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Sommerthema

 
       
   

Die Selbstdemontage des progressiven Neoliberalismus in Politik, Wissenschaft und Medien

 
       
   

Wie der herrschende Neoliberalismus in die Defensive geriet und die Alternative für Deutschland nun sein Erbe anzutreten versucht

 
       
     
       
   
     
 

Einführung

Der Begriff "progressiver Neoliberalismus" wurde von der US-Amerikanerin Nancy FRASER geprägt, die damit die Gemeinsamkeiten von neuer Frauenbewegung und der neoliberalisierten Sozialdemokratie seit den 1990er Jahren betont (vgl. Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus in den Blättern für deutsche und internationale Politik, Februar 2017). Seinen Siegeszug trat dieser progressive Neoliberalismus mit Bill CLINTONs Demokraten, der britischen New Labour unter Tony BLAIR und zuletzt unter Rot-Grün in Deutschland an. Die wissenschaftliche Anschlussfähigkeit dieses progressiven Neoliberalismus schuf seit den 1980er Jahren die Inidividualisierungsthese, die seit Beginn der 1990er ihren Siegeszug in den Mainstreammedien antrat. Das anvisierte Milieu dieser zweiten Moderne war der/die Young Professional.

Young Professionals - Vom Schimpfwort zur allseits umworbenen Konsumentenschicht und Wählerschaft     

Als Yuppie (Young urban Professional) trat der Young Professional der akademischen Mittelschicht in den 1980er Jahre seine Karriere an. Damals war Yuppie ein Schimpfwort und noch das Feindbild der Sozialdemokratie. Yuppies wurden als Protagonisten der Gentrifizierung ("Yuppisierung") ausgemacht, die damals noch negativ gesehen wurde. Yuppies waren entweder Alleinlebende oder kinderlose Paare - also das Gegenbild der "traditionellen" Familie, was zugleich darauf hindeutet, dass der progressive Neoliberalismus im Kern als Angriff auf den "traditionellen" Sozialstaat gedeutet wurde. Dies beförderte seine allseitige Anschlussfähigkeit, denn der Sozialstaat ist das Kernelement unserer demokratisch verfassten Gesellschaft. Eine Bedrohung des Sozialstaats ist gleichzusetzen mit einer Bedrohung der Demokratie. Mit der Machtübernahme des progressiven Neoliberalismus ging jedoch ein Wandel der Sicht auf die Young Professionals einher: Vom einstigen Schimpfwort wurde der Yuppie zur umworbenen Zielgruppe, was an einem Wandel der Zuschreibungen lag ("Family-Gentrification").

Der aktivierende Sozialstaat und das unternehmerische Selbst als Ideal der individualisierten Wissensgesellschaft

In den 1990er Jahren geriet der weibliche Single, den Teile der Frauenbewegung zum Pionier der Moderne stilisiert hatten (vgl. Eva JAEGGI: Ich sag' mir selber guten Morgen, 1992) , als kinderlose Karrierefrau zum Sinnbild einer fehlgeleiteten Moderne (Das Problem wurde im übrigen als westdeutsches Phänomen gedeutet). Das wurde von der herrschenden Soziologie und Politikwissenschaft erst in den Nuller Jahren unter dem Schlagwort vom "Wandel des Wertewandels" anerkannt.

Die neoliberalisierte Sozialdemokratie hatte die Vereinbarkeit von Beruf und Familie auf die politische Agenda gesetzt und die Bedrohung des Sozialstaats durch die (vollmobile) Single-Gesellschaft. Politik wurde nun jenseits von Rechts und Links zur Sache für die Akademikergesellschaft gemacht. Das Jahr 2003 markiert in Deutschland eine neue Phase in der wissenschaftlichen Fundierung des progressiven Neoliberalismus. Neuer Guru der Sozialdemokratie ist fortan der Däne Gösta ESPING-ANDERSEN, mit dem die neue Klassengesellschaft endgültig zur Richtschnur einer Politik der neuen Mitte wird. Die neue Klassengesellschaft wird als Dienstbotengesellschaft gedacht, die einzig dem Zweck der Reproduktion der gehobenen akademischen Mittelschicht als Zentrum der individualisierten Wissensgesellschaft dient.

