivellierte Mittelstandsgesellschaft) tritt
sukzessive eine dreigliedrige Sozialstruktur, bestehend
aus neuer Mittelklasse, neuer Unterklasse
und - zwischen ihnen - der alten Mittelklasse, der
Erbin der nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Hinzu
kommt on top die kleine Oberklasse der
Superreichen. Die Dynamik der spätmodernen Sozialstruktur
umfassen also zwei Richtungen: Nach oben steigt
eine neue Mittelklasse aus der traditionellen Mittelklasse
empor, nach unten fällt eine prekäre Klasse aus ihr
heraus - wir befinden uns im spätmodernen Paternoster
(...).
Die neue Mittelklasse, die zugleich eine Akademikerklasse
ist, befindet sich im Zentrum aller drei (...)
ökonomisch-kulturellen Wandlungsprozesse und stellt sich
damit als die treibenden Kraft der gesellschaftlichen
Entwicklung der letzten
Jahrzehnte dar. Sie ist die Trägerin der Bildungsexpansion
ebenso wie der Postindustrialisierung (...). Zugleich ist
sie die wichtigste Vertreterin des mit dem Wertewandel
verknüpften Liberalisierungsprozesses. Auch die neue
Mittelklasse ist weiterhin Mittelklasse (...).
Zugleich verschiebt die neue Mittelklasse jedoch die
gesellschaftlichen Maßstäbe dessen, was eine Lebensform
der
»Mitte« ausmacht.
(2019,
S.86f.)
|
Diese Beschreibung der Auf-
und Abstiegsprozesse innerhalb der neuen Klassengesellschaft ist
gegenüber der Sicht von KOPPETSCH geradezu holzschnittartig und
unterkomplex. In der Sicht von RECKWITZ wird das kulturelle
Kapital zur Grundlage eines Überlegenheitsgefühls der
Akademikerklasse, das materielle Unterschiede innerhalb der
Akademikerschicht als unbedeutend erscheinen lässt. Einer solchen
Sicht ist eine gewisse Herablassung zu eigen.
Dagegen entstehen für KOPPETSCH
Risse innerhalb der Akademikerschicht, die nicht durch
kulturalistische Überlegenheitsgefühle gekittet werden können.
Formelle Bildungsabschlüsse sind keineswegs ein ausreichendes
Distinktionsmerkmal gegenüber der alten Mittelklasse. RECKWITZ
beschreibt einen Kulturkampf zwischen alter und neuer
Mittelklasse, der sich zwischen der kosmopolitischen ("neue
Mittelklasse") und der konservativen ("alte Mittelklasse")
abspielt. Die Anfangsphase dieses sich lange abzeichnenden
Kulturkampfes wurde in dem Buch Die Single-Lüge
folgendermaßen beschrieben:
Die Single-Lüge
"In den
vergangenen 20 - 25 Jahren hat sich in Westdeutschland ein
neues Establishment der Mitte-Eliten herausgebildet.
Inwieweit die Eliten aus den neuen Bundesländern zukünftig
eine stärkere Rolle spielen werden, bleibt hier offen. Es
geht mir um jenes Establishment, das sich historisch in
den alten Bundesländern herausgebildet hat. Mit
»alter Mitte« sind jene Milieus gemeint, die für die
Adenauer-Republik prägend waren und deshalb in der CDU/CSU
ihre parteipolitische Heimat haben. Mit »neuer Mitte« sind
dagegen jene Milieus gemeint, die durch die Entwicklungen
seit Mitte der 60er Jahre geprägt wurden. Ihren originären
parteipolitischen Ausdruck haben sie in der Partei Der
Grünen gefunden. Mit Gerhard Schröder ist die »neue Mitte«
jedoch auch im Machtzentrum der SPD angekommen.
Zukünftig dürfte die Unterscheidung zwischen »alter« und
»neuer Mitte« wesentlich weniger Sinn machen, denn hier
wird die Position vertreten, dass gegenwärtig ein neuer
politischer Konsens ausgehandelt wird, der zu Lasten der
so genannten Normalos geht. Diese Allianz wird von mir
auch als Bobokratie bezeichnet. In einer schwarz-grünen
Koalition fände dieses Bündnis seinen originären Ausdruck.
Schwarz-Rot wäre dann nur ein notwendiges
Übergangsphänomen auf dem langen Weg zur schwarz-grünen
Republik. Mit den beiden Elite-Positionen sind - und damit
sind wir beim eigentlichen Thema - unterschiedliche
Familienleitbilder verbunden. Daraus speist sich ein
Kulturkampf um das einzig richtige Familienbild".
(2006, S.8f)
|
KOPPETSCH beschreibt den
Kosmopoliten - wie in dem Buch Die Single-Lüge - als
Bobo. Die Herrschaft der Bobos ist dann als "Bobokratie" zu
bezeichnen:
Die Gesellschaft des Zorns
"Der Publizist
David Brooks (2000) hat die hybride Kultur des neuen
Bürgertums in einem Essay mit dem treffenden Titel
»Bobos in Paradise« erstmals für die USA beschrieben.
Demnach ist der Lebensstil der herrschenden Klasse der
Gegenwart gleichermaßen von der bourgeoisen Welt des
Kapitalismus und der Gegenkultur der Bohème geprägt."
(2019,
S.214)
|
Während in dem Buch Die
Single-Lüge zwar
das Familienleitbild im Mittelpunkt stand, wird - wie weiter
oben bereits angesprochen - doch auch der
breitere gesellschaftliche Kulturkampf beschrieben, den RECKWITZ
jedoch mit sozialstrukturellen und sozialräumlichen Aspekten
verknüpft:
Das Ende der Illusionen
"Die alte - man
könnte auch sagen: die traditionelle - Mittelklasse (...)
war einmal das
»Maß aller Dinge«, sie verkörperte »Mitte und Maß« (...).
Inzwischen hat sie diese kulturell dominante Position
jedoch eingebüßt. Plakativ gesagt: Die Gesellschaft und
die Welt um einen herum hat sich extrem verändert, man
selbst sich aber kaum. Angesichts des Aufstiegs der neuen
Mittelklasse droht man gewissermaßen (...) kulturell,
medial und politisch unsichtbar zu werden.