Die gesellschaftliche Stigmatisierung der kinderlosen Karrierefrau und die Propagierung der kinderreichen Karrierefrau als neues Ideal begleiten den Umbau des traditionellen Sozialstaats zum aktivierenden Sozialstaat. Damit ist zugleich der Grundstein für die nachfolgende schwarz-rote Koalition gelegt. Das rot-grüne Projekt einer Hartz-Gesellschaft, die von einer Teilprivatisierung des Rentensystems begleitet wird, die zugleich eine Umverteilung von unten nach oben ist, ist zugleich der Anfang des Niedergangs des progressiven Neoliberalismus.

Der Soziologe Heinz BUDE hat als Zeitdiagnostiker der Entwicklungen der so genannten Berliner Republik die Individualisierungsthese von Ulrich BECK radikalisiert. Das unternehmerische Selbst ("neue Bürgerlichkeit") wird als Ideal der Wissensgesellschaft postuliert: Eigenverantwortung löst damit die kollektive Verantwortung des Sozialstaats als gesellschaftliches Fundament ab. Die Individualisierung der Risiken ist nun keine Frage der Ressourcenausstattung, d.h. der sozialen Ungleichheit, mehr, sondern eine Frage des richtigen Lebensstils. Der Einzelne ist seines Unglücks Schmied.

Die Demographisierung gesellschaftlicher Probleme und die zunehmende Spaltung der Gesellschaft

Der progressive Neoliberalismus geht einher mit der Demographisierung gesellschaftlicher Probleme. Geburtenrückgang, zunehmende Lebenserwartung und das steigende Durchschnittsalter der Bevölkerung werden im Laufe der 1990er Jahre zur dominanten Ursachenproblematik einer Krise des Sozialstaats erhoben. Das Schlagwort vom "demografischen Wandel" wird zur Rechtfertigungsformel für den notwendigen und alternativlosen Umbau des Sozialstaats. Der Beginn des großen Schrumpfens der Bevölkerung wird auf die Nuller Jahre datiert. Die Agenda 2010 wird mit Hilfe von Bevölkerungsvorausberechnungen gerechtfertigt und die nationalkonservative Bevölkerungswissenschaft wird zur neuen Leitwissenschaft der Berliner Republik. Herwig BIRG gilt fälschlicherweise als der Hellseher der zukünftige Entwicklungen. Der Buchtitel Die demographische Zeitenwende wird begierig von der Mainstreampresse aufgegriffen. Mit Hans-Werner SINN geht der Neoliberalismus und der Nationalkonservatismus eine neue Allianz ein. Die Rente nach Kinderzahl wird in die politische Debatte eingeführt und inzwischen von seinem gelehrigen Schüler Martin WERDING forciert propagiert.

Mit Minimum heizt Frank SCHIRRMEISTER, der umstrittene Feuilletonchef der FAZ, der selbst in der einstmals linken taz gefeiert wurde, die Hysterie um den Geburtenrückgang an. Damit werden Geister gerufen, die der progressive Neoliberalismus einzudämmen versucht, aber scheitert. Mit Deutschland schafft sich ab radikalisiert Thilo SARRAZIN die Debatte um den Geburtenrückgang und legt mit dem Bestseller einen Grundstein für die erstarkende nationalkonservative Strömung in Deutschland. Die Falschen bekommen in Deutschland die Kinder, ist eine der Hauptthesen, die von Neoliberalen geteilt wird, weswegen die Mainstream-Debatte sich fast ausschließlich um völkische Elemente dreht. Der Mainstream ist der irrigen Annahme, dass man lediglich die völkische Argumentationen bekämpfen müsse, um weiter machen zu können wie bisher. Damit sind auch die drei Strömungen benannt, die den bisherigen Erfolg der Alternative für Deutschland (AfD) tragen: die neoliberale Strömung à la Jörg MEUTHEN, die nationalkonservative Strömung und die völkische Strömung à la Björn HOCKE.

Die Alternative für Deutschland als Erbe des progressiven Neoliberalismus

Solange die AfD ihr Wählerreservoir aus den drei Strömungen Neoliberalismus, Nationalkonservatismus und Nationalsozialismus rekrutieren kann, wird sie weiter erfolgreich die einzige Alternative zum herrschenden progressiven Neoliberalismus spielen können. Am 24. Juni erschien der Artikel Weiter Blank bei der Rente von Matthias KAMANN in der Welt. Darin wird beschrieben warum die AfD ihren geplanten Parteitag zur Sozialpolitik auf das Jahr 2020 verschiebt. In der AfD kursieren drei Rentenkonzepte, die den drei verschiedenen Hauptströmungen geschuldet sind. Während das neoliberale Rentenkonzept verstärkt auf die private Vorsorge setzt, haben das völkische und nationalkonservative Rentenkonzept in der Rente nach Kinderzahl eine Gemeinsamkeit. Die nationalkonservative Strömung muss deshalb als Bindeglied zweier Hauptströmungen der AfD gesehen werden, denn sie setzt auf die kinderreiche (deutschstämmige) Familie und stellt damit eine krasse Gegenbewegung zur herrschenden Doktrin der Bevölkerungspolitik dar, die in der Überwindung der Kinderlosigkeit durch die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie die kinderarme Gesellschaft befördert.

Die Selbstdemontage des progressiven Neoliberalismus als Verleugnung innerer Widersprüche

Etiketten wie "Wutbürger" oder "Fake-News" kennzeichnen die Niedergangsphase des progressiven Neoliberalismus. Der "demografische Wandel", der Anfang der Nuller Jahre noch den Umbau des Sozialstaats als alternativlos rechtfertigen konnte, ist mittlerweile entzaubert. Dies liegt unter anderem daran, dass ein Riss durch die Gesellschaft geht, der sich nicht an die Homogenitätsregel einer Gesellschaft der Gleichen als grundlegende Bedingung einer erfolgreichen Politik für die neue Mitte hält. Die Dienstbotengesellschaft, die sich um die High-Tech-Industrie und globale Finanzkaste gruppiert, ist eine Klassengesellschaft, in der eine Politik jenseits von Rechts und Links grundsätzlich zum Scheitern verurteilt ist. Noch stützt das akademische Proletariat eher das kosmopolitische Projekt. Dass sowohl das politische als auch das wissenschaftliche Personal der AfD sich aus allen etablierten Parteien (zwar mit Schwerpunkt auf FDP und CDU) rekrutiert, zeigt den gesellschaftlichen Wandel deutlich an.

Die Tabuisierung der inneren Widersprüche des progressiven Neoliberalismus

Der progressive Neoliberalismus ist argumentativ in die Defensive geraten. Die politische Alternativlosigkeit kann nicht mehr argumentativ abgesichert werden, sondern ist nur noch durch eine brüchige Stigmatisierung von Abweichlern aufrecht zu erhalten. Diese Stigmatisierungen sollen die inneren Widersprüche des progressiven Neoliberalismus verdecken.

Das Etikett "Wutbürger" wurde von einem Journalisten des Nachrichtenmagazins Spiegel popularisiert und in der Folge zum Wort des Jahres erkoren. Im Kern richtete es sich gegen rechtsextreme Tendenzen in der AfD, erfuhr jedoch eine Ausweitung und dient inzwischen dazu jegliche Kritik an politischen Projekten der neuen Mitte zu stigmatisieren. Wenn jedoch nicht Sachthemen, sondern Meinungsverschiedenheiten im Mittelpunkt von Auseinandersetzungen stehen, dann hat sich der progressive Impuls erschöpft und es wird auf eine defensive Verteidigungsstrategie umgeschaltet.

Das Etikett "Fake-News" steht im engen Zusammenhang damit. Den Gegnern der eigenen politischen Ansicht wird unterstellt, dass sie die Fakten verleugnen. Tatsächlich gibt es keine Fakten ohne Interpretation, die durchaus unterschiedlich ausfallen kann. Fakten sprechen nicht für sich, sondern können interessengeleitet interpretiert werden. Wer aber Interessengegensätze verleugnet, indem sie als Fake-News stigmatisiert werden, der darf sich über einen Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverlust nicht wundern.

"Fake-News" ist eine Argumentationsfigur der in die Bedrängnis geratenen traditionellen Medien, deren Grundlage durch die zunehmende gesellschaftliche Spaltung wegbricht. Das Internet ermöglich andere Informationskanäle jenseits einer Medienlandschaft, die nur die Interessen der gehobenen, kosmopolitischen Akademikerschicht vertritt. Die herrschenden Medien suchen deshalb die Unterstützung der etablierten Politik und stilisieren sich zu den alternativlosen Beschützern der Demokratie. Auch dies ist eine defensive Strategie, die gegen neue Medien in der Vergangenheit nicht wirklich geholfen hat.