Die alte Mittelklasse umfasst vor allem Personen in
mittleren beruflichen Positionen mit mittleren
Bildungsabschlüssen: Facharbeiter, Angestellte mit
Berufsausbildung, die klassische Büro- und
Dienstleistungstätigkeiten ausüben, Beamtinnen im
mittleren Dienst, selbständige Handwerker. Meist hat man
keine Hochschule besucht, vielmehr oft einen
Highschool-Abschluss, eine berufsspezialisierendes
Baccalauréat, ein Fachabitur oder eine berufliche Lehre
nach einem Haupt- oder Realschulabschluss. (...). Im
Unterschied zur auf die Metropolregionen konzentrierten
neuen Mittelklasse ballt sie sich in den Klein- und
Mittelstädten sowie im ländlichen Raum. In der Regel sind
dies auch die Herkunftsregionen: Die alte Mittelklasse ist
ein sesshaftes Milieu (...).
Man hat den spätmodernen Wandel der Leitprinzipien vom
Lebensstandard zur Lebensqualität inklusive der
Singularisierung aller Lebensbereiche nur in geringem
Umfang mitgemacht, Statusfragen sind hier im Kern
weiterhin materielle Wohlstandsfragen. Statusinvestition,
vor allem in die Entwicklung ökonomischer Ressourcen,
prägt daher diese Lebensform. (...). Das Individuum
verlangt von sich und anderen Disziplin (...). Dem eigenen
Selbstverständnis zufolge setzt dies enge soziale
Bindungen und Verpflichtungen voraus, und zwar häufig an
jene und gegenüber jenen, für die man sich nur bedingt
aktiv wählend entschieden hat: an die Familie - sowohl die
Kleinfamilie als auch die erweiterte Familie.
(2019,
S.97ff.)
|
Was im Buch Die
Single-Lüge mit dem Begriff "Normalo" bezeichnet wird, das
entspricht sozusagen der traditionellen Mittelklasse. RECKWITZ
zeichnet jedoch aus Sicht der herrschenden Bobokratie ein
Klischeebild dieses Sozialstruktursegments. Wer die Auswirkungen
dieses Kulturkampfes wie der Verfasser dieses Beitrags auch aus
dem eigenen beruflichen und privaten Alltag an der Schnittstelle
beider Mittelklassen kennt, für den stellt sich die
Angelegenheit anders dar als für einen Beobachter aus dem
Elfenbeinturm der Kulturwissenschaften. Aber diese Geschichte
würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen.
Während im Jahr 2006
von einer Alternative für Deutschland noch nichts zu sehen war,
ist die schwarz-grüne Allianz als Zentrum des (noch
unverbrüchlich scheinenden) Anti-AfD-Bündnisses inzwischen
jedoch sichtbarer geworden. Diese Allianz ist - nicht
ausschließlich - im Osten so schwach, dass sie einen erweiterten
Mitte-Konsens erfordert. Kenia-Koalitionen können in diesem
Sinne als Herrschaftssicherungspolitik der Kosmopoliten
verstanden werden. Sowohl der neoliberalisierten SPD als auch
der gesellschaftspolitisch nach links gerückten CDU/CSU drohen
angesichts der Herausforderung durch die AfD jedoch weitere
Wählerverluste. Sowohl für KOPPETSCH als auch für RECKWITZ ist
der kulturell entfremdete Deklassierte die Zielgruppe der AfD.
Das
Wählerpotenzial der AfD: Der kulturell entfremdete Deklassierte
KOPPETSCH beschreibt eine
neue horizontale, also klassenübergreifende Konfliktlinie
("Querfront"), nämlich jene zwischen
Kosmopoliten und Konservativen. Zugespitzt formuliert tritt in
der postindustriellen Gesellschaft die kreative Klasse mit ihrem marktaffinen Lebensstil an die Stelle "sozial verwurzelter
Wissens- und Sinnorientierungen" der traditionellen
Professionsethik. Luc BOLTANSKI & Eve CHIAPELLO ("Der neue Geist
des Kapitalismus", 2003) und Richard FLORIDA ("The Rise of the
Creative Class", 2000) stehen für diese neue kosmopolitische
Geisteshaltung der Globalisierungsgewinner. Die Individualisierung
der sozialen Ungleichheit wie sie für den entfesselten
Kapitalismus typisch ist, setzt auf Eigenverantwortung statt auf
traditionellen Sozialstaat. Jeder ist nunmehr seines Unglücks
Schmied. In der neuen Klassengesellschaft werden Klassenkämpfe
mittels klassenübergreifender Koalitionen ausgetragen:
Die Gesellschaft des Zorns
"Politische Kämpfe
(...) sind nur dann wirksam, wenn sie Koalitionen zwischen
unterschiedlichen Klassenfraktionen stiften, wenn sie also
unterschiedlichen, aber strukturell verwandten Gruppen,
die kein Wissen über ihre Gemeinsamkeiten haben, auch eine
subjektive, für die beteiligten Akteure wahrnehmbare
Realität geben und sie dadurch überhaupt erst als
politisch handlungs- und konfliktfähige
Aktionsgemeinschaft ins Leben rufen (...). Diese
mobilisierte Klasse ist das Ergebnis eines symbolischen
Kampfes um die Durchsetzung einer Sichtweise (..) welche
(...) die Dominanz der kosmopolitischen Klassenfraktionen
aus Mittel- und Oberschicht in Frage stellt."
(2019,
S.130)
|
Die AfD wird in dieser
Sicht als Sammelbecken für ganz unterschiedlich motivierte
Wählergruppen beschrieben:
Die Gesellschaft des Zorns
"In der AfD finden
sich Protestwähler, die ihrer Partei einen Denkzettel
verpassen wollen. Dies sind wertkonservative,
traditionalistische Wähler, denen die Unionsparteien nicht
mehr konservativ genug sind (...). Genauso gehören auch
rechtsradikale Gruppen zu Wählerschaft. (...).
Nationalkonservativ gesinnte Mittelschichteliten und
»Wutbürger« gehen mit Globalisierungsverlierern und
deklassierten Milieus, etwa den »Zurückgebliebenen« in den
deindustrialisierten Regionen Ostdeutschlands und
Nordrhein-Westfalens, eine politische Koalition ein."