Der Riss geht durch die Mittelschicht und trennt jene mit der notwendigen Ressourcenausstattung von jenen, denen diese Voraussetzungen nicht mitbringen. Der Aufstieg des Modebegriffs "Resilienz" hat inzwischen den abgewirtschafteten Begriff "Eigenverantwortung" als Substitut abgelöst. "Resilienz" behauptet, dass sich Individuen allein durch die Stärkung individueller Ressourcen für die gesellschaftlichen Anforderungen an den Einzelnen fit machen können. Ressourcen wie der traditionelle Sozialstaat erscheinen in dieser Sicht als überflüssig. In der neuen Klassengesellschaft geraten die Selbstoptimierungsformeln jedoch vermehrt in Widerspruch mit dem eigenen Erleben und einem Alltag, der zunehmend zum Scheitern verurteilt ist.

Nach der Finanzkrise sind etliche Dokumente aus dem Akademikerproletariat erschienen, in denen sich AkademikerInnen durch Abgrenzungsversuche nach unten ihr heiles kosmopolitisches Weltbild zu konservieren versuchen. Es bedurfte des Brexits in Großbritannien, der Wahl des US-amerikanischen Präsidenten Donald TRUMP, des Erfolgs von LePEN in Frankreich und vor allem des Aufstiegs der AfD in Deutschland, um die heile kosmopolitische Welt ernsthaft in Frage zu stellen. Noch im Jahr 2015 wurde die AfD von führenden Zeitdiagnostikern als vorübergehendes Phänomen betrachtet. Der Soziologe Heinz BUDE gehörte zu denjenigen, die die Situation falsch einschätzten und die nun nach längerem Verstummen hilflose Rettungsversuche starten und plötzlich den Begriff "Solidarität" entdecken.

In Deutschland fehlt eine Literatur jenseits des progressiven Neoliberalismus. Frankreich zeigt eine mögliche Alternative

Es gibt einen eklatanten Unterschied zwischen dem deutschen Sachbuch- und Belletristikbetrieb, in dem die Fastfood-Kultur eines Buchs der Stunde-Marketing mittlerweile die Fastfood-Kultur der Stimme einer Generation abzulösen beginnt, die Ende der 1990ere Jahre und Anfang der Nuller Jahre ihre Hochkonjunktur mit der Konstruktion einer Generation Golf erlebte, zur neuen politischen Sach- und Belletristikbewegung einer  Minderheitenbewegung links der französischen Sozialdemokratie, die ihren fatalen Absturz - im Gegensatz zur deutschen Sozialdemokratie - bereits hinter sich hat.

Seit dem Aufstieg der AfD werden mit jedem weiteren Erfolg Bücher der Stunde ausgerufen, deren Erklärungswert so gering ist, dass schon bald das nächste Buch der Stunde ausgerufen werden muss. Das hat viel mit den Funktionsmechanismen eines Buchmarktes zu tun, der sich an eine bröckelnde Mitte-Elite wendet, die hilflos nach einer Gegenstrategie sucht, ohne ihr Weiter-So grundsätzlich überdenken zu müssen. Rasender Stillstand könnte man dieses Phänomen des atemlosen Aktivismus bezeichnen. Während in Deutschland mehr oder weniger vereinzelte Buchbetriebsinsassen versuchen die AfD-Erfolge mit zum herrschenden Diskurs anschlussfähiger Strickware zu versorgen, entwickelt sich in Frankreich dagegen eine neue Theorie, die sich um eine Kerngruppe von Deutern der neuen Klassengesellschaft und deren literarische Umsetzung bildet. In Deutschland gibt es keine annähernd so erfolgreiche Gruppierung, sondern es herrscht Fragmentierung. Jene, die neue Wege suchen, wie z.B. Christian BARON ("Proleten Pöbel Parasiten") müssen Vertreter eines leicht revidierten Individualisierungsparadigmas (Andreas RECKWITZ "Gesellschaft der Singularitäten" und Oliver NACHTWEYs "Die Abstiegsgesellschaft") hochloben, weil eine wirkliche Gegenströmung (noch?) nicht existiert.