(2019,
S.131)
|
Deklassierung drückt
sich für KOPPETSCH in abwärtsmobilen Flugbahnen aus, die
relational (Zurückfallen innerhalb des Gesamtgefüges), dynamisch
(Abwärtsmobilität im Zeitverlauf) oder kollektiv (Zurückfallen
von Gruppen) verlaufen können. Gemeinsam ist ihnen die
Wahrnehmung gefährdeter Privilegien. Solche abwärtsmobilen
Flugbahnen sind weder mit ökonomischer Verschlechterung noch mit
beruflichen Abstiegen gleichzusetzen, sondern können durch den
Aufstieg anderer Gruppen oder symbolische Geltungs- bzw.
Statusverlusten (siehe obigen Exkurs) verursacht werden. Diese Abwärtsflugbahnen
können zudem in allen Klassenlagen stattfinden. Im Buch wird
dieser Aspekt unterbelichtet, obwohl er doch eine zentrale
Funktion im Erklärungsmodell einnimmt. Im Sammelband
Soziale Ungleichheit der Lebensführung schreibt
KOPPETSCH über das postindustrielle Bürgertum und die illiberale
Gesellschaft. Dabei wird die alte (nationale) Mittelschicht
folgendermaßen in drei Fraktionen unterteilt:
Das postindustrielle Bürgertum und die illiberale
Gesellschaft
"Die alte
Mittelschicht stellt (...) gewissermaßen ein Umschlagort
der gegenwärtigen sozialstrukturellen
Polarisierungstendenzen dar (Reckwitz 2017, S.367). Dies
ist eine zwiespältige Situation: Zwar gibt es nach wie vor
eine Fraktion, die sich verhältnismäßig stabil in der
Mitte reproduziert (...). Eine zweite Fraktion blickt nach
oben, ist am Vorbild des Lebensstils des postindustriellen
Bürgertums orientiert und strebt den Weg der
Qualifizierung durch Bildung an. In diese Fraktion gehören
auch die halbakademischen Berufe (Semiprofessionen mit
Fachhochschulabschluss) (...). Eine dritte Fraktion der
Mittelschicht sieht sich gewissermaßen in einer
Sandwich-Position, mit Abstiegsgefährdungen nach unten
sowie Ressentiments nach unten und nach oben. Diese
defensive Fraktion der alten Mittelschicht, zu der das
Milieu der industriellen Facharbeiter und Fachangestellten
zu rechen ist und deren berufliche Basis (...) geschrumpft
ist (...), spürt sehr deutlich, dass sie (...) historisch
ins Hintertreffen geraten ist.
Dieses Zurückfallen kann nicht allein an ökonomischen
Faktoren, also an Einkommensverlusten oder
Prekarisierungstendenzen festgemacht werden
(Koppetsch 2017a). Die Betroffenen selbst mögen sich gar
nicht bewegt haben und haben aufgrund von Verschiebungen
im Gesamtgefüge sozialer Lagen Positionsverluste hinnehmen
müssen. Ein weiterer Aspekt des Zurückfallens besteht in
der Entwertung von Entitlements: Die gesellschaftlichen
Bewertungsmaßstäbe (...) haben sich geändert und die zu
einem früheren Zeitpunkt erworbenen Lebensführungsmuster,
Anwartschaften und Berechtigungen verlieren ihre
Gültigkeit, geraten in Widerspruch zu den veränderten
Ordnungen, wodurch die Betroffenen wesentliche Teile ihres »Kapitals« einbüßen.
Statusverluste können auch aus dem Aufstieg bislang
unterlegener Gruppen resultieren. Hinzu kommt, dass die
traditionellen Milieus der Arbeitnehmermitte, die in den
1990er Jahren noch die klassische Mittelschicht
repräsentierten (...) an den Rand gedrängt worden sind"
(2019,
S.131)
|
Das hier genannte
postindustrielle Bürgertum entspricht den globalisierten,
kosmopolitischen Milieus. Die dritte Fraktion ist jene, die in
dieser Sicht für die "regressiven" Angebote der AfD offen sind. Solche Deklassierungen sind
aber wie gesagt keine hinreichende Bedingung, um die Angebote der AfD
attraktiv zu finden. Hierzu müssen kulturelle
Entfremdungserfahrungen ("Heimatlosigkeit") hinzukommen.
Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass bei KOPPETSCH
materielle und kulturelle Aspekte zusammenwirken, wobei die
materielle Dimension gegenüber der kulturellen Dimension zu sehr
in den Hintergrund gerät.
Sowohl KOPPETSCH als auch RECKWITZ
ziehen zur Beschreibung des AfD-Wählerpotenzials die
SINUS-Milieus heran. Gemäß KOPPETSCH, die sich auf eine Studie
der neoliberalen Bertelsmannstiftung bezieht, rekrutieren sich zwei Drittel
der AfD-Wählerschaft aus dem konservativ-etablierten Milieu (11 %),
dem traditionellen Milieu (14 %), der bürgerlichen Mitte (13 %),
dem hedonistischen Milieu (13 %) und dem prekären Milieu (9 %).
Die Prozentzahlen geben jeweils die Gesamtstärke des Milieus in
Deutschland an.
Die Kosmopoliten rekrutieren sich dagegen aus dem
liberal-intellektuellen Milieu (7 %), dem Milieu der Performer
(8 %), dem sozialökologischen Milieu (7 %), dem expeditiven
Milieu (7 %) und dem adaptiv-pragmatischen Milieu (10 %). Daran
lässt sich bereits erkennen, dass die Rekrutierungsbasis der AfD
gesellschaftlich breiter angelegt ist, als diejenige des
Anti-AfD-Bündnisses. Sollte der AfD also eine noch stärkere
Mobilisierung der Nicht-Wähler gelingen, dann könnte das
Anti-AfD-Bündnis schnell an seine Grenzen kommen.
Die
materielle Dimension bleibt beim Fokus auf die symbolischen Kämpfe
um die Hegemonie unterbelichtet
Es wäre falsch die soziale
Frage auf die klassische Einkommens- bzw. Vermögensungleichheit
("Verteilungskonflikte") und die damit verbundene
zunehmende Kluft zwischen Oben und unten zu reduzieren.