Die "Darmstädter Schule" mit Cornelia KOPPETSCH ("Die Wiederkehr der Konformität") und Michael HARTMANN ("Soziale Ungleichheit - Kein Thema für Eliten?") kommt dem französischen Denkansatz noch am nächsten, lässt aber die Radikalität der französischen Neuausrichtung vermissen. KOPPETSCH ist zu sehr elitenfeministisch orientiert (mit den darauf basierenden Einseitigkeiten), während der elitensoziologische Ansatz von HARTMANN aufgrund der deutschen Wissenschaftstradition zu eng gefasst ist. Hier wäre eine Erweiterung um die Dimension des globalen Finanzkapitalismus dringend notwendig, wie der Ansatz von Sighard NECKEL u.a. beweist.

Mit den bevorstehenden Landtagswahlen in Ostdeutschland und insbesondere in Sachsen wurden 2018 in schneller Folge Bücher der Stunde ausgerufen, die die angeblich besondere Situation in Ostdeutschland bearbeiten, aber den Gesamtzusammenhang zum Neoliberalismus und der neuen Klassengesellschaft vermissen lassen. So wird der Roman Mit der Faust in die Welt schlagen des jungen Sachsen Lukas RIETZSCHEL genauso unter diesem Motto vermarktet wie die Sachbücher Integriert doch erst mal uns! der sächsischen SPD-Ministerin Petra KÖPPING und Wer wir sind von Jana HENSEL und Wolfgang ENGLER.

"Auch die AfD wird die Ostdeutschen letztlich enttäuschen"

"Es war uns wichtig, den Osten nicht aus der DDR heraus zu erklären, sondern den Fokus auf die Nachwendezeit zu legen. Da vollziehen wir einen Paradigmenwechsel. Wir müssen uns alles noch mal neu anschauen, weil wir eine gigantische Emanzipationsbewegung von rechts erleben. Eine Revolte",
(FR 21.09.2018)

begründet Jana HENSEL ("Zonenkinder") das Buchanliegen in der FR vom 21. September 2018, was genauso auch für Petra KÖPPING gelten könnte. Der Versuch, den Erfolg der AfD mit diversen Besonderheiten zu erklären, ist nicht in der Lage eine erfolgreiche Gegenbewegung zu etablieren, sondern dient lediglich der Zersplitterung der Gegenkräfte. Einzig die Erneuerung aus dem Geiste einer neuen Minderheitenbewegung mit entsprechender Sprengkraft könnte dem Erfolg ein Ende bereiten. In Deutschland ist das nicht in Sicht. Dazu bedürfte es jedoch - im Gegensatz zu Frankreich - einer Ergänzung der Erzählungen erfolgreicher Bildungsaufsteiger durch Erzählungen gescheiterter Bildungsaufsteiger.

Progressiver Neoliberalismus - eine Konkretisierung

Der Begriff "Progressiver Neoliberalismus" bezeichnet nicht die Politik der SPD, sondern steht für die Spaltung der Parteien des linken Spektrums (SPD, Grüne und Linkspartei) in eine soziale und eine kulturelle Linke und damit für die eklatante Schwäche einer linken Politik. Während die soziale Linke den Wert der Gleichheit betont(e), geht es der kulturellen Linken im Kern um eine Anerkennungspolitik. Die SPD verabschiedete sich programmatisch Anfang des Jahrtausends von der Gleichheit, die durch "Chancengerechtigkeit" abgelöst wurde. Damit war die Neoliberalisierung der Sozialdemokratie in Deutschland endgültig durchgesetzt. Die Grünen standen von Anfang an für eine Politik der Anerkennung. Die Linkspartei verdankte ihre Gründung dem Abrücken der SPD vom Gleichheitsprinzip. Sie war damit nach der Durchsetzung der Agenda 2010 die letzte Bastion der sozialen Linke in Deutschland. Dies ist jedoch inzwischen ebenfalls passé, denn die Linkspartei konkurriert inzwischen zunehmend mit den Grünen um das gleiche Wählerreservoir der urbanen Mittelschicht. Die eklatante Schwächung der sozialen Linke durch den progressiven Neoliberalismus, in dem Gleichheit als Wert aufgegeben und Anerkennung zum dominanten Politikziel wurde, führt dazu, dass sich die AfD zur sozialen Partei der vergessenen Wählerschaft aufschwingen konnte. Während die Parteien des linken Spektrums einen eklatanten Glaubwürdigkeitsverlust durch Regierungshandeln erlitten, hat die AfD den Vorteil, dass sie sich noch nicht durch Regierungshandeln in Misskredit bringen konnte. Dieser Vorteil könnte bald schwinden.