KOPPETSCH widmet sich vorwiegend den kulturellen Hintergründen
der Auseinandersetzungen zwischen Kosmopoliten und
Konservativen. Dabei wird bei den Kosmopoliten zu sehr das Ideal
der kosmopolitischen Lebensweise beschrieben. Dieses schmeichelt
zwar dem Selbstbild der Kosmopoliten, wird aber den
Widersprüchen zwischen Anspruch und Realität nur selten gerecht.
Eher in den Blick kommen
dagegen die Konsequenzen der ökonomischen
Grenzziehungen der Kosmopoliten, die durch Privatisierung der
Daseinsfürsorge,
Segregation und Gentrifizierung in den
Großstädten gekennzeichnet sind. KOPPETSCH fasst dies unter den
Begriff der sozialräumlichen Exklusivität und stellt den
ökonomischen Grenzregimes der Kosmopoliten die politischen
Grenzregimes der Konservativen entgegen:
Die Gesellschaft des Zorns
"Zu den
wirkungsvollsten Grenzanlagen gehört die kapitalistische
Ausrichtung des Lebensstils, denn das eigene Territorium
wird primär im Modus ökonomischer Grenzen verteidigt.
Kulturelle Offenheit wird somit kompensiert durch ein
hochgradig effektives Grenzregime, das über
Immobilienpreise und Mieten, über ein sozial und ethnisch
hoch selektives Bildungswesen sowie über den Zugang zu
exklusiven Freizeiteinrichtungen und Clubs gesteuert wird.
Die Abgrenzung erfolgt nicht nach außen, sondern nach
unten. Es sind vor allem die ökonomischen Privilegien, die
wirkungsvolle Schutzräume gegenüber unteren Schichten und
Migranten darstellen. Gut situierte und gebildete
Migranten werden von den einheimischen Kosmopoliten als
unproblematisch empfunden, sozial schwache und gering
qualifizierte Migranten hingegen kommen in den
privilegierten Quartieren gar nicht erst vor. Deshalb
werden sie von den Bewohnern der kulturell homogenen
Milieus auch gar nicht als Konkurrenten (...)
wahrgenommen.
Das erklärt auch, warum sich Kosmopoliten für gewöhnlich
nicht von Migranten irritieren lassen. Für Kosmopoliten in
Berliner Bezirken wie Kreuzberg oder
Prenzlauer Berg oder
im Hamburger Schanzenviertel, die zumeist über exklusive
Lebensräume und höhere Gehälter verfügen, besitzen
fremdenfeindliche Anwandlungen schlicht keine
lebensweltliche Grundlage. Migranten kommen in dieser Welt
in zwei Gruppen vor: als hochqualifizierte, urbane »Expats«, die (...)
einen Teil des transnationalen Oben bilden, oder aber als
Vertreter des transnationalen Unten, d.h. als einfache
Dienstleister - buchstäblich als »Diener« (...). Als
Angehörige eines neuen Dienstleistungsproletariats (...)
haben gering qualifizierte Migranten zwar ihren Arbeits-,
aber eben nicht ihren Lebensmittelpunkt in den Vierteln
der kosmopolitischen Mittelschicht. Sollten Zuwanderungen
dennoch einmal Anlass zu Irritationen geben, etwa
weil Migrantenkinder mit Sprachschwierigkeiten (...) in
dieselbe Schulen gehen wie der hoffnungsvolle Nachwuchs
(...), reagieren die betroffenen Eltern nicht selten (...)
indem sie ihre Kinder (...) abmelden und sie in exklusive
oder gleich in private Schulen schicken (...). Für
zukünftige Familien wird das vermutlich gar nicht mehr
nötig sein, da die polarisierende sozialräumliche
Segregation in attraktive Wohngegenden und soziale
Brennpunkte mit hohen Migrantenanteilen mittel- bis
langfristig ohnehin für weitgehend homogene
Schülerschaften sorgen wird.
(2019,
S.244ff.)
|
KOPPETSCH zeigt auf,
dass auf beiden Seiten der Kontrahenten mit Grenzziehungen
gearbeitet wird, die Unerwünschte ausgrenzt, wobei sich jedoch
die Unerwünschten unterscheiden. Auch hier werden wichtige
Aspekte unterschlagen. Für die Akademiker sind Migranten nicht
nur als Diener nützlich, sondern sie schaffen z.B. als
Asylsuchende Arbeitsplätze in der Verwaltung und auf Behörden.
Bildungsdefizite werden zu Arbeitsplätzen in den
Bildungsinstitutionen. Auf diesen Aspekt des Sozialstaates als
Sicherung akademischer Arbeitsplätze für Hochqualifizierte hat
Berthold VOGEL in seinem Buch
Wohlstandskonflikte aus dem Jahr 2009 bereits frühzeitig
hingewiesen. Der Sozialstaat ist nämlich nicht identisch mit
einem Sozialtransferstaat, als der er vorrangig in der Kritik
steht, sondern ist als materielle Infrastruktur und
Dienstleister gefragt. In dem Artikel
Die
Zurückgebliebenen, in dem es um die Bewertung der
Fremdenfeindlichkeit im Osten des Jahres 2015 geht,
schreibt KOPPETSCH:
Die Zurückgebliebenen
"Doch wer glaubt,
der Westen Deutschlands sei gegen solche Entwicklungen
gefeit, täuscht sich. Auch im Westen hat sich der Staat
weitgehende zurückgezogen - insbesondere aus der Funktion
der sozialen Absicherung. Wohlfahrt, Bildung, Gesundheit
und selbst Arbeit sind inzwischen zu Gütern geworden, die
der Staat nicht mehr fraglos zur Verfügung stellt, sondern
von den Einzelnen erkämpft werden müssen. Dabei schneiden
jene besonders schlecht ab, die Hilfe am dringendsten
benötigen. Der westliche Staat genoss nur deswegen eine
breite Zustimmung, weil er in der Vergangenheit immer
wieder als Wohlfahrtsstaat auftrat. Viele Menschen wissen
heute nicht mehr, warum sie einen Staat unterstützten
sollen, der Wohlfahrtsgüter nicht halbwegs gerecht zur
Verfügung stellt. Besonders gravierend scheint es da, wenn
nun Leute mit Zuwendungen versehen werden, die
vermeintlich nicht dazu gehören: Flüchtlinge und Migranten.
Flüchtlingspolitik ist eben auch Sozialpolitik."
(Freitag
Nr.35 v. 27.08.2015)
|
Hier zeigt sich bereits
die Ausklammerung der Bedeutung des Wohlfahrtsstaates für das
Akademikermilieu, denn es geht keineswegs nur darum, wer Hilfe
in Anspruch nehmen darf, sondern auch darum, wer die Entscheider
und Arbeitsplatzinhaber in der Sozialbürokratie sind. Der
Paradigmenwechsel beim Sozialstaat vom sorgenden zum
gewährleistenden Wohlfahrtsstaat, war und ist zugleich ein
Motor für Aufstiegs- und Abstiegsprozesse insbesondere im
Akademikermilieu. Was für die einen als "Umbau" oder
"Paradigmenwechsel" erscheint, ist für andere ein "Abbau". Der
aktivierende Sozialstaat belohnt in erster Linie die
Akademikermilieus und ist damit ein zentraler Aspekt der neuen
sozialen Ungleichheit. Diesem Aspekt wird bei KOPPETSCH nur
ungenügend Aufmerksamkeit gezollt.
KOPPETSCH erteilt zudem
der Aufklärung vorschnell eine Absage, wobei der
Aufklärungsbegriff offensichtlich sehr eng gefasst wird. Denn
Aufklärung kann auch heißen, über die Mechanismen aufzuklären,
die als unhinterfragte Selbstverständlichkeiten die politischen
Debatten steuern.
Zukunftsorientierte Politik als Gegengift gegen die AfD?
Der Ansatz von
KOPPETSCH läuft auf eine politische Angsttherapie hinaus, die
sie folgendermaßen beschreibt:
Die Gesellschaft des Zorns
"Wie könnte eine
demokratische Gefühlspolitik aussehen? Sicherlich wäre die
beste Maßnahme gegen das in manchen Bevölkerungsgruppen
grassierende Katastrophenbewusstsein das Betreiben einer
zukunftsorientierten Politik, durch die sich allumfassende
Bedrohungen in umgrenzte Risiken, diffuse Ängste in eine
weitaus besser beherrschbare Furcht vor definierten
Gefahren verwandeln ließen."
(2019,
S.256)
|
Als Politikfelder
werden der Klimawandel, der
demografische Wandel und die
Digitalisierung genannt. KOPPETSCH beklagt das Fehlen eines
verbindlichen Zukunftsnarrativ und stimmt ein in den
kosmopolitischen Fake-News-Chor, dass an die Stelle von Wissen
"Meinungen, Ahnungen, Beschwichtigungen oder auch
Verschwörungstheorien" getreten seien. Hier zeigt sich ein
gewisser Widerspruch, dass einerseits die Expertokratie als
Postpolitik beklagt wird, andererseits aber die Unstrittigkeit
von Wissen angenommen wird.
Was aber, wenn ausgerechnet
die Sehnsucht des kosmopolitischen Milieus nach Dystopien das
eigentliche Problem ist? Ist es nicht gerade die mediale
Hysterisierung des Klimawandels und des demografischen Wandels,
die Ängste schafft und den politischen Ausnahmezustand auf Dauer
zu stellen versucht?
Die
Inkonsequenz linker Parteien als Problem
KOPPETSCH betrachtet die
linke Kapitalismuskritik als zahnlosen Tiger, weil die Linken
als Angehörige des kosmopolitischen Milieus selber
zur Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung beitragen:
Die Gesellschaft des Zorns
"Wenn
die Rechtspopulisten Vorteile aus der prekären Lage der
Deklassierten schlagen, was hält dann die linken
Bewegungen davon ab, ihrerseits dasselbe zu tun? Die
traurige Implikation der Tatsache, dass diese
offensichtliche Frage nicht gestellt wird, ist, dass die
kritisierten Klassentrennungen Teil einer
Gesellschaftsordnung sind, die auch durch die Linken, so
kritisch deren Haltung im Einzelnen auch sein mag, in
letzter Konsequenz verteidigt wird."
(2019,
S.255)
|
Betrachtet man die
Wahlberichtserstattung in Thüringen, dann wird deutlich, dass
diese Sicht keineswegs ganz aus der Luft gegriffen ist. Da wurde
der thüringische Ministerpräsident Bodo RAMELOW als
Charismatiker präsentiert, dessen Partei eher die SPD als die
Linkspartei sein könnte. Die Linkspartei wiederum möchte als
Teil der politischen Mitte wahrgenommen werden und ist
verbittert darüber, dass sie von der CDU am "linken Rand"
gesehen wird.
Die ostdeutsche Linkspartei gehört längst zum
Establishment und hat ihre Rolle als Protestpartei - selbst in
Sachsen, wo sie immer in der Opposition war - eingebüßt.
Sozialdemokratie und Grüne sind dagegen längst Sprachrohr der
kosmopolitischen Milieus, denen die soziale Frage abhanden
gekommen ist. Stefan REINECKE fragt in der taz anlässlich
der Wahl einer neuen Fraktionsspitze deshalb zu Recht:
Der Verfeindugnskomplex
"Kann die
Linkspartei gleichzeitig gewerkschaftsnah, öko-hip und
Traditionspartei Ost sein - oder muss sie eine dieser
Rollen aufgeben?"
(taz v.
13.11.2019)
|
Infrastrukturpolitik ist mittlerweile ein
Kernthema der sozialen Frage geworden. Doch die
Neoliberalisierung der linken Parteien, die dadurch zu zentralen
Akteuren der Privatisierung der Daseinsvorsorge geworden sind,
hat dem Ansehen linksliberaler Parteien gewaltig geschadet.
Re-Kommunalisierung wirkt deshalb als Eingeständnis des
Politikversagens, aber nicht als zukunftsorientierte Politik. Die AfD profitiert letztlich auch vom Schlingerkurs der Linken, der
wenig vertrauenserweckend ist.