Der grüne Scheinriese

Die Grünen werden gerne als die neue Volkspartei gehandelt. Sind die Grünen aber tatsächlich eine Antwort auf die Herausforderungen durch die AfD? Die Grünen erscheinen als einzige Klimaschutzpartei. Das erstaunt, weil das die Realität auf den Kopf stellt. Insbesondere Baden-Württemberg zeigt das Problem der Grünen: In Baden-Württemberg wurden die Grünen zur stärksten Partei und stellten erstmals einen Ministerpräsidenten. In Stuttgart regiert ein grüner Oberbürgermeister und verwaltet die Autostadt und sitzt ihre Probleme aus. Stuttgart 21 und Dieselskandal zeigen, dass die Grünen keineswegs jene Klimaschutzpartei sind, die sie gerne wären. Vielmehr zehren sie vom Nostalgiebonus und ihrem strategischen Opportunismus. Die Grünen haben im Parteiensystem in erster Linie die einstige Rolle der erfolgreichen FDP übernommen. Ihre Offenheit für sowohl rot-grüne als auch grün-schwarze Regierungskonstellationen ist noch ihr Vorteil. Spätestens bei einem Abschwung der Wirtschaft in Deutschland werden die Grünen jedoch Farbe bekennen müssen. Ihr Öko-Image basiert im Grunde auf einem Vertrauensvorschuss, der längst zu bröckeln beginnt.

Exkurs: Schwarm- und Wissenschaftsstadt Heidelberg als Beispiel für den Aufstieg der Grünen

Bei den Kommunalwahlen 2019 errangen die Grünen in Heidelberg erstmals die meisten Sitze im Gemeinderat (16 von 48), nachdem sie 2014 mit 10 Sitzen noch gleichauf mit der CDU lagen, die seit den 1970er Jahren den Gemeinderat dominierte. Neben den Grünen sitzen jedoch weitere Öko-Parteien im Stadtrat: die Grün-Alternative Liste (GAL) und die Bunte Linke. Diese Gruppierungen zeigen die Zersplitterung im linken ökologisch-orientierten Spektrum. Die SPD war seit den 1980er Jahren lange Zeit die zweitstärkste Kraft. Mit dem Aufstieg der Grünen ist die SPD derzeit nur noch drittstärkste Kraft und hat ihren Stimmenanteil seit 1989 fast halbiert. 2019 war der Verlust an Sitzen bei der CDU am größten. Während die ökologischen Splitterparteien ihre Sitze behaupten konnten, büßte die SPD einen Sitz ein.

Derzeit steht in Heidelberg ein Bürgerentscheid über die Verlagerung des Betriebshofs bevor. Die Befürworter von CDU/FDP/AfD und einige Splittergruppen aus deren Dunstkreis wollen dafür eine der wenigen großen Grünflächen in Heidelberg opfern. Die Befürworter geben sich den Anschein einer ökologisch und sozial vernünftigen Lösung. Ihre Plakate werben für "bezahlbares Wohnen in Bergheim", die "grüne Mitte in Bergheim" und mit einem "Lebendigen Bergheim". Alle wollen angeblich den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) stärken. Offensichtlich verstehen sie darunter jedoch völlig Verschiedenes. Zudem zeigen die Plakate der Befürworter, dass die unterschiedlichen Slogans im Kern der Zielgruppe "Hipster" geschuldet ist. Die "grüne Mitte" zeigt aus der Perspektive eines Biergartens, in dem die Hipster sitzen, eine Idylle mit Freiflächen, wobei das "lebendige Bergheim" (Diversität) zur reinen Kulisse für die Hipster verkommen ist. Das "bezahlbare Wohnen" wird dagegen gar nicht auf den Plakaten visualisiert. Man müsste dann ja Farbe bekennen. Bezahlbares Wohnen für wen? Besserverdienende der gehobenen Akademikerschicht, die sich im weiter zu gentrifizierenden Teil Bergheims in dieser "grünen Mitte" weiter ausbreiten soll?

Bei der SPD zeigt sich deren mangelndes verkehrspolitische Konzept, sodass sie als bloßes Anhängsel der Befürworter um die CDU erscheint. Sie wendet sich gegen die Konkurrenz der Grünen, die den neuen Betriebshof als Teil eines Ausbaus des ÖPNV auf Konversionsflächen sieht. Im Mittelpunkt stehen dabei die Bedürfnisse einer urbanen Mittelschicht, die in der so genannten Kreativwirtschaft arbeitet.