Die Bedeutung lokaler Eliten als blinder
Fleck
Die AfD ist insbesondere auch
deshalb ernst zu nehmen, weil sie eine starke Verankerung im
kommunalen Bereich - insbesondere in Ostdeutschland und den
ländlichen Räumen - aufweist. So hat z.B. der sächsische
Generalsekretär der CDU, Michael KRETSCHMER, seinen
sicher geglaubten Wahlkreis bei der Bundestagswahl 2017 an einen
bundespolitischen Nobody der AfD verloren. Der
Politikwissenschaftler Wolfgang SCHROEDER sieht in der lokalen
Elite einen wichtigen Faktor für den Wahlerfolg der AfD:
"Ein entscheidendes Kriterium ist die Handwerkerdichte"
"Im
ländlichen Raum sind die beiden entscheidenden Kriterien
für die Wahrscheinlichkeit von verstärkter AfD-Wahl der
erhöhte Altenquotient und eine höhere Handwerkerdichte.
(...).
Wen ich wähle, geht oft auf den Einfluss von Leuten
zurück, die etwas zu sagen haben und für mich orientierend
sind. Im ländlichen Raum sind das häufig auch Handwerker,
Kleingewerbetreibende, die schon in der DDR eine wichtige
soziale und kulturelle Rolle einnahmen. Diese Rolle
spielen sie jetzt eigentlich wieder. Sie selbst haben aber
für sich den Eindruck, ihre Leistung wird nicht so
anerkannt, wie das ihrer Bedeutung entsprechen sollte, und
sie fühlen sich vom Staat und den IHKs gegängelt. Deshalb
suchen sie in einer Alternative zum Establishment eine
Adresse für ihren Unmut."
(taz v.
04.11.2019)
|
Es wäre jedoch falsch, das
Problem auf die "Handwerkerdichte" zu reduzieren, statt die
gesamte Problematik in den Blick zu nehmen. So war der
Gegenspieler von KRETSCHMER ein Maler- und Lackierermeister, der
ehrenamtlich in der Politik der stark schrumpfenden Stadt
Weißwasser tätig war. Die im Osten selbstherrlich
regierenden Volksparteien haben es versäumt die parteipolitische Verankerung auf
der kommunalen Ebene voranzutreiben.
Auf
tönernen Füßen sah daher die Journalistin Christine
KEILHOLZ die sächsische CDU zu Recht (FAS 31.08.2018).
Die gravierende Schwäche der CDU in Sachsen findet eine
Entsprechung bei Rot-Rot-Grün, deren Direktwahlerfolge sich den
Großstädten und deren Speckgürtel verdanken, während der
ländliche Raum von vornherein als verloren angesehen wurde.
Zukunftsorientierte Politik als Leuchtturmpolitik
- Das Beispiel
Verkehrswende
Im ostdeutschen Wahlkampf
versuchten die Parteien mit Leuchtturmprojekten Stimmen zu
gewinnen. Dafür stehen zum einen das VW-Werk im sächsischen
Zwickau, in dem die E-Mobilität vorangetrieben werden sollte,
(mehr
hier) und das geplante chinesische Batteriezellenwerk im
thüringischen Arnstadt, dem insbesondere die Frankfurter
Allgemeine Zeitung eine Vielzahl von Artikeln widmete:
Elektrisiert
"Das
chinesische Unternehmen CATL, der größte Produzent von
Batteriezellen für Elektroautos auf der Welt, will hier,
eine halbe Autostunde von Erfurt entfernt, ein Werk bauen.
Das erste außerhalb seines Heimatlandes. 60 Hektar Land
(...) hat der Konzern dafür gesichert. Am 18. Oktober ist
Spatenstich, Ende 2021 sollen die ersten Batteriezellen in
Arnstadt entstehen. (...).
Die Investition (...) wurde im Sommer vergangenen Jahres
im Rahmen der deutsch-chinesischen
Regierungskonsultationen verkündet. Damals war erst von
240 Millionen Euro die Rede. Doch seitdem ist viel
passiert. (...). So kommt es, dass CATL sein
Investitionsvolumen immer weiter aufgestockt hat. 1,8
Milliarden Euro sollen jetzt in die Fabrik
fließen, soll die größte dieser Art in ganz Europa werden.
Die Frage ist: Was macht so eine große Investition mit
einer kleinen Stadt wie Arnstadt? (...) (Eine)
beschauliche 28.000-Einwohner-Stadt mit ihrem Marktplatz,
den vielen Fachwerkhäusern und Kopfsteinpflastergassen.
Dort, mitten in der Altstadt, liegt das Büro von Frank
Spilling. Der 47-Jährige ist seit anderhalb Jahren
Bürgermeister der Stadt (...). Sieben Fraktionen sind im
Stadtrat vertreten. Bei der Gemeinderatswahl im Mai diese
Jahres bekam die Initiative »Pro Arnstadt« mit 24,7
Prozent die meisten Stimmen, gefolgt von der AfD und der
CDU. Spilling selbst war mal Mitglied der CDU, aber das
ist lange her. »Heute hilft es eher, wenn man parteilos
ist«, sagt er. (...).
Der große Vorteil der Stadt: Sie liegt strategisch
günstig. Das Erfurter Kreuz ist nicht weit entfernt (...).
Zur Attraktivität der Region trägt auch bei, dass Erfurt
seit zwei Jahren einer der wichtigsten Knotenpunkte im
ICE-Netz der Deutschen Bahn ist. (...). Auch der Weg zum
BMW-Werk in Leipzig ist nicht weit. Es ist kein Zufall,
dass der Münchner Autohersteller der erste Kunde war, mit
dem CATL einen Vertrag über Batteriezellen aus dem neuen
Werk abgeschlossen hat. Auch mit Bosch und Volvo sind
Kooperationen vereinbart. (...). Bis zu 2.000
Arbeitsplätze sollen in dem Werk entstehen"
(Julia
Löhr in der FAZ v.
11.10.2019)
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Das Prestigeprojekt sollte
der SPD zu Stimmen verhelfen. Doch wie das E-Mobilitätsprojekt
in Sachsen half das Projekt der SPD auch in Thüringen nicht, sondern der Wahlkreis
fiel an die AfD. Ob diese Leuchtturmprojekte in der Zukunft die
Stimmung wenden können, ist zweifelhaft.