Bei der Kommunalwahl 2019 war die SPD u.a. für eine Seilbahn, Die Satiriker der Partei, die erstmals einen Sitz in Heidelberg gewann, pries auf einem Wahlplakat den Zeppelin als modernes Verkehrsmittel für Heidelberg. Dies zeigt ganz gut, dass die Verkehrswende für die Normalos nicht wirklich in Angriff genommen wird, sondern Klientelpolitik bzw. Konzeptlosigkeit bei der Verkehrspolitik vorherrscht. Das modische Etikett "Klimaschutz" soll das verschleiern.

Die herrschende Politik in Heidelberg verbaute sich lange Jahre mit ihrer Investororientierung und Gentrifizierungsanstrengungen jene Freiflächen, die für einen sinnvollen Neustandort auch in Frage gekommen wären, um nun die Alternativlosigkeit ihres Vorhabens zu behaupten. Tatsächlich stand die "Stärkung des ÖPNV" in Heidelberg bei den Befürwortern der Verlagerung ganz unten auf der Prioritätenliste. Wen wundert es da, dass ökologisch-orientierten Parteien aus dem linken Spektrum bei der letzten Kommunalwahl dazugewonnen haben, während CDU und SPD Verluste hinnehmen mussten. Die AfD, die Wahlkampf gegen die Grünen machte, konnte mit ihrer Strategie keinen Sitz dazugewinnen.

In Heidelberg verbucht der progressive Neoliberalismus noch Erfolge, aber nur deshalb weil die Bevölkerungsstruktur der "Schwarmstadt" und Wissenschaftsstadt dem entgegenkommt. Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch hier die Konflikte zunehmen. Die AfD errang in Heidelberg immerhin 2 Sitze. Ihre Hochburgen liegen in den Stadtteilen Emmertsgrund (13,8 %), Boxberg (12,5 %) und Pfaffengrund (10,3 %).

Hochhaus im Emmertsgrund

Mit der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft und einem kommenden Abschwung der Wirtschaft werden die Zeiten auch in solchen Hochburgen des progressiven Neoliberalismus härter werden.

Die Notwendigkeit einer Verkehrswende ist in erster Linie keine Frage des Klimaschutzes, sondern eine zentrale soziale Frage, die in unserer neuen Klassengesellschaft untrennbar mit Wohnen und Arbeit verbunden ist. Das modische Etikett "Klimaschutz" verdeckt nur diese tiefer liegenden gesellschaftlichen Konflikte. Das wird zur zukünftigen Entzauberung der Grünen nicht unerheblich beitragen.

Fazit: Der Kampf um das Erbe des progressiven Neoliberalismus hat längst begonnen

Grüne und AfD stehen momentan für die einzigen klaren Alternativen zu einem Weiter-so des progressiven Neoliberalismus. Die soziale Frage wird in der neuen Klassengesellschaft zum entscheidenden Profilierungsfeld der Parteien. Das gilt insbesondere für den kommenden Abschwung. AfD und Grüne haben derzeit einen Vorteil, weil sie die soziale Frage in der Schwebe halten können. In der AfD hat eine Allianz von Nationalkonservatismus und Neoliberalismus die größte Schnittmenge. Wohin die Grünen tendieren werden, ist wenig absehbar. Absehbar ist jedoch, dass das Ökologiethema nicht jene Tragfähigkeit besitzt, das ihm derzeit zugeschrieben wird  Angesichts der grünen Realpolitik könnte sich sehr schnell Enttäuschung breit machen. Diese Republik wird ihr Gesicht gravierend ändern. Die Demographisierung gesellschaftlicher Probleme, die in den letzten zwanzig Jahren in der herrschenden Politik, Wissenschaft und den Medien betrieben wurde, wird sich als Sprengsatz bei der sozialen Frage erweisen. Was passieren wird, wenn sich der herrschende Demographismus, der mit Vokabeln wie "Nachhaltigkeit" gerechtfertigt wird, als Irrtum erweist, werden wir die nächsten zwanzig Jahre erleben.     

 
     
 
       
   

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Bernd Kittlaus
webmaster@single-generation.de Erstellt: 02. Juli 2019
Update: 04. Juli 2019