Das E-Auto ist kein
Beitrag für eine nachhaltige Verkehrswende, von der breite
Bevölkerungsschichten profitieren würden. Insbesondere SPD,
Grüne und Linkspartei beteuern gerne, dass sie den Ausbau des
Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) vorantreiben möchten,
doch das schlägt sich in der Wahlkampfberichterstattung und den
Koalitionsvereinbarungen nicht angemessen nieder. Entgegen allen
Beteuerungen stellt der Autoverkehr in Deutschland im ländlichen
Raum mehr als zwei Drittel des aufkommenden Verkehrs dar. Selbst
in den Großstädten kommt der ÖPNV-Anteil nicht einmal auf 20
Prozent (vgl. Monique DORSCH,
"Öffentlicher Personennahverkehr", 2019, S.16)
Im Gegensatz zu den
Leuchtturmprojekten, bei denen Verlagerungen ins Ausland die
Regel sind, wenn die Profite bzw. Subventionen nicht mehr
stimmen, sichern Arbeitsplätze im Bereich des ÖPNV auch
langfristig den Standort Deutschland. Bei Monique DORSCH heißt
es:
Öffentlicher Personennahverkehr
"Nicht zu
vernachlässigen ist die Bedeutung des ÖPNV als
Wirtschafts- und Standortfaktor. Viele der direkt bzw.
indirekt aus dem ÖPNV resultierenden Arbeitsplätze weisen
eine regionale Bindung auf und können somit nicht ins
Ausland verlagert werden..
Auch die Produktion von Fahrzeugen für den ÖPNV hat
Auswirkungen auf die Beschäftigung. Durch die Herstellung
von Kleinserien, die auf spezielle Anforderungen von
Betreibern und genehmigenden Behörden angepasst werden,
ist ein Automatisierungs- bzw. Standarisierungsgrad wie in
der Automobilindustrie nicht möglich. Zudem ist die
Instandhaltung der Fahrzeuge sowie der auch der
Infrastruktur beschäftigungsintensiv."
(2019,
S.16)
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Mit dem Ausbau des ÖPNV
lässt sich zudem die Wohnungsknappheit in den Metropolen
verringern. Die im sächsischen Zwickau lehrende Professorin
DORSCH zeigt an 25 Fallbeispielen die Spannbreite zukünftiger
ÖPNV-Konzepte auf. Dazu gehören auch sächsische Beispiele aus
Chemnitz, Dresden und dem Vogtland, die nicht nur modellhaft
sind, sondern auch zeigen, dass Sachsen besonderen Nachholbedarf
in Sachen ÖPNV hat.
Die Autorin geht - für das Autoland
Deutschland typisch - davon aus, dass der Autonutzung bei den
Älteren nur finanzielle Gründe entgegenstehen. Der ÖPNV ist in
dieser autozentrierten Sicht lediglich ein Verkehrsmittel
derjenigen, die keine andere Wahl haben ("Zwangskunden"). Dem
ÖPNV wird in Großstädten und Ballungsräumen lediglich aufgrund
von Umwelt- , Landschafts- und Ortsschutz eine
Attraktivitätskrise zugeschrieben.
Die Zukunft des ÖPNV wird in
dieser vergangenheitsfixierten Verkehrswirtschaftslehre also
analog zur derzeitigen urbanen Standortlogik gesehen und die
Vernachlässigung des ländlichen Raums festgeschrieben. Es wird
zum einen von fortschreitenden Schrumpfungsszenarien und zum
anderen von lediglich ökologisch erzwungenen Veränderungen im
Verkehrsnutzungsverhalten ausgegangen. Beides könnte sich als
Trugschluss erweisen. Bereits die Entwicklungen der vergangenen
20 Jahre hätte es nach Prognosen nicht geben dürfen. ÖPNV-Pläne
haben jedoch massive Auswirkungen auf das
Verkehrsnutzungsverhalten sowie Rückwirkungen auf das
Wohnverhalten.
Fazit: Was in Deutschland
auf dem Gebiet der Verkehrswende geschieht, ist alles andere als
eine zukunftsorientierte Politik. Die Leuchtturmpolitik wird -
wenn nicht alles täuscht - die Probleme weiter verschärfen,
statt die Lage zu entspannen. Die Gefahr, dass hochgesteckte
Erwartungen durch die Wahlversprechen enttäuscht werden, ist
groß. Die etablierten Parteien haben sich damit lediglich Zeit
erkauft. Bei den nächsten Wahlen werden sie danach beurteilt
werden, was geliefert wurde.
Fazit: Desillusionierungen im kosmopolitischen
Milieu und die Erfolge der AfD sind Warnhinweise, dass es nicht
weitergehen kann wie bisher
Die Lehren, die
gegenwärtig aus den Erfolgen der AfD in den drei ostdeutschen
Bundesländern gezogen werden, beschränken sich auf die
Verharmlosung. Das reicht vom "Zurückkehren zur Tagesordnung"
über die Reduzierung der AfD auf den völkischen Flügel mitsamt
den fatalen Nebenwirkungen bis zur Negierung der Bedeutsamkeit
der Erfolge für die gesamtdeutsche Parteienlandschaft.
Ostdeutschland gilt den westdeutsch geprägten Parteien als
Versuchsanstalt, um dort neue Machtsicherungsformen
auszuprobieren. Hier dagegen wird argumentiert, dass
Ostdeutschland eher drohendes Unheil für Gesamtdeutschland ankündigt.
Es ist nicht zu erwarten,
dass die AfD sich von selbst erledigen wird, denn sie
unterscheidet sich von den rechtsextremen Kleinparteien der
deutschen Vergangenheit dadurch, dass sie ihr Wählerpotenzial
selbst in der gesellschaftlichen Mitte findet. Viele der
Parteimitglieder und -funktionäre der AfD kommen gar aus den etablierten
Parteien, allen voran der CDU. In Thüringen wird voraussichtlich
nach Sachsen-Anhalt die nächste Minderheitsregierung im Osten
die Regierungsgeschäfte übernehmen. Das Magdeburger Modell war
alles andere als ein Erfolg. In Sachsen-Anhalt regiert seit dem
Ende der Minderheitsregierung eine Kenia-Koalition wie sie nun
auch in Brandenburg und Sachsen geplant ist. Sachsen-Anhalt ist
zudem das
erste ostdeutsche Bundesland, das durchgehend als gefährdet gilt.
Für Thüringen gilt das für drei Viertel der
Raumordnungsregionen.
In Westdeutschland wähnt
man sich dagegen - insbesondere aus demografischen Gründen - auf
der sicheren Seite. Doch auch in Westdeutschland hat die AfD
bereits in der Hälfte der Flächenländer zweistellige Ergebnisse
bei Landtagswahlen erreicht - allen voran mit 15,1 Prozent in
Baden-Württemberg, das seit 2011 vom grünen Ministerpräsidenten
Winfried KRETSCHMANN regiert wird.
Dem kosmopolitischen
Milieu, das den herrschenden progressiven Neoliberalismus prägt,
ist nach und nach die Glaubwürdigkeit abhanden gekommen.
Erste Risse in diesem Lager deuten darauf hin, dass die Zeit
vorbei ist, wo man sich in den eigenen Illusionen ungestört
sonnen konnte. Unter dem Motto Die netten Jahre sind vorbei
wurden auf dieser Website bereits die Verarbeitungen von
Desillusionierungen im Akademikermilieu auf eine Formel
gebracht. Im
Jahr 2010 wurde das neue Klassenselbstbewusstsein der
kosmopolitischen Akademiker der Babyboomer-Generation
("Generation Leistungsträger") und die Abgrenzung zur
Unterschicht in den Mittelpunkt gestellt.
Im Jahr 2011 wurde dann anhand des Buchs Knochenarbeit
die "Krise der Mittelschicht" und die "neue Bürgerlichkeit"
sowie die Verschärfung der Abgrenzung zur Unterschicht
thematisiert. Ebenfalls
im Jahr 2011 wurden anhand des Buchs Echtleben die
Deutungs- und Bewältigungsmuster der akademischen Karrierefrau
angesichts einer Lebenskrise in Zeiten von Hartz IV sichtbar
gemacht. Im Jahr
2017 folgte dann anhand der Bücher Rückkehr nach Reims
und Proleten Pöbel Parasiten wie sich erfolgreiche
soziale Aufsteiger in die Akademikerschicht in Zeiten des
Erfolgs rechtspopulistischer Parteien zu ihrer Herkunft
positionieren. Das Buch von Didier ERIBON wird gerne einer
nostalgischen Rückwendung zugerechnet, doch es zeigt vielmehr die
Veränderung der Aufstiegsmöglichkeiten an. Die vier Texte können
als Vorgeschichte dessen gelesen werden, was bei KOPPETSCH und
RECKWITZ nun als Kulturkampf zwischen Kosmopoliten und kulturell
entfremdeten Deklassierten beschrieben wird. Dabei zeigt sich,
dass zwischen dem Ideal des kosmopolitischen Lebensstils und der
konkreten Lebenspraxis der Akademikerschicht durchaus Welten
liegen können, die in den Zeitdiagnosen zu kurz kommen.
Desillusionierungen im kosmopolitischen Milieu resultieren eben
keineswegs nur aus den rechtspopulistischen Erfolgen, sondern
bereits aus der problembehafteten Alltagsbewältigung.
Die
Desillusionierung durch den rechtspopulistischen Erfolg der AfD wird bei RECKWITZ zur Chance eines
"einbettenden Liberalismus". In der Nachkriegszeit hieß das schlicht Ordoliberalismus. Neoliberalismus hieß damals noch "Laissez-faire-Liberalismus".
RECKWITZ spricht von einer "Überdynamisierungskrise" und fordert
ein neues "Regulierungsparadigma". RECKWITZ verortet seine Sicht
zwischen einem naiven Fortschrittsglauben und nostalgischer
Rückwendung. Für RECKWITZ ist die Zukunft ungewiss und hängt von
der weiteren ökonomischen Entwicklung ab. Er entwickelt deshalb
drei mögliche Szenarien (vgl. S.131ff.): zum einen eine weitere
Verschärfung der Polarisierung zwischen Bildungsgewinnern und
-verlierern. Zum anderen eine Abstiegsgesellschaft, in der auch
Bildungszertifikate nicht mehr vor Abstiegen schützen und
zuletzt eine positive Sicht der sozialstrukturellen Entwicklung,
die zu einer neuen liberalen Allianz im Zeichen eines
einbettenden Liberalismus führt. Diese Sicht soll hier ans Ende
gestellt werden, weil sie beispielhaft für das kosmopolitische
Suchen nach einem politischen Ausweg steht:
Das Ende der Illusionen
"Ein drittes
Szenario geht von (...) einem Schrumpfen der prekären
Klasse und einer Stabilisierung der alten Mittelklasse bei
gleichzeitig weiterhin expansiver neuer Mittelklasse. Dies
wäre ein Szenario der Integration der bisherigen
Unterklasse und eines neuen historischen Kompromisses
zwischen den beiden Mittelklassen. Die treibende Kraft
eines solchen Prozesses könnte zum einen die demografische
Entwicklung insbesondere in Europa sein: Der
Arbeitskraftmangel, der sich in den nächsten Jahrzehnten
angesichts der niedrigen Geburtenraten anbahnt, könnte
viel der Arbeiten der service class und der
traditionellen Mittelklasse als gesellschaftlich
wertvoller erscheinen lassen, als das bisher der Fall war.
Dies könnte sich nicht nur materiell auswirken, sondern
auch einen Zugewinn an Prestige bedeuten. Zu einer solchen
Entwicklung könnte auch ein entsprechender
Paradigmenwechsel der staatlichen Politik beitragen, der
versucht, die Unterklasse zu
»entprekarisieren« und - in Reaktion auf den rechten
Populismus - einen Ausgleich zwischen den Kosmopoliten der
neuen Mittelklasse und den Kommunitariern in der alten
Mittelklasse schaffen. Hier wäre ein politischer
Paradigmenwechsel in Richtung eines - wahlweise stärker
progressiv oder stärker konservativ konnotierten -
»einbettenden Liberalismus« gefragt, der die Symbiose von
Neoliberalismus und Linksliberalismus hinter sich lässt.
Für diesen Pfad könnten im politischen System der Zukunft
die Konservativen und die Sozialdemokraten doch wieder
eine wichtige Rolle spielen."
(2019,
S.132f.)
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